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Die Kassiopeia

Ihre Scherze entstiegen einem Paternoster-Aufzug, der in einem menschenleeren Hause lief; sobald einer dieser Kobolde drei Schritte gemacht hatte, löste er sich in Luft auf, und der Paternoster-Aufzug warf den folgenden ab. Und seltsam, niemand schien an den grauenhaften Tod von Lady Isabels erstem Mann zu denken, der bekanntlich von einem Nilpferd zertrampelt worden war, am allerwenigsten sie selbst. Oder war es am Ende doch kein Zufall, daß die Hornbrille begann: »Die Männer büßen ihr Leben mit dem Tod – es ist reinste Nächstenliebe, wenn man sie schnell vergißt?«

Die Lady lachte mit uns.

»Meine Schwägerin«, ging es weiter, »sieht im Tod den Kasperl, der den Gendarm, will sagen: den Mann nach längerer, wenn auch immer noch unzureichender Stäupung endlich erschlägt. Vielleicht ist das zuviel der Gnade für einen Mann.« »Oh! Oh!« machte mißbilligend der Pfarrer. Doch als sie fortfuhr: »Die Frauen sterben nicht, sie entschlafen in eine bessere Sommerfrische«, überließ auch er sich der allgemeinen Heiterkeit.

»Einmal war Lady Isabel krank,« erzählte die Hornbrille mit ernstem Gesicht, »todkrank. Statt des Notars ließ sie die Stenotypistin kommen und diktierte einen Aufsatz für die Londoner ›Elegante Welt‹. Der Titel hieß: ›Wie schützen wir uns am besten vor den weißen Kopfjägern? Ratschläge einer Sterbenden!‹ Die weißen Kopfjäger, meine Herren, das sind Sie. Als sie ihren Namen unter dies ihr Testament gesetzt hatte, stand sie auf und war gesund.« Darauf ging die Hornbrille zur Londoner Gesellschaft über, und wir erfuhren, daß Lady Isabels beste Freundin, die Frau des Ministerpräsidenten B., statt seiner das Empire regiere – das verstand sich von selbst. »Aber raten Sie, womit sich inzwischen der Premier beschäftigt? Er beaufsichtigt die Heime für fortgeschrittene junge Mädchen, die seine Frau patroniert!« Die Herzogin von Glasgow umgab sich mit Greisen, die viel geliebt hatten. Sie galt für die frömmste Dame des Reichs. Einer ihrer Vertrauten hatte von ihr gesagt: »Wer unbedingt die Engel pfeifen hören will, der soll ihre Hoheit um eine gemeinsame Andachtsstunde bitten,« und der Herzog von Wight tanzte nur mit Damen, deren Füße genau in die von ihm als Reliquien verwahrten Ballschuhe Lady Hamiltons hineinpaßten. Er nannte den lieben Gott »unsern erhabenen Standesgenossen.«

Vor den Stufen des Thrones angelangt, machte die Hornbrille halt. Wir wußten nicht mehr, wohin vor Lachen. Komischer noch als ihre Erzählungen und die unbewegliche Brille, hinter der die Bosheit tollte, war der mürrisch verzogene Mund, der die Anekdoten zutag förderte. Schließlich war es unser eigenes Gelächter, das uns lachen machte. Lady Isabel lag hingestreckt, wie einer jener Clubmen, über die die ewigen Mänaden von London bis Kalkutta hinwegstürmten. Lachend erstickte der Lord in seiner Wehmut, er konnte sie nicht sprengen. Bob jauchzte italienisch, wie in einem Walzer wiegte sich die Marquise, mit erhobenen Armen, von einem Tänzer zum andern gestoßen; Lady Isabels Schwester war ein Brustbild stiller Entzückung, das ein Schluckauf als Uhrwerk bewegte, und ich ... ich blickte auf Peggys Füße. Erst hatte sie sie artig für mich hin und her gedreht, jetzt klammerte ich mich wie mit beiden Händen an die Knöchel und verhinderte sie so, mit den Beinen zu strampeln. Dafür streckte sie, aufrecht sitzend, in einem fort hilfesuchend die Hand aus, bald nach Bob, bald nach dem Lord, bald nach mir. Als sie schließlich fassungslos aufkreischte, trieb dieser Möwenschrei Lady Berrick auf die Kommandobrücke des trunkenen Schiffes.

»Genug! Genug!« herrschte die Kapitänin.

Und der Sturm faltete die Flügel.

»Wie geht es Ihrem Vater?« rief die Marquise nach einer Atempause mir zu. »Meinem Vater?« Eine Lache spritzte über mich weg. »Danke. Meinem Vater geht es gut.« Das glaubte sie! Schnitt und band er nicht einen Teil seines Weinberges selbst? Seit dreißig Jahren? Bob prustete. »Genug, bat die Lady mit einem Gesicht aus Emailleguß. Da platzte Peggy aus.

