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Ende des Idylls

Wie kam es nur, dachte ich zwischen den Tulpen im Garten nach, wie kam es nur, daß wir »unsichtbar Unzertrennlichen«, wie wir uns nannten, nach so vielen Jahren Verbundenseins plötzlich auseinander fielen? ...

Am Tage vor jenem Abend, wo ich mit dem Liebespaar nach dem Lido fuhr, war ich ohne Maria in Venedig gewesen. Es tat mir weh, Maria, die auf dem Liegestuhl schlief, während ich rasch noch einige Briefe schrieb, so zu verlassen, mich gleichsam von ihr fortzustehlen. Sie zu wecken, fehlte mir erst recht der Mut.

Aber – was war das für ein Aufatmen, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, ohne daß sie erwacht war? Schon lief ich Korridor und Treppe hinunter, von der glitzernden Freitreppe grüßte ich lachend das Meer, das freie, das mich einlud – wozu? Ich wollte nicht reisen. Mir fehlte nichts. Die herrliche Welt, ich besaß sie schmerzlos, geruhig. Schön war Maria, tapfer, gut! Und doch eilte ich geflügelt von meinem Glück davon? Ich schlug die bösen Gedanken in den Seewind, der mich über die Allee zur Lagune trug ... Rosige Meerstadt!

Obwohl ich Venedig seit meiner Kindheit kannte und fast jedes Jahr einige Wochen, sogar Monate hier zugebracht hatte, vermeinte ich mit eins, die Schöne mit der tulpenfarbenen Halbmaske nie berührt zu haben, immer nur über ihr Spiegelbild hinweggeglitten zu sein. Ich schaute mich um, und mein Erstaunen, daß ich in Venedig war, in Venedig lebte, konnte sich nicht genug tun.

Kreuz und quer durch die Stadt suchte ich altvertraute Orte auf, pomphafte und unscheinbare – ich hatte noch nicht angeklopft, da ward schon geöffnet. Still, fast flüchtig war die Begrüßung, so ging es von den einen zu den andern. Die Pomphaften verloren Rang und Geschichte, die Unscheinbaren aber, ruhmlos, ohne Geschichte, hatten in ihrer Verborgenheit einen Vorsprung gewonnen, der ward jetzt offenbar. Dabei dachte ich die ganze Zeit an meine kleine, grüne, schwellende Heimat, an Doris, an meine Mutter, wie sie am offenen Fenster saß und auf die Dorfstraße hinabsah, ob ich nicht unerwartet heimkäme, an den steinernen Breuschheim und seine Gattin, die seit fünfhundert Jahren am Eingang des hellen Schlosses knieten, und die ebenfalls auf mich zu warten schienen ...

Ich trat in eine unscheinbare Kirche, die mir bisher entgangen war. Der Sakristan enthüllte seine Schätze mit dem zarten Lächeln eines verliebten alten Mannes, er hatte eine Art, einen Gegenstand mit den Fingerspitzen zu streicheln oder den Blick des Beschauers auf eine Stelle in einem Bilde zu lenken, die edelste Beredsamkeit war. Ich sagte ihm, daß einem Manne wie ihm, der sich draußen im Licht zweifellos tüchtiger Kinder und blühender Enkel erfreue, kein Amt besser anstünde, als im matteren Schein hier drinnen, wie dem des eigenen Alters, solche Schätze zu hüten. Während er mich bis zur Kirchentür zurückgeleitete, dankte er mir mit höflichen Fragen nach den Umständen meines Lebens und nahm die Antworten mit einem Nicken entgegen, als legte er eine jede behutsam zwischen die Seiten eines Buches, um sie aufzubewahren. Als er mir zum Abschied die Hand drückte, errötete er bis in die Stirne, so wenig war er gefaßt, ein Geldstück in ihr vorzufinden. Kinder zogen mit mir, die gleichen, die ich gestern mit meiner hochmütig verträumten Miene verscheucht hatte, beim Denkmal des Colleoni schloß sich eine Katze an, und der Colleoni selbst machte mit dem Arm eine Bewegung, als wollte er vom Pferde steigen. »Sitzenbleiben!« rief ich. Alle lachten, die Kinder, ich, der Colleoni. Niemals hatte ich ihn so lebendig gesehn, den Teufelskerl und Vater von vierhundert Kindern. Er war keineswegs da, auf daß Touristen ihn angafften und Kunstgelehrte ihm das Maß nahmen, er war da, weil er, der Sohn einer Stadt ohne Pferde, zu Roß seinen weiten Weg gemacht hatte und so erfolgreich, daß die begeisterten Venezianer den Heimgekehrten nicht mehr vom Pferde steigen ließen. Und da stand er nun seit 450 Jahren ... In den engen Gassen um den Markusplatz, die ich zu meiden pflegte, wie eine unverdorbene Herzogin den Fischmarkt, entdeckte ich nicht nur Kostbarkeiten aus Glas, Stroh und Strickwolle, die ich für Maria kaufte, ich schloß wahre Freundschaften, die ersten in Venedig, und eine Trödlerin mit einem Gesicht wie ein hundertjähriger Kaktus wußte mir Geistergeschichten vom Markusplatz zu erzählen, die ich aufs Wort glaubte. Denn sie waren nicht unwahrscheinlicher als sie selbst.

