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Die Tulpen

Fünfzehn Tage sind vergangen, ohne eine andre Nachricht von Maria, als daß ich in einer Zeitung gelesen habe, bei einer musikalischen Soiree des Finanzministers Strata in Rom seien die Marquisen Maria und Camilla Capponi durch ihre »wahrhaft italienische Schönheit und vollendete Anmut« aufgefallen. Die Zeitung war selbst vierzehn Tage alt, der Krämer in Römerbad hatte seine Ware darin eingewickelt, und Jacquot brachte sie aus der Küche mit den Worten: »Da steht etwas über Tante Maria.« (Dabei hat er sie vier Jahre nicht gesehn und in dieser Zeit kaum ihren Namen gehört.) Ich bin gleich zur Post gegangen und habe telegraphiert. Ja oder nein, ich will eine Antwort haben, ich ertrage es nicht länger.

Der Föhn bläst. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht wachen.

Die Angst arbeitet in mir wie ein Gift. Es war nie Marias Art, eine Antwort zu verzögern ... Dieser Strata! Ein eiserner Hohlkopf, ganz der falsche Bonaparte, wie ihn Berrick vor zwanzig Jahren in der Trattoria all' Ombra di Goldoni angekündigt hatte! Sollte er dennoch jener »Fürst« sein, der für sie »in den Sternen gestanden«? ... Wie alt diese Drohung ist! ...

Wo bin ich? Im Schlaf bin ich, den ich nachts nicht gefunden habe, hinter dem ich hergerannt bin wie hinter einem Pferd, das mich abgeworfen. Als der Morgen graute, hatte ich es eingeholt, hatte ich es mit den Händen an der Mähne ergriffen und das Gesicht hineingeschlagen. Da stürzte es und begrub mich unter sich. Da bin ich. Da liege ich – unter dem taghellen Alb einer schlaflosen Nacht ...

Ich halte mich an die Tulpen. Ja, die Tulpen sind da. Ich besuche sie schon vor Sonnenaufgang, wenn sie vorsichtig das Tageslicht anschlagen. Am Mittag können sie das Licht nicht halten, so daß sie mit ihren übermäßig geweiteten Kelchen wie taumelnd dastehn, außer Rand und Band, schon dreiviertel verschlissen, zerrissen, mit einem Ausdruck schmerzlicher Verworfenheit ... Doch wie artig lauschen sie in ihrer enggeschlossenen Mantille den Serenaden des Mondlichts, eine jede auf ihrem eigenen kleinen Balkon!

Sie blühn wild durcheinander auf allen Beeten des Gartens, von den Mauern mit den Steinpflanzen, aus den Rabatten davor, über die Vierecke mit den Buschrosen, bis in den Spaliergang und darüber hinaus, in versprengten Trupps, auf der Wiese, wo sie als kleine rote, gelbe, weiße Laternen im Grase hängen. Ganz hingerissen aber war ich, als ich sie im Schein einer Gewittersonne erblickte. Ein feiner Regen fiel, es war wahrhaftig Sonne, die regnete, eine Verklärung, die man bis tief in den Boden eindringen fühlte, versetzte den Garten in Ekstase. Die gestutzte Hainbuchenhecke am Sitzplatz erklang wie eine Glasorgel, die Triebe der Sommerstauden quollen in Büscheln, in Strähnen, und das erste Blattwerk des Rittersporns stand wie Helmbüsche da, und dann rührten sie sich, die Helmbüsche, und es war, als wüchsen sie vor meinen Augen aus dem Boden, als begännen Ritter aus dem Boden zu steigen!

Die Kuckucke, ganz nahe, läuteten wie toll zum Turnier.

Die Tulpen aber – Gott, was waren das für feine, zarte Geschöpfe! Lauter verzückte Heilige, von dieser Erde nicht mehr, nur noch die geringe Blutlache, die auf Märtyrerschaft und Seligkeit ein sanft glühendes Siegel gesetzt.

