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Die Fahrt auf dem Baou

Als ich nach dem Frühstück an Marias Tür klopfte, trat sie, fertig zum Ausgehn, auf den Flur. »Guten Morgen, Claus«, sagte sie und blieb vor mir stehn. Langsam zog sie die Handschuhe an, kurze Handschuhe aus weißem, rauhem Leder. Ich sah zu, wie erst die eine Hand hineinschlüpfte, dann die andre: kleine reizende Tiere, mit denen ich unermüdlich hätte spielen mögen.

Sie knöpfte die Handschuhe nicht zu.

Dann hob sie den Kopf, und es fiel mir auf, wie breit eigentlich das zart gerundete Kinn auslud.

»Hast du gut geschlafen?« fragte ich verlegen.

»Kein Auge geschlossen. Und du?«

»Ich auch nicht«, antwortete ich – und erschrak.

Ihre großen Augen, die im halbdunkeln Flur unruhig geflammt hatten, standen mit einem harten Ausdruck, ja geradezu entsetzt auf mich gerichtet.

Nein, nein, wollte ich ausrufen, so meinte ich es nicht! Ich wollte nicht frech sein! Überdies, fügte ich gleich hinzu: sie weiß ja nichts.

Da verschleierte ein feuchter Glanz die Pupillen, ihre Augen waren nur noch ein einziges Schimmern, eine Wirrnis von Licht, das geheimnisvoll in der Finsternis umgeht, die weit in die Stirn gespannten Brauen fielen in kleinen Sprüngen herab.

»Pulcinella!« flüsterte sie lächelnd und senkte den Kopf ...

Im provencalischen Hof lagen Herren und Damen, Kinder und Katzen in der Sonne. Kein Blättchen rührte sich unter seinem Sonnenlack, die vielfarbigen Blumen der Majolikatöpfe und des Mäuerchens glühten wie im Feuer geblasenes Glas. Ich ergriff Marias Arm und schritt eilig durch das Tor; der Schatten des kunstvoll geschmiedeten Gasthausschildes zeichnete sich mit allen Feinheiten seiner Arabesken haarscharf im roten Sand ab. Vor uns trugen die Platanen des Marktplatzes mit riesiger Lust die Bürde des Lichts.

Wir nahmen ein Schattenbad, kamen an der eingemauerten Kanone vorbei, unter dem Gewölbe des Stadttors lachte ich laut auf, nur um es tönen zu hören, und nun schritten wir auf den alten Wällen – durchleuchtet von Himmel und Meer und der weiten Luft zwischen ihnen, die aus beiden und einem Dritten gemacht war ... Was mochte nur dieses Dritte sein? Es floß mir durch die Finger, durch die Haare, ich schritt darauf. Ich lebte in einer namenlosen Ferne.

»Maria,« sagte ich, »mir kommt es vor, als wandelte ich in ganz besonderen X-Strahlen. Und schau nur die Orangen und Mandarinen in den Gärten zu unsern Füßen, wir streifen sie wahrhaftig mit den Füßen, die schlangenglatten, fein geschnittenen Feigenbäume, die wuchtigen Maulbeerbäume, merkst du? denen geht das Licht auch durch und durch, nicht nur durch den Schatten, nein, durch Holz und Frucht. Weißt du auch, daß der Orangenbaum als einziger zugleich Frucht und Blüte trägt? Vielleicht hängt das mit meinen besonderen X-Strahlen zusammen? Jedenfalls gedeiht er ausschließlich in deren Bereich ... Übrigens, wenn ich jetzt so nachdenke, möchte ich gar nicht, daß er am Rhein und an der Breusch gediehe. Jedem das Seine! Was meinst du?«

»Ich meine, daß du mir schon wieder untreu warst«, antwortete Maria scherzhaft. »Es geht Schlag um Schlag bei dir, wie beim Pendel einer Uhr. Jetzt zum Beispiel ging es von der Riviera zum Rhein, von Maria zu Doris.«

»Du bist habgierig«, gab ich im selben Ton zurück. »Du möchtest alles allein haben. Ich schenke dir doch schon die Olivenbäume samt den besonderen X-Strahlen!«

»Und in deren Bereich soll ich verbannt bleiben?« warf sie ein. »Auch ich war am Rhein! Ich war sogar an der Breusch ... vor jeder andern.«

Ich setzte die Neckerei fort, indem ich Viviane, wie es sich gehörte, den Vortritt lassen wollte, aber Maria focht die Berechtigung des »Kindes Viviane« an, in diesem fraulichen Wettstreit vor dem Götterliebling Paris aufzutreten. Wobei Paris, betonte sie, sich gründlich täuschen würde, wenn er in seiner männlichen Eitelkeit etwa annähme, es ginge bei dem Wettbewerb um ihn, den Götterliebling. In Wirklichkeit war er nur der zufällige Anlaß für einige Damen, eine gewisse, ganz persönliche Angelegenheit unter sich auszutragen.

»So sag' mir doch, mein Sonnenflirt,« rief ich aus, »du weißer Sturmvogel mit schwarzen Flügeln, sag' mir, Exzellenz, wie du dir vorstellst, daß ich dir die Treue halten soll!«

Hastig antwortete sie:

»Indem du mir nicht völlig mein Leben verdirbst.«

Erst staunte ich, dachte angestrengt nach – und dann ...

Es war ein seltsamer Zorn, der mich erfaßte, und der damit begann, daß ich ihre Handgelenke packen und mit Gewalt die Handschuhe abstreifen wollte, um meine Zähne in das Innere ihrer Hände zu wühlen, das weich gefurcht und zugleich fest war, ein Zorn voller Verlangen, Selbstvorwürfe und Anklagen, der ausgewachsene Bruder jenes Zornes, der mich bei der ersten Begegnung mit Maria im Gang des Schlafwagens angefallen hatte, der »Zorn auf Maria«, der jetzt alles enthielt, was seit damals unsre Lust und unser Leid gewesen war und, im Grund, unser ganzes Leben bleiben sollte, bis heute. Ja, bis heute – obwohl dies sein letzter Ausbruch war und wir in den folgenden Jahren völlig vergaßen, welch urmächtiger Streitfall unter unsern Umarmungen begraben lag. Ich vermochte kein Wort hervorzubringen, so übermannte mich die Wut, nur in meinen Gedanken raste ich los, und ich zwang meine Füße, mit den ihren Schritt zu halten, und zwang den Kopf, frei auf seinem Halswirbel zu federn, ich blickte um mich, ohne etwas zu sehn ...

Du Gauklerin, dachte ich, die du mich immer nur gereizt hast, um dich an meinem hilflosen Kummer ebenso zu befriedigen wie an meinem Entzücken, herzlose Allgewandte, warum hast du mir nie mit einem einfachen, guten Wort geholfen? Du willst nur immer spielen, spielen, spielen! Ich liebe die Orangenblüten, die bei der Frucht stehn, nicht solche armen Zweiglein, wie gewisse kokette Mädchen sie in den Strumpf stecken, verstehst du? Ja, ich durchschaue dich, ich kenne dich – seit heute kenne ich dich genau! Jetzt weiß ich, was das ist, was die Leute Liebe nennen – eine schöne Sache, gewiß, aber siehst du? ich brauche mehr. Herz brauche ich, Herz, das ganze Herz! Man könnte es auch anders nennen, aber im Augenblick weiß ich keinen besseren Ausdruck. Herz also. Und du? Du hast nur Phantasie! Deine Phantasie füttert mich mit Hoffnungen und triumphiert auf meinen Enttäuschungen, wie ein Kannibale auf der Leiche des Erschlagenen. Was wagst du, dich mit Doris zu vergleichen, die Blüte, die mir unversehens in die halb geöffnete Hand fiel, du Equilibristin! Wo findet sich die Treue, die du meinst, wenn nicht auf dem Trapez? Weiß ich, woher du kommst, wenn du wie eine Geliebte vor mich hintrittst? Wohin gehst du, wenn du in einem gurrenden Lachen über mein enttäuschtes Gesicht verschwindest? Habe ich dich nicht mehr geliebt als Viviane, ja selbst als Donja? Ach, vielleicht, wenn ich um dich gekämpft hätte ... Ich war zu dumm, oder ich glaubte, man dürfe nicht um eine Frau kämpfen, die man wirklich liebte, eine solche Liebe, meinte ich, müßte wie ein heller Tag sein, der da ist, wie diese Bäume, diese Früchte, dieses Meer, um die ich auch nicht gekämpft habe ... Warst du jemals mein? Diese Orange da ist mein, die in ihrem dunkeln Laub leuchtet, prachtvoll verschwiegen, oder jene Rose, die erhobenen Hauptes in der Sonne steht, ohne zu taumeln ... Aber du?! ... Und doch war ich um dich still wie diese Luft um den Orangenbaum, war glühend über dir wie diese Sonne – oder nicht? War ich es am Ende nicht? Nein. Nein. Vielmehr war ich es, der dich bedrängte, der dich unterwerfen wollte, ein wahrer Barbar, schon damals im Schlafwagen, ich entsinne mich genau ... An deinen Zöpfen hätte ich dich ergreifen mögen, weil sie so schwarz glänzten, und dich mit mir fortführen als meine Sklavin – die Sklavin eines heimlichen Hohenstaufen, haha! Dafür hätte ich dich dann Herrin genannt, vom kriegerisch tänzelnden Pferd herab, im fröhlichen Wispern des Lorbeers, im Sausen der unsichtbaren Fahnen, auf meinem Triumphzug, ich Narr ... Und eines Tages hatten wir verspielt. So wird es wohl sein ...

»Laß nur, Claus«, raunte da eine gleich wieder geliebte Stimme.

Der Ton fuhr mir mit der Dringlichkeit einer Hand, von Marias Hand, an die nackte Brust, dorthin, wo das Herz schlug, und griff zu. Es war ein hoher, reiner Ton, wie ich ihn noch nie gehört zu haben meinte, ein Ton aus tief gebeugtem Haupt, der aus der Erde zu kommen schien, aber hell ... und von unergründlicher Kraft. Er löste allen Widerspruch in der Schöpfung, er löschte den Zweifel. Ich blieb stehn, legte den Arm um ihre Hüfte –

»Laß nur, Claus«, und es kam nur als eine nachträgliche, recht eigentlich hilflose Erklärung, als sie, den Kopf zurückwerfend, nach einer Weile fortfuhr:

»Wir wären ja doch kein gutes Ehepaar geworden!« Und plötzlich, in einem andern, hastigen Ton: »Aber, sag' warum ...«

Da sie stockte, mißverstand ich die Frage und antwortete: »Weißt du, Maria, im Traum gefunden, im Traum verloren.«

Ich spürte, wie etwas in ihr langsam anzog, aber sie bewegte sich nicht, blieb so an mich geschmiegt, nur die Augen loderten auf, bevor sie in einem wilden Entschluß erstarrten:

»Nein«, sagte sie ruhig. »Nicht gefunden und also auch nicht verloren.«

»Was dann?« fragte ich. »Maria, was dann?«

Sie entzog sich mir, indem sie meine Hände in die ihren nahm und ein wenig zurücktrat. Lächelnd:

»Ich wollte etwas anderes fragen.«

»Was? Was? So sprich doch!« drängte ich, und zugleich schlug mir das Blut in den Kopf, denn ich erinnerte mich, wie die Arme Agathes sich mit großem Schwunge um mich geschlossen hatten, als ich an ihrem Bett angelangt war ... Da errötete auch Maria, und wir begannen gleichzeitig eiligen Schrittes weiterzugehn.