Mit der Heimfahrt sollte es keine Eile haben. So ließ ich mich im Luftbad der Piazzetta nieder, vom doppelten Rosenschein des Campanile und des Dogenpalastes umflügelt, den Blick auf den Markuskanal, wo alle Viertelstunden ein Vaporetto auftauchte, der nach dem Lido fuhr, und ein andrer, der daher kam. Dies Kommen und Gehn zwischen Maria und mir schuf ein Gleichgewicht und wirkte wie die Verlängerung einer Gnadenfrist. Sie war mir nah – näher, als wenn sie mir hier am Eisentischchen gegenüber gesessen hätte. Schöne, gute, tapfere Maria! Als es dunkelte, brach ich auf. In der Vorfreude, auf dem Lido das Idyll der Leidenschaft wiederzufinden, bestieg ich den Vaporetto.

Das Liebespaar bemerkte ich, als die geschilderte Szene begann. Wir waren gerade an einem verankerten Kriegsschilf vorbeigefahren. Das Signal: »Löscht die Lichter!« wehte uns nach. Das Paar, das neben mir in der Dunkelheit wie unter einer Decke zu ringen begann, war mir unbekannt. Ich konnte keinen Zug in den Gesichtern unterscheiden, kannte nicht ihre Stimmen. Sie waren Fremde für mich durch und durch, und die Gewöhnlichkeit des Auftritts hätte dazu beitragen sollen, das Gefühl der, Fremdheit in mir noch zu verstärken, wenn nicht bis zum Widerwillen zu steigern.

Statt dessen fühlte ich mich bei der ersten Bewegung, die ihren Kampf verriet, ergriffen, und gleich, kaum, daß ich ein Wort verstanden hatte, vom eigenen Schicksal überschattet. Ich wollte nach Backbord hinübergehn, mich auf die Bank beim Heck setzen, es gab kein Entrinnen. Ich mußte alles anhören, auch was nicht bis an mein Ohr drang, und mit ansehen, wovon meine Augen nur das wenigste erblickten. Für die beiden Tragöden mochte die Aufführung alltäglich sein, und ich hätte, aus gewissen Anzeichen, fast mit Bestimmtheit darauf schließen können. Was half es mir? Mein Kampf ward da gekämpft, unser aller Liebenden Krieg, in einer so krassen Verkürzung, daß er schier komisch wirkte. Gerade dies aber gab ihm den Stich heftiger, nackter Menschlichkeit. Vielleicht führten wir andern den Krieg unter uns geschmeidiger oder proprer, in Spitzen womöglich, aber solange man liebte, kämpfte man, bis an den Rand des Wassers, des Todes. Es gab kein Entrinnen. Und ich litt in meinem Fleische, blutig, nicht um mich, so meinte ich wenigstens, nicht um eine Frau – um die Liebe. Und in meiner Angst, im dunkeln Tumult meiner selbst, sehnte ich mich nach Doris ... Ja, ich sehnte mich nach Doris, das war es, nicht mehr, nicht weniger ... Ach, es war ein heißer, wilder Hunger, er zerrte in meinen Eingeweiden und machte mich blind! Es war ein quälendes Ringen der Hände. Es war ein Krampf in den Füßen, die hätten laufen wollen. Es war ein Durst, der Mund und Augen aushöhlte. Meine Lippen zitterten, und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe ... Ich sehnte mich nach Dorisens Gegenwart und sonst nach nichts ...