Tulpen? Waren das Tulpen? Sie hatten ihren Namen verloren, sie hatten sich verloren, sie hatten die Welt verloren. »Blume Aufunddavon« nannte ich sie, weil die Menschen doch jedem Ding einen Namen geben müssen – der immer ihr eigener ist. Man braucht ja auch gar nicht von dieser Welt zu sein, sagte ich mir, zumal, wenn diese Welt einen nicht mehr festhält, und lachte befreit in den Honigregen und wusch die Hände in der Unschuld des seraphischen Lichtes, das auf mich und meinen Garten niederhing.

Der Honigregen verfiel, und den glücklichen Abend fraß wolfshungrig die Nacht, in deren Gewölk der Mond voll umhertorkelte. Ich sah ihm zu, bis er hinter den Vogesen ins Bett ging, dann tat ich wie er, ich ging ins Bett, aber ich schlief schlecht. Ich hatte Träume wie zwischen zwei Tunneln, und wenn ich aufwachte, war es Nacht.

So träumte mir vom großen Speisesaal eines Hotels. Das schloßartige Gebäude war von blauem Meer umringt. Die Terrasse führte mit wenigen Granitstufen, die in der Sonne flimmerten, auf einen rosa Sandstrand, und dort wimmelte es von Kindern, die sich in farbigen Badeanzügen zwischen Baracken und Strohhütten herumtrieben. Manche hielten sich an der Hand ihrer Mütter oder Bonnen fest und neckten mit der großen Zehe das Meer. Die Wellen der Brandung rollten sich wie Katzen vor ihre Füße, und die Kleinen sprangen, als würden sie gekitzelt. Andre stiegen mit der Zuversicht alter Seebären in die Fluten. Frauen und Kinder spielten mit dem Meer, soweit der Blick reichte, prunkend in Farben, auf dem rosa Strand vor dem blauen Meer, das seine weißen und gelben Fransen über den Sand hin und her zog, was an ein andres Kinderspiel erinnerte, wo der Reifen so geworfen wird, daß er nach heftigem Anlauf wie gerufen auf den Werfenden zurückkommt. Im Speisesaal aber stand auf jedem der vielen Tische, in einem schmalen Glas, eine Tulpe. Es gab gelbe, rote, rosa Tulpen, perlmutterne, weiße, so weiß wie Porzellan. Jede stand, wie gesagt, in einem Glas auf einem weißgedeckten Tisch, der Saal war ein einziges Tulpenbeet. Ich saß und erfreute mich an seinem Anblick. Plötzlich ertönte ein Trompetensignal. Die Tür sprang auf, und herein trat ein Paar, das mir bekannt vorkam. Der Direktor eilte ihm entgegen, geleitete es an einen Tisch neben dem meinen. Es war unversehens Abend geworden. Die Kronleuchter brannten, der Saal war gefüllt mit schwarzen Herren und bunten Damen, zwischen den Tischen schössen die Kellner, daß ich dachte: das sind tanzende Hechte – ein Dressurakt!

Das Streichorchester begann eine Tanzweise, ich sah die Dame am Tisch gegenüber an und, als hätte die Musik sie aufmerksam gemacht, blickte sie gleichzeitig auf, wir erkannten einander ... Dann hatte ich einen Augenblick der Bewußtlosigkeit. Als ich aus dem Chaos von Tönen und Lichtern wieder zu mir kam, war ich glücklich. Denn über den Kopf des Herrn hinweg, der sich auf seine Suppe niederbeugte, lächelte, nickte sie mir zu. Die Musik schluchzte vor Wonne auf, und mein Herz blühte.