Wir befanden uns jetzt auf der Vence zugekehrten Seite des Städtchens. Eine helle Landstraße blitzte dort oben aus den morgengrünen Gärten. Die Glocken des unsichtbaren Münsters surrten im Himmel.

»Unmöglich«, rief sie lachend aus. »Ich brächte es nie und nimmer über mich«, und obwohl ich ihr nunmehr in jeder Weise zusetzte, gelang es mir nicht, in den Besitz dieses unbegreiflich aufregenden Geheimnisses zu gelangen.

Wir tummelten uns unter dem Baum der Erkenntnis, nur soviel war mir klar, und über uns blitzte die Schlange. Herrlich!

Mit eins hatte eine neue Musik eingesetzt, und sie bewegte nicht nur uns beide, sondern schlug in Baum und Stein – und machte sie sprechend. Auf Millionen weißer Flügel stürzte das Licht des blaugrauen Hochlandes von Vence auf uns herab – ich sprach die Hoffnung aus, daß Maria dort oben, wo es keinen Schatten mehr gab, um irgend etwas oder sich selbst darin zu verstecken, ihr Geheimnis entlassen müßte, »so wie man die Hand öffnet«, sagte ich und zeigte es ihr mit der Hand. Dabei ergriff ich die ihre, wir liefen den Wall hinunter, und das tat gut: als liefen wir mit allen Sinnen, nur die Augen geschlossen, durch uns hindurch, so tat es.

»Gelobt sei unsere gute Mutter, die Sonne!« sang ich zu Bobs Zimmer hinauf. »Die Erde ist wohlauf und hängt an ihrer Brust.«

Wir blickten mehrmals zurück, ob nicht L'Amico eigens zu unserer Freude in einem Fenster erscheine, der dunkelschöne Gott des Abends im anhebenden Mittag ...

Wir sahn uns nach dem gewohnten Verbündeten um, wir suchten einen Zeugen des Tanzes, dem wir uns mit schweren, wie gelähmten Gliedern, doch immer stärker beflügelt überließen.

Leider blieb die ersehnte Erscheinung aus, und auch das innere Bild zerstob bei den ersten Schritten auf der Landstraße, die uns nahm und mit zäher Gewalt hinaufhob, dem Himmel entgegen, in dem der unsichtbare Glockenschwarm wogte. Wir begegneten niemand.

Zum erstenmal warb ich um eine Frau, listig und vor Übermut sinnlos.

»Dein Geheimnis!« bettelte ich und drohte: »Es wäre ein Verdienst, wenn du es mir jetzt sagtest; droben verrät es die Sonne.«

Sie warf den großen, schönen Mund in die Luft, den die Sonne wahrhaft küßte, er bebte unter ihrer senkrechten Berührung, und lachte: »Vielleicht!«

Die Landstraße schwang und schlang sich um Felsen und kahle Hänge, höher, immer höher, Brücken mit niedrigen Mauern preßten sie über Abgründe, ausladend entlief sie der Gefahr. Wir atmeten Sonne, sprachen Sonne, vergingen und kamen wieder in ihr. Mit eins ruhte die Straße weich an einem Pinienwäldchen. In seinem Schatten küßten wir uns – flüchtig, immer wieder, ohne einander zu berühren, wortlos. Dann nahm sie ein grelles Geröllfeld im Sturm. Ich schrie wie ein Raubvogel, und Maria antwortete ebenso. Unter der hohen Stützmauer eines Orangengartens machte die Straße halt und schaute lange zurück auf das Meer.

Der Glockenschwarm hatte sich in der Bläue aufgelöst. Ein dumpfes Sieden war um uns, sonst kein Laut.

»Maria! Warum aber ... Warum aber bist du oder hast du – was?«

In kühner Haltung stand sie vor mir, am Rande der seitlich ein wenig erhöhten Straße, am Rande des fernen Meers, sie nahm den Hut ab und schüttelte das Haar. »Pulcinella!« rief sie. Sie wirbelte den Hut.

»Als ob du meinen Skalp schwängest«, sagte ich demütig.

»Vielleicht tu' ich das auch«, rief sie und warf sich mit jubelnd erhobenen Armen an mich.

Ich bat: »Sag' es mir doch!«

»Warum willst du nicht warten, bis die Sonne es verrät? Wir sind ja gleich oben.« Die Gärten um Vence standen voller Evabäume, es blitzte im Laub.

Wir betraten die Stadt, immer noch lachend, voll Sonne auch noch im Schatten der Gassen. »Komm,« befahl Maria, »mitten auf den Marktplatz! So. Jetzt mußt du es sehn.«

Wir standen in der Mitte des großen, leeren Platzes, sie hielt die Arme mit geöffneten Händen ein wenig von sich ab, der Kopf lag auf dem Haarknoten im Nacken: »Nun?« fragte sie ernst.

»Am Ende«, meinte ich, »ist es gar kein Geheimnis, sondern nur eine tolle Liebeserklärung?«

Mit einem Ruck wandte sie sich ab, und während sie mit langsamer Gebärde den Hut überzog, spionierte ein ebenso langer Blick aus den Augenwinkeln zu mir herüber. »Gewiß doch!« bekräftigte ich. Mürrischen Gesichtes antwortete sie: »Vielleicht«, und wir schritten dem Hotel zu.

Um unsere Verlegenheit zu zerstreuen, sprach ich: »Siehst du? Die Sonne hier oben! Hatte ich nicht recht?«, aber sie leugnete, daß ich recht gehabt hätte, und schlug ironischen Tones vor, zur weiteren Klärung der Angelegenheit durch die Sonne nach Tisch den Baou zu erklettern, was ich als unnötig ablehnte. Noch während des Essens, drohte ich, würde ich den von ihr angefangenen Satz richtig zu Ende führen.

Das hatte zur Folge, daß sie bei der Suppe und auch noch beim Fisch die Unterhaltung mißtrauisch überwachte, und erst als ein mit getrüffelter Farce gefülltes Huhn sie an das gleiche Gericht erinnerte, das wir einmal gemeinsam mit Bob und Frau Camilla in Straßburg gegessen, vergaß die Kluge aufzupassen und vertraute sich begeistert unsern Erinnerungen an. Da, von der lebhaften Unterhaltung angetrieben, wagte ich die Überrumpelung und sprach unversehens in das Gespräch hinein: »Warum aber lieben wir uns nicht trotzdem, als ob –«

»Claus!!«

Sie hatte Messer und Gabel sinken lassen und versuchte, mich mit ihrem empörten Blick zu bändigen.

»Maria?« fragte ich freundlich, und ich erhob das Haupt, bereit, die erstürmte Stellung nun auch kaltblütig zu überschreiten.

Es sollte mir nicht gelingen. »Ich bitte dich, Claus!« sagte sie, während sie sich über den Tisch zu mir herüberbeugte, voll ernsten Vorwurfes, und als sie den Blick niederschlug und wieder in ihre frühere Haltung zurückkehrte, vollzog sich damit nichts Geringeres als ein anschaulicher kleiner Zusammenbruch. Sie saß sprachlos, blicklos, vernichtet ... Endlich aber führte sie das Weinglas zum Mund, netzte die Lippen und wandte den Kopf langsam nach rechts, wo ein älteres Paar still mit einem überaus blassen, schmalwangigen Mädchen speiste, dann, wie aus einer flüchtigen Ohnmacht erwachend, nach einem Tische links, der von lärmenden Amerikanern besetzt war.

»Niemals habe ich das sagen wollen«, entfiel es ihren Lippen. Dabei schien sie die Champagnerflaschen auf jenem Tisch zu zählen.

»Auch nicht dem Sinne nach?« fragte ich überlegen ... Statt zu antworten, griff sie zu ihrem Glas und trank mir mit einem wehmütigen Blick zu. Nun wußte ich es: ich hatte eine Dame schwer beleidigt, aber, siehe, ihrem alten Spielkameraden verzieh sie mehr, als erlaubt war. Ich lächelte spöttisch zurück, und ich wartete mit dem Trinken, und auch Maria wartete, bis ihr Mund, den ich dabei ansah, sich in den Winkeln zu kräuseln begann.

»Ahnst du noch, was Auguren sind? Im Hotel Danieli habe ich es dir erzählt«, sagte ich. »Gewiß, Claus, und glaube mir, zu den allerschlauesten gehörst du gerade nicht.«

Und der Ball, der zwischen uns hin und her flog, blitzte wieder wie der Wind im Laub der Evabäume.

Als wir aber kurz hernach auf der Terrasse saßen, wo nur der Duft des Kaffees etwas wie Kühle in die Parfüms und die Körperwärme der Männer und Frauen streute und die Liebe gleich einer Flamme im hellen Mittag zwischen den Gruppen umhertanzte (wie Kinder schlugen oder griffen sie darnach), in dieser menschenschwülen Gemeinschaft und Gefangenschaft vor dem lichtwütigen Mittag, der das Olivenland unter uns beschlief, in dieser Licht- und Atemnot dachte ich an nichts mehr, als an das seraphische Morgengeläute des Domes von Vence, wie es hoch über uns im Himmel gehangen, und wie die Landstraße uns lautlos emporgezogen hatte, höher und höher, und daß, kaum, daß wir unter Menschen weilten, wieder alles verspielt und verloren sei und unserer Irrfahrt kein Ende. Meine Augen suchten die Kranken auf der Terrasse, und ich verweilte dienenden Herzens bei ihnen, ja, ich wünschte, ihresgleichen zu sein und einzig und allein unter ihnen zu leben – so, wie sie eben lebten, indem sie, ein wenig matt, doch mit einem heimlichen Jähzorn, ein wenig fiebrig und verantwortungslos, schnell noch nach dem Leben griffen, ihm allerhand abstahlen. Die Mondnachtvision von den Kranken in Vence, die ich in jener Stunde der Kassiopeia gehabt, umgab mich mit ihrem weißen Schauder. Und jetzt war Maria da! Hatte ihre Anwesenheit mich lebendiger gemacht? ...

Auch Maria hatte geschwiegen. »Hundert!« sagte sie plötzlich, und als ich sie erstaunt ansah: »Hundert Orangen habe ich jetzt da unten gezählt. Nun, meine ich, ist unsre Zeit hier abgelaufen.«

Wir brachen auf.