Der Anfall war ebenso kurz wie heftig. In Marias Umarmung, die mich im Halbdunkeln vor dem Hotel erwartete, verlor ich selbst die Erinnerung daran.

Das Liebespaar und wir bekamen das Abendessen nachserviert, wir vier waren die einzigen im Saal, und unsre Tische standen nahe beieinander. Ich konnte Maria nur im Flüsterton erzählen – möglich auch, daß ihr, als ich bei der Schilderung der Szene auf dem Vaporetto angelangt war, ein forschender oder erstaunter Blick auf den Nebentisch entschlüpfte. »Siehst du«, sagte sie, und ich unterschied nicht, war es Ironie oder Neid – »siehst du, Claus, die lieben!« Indessen stand für das Liebespaar auf einmal fest, daß ich den Auftritt nicht nur mit angesehn, sondern ihn auch soeben meiner Dame erzählt hatte. Die Gesichter, mit denen sie es uns zu verstehn gaben, waren unfreundlich, ohne Wohlwollen die Blicke, womit er, il signor, mich mit Recht, sie, la signora, mit Unrecht Maria strafte. Bald aber merkten sie, und wir sahn ihr Erstaunen zunehmen wie einen Mond, daß Maria und ich mit dem Gedanken an ihren Streit nur angenehme Gefühle verbanden, und es entstand, ohne daß wir einander persönlich nähertraten, ein Freundschaftsverhältnis zwischen uns, das mit jedem Tag inniger wurde. Bald kamen sie wie auf Flügelschuhen gelaufen, bald schlichen sie trüb daher, sie quälten und trösteten und beglückten sich, sie liebten: selig und hoffnungslos. Wir grüßten einander nicht einmal. Soviel Zurückhaltung entwickelte, fast ohne daß wir darauf achteten, Ausdrucksformen für unsre Sympathie, die sich ebenso durch ihre Ungewöhnlichkeit wie durch ihre Unscheinbarkeit auszeichneten. Eilig um die Ecke eines Ganges biegend, man wäre um ein Haar aufeinandergeprallt, stürzte man zur Seite und stellte ein lebendes Bild des sonst so beiläufigen »Scusi«, wie es pathetischer nicht gedacht werden konnte. Im Lesesaal aber, im Restaurant, auf der Terrasse, kurz, überall, wo man im selben Raum verweilte, blieb deutlich erkennbar, daß man sich zwar gelegentlich aus den Augen, nicht aber aus den Gedanken verlor. Es war eine Sympathie wie ein besonderes Licht im Zimmer. Wir aber (Maria und ich sagten es mit herausforderndem Lachen, wir Toren) fühlten uns vor jeder Enttäuschung geborgen. Die andern spielten für uns das tragische Theater ... Die andern! Wir saßen im Parkett ...

Wir saßen bei weitem nicht so ruhig, wie jeder von uns den andern gern hätte glauben lassen. Zuerst war ich es, der Zeichen von Unruhe gab. Ich schickte Telegramme ab und erhielt welche.

»Wie geht es Doris?« fragte Maria freundlich. »Danke, gut. Es scheint, man braucht mich zu Hause.«

Ich sah, wie sie unter ihrer braunen Haut erblaßte.

In der folgenden Nacht fiel mir das Gedicht auf Cap d'Antibes ein:

»Antibes! Hängende Gärten ohne Zahl
Und weiße Vögel die Villen, auf Pinien,
Millionen Blumen tragen des Mondes Mal ...«

Enthüllte sich der gereiften Frau mit eins, daß diese schwärmerische Sprache nicht diejenige unsrer Liebe war? Oder schmerzte sie die Erinnerung an unser erstes Sinnenglück, wo sie mich mit Haut und Haaren und tiefer besessen hatte, als es mir damals menschenmöglich erschienen wäre? Mit abgewandtem Gesicht bat sie:

»Still! Ich will es nie mehr hören ...«

»O, wie ich bereue«, stieß sie hervor.