Nun aber geschah etwas Merkwürdiges. Der Herr ließ den Löffel sinken, wandte sich um, stieß einen Laut freudigen Erstaunens aus, wischte sich hastig mit der Serviette den Mund, erhob sich, augenscheinlich, um mich zu begrüßen. Doch da glitt eine Wolke zwischen uns, eine herrliche Sommerabend wölke, weiß mit rötlichem Flaum, ich erwachte, aber ich wußte: das waren Murillotulpen im Himmel ...

Ich warf mich auf die andre Seite und sehnte mich nach einem Hotel am Meer, nach einem Strand voller Kinder und Mütter, die mit dem Meer spielten, und ich lächelte über die Zurückhaltung der Mütter, die sich weismachten, sie selbst seien keine Kinder mehr ... Ich sehnte mich nach großen Hotels, die gegen die Grausamkeit des Lebens bis in die Kellerlöcher mit Matratzen gepolstert sind, und nach einer Frau, die mir über den Kopf ihres suppelöffelnden Gatten, hinweg zunickte, indes die Geigen uns zu einem Leben erweckten, das schon der Tod gewesen ...

Darauf erging es mir offenbar schlecht, denn als ich das nächstemal erwachte, hörte ich gerade noch, wie ich aufstöhnte. Ich machte Licht. Ein Feind war im Zimmer. Ich fand ihn nicht. Der Engel der Verkündigung des Münsters in Reims, der hinter meiner Nachttischlampe steht, lächelte mich ironisch an ...

Von allen meinen Träumen war dieser der einzige, dessen ich mich deutlich entsann. Die andern blieben Archipele, die auftauchten oder versanken, ohne daß ich mehr von ihnen erkannt hätte als ein paar Farben, einen Umriß. Und wie nachts hinter den bunten Stücken Schlafs, so war ich tags hinter allerlei Geschichten her, die sich von ungefähr einstellten, um ebenso plötzlich zu verschwinden oder sich mit Neuankömmlingen zu vermischen, so daß ich eingekeilt stand in der Menge meiner Gesichte, gedrückt und geschoben und ohne zu erfahren, warum, wohin.

Nur, daß ich immer an Venedig denken mußte! Es kam so weit, daß ich beschloß: die Tulpe ist die Blume Venedigs. Sie schien mir bezeichnend für Venedig, ihm eingewoben, eingestickt in allem, im Wasser der Lagune, in seinen Stoffen, eingelassen in die Steine der Paläste, das Wasser- und Feuerzeichen in jedem Blatt ...

Bald glaubte ich, das Venezianische der Tulpe, das ich doch eben erst entdeckt, sei der Grund gewesen, warum ich all die Tage an diese Stadt hatte denken müssen. Und nachdem ich diese Erklärung einmal gefunden, wunderte ich mich zuerst nicht weiter, daß von den fahrigen Geschichten, die den Tagschlaf enden umgaben, mich eine besonders behelligte. Da fuhr einmal in Venedig ein Paar auf dem Dampfschiffchen mit, ein Liebespaar, versteht sich. Der Vaporetto, von der Lichterkette der Riva degli Schiavoni verjagt, eilte mottengleich den Lichtern des Lido zu. Niemand sprach, als das Wasser und – sie, la signora. Sie machte ihm Vorwürfe, denen man es anhörte, daß sie mit dem Hotelzimmer, von dem die Rede war, nichts gemein hatten, und die auch unverzüglich, der Lüge des Vorwandes entrinnend, mit einem Sprung unter die Sterne setzten. Da konnte keiner mehr mit und etwa erraten, was eigentlich los sei! Er, il signor, stand, ein wenig abgewandt, neben ihr und schwieg. Er schwieg zu lange. Plötzlich, nach einer Schicksalsfrage, die bis in mein Ohr zischte, und die unbeantwortet blieb, verstummte sie. In diesem Schweigen erinnerten mich die beiden, wie sie in einem scharfen Winkel auseinanderstanden und doch zusammengewachsen, an Adam und Eva am Eckpfeiler des Dogenpalastes, denen ich vor dem Betreten des Vaporetto eine gute Nacht gewünscht hatte – Eva hält fragend die, Hand hin, mit einem Ausdruck, der fast verschlafen wirkt vor Spannung ... Indessen erriet ich in seinem Gesicht ein Lächeln, das, nicht ohne Mühe, seine Selbstbeherrschung verwahrte.