Großer Gott, wie stark und klar verlief unser Heimweg um die abfallenden Olivenwälder, Steinterrassen, goldgrünen Haine und über die Klüfte an diesem Mittag! Das Städtchen Vence, das wir kreuz und quer durchforscht hatten, war der Vision unter der Kassiopeia sehr unähnlich gewesen, auch abgesehen davon, daß es jetzt nicht im Mondschein schwamm, sondern von einer mächtigen Sonne gezeichnet war. Es strotzte von Leben, und dieses Leben zeigte sich sogar recht rücksichtslos in manchen Gassen, wo die Haustüren aufstanden und nur die schmale Schwelle die Gasse von der Stube trennte. Wir sahen Menschen arbeiten, schlafen, zanken, lieben, in einer Schusterstube krähte, als wir vorbeigingen, ein Hahn.

Nun schritten Maria und ich Hand in Hand die starke, standhafte Landstraße hinab, die uns so schön beieinander hielt, und ich dachte über den »kranken Punkt« in mir nach, jene morbide Schwäche, die mich zuweilen befiel und aller Lebenskraft beraubte, so daß ich mich nach Krankheit und Behütetsein sehnte, nach einem Liegestuhl am Rande des Todes, und, wenn ich wirklich einmal krank war, die Krankheit mit Wollust genoß. Darüber dachte ich nach, mit festen Schritten und Maria in einem tiefen, ruhigen Gefühl verbunden ... Wieder standen zu Seiten der Straße die Gärten voller Evabäume, doch in einer Stille, die hochgemute Gewißheit atmete, nicht das geringste Zittern war in ihnen, keine Heftigkeit des Lichts brach ihr Laub auf, versonnen hingen die reifen Orangen. Ich fühlte mich stark, ich fühlte mich froh. Mein Anfall von wehleidiger Schwäche war bald vergessen, nur ein Geschmack wie von abgestandenem Weihrauch lag mir noch auf der Zunge, o ich kannte ihn gut, die peinliche Erinnerung daran reichte bis in meine Kindheit zurück, oft hatte ich geglaubt, es sei der Geschmack Venedigs ... Und plötzlich kam mir eine Erleuchtung. Hatte ich nicht erst wieder angefangen, mit Sehnsucht an Maria zu denken, als ich in Köln auf dem Krankenlager gelegen, war nicht die lyrische Wehleidigkeit zuerst wieder unter dem geschwungenen M der Kassiopeia aufgebrochen? Und die Jahre unserer Freundschaft im Geiste zurückschreitend, fand ich jene Trauer überall wieder, wo Maria meinen Weg gekreuzt hatte. Die süßliche Wehmut der Schwäche, sie war der Geschmack meiner Liebe zu Maria, der Nachgeschmack ihrer spärlichen, heftigen Küsse!

Von der sich neigenden Sonne umdonnert, blieb ich stehn, ich faßte Maria bei den Schultern und musterte sie: Augen, Mund, Stirne und Kinn, ich versuchte, in ihr zu lesen, doch alles: Augen, Mund, Stirne und Kinn, die edeln Schultern ... und die Hände, die sie fragend zu meinem Gesicht hob, alles stand so klar, so fest in der Welt, deutlicher, als irgend etwas, Baum, Felsen, Strauch, womit ich sie, wegblickend, verglich, und war mir so restlos vertraut, daß ich sie als die allergrößte Gewißheit mit Händen griff. Mitten auf der Straße umarmten wir uns, bis zum Taumel. Sie muß mein sein, schrie es in mir, das ist's, und ich wußte nicht, wollte ich damit eine Qual vernichten oder den Gipfel des Glücks erstürmen, wollte ich sie auslöschen und mich erhöhen, um »frei zu sein«, oder einfach nur meine süße Sklaverei gekrönt sehn. Aber eines ist gewiß: nicht an Maria dachte ich – nur an mich. Die Hände in ihre Schultern geschlagen, hielt ich sie von mir ab und sprach glühend in ihr offenes Gesicht: »Du mußt mein sein ... Je te veux.«

Langsam, wie mit Anstrengung, schlug sie die Augen nieder, der große, weiche Mund zuckte, das Kinn hob sich ein wenig, sie schwankte, dann schlug ein Jubel durch ihren Körper, sie warf sich an mich.

»Laß nur, Claus«, flüsterte sie. »Laß nur. Seit heute ist alles gut«, und Hand in Hand, die Augen voll Erdenglanz und Himmel, schritten wir weiter, die Straße klang unter unsern Tritten, und das war der einzige Laut, der in der Sonne zu hören war ...

 

Im Hotel angelangt, übergab man uns einen Brief Bobs, der mitteilte, daß Frau Camilla komme und er es aus verschiedenen Gründen vorziehe, mit ihr in Cap d'Antibes zu wohnen; er war schon vormittags abgereist.

»Weißt du was?« sagte Maria ruhig. »Wir lassen gleich packen und fahren auch hinunter.«

»Schau mich, bitte, mal an«, gab ich nach einer Pause des Staunens, der Verlegenheit zurück, und das war dumm von mir, denn als sie entschlossen das Kinn hob, konnte sie mit aller Muße beobachten, wie ich gerade bis in die Augen errötete. Ich hatte mich gefragt, ob sie nicht doch am Ende meinen nächtlichen Spaziergang belauscht hätte, und nun erinnerte ich mich mit eins, daß ich ihr während der zwei Minuten, die sie gestern nach der Rückkehr von Monte Carlo hier im Saal verweilt war, »eine hübsche Frau« gezeigt hatte, nämlich die Hirschkuh, die auch Agathe hieß, wenn man es wissen wollte ...

»Darum?« fragte ich von ungefähr.

»Ja, darum«, erwiderte sie festen Blickes.

»Du machst dir unnötigerweise Sorgen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Ich bleibe nur keine Stunde länger in diesem Hotel. Und ich bitte dich, Claus, mich nach Cap d'Antibes zu begleiten.«

»Unter die durchdringenden Augen deiner Mutter?«

»Warum nicht?« fragte sie arglos. »Haben wir etwas zu verbergen?«

»Zum Donnerwetter, nein!« rief ich aus und eilte zum Telephon, um die alte Marchesa zu bitten, uns ihren Wagen zu schicken.

Er ließ nicht lange auf sich warten. Als wir eine Stunde später, vom kalabresischen Räuberlein mit tiefgesenktem Hut betrauert, den Hof durchschritten, lag Agathe, weich von der Sonne gegossen, in einem Lehnstuhl. Ich glaubte ein leises Beben unter den geschlossenen Lidern zu bemerken und grüßte, wobei ich die Hand ans Herz führte. Sie lächelte reglos, ohne die Augen zu öffnen.

Das Hotel stand dicht am Meer, auf der Spitze der Halbinsel. In windigen Nächten war es vom Brausen des Wassers erfüllt, und auch wenn Wind und Wellenschlag sich gelegt hatten, sauste es bis zum Morgen gleich einer großen Muschel.

Auf einer Landzunge hinter dem Hotel aber blühte ein einzigartiger Garten. Ein spleeniger Franzose hatte ihn vor vielen Jahren bauen lassen, zugleich mit einer Moschee als Villa und seinem eigenen Marmorgrab. Dieses hatte er früher bezogen als das Haus, dessen innere Einrichtung nie beendet worden war, denn die Erben kümmerten sich nicht um das Paradies eines toten Narren, und der Garten durfte ungehemmt verwildern. Als Maria und ich ihn zum erstenmal betraten, drangen wir nur zögernd, mit weit geöffneten Augen vorwärts, wie man in einem alten, feierlich schönen Münster geht. Der gelbe Ginster blühte massenhaft in großen Büschen, überall reckten sich ganze Lanzenbündel von Aloeblüten aus ihrem Buschwerk, karminrot, rosa angehaucht. In einem klarblauen Tümpel wie ihrem eigenen Duft und Schweiß standen Fackellilien und schossen die Kolben ihrer Purpurblüten in die Sonne, die Felsen waren mit Kakteen übersät. Alle möglichen Arten von Palmen und Schirmpinien standen leicht über den Garten verteilt, so war dafür gesorgt, daß sie sich als Vasallen benahmen und der Sonne den »großen Zutritt« ließen. Am Strand, zwischen den Kieseln, blühten Krokusse. Eine Heine Bucht öffnete sich in der zerklüfteten Riesenmauer der Muschelkalkfelsen, und darin spielten zwei nackte Knaben. Entzückt blieben wir stehn ...

Der Küste felsengewaltiges Wehr
Macht sich ganz klein und rund:
Zwei Kinder spielen mit dem Meer
Wie mit einem großen Hund.
Die Sonne in ihrem weißglühenden Schuh
Stellt als ihre Amme sich dazu.

Es war mir nicht bewußt, ein Gedicht gemacht zu haben, als ich, leicht mit den Worten kämpfend, dieses langsam drei-, viermal und immer deutlicher vor mich hingesprochen hatte ... Inzwischen begrüßte Maria die Kinder, ließ sich von ihnen einen Strauß Krokusse pflücken und beschenkte sie.

Von den Rufen der Kinder angelockt, tauchte hinter einem Felsen der Bucht ein alter Fischer auf, Hosen und Hemdärmel aufgekrempelt; er winkte uns großartig zu. Dann setzte er mit auffallender Sorgfalt in seinen Bewegungen die Arbeit fort, wobei er die ganze Anmut eines bejahrten, aber rüstigen Südländers entwickelte. Und da er uns also ein Schauspiel gab, verbeugten wir uns lachend und machten es uns auf einem Felsvorsprung bequem. Er fing Seeigel, stachelige Kugeln, die einen braun und noch dunkler, die andern lila. Mit langen Stangen stöberte er im felsigen Boden und löste die Tiere, die sich mit den Stacheln zwischen den Steinen festklammern, mit dem Messer los. Winzige Schaltiere warf er uns herüber, die wir kosten mußten – sie schmeckten besser als Austern. Krabben, Muscheltiere folgten, nicht größer als die Spitze des kleinen Fingers. »Kein richtiger Fischfang,« erklärte er, als er schließlich zu uns trat (das dunkelbraune, bärtige Haupt leuchtete vor uns, aus dem Ausschnitt des roten Hemdes quollen weiße Zotteln), »aber die rechte Arbeit für Alte wie mich.« Darauf entleerte er einen Sack, der neben den Kindern gelegen hatte, und zeigte uns Polypen, Tiere von der Größe eines Teetisches, ein formgewordener Schleim, über dessen Kraft wir uns wunderten, manche weißlichgrau, andre mit dunkleren und rosa Flecken, die Saugnäpfchen wie Backenzähne, wieder andre braunrot, aufglühend im Licht. Der Fischer tötete einen solchen Kopffüßer mit einem Messerstich »neben das Auge«, aber Maria und ich konnten uns in dem komplizierten Organismus nicht zurechtfinden, wir sahn viele Augen, und was das Auge war, hätte geradeso gut etwas andres sein können ... Gleich machte das Tier schlapp. Es öffnete sich wie eine große Blume, die Fangarme glichen langen Blättern – eine Blume, würdig der tollen Sonne!