Ich erschrak derart, daß ich mit einem Satz mitten im Zimmer stand. Maria, weinend – in einer aufs deutlichste der Liebe zugewandten Lage, wie der unsern ...?

»Um Gottes willen, was bereust du?«

Es dauerte eine Weile, bis sie, immer lauter schluchzend, fortfuhr:

»Daß ich dich damals nicht für mich behalten habe. Ich hätte mich scheiden lassen sollen, ich hätte dich behalten. sollen, für mich allein, Claus!«

Mehr hörte ich nicht, denn ich befand mich schon im Baderaum zwischen unsern Zimmern und hatte die Tür hinter mir geschlossen. Ich fühlte mich betrogen und bedroht. Betrogen um die heitere Harmonie unserer bisherigen Beziehungen, bedroht von einem dramatischen Szenenwechsel, der durchaus gegen meinen Geschmack war. Der Bruch des stillen Gelöbnisses, einander nichts als Wohltaten zu erweisen, das das blaue Siegel des Rivierahimmels trug, erfüllte mich mit Zorn und Enttäuschung. Kein hintergangener Liebhaber hätte beleidigter sein können, als ich hinterlistiger Narr es zu sein mich noch ausdrücklich bemühte. Ich kleidete mich hastig an, als gelte es diesmal wirklich die Flucht, und fuhr nach Venedig. Beim Anblick des Hotels Danieli, wo die Gondel anlegte, dachte ich: »Natürlich, wie konnte ich nur vergessen, was sie von Geburt ist: eine große Katze, die ebenso klug wie musikalisch sein kann, und die sich aus unbekannten Gründen von mir hat zähmen lassen – oder vielmehr sich so angestellt hat, daß ich mir einbildete, sie habe sich zähmen lassen.«

Als ich am frühen Morgen heimkehrte, erwartete Maria mich in einem Morgenkleid auf unserm gemeinsamen Balkon: frisch gewaschen und unfrisiert, kaum merklich geschminkt: ein wenig in den Augenbrauen, an Schläfen und Mundwinkeln, aber mit blassem Mund, über den die Zunge, ein rotes Wiesel, erst sprunghaft, dann, als sie meiner sicher war, gleichsam auf dem Bauche rutschend gemächlich hinstrich. Das mantelartige Kleid umfaßte ihre Gestalt und hatte die Farbe eines hellen Opals. Und wie beim Opal verwandelten sich die Töne mit dem Licht, während die Gestalt fest und glatt blieb gleich einer menschgewordenen Säule, und erneuerten sich aus ihrem irisierenden Abgrund. Hatte sie sich da nicht in ein Stück Seide gehüllt, das aus dem Meer geschnitten war, und das, sie also schmückend, fortfuhr, mit dem Meere zu leben?

»Seit wann?« fragte ich erstaunt, denn ich sah das Kleid zum erstenmal.

»Eine Überraschung«, erwiderte sie lächelnd.

Sie hatte selbst Tee bereitet. Als ich ihn einschenkte, stieg der Dampf in die Morgenluft wie der Rauch eines kleinen Opferfeuers – eines Opferfeuers engherzig Liebender, aus einer kleinen, durchsichtig zarten Porzellantasse.

Maria duftete nach dem englischen Salz ihres Bades, und dieser Geruch vermischte sich aufquellend mit dem härteren Geruch des Meeres, wenn der Wind sie anhauchte. Und Maria lachte und winkte der Sonne, und als diese mit der Gewichtigkeit eines Haremsherrn erschien, drehte Maria sich leise, mit kleinen, artigen Sätzen vor ihr, wie niemals eine Maus vor der Katze, aber vielleicht einmal die Katze vor einem verliebten Tiger getanzt hat.