»Addio!«

Sie lag über der Rampe.

Doch schon war er über ihr und hielt sie fest, »Ich flehe dich an!« knirschte er. Sie stöhnte; »Oh!«, ein »Oh!«, von dem jemand, einen Schritt entfernt, nicht hätte unterscheiden können, ob Lust, ob Leid es gesprochen ... Dann saßen sie nebeneinander. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. In seinem Arm lag sie, la signora, aber beide Arme wären nicht groß genug gewesen, sie zu fassen. Sie brauchte den ganzen Mann. Langsam öffnete sie ihn und begann, in ihm zu verschwinden. Bald war sie nur mehr halb so groß. Er aber wuchs, wuchs ... Nun stand er da, der mächtige Baum unter den Sternen, in dem die Schlange sich wiegte!

Die Cafés von San Niccolo lärmten auf, als spendeten sie mit Tusch und Hurrah Beifall den mutigen Forestieri, die sich bis hierher gewagt, und das Volk eilte herbei, um zu sehn und zu betasten. Adam und Eva schritten über den Landungssteg, Arm in Arm blickten sie auf das strahlende Venedig zurück. Dazwischen lag die dunkle Lagune. Da erst erkannte ich in ihnen Gäste des Badhotels. Eine Weile, nachdem er festen Boden unter den Füßen hatte, sagte Adam:

»Ich habe keinen Augenblick geglaubt, daß du dich töten wolltest, wohl aber habe ich gefürchtet, daß du, über die Schiffsrampe gebeugt, plötzlich verrückt würdest – oder auch nur schwindlig.« Solche klangvoll geschwungenen Brücken wirft die italienische Sprache über das tiefe Wasser der Gefühle!

Sie, la signora, wußte kaum noch, wovon er sprach. Sie lächelte, sie nickte, die Hand an seiner Hüfte, den Blick in den Sternen, mit rotem Mund.

Und ich – ich muß heute noch deutlich hören, genau wie eingeteilt vom Schlag des Metrometers: »Wohl aber habe ich gefürchtet, daß du, über die Schiffsrampe gebeugt ...!« Als hätte ich mit diesen Worten eine Offenbarung erfahren!

Ich lache mich aus. Das also ist die ganze Ausbeute meiner Träume!

»Ihm fehlt der Geschäftsblick« hätte Ulricus Rheinweilerius gesagt, und es wäre ein mildes Urteil gewesen ...

Die einzigen Wesen, die sich immer, Tag und Nacht, für mich bereithalten, sind die Tulpen. Kein Wunder, daß ich mich immer mehr an sie anschließe. Ich wandle zwischen ihnen, und es ist ein ernsthafter Abschied, wenn ich mich von ihnen trenne, um ins Haus zurückzukehren. Es geht nicht, ohne daß ich mich einige Male nach ihnen umsehe. Ich verlasse nicht ihren eigenen Zauber allein, etwas andres lebt da verborgen, und ich höre es atmen, das mich beglücken will ... Seitdem ich auf der Welt bin, so lange ich denken kann, habe ich beglückt sein wollen! Alle Menschen und ihre Werke habe ich immer so angesehn, als ob sie gekommen seien (auf einer Reise, die selbst tausende von Jahren gedauert haben mochte), um mich zu beglücken! Vor den Pyramiden tat es mir leid, daß die Pharaonen sich meinetwegen soviel Mühe gemacht hatten – da ich doch die Schönheit der Zahl nur bei Hausnummern, Eisenbahnbillets und Geburtstagen empfand, sonst aber von der Mathematik nichts begriff ... Wenn ich mich in der Türe ein letztes Mal umdrehe, sucht mein Blick in den Tulpen zu lesen, was es sein könnte, das mich an der Schwelle des Gartens erwartet hat, an der Schwelle des großen Tulpenbeetes, das jetzt mein Garten ist. Chè?? Es war da, es wartete auf mich, aber ich habe es beim Eintritt übersehn, nun ist es fort.