Nachdem wir eine Weile geplaudert hatten, entrollte er Hosen und Hemdsärmel, strich sie sorgfältig glatt und lud »uns und die ganze Familie« zum Essen ein: zum Essen mitten im Wildgarten, unter der Sonne.

Es stellte sich heraus, daß er mit seinen beiden Söhnen seit zwanzig Jahren in der Moschee wohnte, ohne Zins zu bezahlen, ohne die Besitzer je gesehn oder von ihnen gehört zu haben, es war sein Reich hier, niemand bestritt ihm die Herrschaft. Als er in edlem Stolz die Arme in die Luft warf, klirrten die geweihten Medaillen auf seiner Brust.

»Ich habe auch eine Tochter«, sagte er, und nach einer Pause, die Augen aufreißend: »Giulietta Var!«

Sein Arm deutete groß nach Nordosten, in den Himmel, in die Richtung St. Pauls.

»Der Schwede Kaspar,« fügte er hinzu, während er bescheiden die Augen niederschlug und die Stimme senkte, »der Schwede Kaspar hat mich als ägyptischen König gemalt.«

Das Gartenessen wurde für den nächsten Sonntag verabredet. Wir hatten uns schon einige Schritte entfernt, als er uns anrief und, die Hände in den Hosentaschen, schlendernden Ganges nachkam. Seine Haltung drückte sündhafte Vertraulichkeit aus.

»Wenn Sie erlauben, sagte er, »will ich Ihnen unser Felsenbad zeigen. Ein Geheimnis. Ich wäre glücklich, es Ihnen zu schenken. Solange Sie hier wohnen, soll es Ihnen allein gehören.

Wir bestiegen einen Nachen, der in der kleinen Bucht hinter einem Felsen versteckt an der Kette gelegen hatte, der Alte ruderte uns ins Meer hinaus, um die dünne Spitze der Halbinsel und dann geradeswegs auf ein gewaltiges Gebilde aus Muschelkalk los, das sich wie eine steinerne Orgel aus der niedrigeren Küste erhob. Das Wasser davor lag fast reglos, was daher rührte, daß sich eine Schicht glatter Felsen, allmählich abfallend, unter dem Wasser bis weit ins Meer erstreckte. Nachdem wir seitlich der Brandung gefolgt waren, landeten wir auf einer breiten Terrasse, die sich am Fuß der Steinorgel entlang zog und gegen das Massiv hin mit einer Reihe von je zwei zusammenstehenden Säulen abschloß. Das Meer hatte sie aus der Felsenmasse gehauen, sie geglättet und mit zahllosen Arabesken geschmückt. Während wir auf der glatten, sonnigen Terrasse an ihnen entlang gingen, bemerkten wir, daß die Säulenpaare ebensoviel Eingänge in graugrüne Höhlen bildeten, in deren Hintergrund hie und da weißes Sonnenlicht platzte. Die Steinorgel erwies sich als von beträchtlicher Tiefe, sie war vom Land aus unzugänglich, viele der Höhlen aber öffneten geräumige Licht- und Luftschächte in den Himmel, und an diesen Stellen wuchs auf dem Boden ein dichtes, grünes Moos, das mit winzigen weißen Sternen bedeckt war. Herrlich!

Der Fischer ruderte zurück, übergab uns den Schlüssel des Vorlegeschlosses, und nachdem er wie ein ägyptischer König gegrüßt hatte, der Tochter und Schwiegersohn in die üppigen Gefilde der ihnen verliehenen Provinz entläßt, beeilten wir uns lachend, das dünne Kap zu umschiffen und von unsrer neuen Residenz Besitz zu ergreifen. Wir entkleideten uns, ohne einander anzusehn, und liefen gleichzeitig so schnell wie möglich die Steinböschung ins Meer hinunter. Als wir den Boden unter den Füßen verloren hatten, schwammen wir aufeinander zu und küßten uns. Wir versuchten auch zu tauchen und uns unterm Wasser zu küssen. Nach vieler Mühe gelang es. Da waren wir aber auch schon erschöpft, und wir legten uns, eine Armlänge voneinander entfernt, auf die Terrasse, um zu trocknen. Maria hatte ihr Haar gelöst und es in Form eines großen schwarzen Fächers über den warmen Stein gebreitet – in der Mitte lag das blasse Gesicht mit den geschlossenen Augen, darüber die Brauen, die ein wenig zu schwarz, mit den Lippen, die ein wenig zu rot waren, und so erinnerte sie an eine große, fleischige Blume, Geschöpf und Opfer dieser Sonne ...

Fortan verbrachten wir die halben Tage auf der Terrasse und in den Gewölben der Steinorgel; wir wurden rot wie Indianer und mußten uns viel salben, bis unsre Körper die edle Farbe der Nubier annahmen. In der übrigen Zeit fuhren und wanderten wir durch das Land, rund um den Baou, bis an die Alpen, von einem Ende der Riviera zum andern.

Nur den Baou hatten wir noch immer nicht bestiegen, und zwar aus dem einzigen Grund, weil angeblich die Fahne noch nicht fertig war, die wir dort oben hissen wollten, und zu der Maria einen weißen, mit Flittersilber bestickten Venezianerschal herrichtete, den sie bei unserm ersten Aufenthalt in jener Stadt gelegentlich getragen hatte.

Was inzwischen die andern um uns trieben, das geschah in einer Welt, in der wir nur besuchsweise auftauchten. So wurden in Nizza die Ausstellungen Kaspars und Lord Berricks an ein und demselben Tag eröffnet und beide vom Prinzen Albert in Begleitung des Prinzen von Wight besucht. Dem Prinzen von Wight gefiel das Bildnis Madams als Kleopatra (mit der goldenen Schlange und dem chinesischen Sklaven) über die Maßen, er bedauerte wiederholt, daß es nicht käuflich sei. Darauf wollte der Künstler ihm Giulietta vorstellen, was aber auf Veranlassung der anwesenden Lady Isabel durch den Adjutanten Seiner Hoheit im allerletzten Augenblick verhindert wurde. Madam mußte in die Ecke zurücktreten, aus der sie schon mit dem Schritt der Siegesgöttin gerückt war, und Kaspar, der sofort den Ausstellungsraum verließ, konnte sich nicht enthalten, dem vor der Tür wartenden Ingels (sprich: Ingols) seine abfällige Meinung über die Lady ins Gesicht zu schleudern. Da traten die hohen Herrschaften auf die Straße und wurden Zeugen, wie Ingels den Künstler mit einem kurzen Faustschlag aus dem Weg räumte; zwei Geheimpolizisten fingen ihn auf und führten den vor Rachedurst Verzweifelten um die Ecke in eine Nebenstraße. Als hinter ihnen die Autos tuteten, ließen sie ihn frei ... In Lord Berricks Ausstellung hingegen kaufte Prinz Albert die »Diana« und ließ die anwesende Peggy durch Missis Perkins nach Beaulieu einladen, in der freudig ausgesprochenen Hoffnung, ihr dort wieder und nicht gar so kurz zu begegnen. (Und dort ist sie auch geblieben, bis sie Herzogin von Wight wurde.) Am selben Abend war dieser traurige Sachverhalt in St. Paul verbreitet ...

Maria und ich fuhren oft in der Frühe nach Nizza. Hatte der Blumenmarkt uns enttäuscht, so waren wir dafür vom Fischmarkt geradezu überwältigt, und wir versäumten es nie, ihn aufzusuchen, gab es doch auf den Tischen der Händler wahre Wunder an zartester Farbe und kostbarer Zeichnung zu bestaunen. Darauf wogten wir in der weißgekleideten Menge der Spaziergänger, schaukelten auf der Heiterkeit des schönen Vormittags ... Wir aßen in einem Hotel des Quai du Midi und fuhren in unser Bad.

Dieses Hotel war hauptsächlich von Engländern besucht, und hier, im Speisezimmer und in den Salons, ging mir allmählich die Bedeutung Lady Isabels, der Führerin, auf. Sie war in der Tat eine Revolutionärin! Angesichts der englischen Herren und Damen, die feierlich wie ungeölte Maschinen beisammenhockten, in einem gequälten Winkel voreinander standen und, genau nach der Uhr, dieselbe Plattitude von Leben täglich von neuem begingen, Höhlenmenschen, Maulwürfe, die merkwürdigerweise die freie Luft liebten und Sport trieben, sehnte ich mich heftig, daß die mit dem Leoparden wandelnde Lady hier einbräche und den Philistern einen panischen Schrecken einjagte, ach ja, mit Wort und Gebärde, mit jedem Wort, mit jeder Gebärde, mit jedem Blick ... Einmal kam sie auch – in Begleitung ihrer Freundin, der deutschen Dichterin Aggie Ruf, einer langgliedrigen, eckigen, jungen Dame, die angstvolle Blicke um sich warf und viele Brotscheiben verkrümelte. Jedoch sie kümmerte sich gar nicht um die Philister, und als sie uns nachher im Salon begrüßte und ihrer tief errötenden Freundin vorstellte, war sie von einer ganz großen, vollendet schönen Einfachheit.

»So hat sie uns alle in ihrem Hause als Philister behandelt?« sagte ich auf der Heimfahrt zu Maria. »Oder sie hat geglaubt, uns gleich politisch bearbeiten zu müssen, je stärker, um so besser? Eine nette Art, für ihre Ideen Propaganda zu machen!« Maria vermutete, wohl mit Recht, sie sei einfach schlechter Laune gewesen (Politiker: die launenhaftesten Menschen der Welt!), oder aber es sei vielleicht ihre Art, gleich ihre dickste Visitenkarte abzugeben. Die Wahrheit zu sagen, habe ich das Wesen Lady Isabel Berricks niemals klar erkannt, obwohl ich später noch oft genug von ihr gehört habe. Alle Welt stellt ihr das Zeugnis aus, daß sie wahrhaft eine Vorläuferin, Führerin, ein society leader eigenen Stils gewesen, eine Art Marathonläufer, der in der englischen Gesellschaft der Jahrhundertwende erschien, um einen Sieg auszurufen, von dem die verschlafene Welt noch nichts gewußt hatte. Der Lord sagte mir einmal: »Ich halte nicht viel von der Politik und mag sie auch nicht. Aber ich liebe meine Frau und schätze sie hoch.« Zweifellos gehören bei einer führenden Frau die Manieren noch in viel höherem Maße zur Politik als bei einem Mann, und sicher ist, daß die Lady die Philister verachtete und die Snobs nicht zu fürchten brauchte. Je schlechter sie diese behandelte, um so begeisterter folgten sie ihr, jene hielt sie sich durch ihren Rang und ihre Wildheit vom Leibe. Um so komischer will es mich dünken, daß sie nach ihrem Tode gerade der Abgott der liberalen und sozialen Spießer geworden ist und ihr »Charakterbild« nicht um einen Millimeter »in der Geschichte schwankt«.