Der Strand begann, sich mit Pfadfindern und Pfadfinderinnen zu beleben, die im kalten Wasser ihre Muskeln für Strata und das Vaterland stählten, dann kamen die sieben alten Herren. Maria kannte sie mit Namen. Es waren gute, alte Namen. Die »Wächter des Kapitols«, so nannten sie sich, ermunterten den Nachwuchs abwechselnd mit kurzen Bocksprüngen und langen Reden, aber bei den Sprüngen in die Sonne schien ihnen die Haut um die Knochen zu flattern, und ihre Worte verschlang das Meer.

»Schau mal, Maria,« sagte ich, »da unten verrichten sie ihre Morgenandacht an deinen Strata.«

»An den Strata Camillas, willst du sagen.«

»Nein, an deinen.«

»O Claus, er liebt mich wahnsinnig, das ist wahr.«

»Siehst du!«

»Aber ich glaube, Camilla liebt ihn mehr als ich.«

Sie legte eine vogelleichte Hand auf meine Schulter.

»Ich meine, wir sollten jetzt schlafen gehn ... Der eine von den Zentauern betrachtet uns seit fünf Minuten durch das Fernglas.«

»Nein,« sagte ich, »wir gehn baden.«

Maria schrie »Maraviglia!« und sie lief, wie sie war, den Trikot in der Hand schlenkernd, die Treppe hinunter.

Nebeneinander, mit großen Zügen, die wie die Zeilen eines gemeinsamen Gesanges waren, schwammen wir ins Meer hinaus ...

Jedoch, nach Tisch, wenn sie ruhte, saß ich nur noch selten bei ihr, meistens unternahm ich Spaziergänge, von denen ich verwirrt oder abgespannt heimkehrte. Zuweilen traf ich sie dann in der Halle, wo sie auf die telephonische Verbindung mit Rom wartete.

»Wie geht es zu Hause?« fragte ich das erstemal.

»Danke – Marietta ist gefallen und hat sich am Knie verletzt. Nicht schlimm. Eine Schramme.«

Als ich sie zum zweitenmal in der Nähe der Telephonzelle fand, fragte ich nicht mehr. Tapfer taten wir, als ob wir keine Veränderung zwischen uns bemerkt hätten, aber einmal überraschte ich einen eigentümlich finsteren Gesichtsausdruck an ihr, das leidvoll böse Kleinmädchengesicht von früher, das mir ganz aus dem Gedächtnis geschwunden war. Ich erschrak ordentlich, als ich es erkannte, dann stieg der Zorn in mir auf, und ich wandte heftig den Kopf ab. Gleichzeitig fühlte ich, wie Marias forschender Blick sich auf mich legte. Es gelang mir nicht rasch genug, meine Miene zu meistern. Als unsre Blicke einander begegneten, lächelten wir – erbarmend.

»Fahren wir gleich!« sagte sie leise.

Ein wenig vorgebeugt, sah sie mich voll an, mein Gesicht schwankte im Licht ihrer Augen, und der Atem stockte mir, weil sie so schön war. Ich schüttelte den Kopf, beugte mich vor, ich küßte sie, mitten in der Halle, auf den Mund. Sie hielt mit geschlossenen Augen still, erwiderte aber den Kuß nicht. Ich vermeinte zu spüren, wie sie zitterte ... Als ich indessen aufblickte, lächelte sie ruhig.

Wir hörten ein Geräusch und drehten uns, ertappt, um. Da saß das Liebespaar an einem Spieltisch und schlug, allerdings fast lautlos, die Hände gegeneinander. Sie applaudierten! Dann steckten sie mit gespieltem Schuldbewußtsein die Köpfe in die Karten und bedachten uns aus dem Hinterhalt mit komplizenhaften Blicken.

»Ich muß gestehn, ich schäme mich«, murmelte ich.

»Warum, Claus? Es sind gute Menschen ...« In der Folge sprachen wir nicht mehr so freundlich von unsern Komödianten und ihrem Liebesstück, bald verschwanden sie aus unserer Unterhaltung, und wir vermieden es, ihnen zu begegnen.