Auch wenn ich über den Zaun in den Wald springe, geschieht es nur, um das Gesicht zu wechseln und mit frischen Sinnen von neuem bei den Tulpen mein Glück zu versuchen. Der Wald bäumt sich im Saft seines Frühlings. Er quillt rechts und links auf die Straße über, die also geschmückt steht für eine Prozession. In der laubgrünen Tiefe der Buchen und Eichen zu beiden Seiten lichtert das helldunkle Schuppenkleid der Tannen. Das kommt von den saftigen Spitzen und Zäpfchen, die jeder ihrer alten Zweige angesetzt hat, genau das Maß, um das sie gewachsen sind. Die ältesten Tanten sind überrieselt davon, sie haben wohl ihr Mädchenkleid hervorgeholt, es in lauter Flecken zerschnitten und sich diese von Kopf bis zu Füßen angesteckt, weil das die einzige Möglichkeit war, das Kleid noch zu tragen!

Die Straße, breit, ein wenig gewölbt, erhebt zum König jeden, der sie betritt. Sie führt festen Ganges durch die triebhafte Fülle des Waldes, niemals steil, immer bergan. Geschaffen, um es vergessen zu lassen, vergißt sie nicht einen Schritt lang zu steigen. Sie steigt empor und über den Wald, der sie erst unter sich begraben wollte, er rinnt an ihr herunter, von der Straße geöffnet breitet sich die Ferne, die Zwiesprache zwischen Himmel und Ebene wird laut.

»Wohl aber habe ich gefürchtet, daß du, über die Schiffsrampe gebeugt, plötzlich ...« Das erste Wort, auf das ich hier oben stoße!

Es foppt mich. Sollte es mich etwa »beglücken« wollen? Kaum, daß Himmel und Erde wieder freien Spielraum haben, da stellt Venedig, das Venedig der Tulpen, sich ein. Allerdings mit der recht alltäglichen Geschichte vom Liebespaar auf dem Vaporetto, die außerdem die Tulpen gar nichts angeht. Eine verflixte Geschichte!

Gut, es ist ein Gassenhauer, ein Gassenhauer aus der Grammatik, der mich bis auf die Berge verfolgt, so was kommt vor, auch wenn kein Föhn bläst und keine Schlaflosigkeit Tage und Nächte vermengt. Es gibt anderes zu sehn, als lackierte Satzteile, die sich auseinandernehmen und wieder zusammensetzen lassen. Schaut, meine Augen, schaut! Das Herz klopft mir in der Kehle, und ihr habt noch nicht gesehn!

Schaut meine Augen, schaut diese Parklandschaft von Berggipfeln und Tälern, und wie sie, ohne jede Hoffart, auf sich hält, in ihren Adel gekleidet! Wieviel zarte Ordnung waltet in dem Neben- und Übereinander der Höhen! Der kleine Gärtner in mir erkennt den großen und spricht ihm Dank. Selbst ihr Untertan, verfolge ich die Hand, die große Wälder betreut und den Apfelbaum auf dem Acker, die Berge in den Himmel steigen und, wo er zu hoch wird, gehorsam niederknien läßt auf die Erde, die flüchtigen Hänge rafft und entfaltet, mit einem Finger in den Boden drückt und ein Stück, das kloßig dalag, vermehrt und beflügelt. Und wie gibt sie acht, daß der große Auslauf der Berge, der wuchtigen Gewichtes ankommt, sich rechtzeitig, teilt und schließlich in Anmut vergeht, wo die Menschen wohnen. O Heimat! Westen Europas! Dieser Garten bist du, so bist du, wenn du zeigen darfst, wie du bist. Du zeigst dich jedem so, der das Herz hat, dich zu sehn. Jede Linie, alle Nerven der Erde beben in dir, du trägst alle ihre Farben, und über deinem kleinen Garten schwebt der Geist, weither geweht und so klar, wie auf den alten Tafeln die Taube der Verkündigung in der winzigen Kammer Mariä ...