An diesem Tage, im Hotel am Quai du Midi, habe ich sie zum letztenmal gesehn ...

Maria und ich kehrten im Segelboot nach Antibes zurück.

Wir blieben die ganze Nacht im Wildgarten, bis die große, dünne Scheibe des Vollmonds aus dem Himmel fortgenommen war. Wir konnten uns nicht voneinander trennen und sagten es uns immer wieder.

Während Maria, die dicht neben mir unter einer Schirmpinie lag, von Rom, Verwandten, Bekannten erzählte, von Bob und Camilla, die jetzt, wo sie sich zum erstenmal seit jener Unglücksnacht wiedergesehn, so glücklich miteinander lebten, verfolgte ich den zunehmenden Schatten einer Zypresse, die unter uns im vollen Mondschein stand. Ich dachte an die Wiesen um Breuschheim, auf denen jetzt ein Mondscheinnebel schwamm, während die Vogesen säuberlich ausgeschnitten und flach gegen den dunkelvioletten Himmel lehnten, an den Rhein zwischen seinen Pappeln, von denen jede einen Stern trug, und ich reiste auf ihm zu Tal – eine rasche Reise, schon war ich in Köln. Ob Doris und Pia im grünen Zimmer mit Arno Steinberg musizierten? Nein, dazu war es wohl zu spät – ich hob ein wenig den Kopf: der Schatten meiner Zypresse begann sich an seiner Spitze, wo er einen Felsen berührte, zu krümmen. Wieder war mindestens eine Stunde vergangen. Das Kiepersche Haus lag im Schatten seines Gartens verankert, durch die Gitter des Parktors leuchtete das weiße Mondmeer ... Die Sprache meiner Gedanken war nicht mehr dieselbe, die ich den ganzen Tag und die halbe Nacht gesprochen hatte, nicht deutlich, nicht behend, nicht mehr den Dingen entnommen, so daß man die Maserung noch erkennen konnte, ihren Klang und den Geruch. Nur Maria sprach sie noch ... In rascher Folge wischte das Licht des Leuchtturms über den Mondschein.

»Maria, willst du mal zuhören?« fragte ich endlich. »Gern, Claus, gern!« Sie wußte schon, was kommen sollte, und dann sprach sie mir die Sätze des Gedichtes nach, und als es fertig war, begannen wir von vorn und lernten es zusammen auswendig.

Antibes! Hängende Gärten ohne Zahl
Und weiße Vögel die Villen, auf Pinien –
Millionen Blumen tragen des Mondes Mal.
Der See entsteigen in melodischen Linien
Geliebte, Freunde deiner heimlichen Wahl,
Sie kommen und gehn – wie waren sie dein!
Du nahmst sie, verlorst sie – wie bliebst du allein,
Gebadet in der Sterne entzückendem Wein!
Ach fühl': wirst du nicht hold besessen
Vom Schönsten, was dir fern und fremd?
Die Lust – kein Sterblicher kann sie ermessen!
Du ruhst im Hochzeits- und Totenhemd,
Stumm bei der Monduhr der Zypressen.

Ich habe weder vor, noch nach dieser Zeit in Cap d'Antibes jemals Gedichte gemacht und trotz meines Bemühens, recht scharf aufzupassen, wenn solch ein weißer Hase sein Ohr herausstreckte, es alles in allem nur auf ein Dutzend gebracht. Sie waren für Doris! Die Musik, die sie veranlaßte, kam von ihr, und mein Kommentar über die zwei, drei hohen Geigentöne, die aus dem Norden bis zu mir gedrungen, ging mit der nächsten Post an sie ab ...

Erst als wir das Gedicht gut auswendig konnten, wandten wir uns wieder das Gesicht zu und ließen unsre eigene, katzenhafte Sprache sich rollen, sich sonnen, in den Mond blinzeln und springen, wie sie es gewohnt war.

Später holten wir im Hotel Mäntel und Decken und streckten uns zum Schlaf unter der Schirmpinie aus. Wir konnten uns nicht trennen. Bei Morgengrauen schlichen wir uns in unsre Zimmer, badeten und gingen in den Nelkenhäusern spazieren, wo die Gärtner bereits an der Arbeit waren und den Blumen aus großen Handspritzen ihr Morgenbad verabreichten.

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Maria wurde mein. Es war ebenso einfach wie damals, als sie eines Nachts zu mir kleinem Jungen gekommen war, weil Boris mit durchschossener Stirn in Donjas Zimmer lag und sie sich fürchtete, allein zu sein: es rieselte in den Wänden des Totenhauses, und die Stille war zu tief für ihr jagendes Herz. Eines Abends trat ich in ihr Schlafzimmer. Sie stand im Nachtkleid vor dem Spiegel, im Begriff, das Haar für die Nacht zu ordnen. Die Türklinke in der Hand blieb ich stehn. Sie wandte den Kopf, ohne die Stellung der Hände, die das Haar gefaßt hielten, zu verändern. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich verstand nichts. Ich ging einen Schritt auf sie zu, da schüttelte sie den Kopf, daß der angefangene Zopf auseinander flog, und lief mir in die Arme.

Und seltsam: als sie aus meinen Armen gesunken war und reglos neben mir lag, hörte ich jene Stille wieder, in die damals alle Stille der Welt geströmt war. Erschrocken fuhr ich auf: blanke Mondglut lag auf dem Meer. Sie blendete. Einen Augenblick glaubte ich, es sei das Mondsilber der venezianischen Lagune, ich vernahm die mörderische Stimme der Fürstin. Dann aber schwirrte Donjas Lachen über mich hin – in einem dunkelroten Kleid mit, Silberstickerei schwebte sie auf einer Morgenwolke. Marias Arme legten sich kühl um meinen Hals.

 

»Mio Dio – es ist geschehn!« rief die alte Marchesa aus, als wir, korrekt wie immer, an den Frühstückstisch traten. »Schauen Sie nur, Camilla, sie tragen beide einen Heiligenschein.« Maria überhörte die Bemerkung, sie saß aufrecht und blickte zerstreut ins Frühstückszimmer. Ich hatte sie noch nie so erwachsen gesehn!

Indes zog ich eine gelbe, blutrot geäderte Rose aus dem Knopfloch, die ich eben in der Halle gekauft hatte, die Hand der Marchesa lag neben mir auf dem Tisch, ich beugte mich tief und küßte sie, dann überreichte ich der Marchesa die Rose.

»Danke«, sagte sie. »Ich lasse sie pressen und in ein Beutelchen einnähen. Es soll gut sein gegen Migräne, und ich glaube auch gegen Gliederreißen. Da kommt der Strata, er kaut schon wieder an seinem Ehrgeiz. Sie wandte sich zu ihrem Sohn: »Bob, du darfst ihn unter keinen Umständen ohrfeigen, selbst wenn er zu Camilla frech wird. Der Schuster wünscht nämlich nichts andres. Er möchte aus dem politischen Teil der Zeitung, den doch nur seinesgleichen liest, in die gesellschaftliche Rubrik springen; die Lackschuhe, siehst du, hat er schon an.«

»Nun, Bonaparte Strata, wie haben Sie geruht zu schlafen?« begrüßte sie ihn mit einem gewinnenden Ruck des immer noch hübschen Köpfchens. Wie fühlen Sie sich in diesem immens schicken Hotel?«

Der Abgeordnete Strata neigte bitteren Lächelns den Zäsarenkopf und rollte die Augen nach den Nebentischen, von wo man mit unverhohlener Geringschätzung auf ihn herüberblickte.

»Ja, jetzt kommen Sie an die Reihe, wie Ihr stiller Gönner, der Lord Berrick, so gern prophezeit«, fuhr die Marchesa fort.

»Marquis Capponi«, sagte er leise, während er eine Zeitung neben sich legte. »Unsere Papiere steigen.« Bob, der im Arbeiterfänger von Mailand »ein Finanzgenie« entdeckt hatte, spielte mit ihm an der Börse. Er warf Camilla einen ironischen Blick zu. Diese aber wußte gar nicht, daß sie mit offener Bewunderung an dem mürrisch-selbstzufriedenen Gesicht des Agitators hing; es war so blaß, daß man erschrak, wenn die Lider während des Gesprächs die schweren, gelbschwarzen Augen einmal zudeckten.

»In zehn, fünfzehn Jahren, Marchesa,« sprach er, »werden Sie vielleicht meine Visitenkarte brauchen, um aus Rom zu fliehen.«

»Das genügt mir, Signor, ich habe nicht die geringste Lust, irgendeine Revolution mit meiner Anwesenheit zu beehren, nicht einmal die italienische. Was aber wird dann aus der Börse?«

»Dieser Spaß, Marchesa, wird von selbst aufhören.«

»Bis dahin also können wir ein schönes Stück Geld verdient haben, Sie und ich«, meinte Bob beschwichtigend. »Möglich. Jedenfalls wird es mir auch der reinste Adel nicht verübeln, wenn ich mich gelegentlich ebenso tief nach dem schmutzigen Geld bücke wie er selbst. Um so mehr, als ich es viel besser verwende als irgend jemand in diesem Saal.«

Langsam ließ er einen drohenden Blick über die Nebentische schweifen – ich habe bei keinem andern Menschen solche rollenden Augen gesehn, sie rollten mit einem gewissen Donner, es lag ein elementares Grollen darin. Er war kein Politiker, sondern ein Soldat und ging mit gesellschaftlich Übergeordneten um wie mit Vorgesetzten, die er in der Laufbahn bald überholt haben würde ...

Eine halbe Stunde später fuhren Maria und ich an den Fuß des Baou, um auf ihm die Fahne zu hissen, »die Siegesfahne des Schönen und Guten«, zitierte Maria den Schweden. Wir mußten den Felsen auf einem großen Umweg erklettern. Dabei erzählte sie mir, daß sie schon beim Gang mit Kaspar und den Damen Berrick über das Hochland beschlossen habe, das Heldenstück aus eigenem zu vollbringen, und gleich sei ihr als geeignetes Tuch der venezianische Schal in den Sinn gekommen. Aus alter Anhänglichkeit hatte sie ihn eingepackt. Er, er allein sollte auf dem Baou flattern – wenn der Tag gekommen wäre ... Sie hatte den Kopf nach mir umgewandt. Aus den langen Augenwinkeln blitzte es. Ich lachte.

»Der heutige Tag, Claus!« rief sie ernst. »Was gibt es denn da zu lachen?« Sie drehte sich auf dem steinigen Pfad vorsichtig um.

»Ich bewundere dich«, sprach ich zu ihr hinauf.