Der Tag unsrer Abreise kam. Wir standen in der Halle und warteten auf den Hotelwagen, der uns nach San Niccolo bringen sollte. Unsere Freunde hielten sich ebenfalls in der Halle auf, an einer halbdunkeln Stelle, um sich auf ihre stumme Art zu verabschieden. So war es zweifellos gedacht, aber es kam ein wenig anders. Der Wagen fuhr vor, wir wandten uns um, warfen noch einen Blick in die Halle, diesen einen für die andern Gäste, den zweiten aber, wie es sich trotz allem gehörte, für unser Paar. Da sprang sie, la signora, in kleinen Schritten wie in einem Triller herbei, umarmte Maria und küßte sie auf beide Wangen. Gleichzeitig machte er, il signor, mir von seinem Platze aus eine tiefe Verbeugung – die Hand auf dem Herzen.

 

Ich habe Maria seitdem nicht wiedergesehn. In den paar Stunden, die uns noch blieben, zwischen Venedig und Mailand, fanden wir erst lange nicht den Mut, uns die Gewißheit des Endes einzugestehn. Es war quälend heiß. Wir hielten unsere Gesichter aus den Fenstern in den Luftzug, Marias dunkler Katzenkopf mit den überhellen Augen hing verschwimmend neben mir, und sammelten Andenken und reichten sie einander, indem wir sie bei Namen nannten, wie eilige Geschenke, im Laufen gerafft und gegeben: die Reben, die in Girlanden hingen, eine weiße Landstraße in der unendlich grünen Ebene, von grell gefleckten Platanen geleitet, kleine Gehöfte, hellgelb, rosa, weiß, einen überschlanken Campanile, der aus einem Garten ragte, einen venezianischen Palazzo in einem verfallenen Dorf, Maisfelder, deren rote Erde durchschien, und in denen die Reben an ebenmäßigen Bäumen entlang in die Ferne wanderten, die ersten Berge. Sie spielten mit der Form der Pyramide, diese Berge, und einem von ihnen gelang es, Pyramide zu sein, und diesen nahmen wir und setzten ihn uns als Grenzstein. Von da an gaben wir selbst den Schein unserer Gemeinschaft auf. Schweigend saßen wir in das Polster zurückgelehnt, traurig vor Hitze und Müdigkeit.

Einmal sagte Maria – unbeweglich, den Blick aus dem Fenster, zögernd, als suchte sie dort draußen die Worte: »Nur damit es gesagt sei, Claus, und ohne jemand zu nahe zu treten ... Es war all die Jahre ein ungleiches Spiel. Du hast meine Liebe nicht erwidert. Vielleicht liebst du Doris so, wie ich dich liebe, aber mich – mißversteh mich nicht, Claus, du hast mich beglückt, entzückt, nein, nein, du warst immer gut zu mir, du hast mir Opfer gebracht, und damals, an der Riviera, waren wir ja beide nicht mehr frei ... Ich habe die Rolle der kleinen, immer bereiten, immer munteren Geliebten gespielt, weil du es nicht anders haben wolltest, und diese Rolle hast du geliebt, nicht mich. Im Grunde habe ich dich die ganze Zeit betrogen ... Während du mich blank und fröhlich sahst in meiner Rolle, habe ich in diesem Freilichtgefängnis geschrien und getobt, vor Sehnsucht, vor Eifersucht, vor Scham, o wie habe ich Doris gehaßt, der dein Herz dennoch und in jeder Stunde gehörte, Doris und auch dich, Claus. Ich bekenne es ... Du hast immer nur eine geschminkte Lüge im Arm gehalten ... Du wenigstens hast nicht gelogen. Du warst wirklich der artige Leichtsinn, der mir zwei-, dreimal im Jahr hier und dort in der Welt ein Stelldichein gab.«

Ich beugte mich und küßte ihre Hände.

»Verzeih mir«, bat ich, aber ihre Worte riefen in mir kein anderes Verlangen hervor, als den flüchtigen Abglanz der Leidenschaft, der unsre Liebe gewesen, jetzt, wo er für immer zu schwinden drohte, womöglich in eine andre Art von Beziehung, in Freundschaft hinüberzuretten ... Sie sagte noch:

»Auch das sollst du wissen, Claus ... Ich habe nie einen andern Geliebten gehabt.«

Es schmeichelte mir nicht ...