Und plötzlich wußte ich alles.

Fröhlich knisternd, wickelte die Rolle sich ab, ich las, wie die Hebräer, von unten nach oben.

Der Saal, von dem ich geträumt hatte, war der Speisesaal des Badhotels auf dem Lido in Venedig. Die Frau, die mich angelächelt, mir zugenickt hatte, als die Geigen auf höheren Wink angehoben, uns von uns Totgeglaubten zu erzählen am blauen Meer, mit dem Frauen und Kinder spielten in bunten Kostümen, war sie, Maria Capponi, und der suppelöffelnde Herr, über dessen Kopf hinweg sie mich aufnahm in ihr Herz, den heimgekehrten Geliebten, der war ich. Über meinen Kopf hinweg lächelte, nickte sie mir zu. O glückhafter Traum! Wir hatten uns also doch wiedergefunden! Jener Aufenthalt in Venedig, vor drei Jahren, war nicht, wie wir beide geglaubt hatten, unser letztes Zusammensein gewesen.

Man braucht nur glücklich zu sein, um alles zu entziffern, selbst die Hieroglyphen des Traumes!

Wie sie, untadeligen Anstands, mich auf den Berg getragen, so trug die Straße mich zu Tal. »Maria,« rief ich, »Maria Capponi!« Mit ihrem Namen setzte ich mir einen Helm auf, ein Ritter wuchs aus dem Boden, im kleinen Ritterspornbeet, das die Tulpen mit ihren Lichtern umstellt hielten.

Von der Straße fällt ein Weg ab, mit rotem Sand bestreut, der führt zum Tor meines Gartens. Als ich in ihn einbog, hingen die Buchen ihre Zweige so tief, daß mein Fuß stockte. »Gib acht«, sagten sie, »gib acht! Renne nicht gedankenlos daher, du wirst erwartet. Nimm dich, nimm dich,« und die Geigen des Badhotels in Venedig fielen ein, »nimm dich in acht!«

Tränen traten mir in die Augen ... Ich sterbe noch nicht, alles rings um meine kindlichen Sprünge sorgt für mich, hütet mich, auch du bist mir noch nicht verloren – ich werde dich bitten, mein Frau zu werden, Maria, wir werden nach Breuschheim gehn, mit Jacquot und Marietta, wir werden neue Kinder haben und ewig dort bleiben.

 

Als ich das Gartentor öffnete, sprang Barry mir entgegen, Jacquot in Hut und Mantel lief hinterdrein. Ah, dachte ich, sie wollten sich gerade auf die Suche nach mir begeben, und ich rief jubelnd: »Ist sie gekommen?«

»Es ist niemand gekommen,« antwortete Jacquot erstaunt. (Als ob wir hier oben je Besuch bekämen!) Und er bat um die Erlaubnis, dem ersten Konzert im Kurpark beiwohnen zu dürfen – die Saison hatte begonnen! »Allein?« fragte ich zerstreut. Nein, mit Barry. Vielleicht begegnete er auch Anna Graeßlin. Er sprach das Wort so wohllautend wie möglich aus. »Aber Barry ist ja bei mir,« wiederholte er, als ich ihn schweigend ansah.

»Natürlich,« sagte ich, »geh nur. Barry ist ja bei dir!« ...

Das ist nun das drittemal, daß »die Saison beginnt«, seitdem ich (auflebend? entschlafend?) hier oben allein bin.


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