»Das kannst du ruhig tun – aber warum lachst du?«

»Aus Freude, Maria, aus lauter Freude! Wir werden ein Sonnenbad nehmen, dort oben!«

Unwirsch kehrte sie sich ab, und wir kletterten schweigend weiter. Mein Lachen aber blieb mir im Gesicht geschrieben, viel Schweiß rann darüber, ohne es abzuwaschen – o du herrliche Welt!

Auf dem Felsen angelangt, packte ich das Tuch aus, und Maria nähte es an das Drahtseil.

»Wird denn das schwere Tuch nicht reißen?« fragte ich.

»Nicht so schnell! Ich habe es auf dem Dach des Hotels ausprobiert. An der Fahnenstange, verstehst du. Da lacht er schon wieder! Die Fahnenstange unsres Hotels befindet sich doch auf dem Dach, du Dummer.«

Als das Tuch mit dem Drahtzug vernäht war, bestand ich darauf, daß wir uns entkleideten, um die feierliche Handlung des Hissens vorzunehmen. Es müßte im schönsten Festgewand geschehn, erklärte ich, so wäre es allgemein üblich, sowohl in Republiken wie in Königreichen, und wir könnten unmöglich schöner sein als in unsrer nackten, nubischen Pracht. Dann zogen wir zu zweit die Fahne hoch, Maria einen Zug, ich einen Zug, und zuletzt mußten wir uns beide an den Draht hängen, um die Fahne bis an die Spitze der Stange hochzubringen. Denn wir hatten es mit dem Winde zu tun! Eifersüchtig zerrte und riß er an dem weißen Seidentuch, das in Wirbeln und Feuerbündeln aus seinem Silberflitter sprühte.

Endlich waren wir fertig. Maria rieb umständlich die Hände an meinen Schultern, bis sie plötzlich mit einem Freudenruf zu einem Büschel Thymian lief, der lila zwischen zwei Steinen blühte. Sie streckte sich flach auf den Boden aus und schnupperte abwechselnd an der Pflanze und an ihren Händen, zwischen denen sie sorgsam einzelne Blüten zerdrückte. Endlich schien der Akkord zu stimmen, sie reichte sie mir, die Hände, und wir nahmen die Fahnenstange in die Mitte und umtanzten sie. »Frère Jacques,« sangen wir, »Frère Jacques, dormez-vous, dormez-vous? Sonnez les matines, sonnez les matines!« – ein völlig unangebrachtes Kinderlied, das sich weder mit unseren Tanzschritten, noch mit den Winden des Baou, noch mit der schon beträchtlich hohen Sonne vertrug und auch bald in einem gemeinsamen Gelächter von Maria und mir in die Sprünge ging ... Allmählich begann der Felsen trotz des kühlen Windes unter uns zu glühn. Wir brachen auf.

Doch bevor wir den Abstieg antraten, schauten wir noch einmal mit weiten Augen um uns. Ich lehnte gegen die zitternde Fahnenstange und hielt meine Geliebte im Arm. Ihre Hand lag leicht an meiner Hüfte. Über uns im Himmel knatterte und rauschte die Fahne ihrer Wahl, wand sich mit Seufzern und Aufschreien der Lust, in einem ständigen, großen, weißen, überschießenden Blitz. Inbrünstig jubelte sie über dem seligen Land. Zwischen schneebedeckten Alpen und dem Meer spiegelte es in seinen Lebensfarben diesen Himmel, dem wir so nahe waren, wir kannten alle großen Straßen und viele seiner kleinen Wege, viele seiner Gärten, alle weißen Städte am Meer, manches Dorf auch inmitten seiner hängenden Orangen- und Rosengärten, viele der Pfade, die zwischen den Tausenden von kleinen Terrassen herumkletterten. »Danke!« schrie ich in den Wind und die Sonne. »Danke! Danke! Danke! Mein ganzes Leben will ich danken, mein Leben lang danken!« Ich sang es.

Und Maria sang es mit mir.

 

»Nun, Claus, was sagen Sie zu Ihrem Bruder Ernst?«

»Was sollte ich wohl sagen, Marchesa?«

»Soso. Hat Ihnen Maria nichts erzählt?«

»Nein, Marchesa, Maria hat mir nichts erzählt.«

»Es scheint, Ihr Bruder ist gar nicht Ihr Bruder, kaum Ihr Neffe! Als zweijährige Waise haben Ihre guten Eltern ihn an Kindesstatt angenommen. Sie waren noch gar nicht auf der Welt, Claus. Ja, geht denn so was im Elsaß, ich meine: gesetzlich?«

»Mama, das hättest du für dich behalten können.«

»Warum? Der Junge soll das wissen. Er soll seinen großen Bruder kennen. Ich möchte nur wissen, ob das im Elsaß geht, daß man den Kuckuck im Nest zum Kronprinzen macht.«

»Ich weiß nicht, Marchesa, was das Gesetz darüber bestimmt. Aber wir sind als Brüder erzogen worden, und ich war schon fast erwachsen, als meine Eltern mich über mein Verwandtschaftsverhältnis zu Ernst aufklärten.«

»Soso.« Das Naschen der Marchesa schnüffelte ein geringes in der Luft. »Lieber Claus, da steckt was dahinter.«

»Viel Herz, Marchesa, viel Herz! Es geschah auf Veranlassung meiner Mutter.«

»So ... Ihrer Mutter ...«

»Könnte ich von Ihnen erfahren, Marchesa, warum Ernst es für nötig befunden hat, Sie ungefragt über diesen, für Sie doch ziemlich gleichgültigen Punkt aufzuklären?«

»Gleichgültig? Ein sehr interessanter Punkt! Übrigens kannte ich ihn schon, und zwar durch Ihre eigene Mutter.«

»Nun also.«

»Nun also was? Ihr Bruder war so freundlich, Sie hier zu besuchen; sehr nett von ihm, das will ich glauben – scharmant, wie? Aber warum hat er Sie vom zweiten Tag an geschnitten, um mir am dritten und letzten diese Geschichte zu erzählen?«

»Gerade das erlaubte ich mir, Sie zu fragen, Marchesa.«

»Ach so. Aber das ist doch klar! Er hat sich Ihretwegen geniert ... Was heißt ›geniert‹? – moralisch empört war er! Bin ich es etwa nicht?«

»Verzeihung, Marchesa –«

»Was soll ich da verzeihen, junger Freund! Er glaubte einen blassen Rekonvaleszenten anzutreffen, und statt dessen präsentierte sich ihm ein sonnverbrannter Libertiner, der seine Lebensfreude unverschämt zur Schau trägt. Ein Kerl, der ein junges Mädchen aus guter kölnischer Familie betrügt, bevor er sie noch geheiratet hat. So ein Kerl also. Ganz zu schweigen von der Gattin eines hochverdienten Generals, eines zukünftigen Kriegshelden also, die da mit im Spiele sein soll.«

»Richtig, Mama, schweigen wir davon.«

»Ja, Kinder, fangt Ihr mal damit an zu schweigen! Ihr schreit ja Euer Geheimnis aus, wenn Ihr nur ›Kellner‹ ruft! Daß eine Sünde, und dazu noch so eine, geradezu ein seraphisches Leuchten ausschwitzen könnte – wer hätte das gedacht! Statt Euch zu verstecken, wandelt Ihr nämlich mit einem Heiligenschein herum, es ist nicht zu ertragen!«

Wir wandten uns alle drei gleichzeitig ab, um nicht zu lachen. »Da kommen sie endlich«, sagte die Marchesa.

Neben der Zypresse im Wildgarten war ein Tisch aufgeschlagen, zwei Böcke und Bretter darüber, und das schöne Linnen, das ihn deckte, schimmerte mit allen seinen Fäden in der Sonne. Giuliettas Vater (Brimbori hieß er, so hatten wir im Hotel erfahren) hielt sich zehn Schritte abseits, um an dieser Stelle, die er nach peinlicher Überlegung als schicklich erwählt, seine Sonntagsgäste zu begrüßen. Als letzte tauchten jetzt zwischen den blühenden Ginsterbüschen Bob und Camilla auf, sie näherten sich im gleichen Gang und mit Bewegungen, die von einem zum andern übergingen, wie man es sonst nur bei berufsmäßigen Tänzerpaaren findet, ja sogar mit dem gleichen Gesichtsausdruck ... Betty und Brigitte spielten mit der Katze. Die Gouvernante hatte im Hotel »vorgegessen« und saß, ein Buch in der Hand, lächelnd unter der Pinie.

»Man schaue nur,« flüsterte Maria mir zu, »man schaue und staune, was aus der Baronin Camilla Steinberg geworden ist, geborenen von Trumm«, und sie blies die Backen auf, um Camillas Mädchennamen zu versinnbildlichen. »Erinnert sie nicht an einen verkleideten Jüngling, einen Jüngling, der Bobs Bruder sein könnte? Doch hat kein Jüngling soviel Allüre! Auch atmet alles an ihr die reinste Weiblichkeit. Die langgezogenen, selbstbewußten, die adeligen Hüften! – Kann man das sagen, Claus?«

»Gewiß doch, Maria. Und denke nur: die Frucht welcher Arbeit! In langen Jahren hat Bob sie geformt, in Abneigung und Liebe, sogar Revolverschüsse mußten abgefeuert werden, bevor das Werk vollendet war. Seit ihrer Bekanntschaft in Venedig dauert das ... Jetzt sind sie glücklich.«

»Claus, er hat sie wirklich aus seiner eigenen Rippe erschaffen.«

»Zum einzig möglichen, zu seinem Weib.«

»Halleluja! Das kommt nicht alle Tage vor ... Schöne Camilla!«

Sie näherte sich, und ihre Hüften schritten vor der Sonne, ganz schmal vor der gewaltigen Sonne, zu der die tausend Ginsterbüsche, die Aloen und die Fackellilien emporglühten, zwischen den phantastischen Formen der Kakteen und den in der Bläue erstarrten Palmen – sie war nicht mehr Europa und doch immer noch oder wiederum eine mythologische Gestalt: eine blonde Jägerin, die taufeucht aus den großen Wäldern trat, in diese Sonne, an dieses Meer ...

Als wir an der Tafel Platz genommen, versammelte sich eilends der Hühnerhof um uns. Ein Colleoni von einem Hahn versprühte alle Farben des Regenbogens, er brauchte nur den Kopf zu drehn. »Zuerst eine duftende Bouillabaisse!« meldete der alte Fischer. Er saß an der Spitze der Tafel, der älteste Sohn am andern Ende, der jüngere bediente. Der Weißwein zeichnete große Goldstücke auf das Linnen.