In Mailand trennten wir uns. Maria empfahl mich, indem sie meine Lippen bekreuzte, dem Schutze der Madonna. Ich strich ihr mit dem Handrücken über die Augen und fragte: »Wann wieder?«

Sie sah mich freundlich an, aber sie antwortete nicht, und ich wiederholte nicht meine Frage.

 

Und trotzdem habe ich sie gerufen, und trotzdem kommt sie.

Mein Leben liegt im Licht und Schatten des einen Wunsches: daß sie mich wieder in ihr Herz aufnähme, wie ich es im Traume gesehn ... Manchmal wird meine Hoffnung zur Gewißheit, oft verzage ich – so wechseln drunten in der Rheinebene Licht und Schatten, und die Nächte hindurch stürmt es.

Wunderbares Vorgefühl! Sie kommt, sie kommt gewiß.

Maria, wir haben zu tun! Seit Wochen, nein, seit Monaten spreche ich zu dir. Ich habe dir die Briefe gezeigt, die mich drängen, nach Hause zu kommen. Den Brief meiner Mutter, die fürchtet, daß ich mich hier oben langsam vergifte. Die Briefe meines Vaters, worin er über das abwechselnd hochfahrende und niedergeschlagene Wesen jenes Ernst Breuschheim klagt, der nie mein Bruder hat sein wollen, obwohl er an Kindes Statt und sogar als Erstgeborener angenommen wurde. Den Brief meines Freundes Hubert Adam voll romantischer Grobheit und List: »Sie haben uns unser Leben gestohlen, dicht vor der Ernte, sie haben unsre Eltern, Brüder, Freunde gemordet, verkrüppelt, verdorben. Gut, ich verstehe, wenn einer sich rächt, auch den, der die Schande nicht überleben will und lieber abkratzt, als zuzusehn, wie die ›Confrérie des animaux supérieurs‹ (so sagt doch dein Vetter General?) sich auf den nächsten Ausbruch von Massensadismus vorbereitet. Aber ein blöder Tölpel allein setzt sich an den Rand des Schwarzwalds mit dem einzigen Lebenszweck, elegisch in das Elsaß hineinzustieren und sich Gott weiß was anzutun, nur, weil sich daheim etliche Leute nicht ganz so scharmant betragen haben, wie man es nach einem so scharmanten Krieg hätte erwarten sollen. Mach, daß du heimkommst! Alles verkracht bei euch, von den Nerven deines Bruders Ernst bis in Stall und Kontor. Vielleicht glaubst du es erst, wenn es in den Zeitungen steht. Sie schimpfen schon lange nicht mehr auf dich (der François Kern war ein Simpel, daß er deine Abreise aus dem Gefilde der Commissions de triage in seinem Radaublatt als eine ›Demonstration‹ hinstellte!), die Stimmung hat umgeschlagen, und wir, d. h. wir, die wir hier daheim sind, wir in unserm Land finden mit Recht, Breuschheim, die Sache Breuschheim, die mehr als ein Prinzip, nämlich altes, elsässisches Leben ist, das, o Wunder, noch immer blüht, sei letzten Endes und gerade in diesem Zeitpunkt wichtiger als eure verdammten Familienangelegenheiten. Verbrenne alle lyrischen Papiere, Krankengeschichte und Fieberkurven eingeschlossen, packe deinen Sohn auf und marschiere über den Rhein. Salü!« Und auch die originellste dieser Botschaften habe ich dir wiedererzählt, den Brief unsres Diener-Diplomaten Joseph: »Lieber, verehrter kleiner Herr Baron! Es wäre halt jetzt an der Zeit, daß Sie sich nach Ihrem Sach umsehn ...«

Lustig, gelt? Aber es ist Ernst. Wir haben zu tun. Wir haben uns aus den Trümmern einer Welt herauszuarbeiten, uns und unsre Kinder. Was gewesen ist, liegt in Massenwahnsinn, in blutiger Unschuld begraben. Es war nicht ich, es war nicht du, die jenes gelebt haben, sondern unsre Schatten, eine Vorahnung nur dessen, was wir eines Tages sein sollten, du und ich, Heimat, Welt – – Komm!


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