Nachdem die Katze die Fischreste vertilgt hatte, legte sie sich pathetisch in die Sonne, und die Mädchen begannen mit mir zu spielen, leise erst, ein wenig unsicher, doch endete es bald damit, daß Betty in ihrer ganzen Länge auf meinen Knien lag, die Glieder gelöst gleich der Katze am Ginsterbusch, und sich in mich hineinduckte, als wäre ich warme Erde. Darauf blieb Brigitte nichts übrig, als sich neben uns auf den Boden zu hocken und den Kopf gegen den Stuhl zu lehnen. Sie kam immer zu spät ... Die andern hörten das Geschwätz des alten Räuberhauptmanns an, der von seiner langen, gewissermaßen militärischen Laufbahn erzählte. Zehnjährig wurde er mit seiner Schmugglerbande von einem Zöllner überrascht und angeschossen, das hatte dem Zöllner kein Glück gebracht. Zwei Jahre später fand man ihn tot in einem Gestrüpp, niemand von der Bevölkerung begleitete den »Kindermörder« (das war der Zöllner) zum Grab. Das »gemordete Kind« aber trat mit siebzehn Jahren in die Reihen der päpstlichen Zuaven ein.

»Und Genua? Da gab es doch solche Chinesen?« fragte Bob. »Ja, ich war auch in Genua«, antwortete der Alte ablehnend. »Seit zwanzig Jahren aber bin ich hier.«

Über dem Esterel-Gebirge sank schnell die Sonne, in einem verschlungenen Gewölk, durch das sie Konfettiwolken auf die Bucht schmiß. Wir wanderten nach Juan, und Maria und ich eilten voraus, denn die von Sonne, Luft und Bewegung berauschten Kinder vollführten eine Heidenmusik.

Plötzlich hörten wir hinter uns einen Kindergalopp – es war Betty, die uns, kurz vor einem Auto, einholte. Sie habe erreicht, was sie gewollt, erklärte sie uns: sie sei vor dem Auto bei uns gewesen. Und wir zogen selbander weiter auf der Landstraße am Meer. Im Piniengehölz von Pins-Juan machten wir halt und warteten auf die andern. Eine fast legendäre Rast in dieser Stunde! Kleine Büsche mit lila Blüten dufteten fein. Die Müdigkeit des Kindes sank wie Tau auf meine Glieder. Es dämmerte. Ein wenig Abendrot horstete in den Wipfeln der Pinien, zwei, drei Paradiesvögel, nicht mehr.

Da fiel mir der unbeendete Satz ein, der Evasatz, um den wir auf der Landstraße nach Vence getanzt hatten, und ich rief plötzlich in die Stille:

»Warum aber–? Maria! Warum aber –?«

»Warum aber,« erwiderte sie sofort im Tonfall eines Rezitativs, »warum aber bist du nicht zu mir gekommen?«

»Was?« empörte sich Brigitte. »Ihr steckt den ganzen Tag zusammen. Zu mir sollten Sie kommen, Maria – zu mir kommen Sie aber nie!«

Da nahm Maria Betty in die Arme, küßte sie und brachte sie nach St. Paul, brachte sie bis in ihr Bett.

Als sie in der Nacht nach Cap d'Antibes heimkam, flüsterte sie heftig: » Claus, ich will ein Kind.« Ein Schleier mütterlicher Zärtlichkeit hing über ihrem Gesicht.

»Unbedingt«, fügte sie lächelnd hinzu.

Zwei Jahre später ging ihr Wunsch in Erfüllung. Nach den Photographien zu urteilen, ist Marietta die reizendste aller Puppen – ich habe sie nie gesehn, ebensowenig wie ihren Vater, den General.

 

»Es brennt in St. Paul!«

Im Nu war das Hotel belebt wie am Morgen eines Gesellschaftsausfluges. Die Autos wurden aus den Garagen gezogen, man nahm Fremde darin auf, die man kaum dem Namen nach kannte, und wer nicht rechtzeitig Platz gefunden hatte, folgte im Omnibus des Hauses. Die Alten allein blieben in ihren Betten. Sternenklarer Himmel, nicht der leiseste Wind.

Es war zwei Uhr morgens, als wir in St. Paul ankamen. Das Haus Madams brannte lichterloh. Niemand versuchte zu löschen, es gab weder eine Wasserleitung hier oben, noch eine Feuerwehr. Einige umherliegende Eimer verrieten, daß man immerhin versucht hatte, Wasser aus den Brunnen zu schöpfen und das Nachbargebäude damit zu bespritzen. Die Bewohner des Städtchens, Männer, Frauen, Greise und Kinder, drängten sich auf dem Platz zwischen der Kirche und dem Wall zusammen, man schrie und gestikulierte und ließ das Feuer sein Werk verrichten. Wir traten unter das Portal der Kirche, wo wir Lord Berrick mit Betty und Brigitte ausfindig gemacht hatten.

»Madam ist gerettet«, rief Brigitte uns entgegen. »Aber vielleicht lebt sie nicht mehr.« Vor Aufregung steckte sie den Daumen in den Mund und biß darauf.

Der Lord zeigte ein herrisches Gesicht. Erhobenen Hauptes starrte er auf die zusammengedrängten Menschen, deren wimmelnde Köpfe im Feuerschein einen unheimlichen Eindruck machten.

»Sind es nicht lauter Köpfe von Wahnsinnigen?« murmelte er. »Ich hätte mich schon lange entfernt, aber ich fürchte, sobald ich ihnen den Rücken kehre, stürzen sie alle über mich her, die Bestien.«

Und dann erzählte er uns, was geschehn war. Vor einer Woche hatte Kaspar den Chauffeur Ingels angefallen, um sich für den in Nizza erhaltenen Faustschlag zu rächen. Es war im Garten der Hostellerie. Als die Schlägerei dank der Fertigkeit des Schotten im Boxen zu Kaspars Ungunsten auszugehn drohte, warfen sich die Zuschauer unter Anführung des Wirtes dazwischen, packten Ingels und kippten ihn über die Mauer in die Tiefe. Er stürzte acht Meter tief, ohne sich wunderbarerweise ernstlich zu verletzen. Bei der Untersuchung durch die Gendarmerie beschworen alle, die gefragt wurden, und noch einige dazu, Ingels habe den Schweden angegriffen und sei dann, betrunken wie er gewesen, von einer leichten Abwehrbewegung seines Gegners gegen die niedere Mauer und darüber hinweg in den Abgrund getorkelt. Die vom Schweden und Marie-César Roux geführte Partei der »Einheimischen«, die Partei Madams stand geschlossen gegen die Partei Lady Berricks, die in den Mauern St. Pauls keinen einzigen Verbündeten besaß – ja, der Wirt des »Roi René« selber, der bisher wohlwollende Neutralität bewahrt hatte, stieß mit seinem Häuflein offen zum Heer seines Konkurrenten. Heute nun, wo Ingels aus dem Spital von Cagnes-sur-mer entlassen worden war, erwartete ihn zwischen den beiden Hotels eine feindliche Menge und verwehrte ihm unter Drohungen den Eintritt in das Städtchen. Schließlich machte er kehrt und stieg unter Bewachung der Menge in einen Zug nach Cagnes ein. Keinem Mitglied der Familie Berrick war er zu Gesicht gekommen ... Und jetzt hieß es, Ingels habe sich in der Dunkelheit heimlich über den Kirchhof in die Stadt eingeschlichen und das Haus Madams in Brand gesteckt.

»Sie werden sagen, junger Freund, dies sei eine Stammtischangelegenheit«, schloß der Lord. »Nein. Es ist hohe Politik – oder ich bin unfähig, zwischen beiden zu unterscheiden.«

Vom Platz unter uns stiegen vereinzelt helle Schreie auf, die Menge wankte geschlossen einen Schritt gegen das Haus, und dann brach ein wildes Geheul bis unter die Sterne. In der Tür des Nebengebäudes erschien ein Mann, der eine halbnackte Frau auf den Armen hielt. Wir erkannten den alten Fischer, Giuliettas Vater. »Wie kommt denn der her?« sprach ich vor mich hin. »Er saß ja in unserm Auto«, antwortete Maria. »Beim Chauffeur. Er hat das Hotel geweckt.«

Auf der Treppe blieb der Alte stehn und hob Giulietta bis an die Brust, als wollte er sie der Menge zeigen.

»Sie lebt!« rief der Alte. Da entlud sich das beängstigende Gebrüll zum zweitenmal und noch viel stärker in die Nacht, und plötzlich glaubte ich zu fühlen, wie um diesen Platz voll Flammen und Menschen, diesen Fetzen wild gewordenen Lebens, den der Feuerschein allein der Finsternis entriß, still und unsichtbar Mörder schlichen, Mörder, Henker, und auf ihren Augenblick warteten ... Mir graute.

In diesem Augenblick stieg Strata, der bisher in der Menge gestanden hatte, gemächlich die Stufen des Kirchenportals herauf. Die Hände auf dem Rücken, sprach er ruhig:

»Wenn Sie Lord Berrick sind, so sollten Sie sich zurückziehn. Am besten da durch die Kirche. Ich bleibe hier. Sobald die Türe hinter Ihnen zuschlägt, beginne ich eine französische Ansprache.

Da öffnete sich diese Tür wie von selbst – und ließ den Pfarrer durch.

»Ah, der Herr Pfarrer«, sagte Strata lächelnd. »Sehr gut. Ich bin der italienische Abgeordnete Strata. Bitte, stellen Sie sich hier vorn neben mich, ich will zu den Leuten sprechen.«

Der Pfarrer hielt noch die Kirchentür in der Hand, er sprach schnell.

»Lord Berrick, ich stand am Fenster meines Hauses. Ich konnte nicht sehen, wer sich hier unter dem Portal aufhielt. Aber schließlich erriet ich es an den haßerfüllten Mienen der Leute. Wenn Sie erlauben, bleibe ich bei Ihnen, bis Sie mit Ihrer Familie St. Paul verlassen haben. Ich bitte: durch die Sakristei!«

»Bitte«, wiederholte er, als er bemerkte, wie der Lord zwar die Mädchen durch die Türe schob, selbst aber offenbar auf seinem Posten verbleiben wollte. »Sie auch. Alle. Wir haben keine Gendarmerie in St. Paul. Und wenn sie endlich von unten herauffindet, sind sie zwei gegen fünfhundert.«

In der Kirche hörten wir noch, wie Strata zu reden begann. »Schnell,« bat Maria, »schnell, Claus, mir zittern die Knie ...«

Aber auch Lord Berricks Haus stand in Flammen! Das Feuer peitschte aus dem offenen Haustor, und kein Mensch war in der Gasse und in den anliegenden Häusern zu sehn. Der Pfarrer und ich mußten uns an den Lord hängen, der in das Feuer hineinlaufen wollte, er hatte kein Wort gesprochen, nur, die Hände in die Luft werfend, zweimal heiser aufgestöhnt. Die Mädels waren weiß und steif vor Schrecken. Nun rannten wir die Gasse hinab, erstiegen den Wall, um zu versuchen, durch die Hintertür in das brennende Haus zu gelangen. »Mama hat Schlafmittel genommen«, schrie Betty plötzlich im Laufen.

Auf dem Wall stand Kaspar. Er hatte die Hände als Schalltrichter an den Mund gelegt und rief zum Dach hinauf, wo eine Gestalt, die Beine auf den Ziegeln, in der Öffnung einer Dachluke hockte.

»Vorwärts, Sie Teufel«, rief er. »Zeigen, wie Sie können springen!«

Die schwarze Öffnung hinter der kauernden Gestalt erhellte sich, als ob jemand mit einem Licht in den Speicher getreten wäre. Die Gestalt wandte ängstlich den Kopf, und dann kletterte sie vorsichtig auf allen vieren das Dach hinauf. Der Lord war in das Gärtchen gesprungen und rüttelte an der verschlossenen Pforte.

»Ich erwarte dich mit den Kindern im Hotel«, flüsterte hastig Maria – Brigitte schluchzte an ihrem Arm, und Betty starrte abwechselnd in das Gärtchen, wo der Lord sich unaufhörlich mit aller Wucht gegen die Tür warf, ohne sie aus dem Schloß zu sprengen, und auf die vorsichtig kletternde Gestalt, die, droben angelangt, sich rittlings auf den First setzte und wütende Fäuste in den Himmel schüttelte. Die Mädchen ließen sich wortlos fortführen.

Schmal ragte das Haus vor mir auf, mit roten Fenstern in den beiden obersten Stockwerken, still und festlich; nur ein leises Sausen verriet die Arbeit des Feuers. Die beiden Nachbargebäude überragten das Dach mit hohen, weißen Giebelwänden. Kein Fenster, keine Öffnung darin. Aus der Ferne konnte man den schwachen Laut einer Stimme, manchmal einen Schrei und Gemurmel vernehmen.

»Hallo, Mister Ingels,« schrillte Kaspars Stimme, »Sie bemerken? Benzin bei Ihnen ebenso gut brennen wie bei Madam, aber viel schneller zünden. Donnerwetter – was? Das liegen an alte Baracke. Hallo, Mister Ingels! Was Sie können, ich auch können. Jetzt ich freundlich warten. Sie schon springen werden, wenn Flammen am A –!«

Die Fäuste auf dem Dachfirst fuchtelten im bestirnten Himmel, rauhe Schreie und Flüche prasselten herab: »Hund!« verstand ich, »blutiger Hund. Warte nur, wenn ich dich in der Hölle treffe!«

Da legte der Pfarrer die Hand auf Kaspars Schulter.

»Herr Kaspar,« sagte er, »Giulietta lebt.«

Der Maler senkte den Kopf und stierte den Pfarrer aus roten Augen an.

»Giulietta leben?« Er schlenkerte mit den Armen und wiederholte noch zweimal die Frage. Und dann brach er in ein dröhnendes Gelächter aus.

»Hallo, Mister Ingels!« schrie er hinauf. »Sie hören? Madam leben! Jetzt ich Sie Dummkopf retten. Hallo! Sie hören? Sitzenbleiben!«

Mit großen Schritten eilte er über den Wall davon. Nachdenklich folgte der Pfarrer. Da auch Lady Isabels Haus flammte, brauchte er sich über die persönliche Sicherheit des Lords keine Sorgen mehr zu machen. Bereits sammelten sich die St. Pauliner, die vom Kirchplatz auf den Wall gelaufen kamen, still und in achtungsvollem Abstand, wie das Gefolge bei einem Begräbnis.

Die Gestalt auf dem Dachfirst hatte nicht geantwortet. Als Kaspar verschwunden war, lehnte sie sich ein wenig vor und spähte unter sich in die Tiefe, hob den Kopf und sah an der nackten Giebelwand neben sich empor ...

Im Gärtchen, in das ich mich, gleichsam erwachend, nunmehr hinabließ, stolperte ich über ein Holzscheit, ich hob es auf, und mit seiner Hilfe gelang es dem Lord und mir, die Tür zu erbrechen.

Es war vergebliche Mühe. Denn die Kellertreppe führte in den Hausflur, und kaum hatte der Lord die schwere Treppentür aufgestoßen, als im durchreißenden Luftzug gleich eine ganze Garbe von Stichflammen ausschlug und uns zurücktrieb. Der Lord, dessen Gesicht bis zur völligen Ausdruckslosigkeit verhärtet war, konnte nichts andres tun, als die Nacht über in seinem hellgrauen Anzug auf dem Wall zu stehn und die brennenden Augen auf die Fenster des obersten Stockwerks gerichtet zu halten, hinter denen seine Frau im Bette lag.

Im Morgengrauen rückte die Feuerwehr von Cagnes mit Leitern an und begann, die paar glimmenden Sparren einzureißen, die als einzige Überreste des eingestürzten Daches in der Rauchwolke geisterten. So wurde der Scheiterhaufen, auf dem Lady Isabel verbrannte, noch einmal geschürt, als schon hinter den zersprungenen Fenstern nur mehr einzelne Funken gelebt hatten. Jedesmal, wenn einer der Dachbalken zusammenkrachte, lief ein weißer Schauer über Lord Berricks versteinertes Gesicht. Dann war es vorbei.

Was aber hatte er noch den ganzen folgenden Tag auf dem Wall zu tun? Nichts gab es da zu sehn als einen Haufen Schutt und Qualm auf dem durchsichtig blauen Grund eines strahlend schönen Tages! ...

Kaspar, das muß ich noch sagen, hatte Wort gehalten. Er tauchte, ein Seil in der Art der Bergsteiger um den Leib gebunden, auf dem Dach des Nebenhauses hoch über Ingels auf, deckte einige Ziegel ab, die er scherzhafterweise am Kopf des Schotten vorbeisausen ließ, klemmte sich zwischen die Dachlatten – worauf Ingels das Ende des Seils ergreifen und bequem hinaufklettern konnte. Im Speicher reichte Ingels dem Maler die Hand und sagte: »Thank you, Mister Kaspar.« Kaspar antwortete lachend: »Don't mention it«, und sie begaben sich Arm in Arm und von den erschütterten und längst versöhnten St. Paulinern mit Händeklatschen begrüßt in die Hostellerie, wo sie zu Seiten einer Korbflasche Orvietoweines das Eintreffen der Gendarmerie abwarteten.

Sie leugneten nicht. Sie verteidigten sich nicht einmal. Trotzdem erwiesen sich das neuerwachte Selbstbewußtsein und die Einigkeit der St. Pauliner als so stark, daß Kaspar mit einer wesentlich geringeren Strafe davonkam als Ingels.

Bei Ausbruch des Krieges meldeten auch sie sich als Freiwillige für die Fremdenlegion, und fünf Monate danach waren sie tot.

 

Lebe wohl, Olivenland mit der himmlischen Küste, lebe wohl! Gestern abend war Maria abgereist, wir hatten die Nacht hier im Hotel des Quai du Midi verbracht – in einer Stunde fuhr auch ich.

Ich öffnete das Fenster. Himmel und Meer! Und dort drüben, am Ende der Engelsbucht, schimmerte Cap d'Antibes, und von ihm bis zu mir rundete sich die Bucht wie eine Sichel. Ich brauchte mich nur zu bücken, um sie am Griff zu fassen, und konnte mit einem einzigen Streich das blaue Feld des Meeres ernten mitsamt den zahllosen, glitzernden Disteln.

Dann fiel mein Blick auf die Stadt, auf Nizza zurück, das sich in gelben, bläulichen, lila Tönen verfinsterte, je mehr es von den Häusern der Promenade zurücktrat, denn diese, die elegante Front der Stadt, glänzte schon in der Sonne, weiß und gepflegt. Es war, als ob eine Frauenhand zwischen den Vorhängen eines Bettes erschiene, das noch voller Nacht. Und ich hielt das ganze Olivenland, das der Bäume und das der Hotels in meinem Blick ... Ich fand sogar, die beiden vertrügen sich nicht schlecht, zumal in dieser Stunde, wo die Promenade noch leer war und die Stadt erst anfing, sich zu rühren ... Die nächste Stunde schon öffnete eine Kluft, die jede weitere vergrößerte ... Jetzt aber war es der Morgen, die Kindheit, die Einheit. In diesem Augenblick liebte ich die Snobs, für die in den Hotels das Wasser in die Badewanne lief, während ein schurkischer Kellner das Tablett mit dem Frühstück auf ihrem Nachttisch abstellte. Auch ihnen war ich dankbar, jawohl, auch ihnen. Ohne sie wäre L'Amico vielleicht nicht darauf verfallen, mich hierher zu rufen, um mir »die große Gesellschaft« zu zeigen, und ich hätte vielleicht nie die Stelle gesehn, wo einmal ein Stück Himmel auf die Erde gefallen ... Mein Herz brannte nicht; es hatte die Wärme der Bäume unter meinem Fenster und war von der Farbe der großen Nelken angehaucht, die Maria mir zurückgelassen. Mein Geist war zart und kühl, wie die Helligkeit in den Schalen der beiden Hände, wenn man sie geschlossen in die Sonne hielt. So ging ich im stummen Freudenschrei der Welt ...

Es war ein Gebet, ein großes Dankgebet am Morgen, wie damals, als Maria und ich unter der Fahne auf dem Baou lehnten!

Ohne zu halten, flog der Zug durch Cagnes, ich grüßte St. Paul, das über seinem silbergrauen Garten schwebte – von allen Hügeln lachten die Straßen das Meer an. Ein weißes Irrlicht im Himmel darüber – unsre Fahne winkte!

In Antibes reichten sie mir alle nacheinander Blumen durch das Fenster des Abteils: Camilla und Bob und die schwarzgekleideten Mädchen Anemonen und Nelken, Lord Berrick, in schwarzem Anzug, einen Strauß weißer Rosen.

»Es ist die Farbe Ihrer Jahre, Claus«, sagte er lächelnd. »Bis wir uns wiedersehn, sind sie vielleicht rot geworden.«

Ja, die Jahre waren rot, als wir einander wiedersahn, blutrot. Der Krieg ging in seinen vierten Sommer. Bob war am Isonzo gefallen, Arno Steinberg vor Verdun, General X., Marias Gatte, als Armeeführer in seinem Bett.

Wenn der Lord und ich uns überhaupt noch wiedersahn, so lag das allein daran, daß wir, ohne voneinander zu wissen, eines Morgens im gleichen Monat Mai zu dem von Geschützfeuer beleidigten Himmel, auf die von Gasgranaten verpestete Erde geblickt hatten und darauf entschlossen davongegangen waren. Der Frühling erschien uns lebenswerter als dessen Vernichtung ... Wir ließen uns zu »diplomatischen Missionen« in die Schweiz abkommandieren; dort also sahen wir einander wieder. Betty, die als Krankenschwester hinter die Front geeilt war, heiratete in Frankreich einen Schlosser. Brigitte blieb zu Hause in England und heiratete einen Lord.

Einen Tag nach dem Waffenstillstand überschritt ich die elsässische Grenze. Doris und Jacquot holten mich in Weil-Leopoldshöhe ab – wir waren sehr glücklich, denn wir glaubten, nun käme der Frieden.


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