Die Marquise blieb fest. Heute war er sechzig und hackte, schnitt, band, erntete, preßte noch immer seinen Wein – ob Isabel das glauben konnte? »Ein Mann«, sie maß mit den Blicken die Breite des Zimmers, »mit solchen Schultern. Immens.« Nein, so ging es nicht. Alle, mit Ausnahme der Führerin, lachten schallend los.

Zum Glück kannte der Abbé den Typ und sprach ihm ernsteste Bedeutung zu: »Ein katholischer Landedelmann, macht seine Ostern, sonst nichts. Kantig, rauh, zuverlässig, ein Stein in der Grundmauer. Vortrefflich!«

Vergebens erhob die Marchesa Einspruch: Balthasar Breuschheim sei weder rauh, noch kantig, sondern die rundliche Gentilezza in Person.

In Lady Isabel, die den Typ auch kannte, waren Bedenken aufgestiegen. Sie spitzte den Mund:

»Und die Baronin?«

Suchend blickte die Marquise sich um, lächelte zu der noch immer in stummer Musik versunkenen Weißhaarigen hinüber: »Lady Berricks Schwester in Schön. Ein wenig sportlicher. Aktiv.«

Worauf sie schnell hinzufügte, sie kenne keine Frau, der die weißen Haare so wohl zu Gesicht stünden, wie –

»Lady Mac Shene«, erklärte der Lord ... Doch die endlich eigen benannte schüttelte das Haupt. Sie brauchte hier für sich keinen Namen. Sie war der Lady weißhaarige Schwester. Berrick beugte sich tief und küßte die auffallend weißen, gefalteten Hände.

Da sprang die Führerin, die Beine anziehend, ein Stück über den Diwan, lehnte sich gegen die Wand:

»Und jetzt, liebste Marquise,« befahl sie, »jetzt erzählen Sie uns von Missis Dolly Perkins. Was treibt sie? Wen sieht sie? Wann wird bei ihr getanzt?«

»Man weiß noch nicht?!« Die Marchesa flüsterte einen Namen.

Ein Engel schwebte durchs Zimmer, in erhobenen Händen trug er die Krone Englands ... Lady Berricks Augen, die Augen der Marchesa öffneten sich einem Weltreich, darin ertrank der Diwan mitsamt der »society leader« und der Akt Peggys darüber, der verlegen lächelnde Lord und die Marchesa Capponi und der mit roten Ohren lauschende Pfarrer, wir alle.

Die Lady kam als erste zur Besinnung.

»Sie sind unterrichtet?« flüsterte sie. »Prinz Albert?«

Die Marchesa nickte.

Steil aufgerichtet, alle ihre Farben schillerten, fragte die Führerin:

»Wann?«

»Gestern.«

Ich fürchtete, man erwarte von uns, daß wir alle zu Stein erstarrten, der »demokratische Fimmel der Breuschheim«, wie Donja sagte, meldete sich, ich sann auf Flucht.

»Komm hierher«, hatte Bob mir nach Köln geschrieben. »Du wirst die große Welt sehn ...« Mich dünkte, ich stände am ersten Abend bereits mitten darin. Die Wahrheit zu sagen, fand ich sie sinnlos anstrengend, verheerend. Bückte ich mich nicht selbst unwillkürlich unter der Peitsche, die diese Menschen über sich und den andern schwangen? War nicht auch der Lord ein ganz andrer als der, den ich in Venedig gekannt? Wozu die verquälte Hast? Warum die Angst? Wohin der Weg?

Plötzlich hörten wir Bob stöhnen, und fast gleichzeitig lachte Peggy, als ob sie gekitzelt würde. Bob sprang auf.

»Peggy,« sprach Lady Berrick mit mildem Ernst, »Sie gehn am besten zu Bett.«

Bob nickte mir zu: »Wir auch ... Diese äußerste Enthüllung, Mama, geht über meine Kraft. Mir fehlt es an Genie, verehrteste Lady Berrick, ich kann nur das Ihre bewundern. Was wie Klatsch aussieht, verwandelt sich vor Ihnen, aber auch nur vor Ihnen, in hohe Politik, in zu hohe für mich.«

»Ein wenig plump, Marquis Capponi«, äußerte Mylady.

Wir küßten ihr, die trotzdem geschmeichelt mit dem Finger drohte, die Hand, aus der meinen nahm sie der Pfarrer, wobei er den Stock wie einen Degen hielt. »Ich ziehe mich vor den Sünden der Großen zurück«, sagte er mit dem einfachen Lächeln eines Bauern.

Peggy stand erschrocken hinter dem Lord. Die Hornbrille aber erklärte in einem Ton, als gäbe sie es zu Protokoll: »Ich bleibe, ich muß dabei sein, wenn unsere Mänaden sich hinlegen, um den ersten jungen Mann des Reichs über sich hinwegstürmen zu lassen – der Länge nach, meine Herrn, von London bis Kalkutta.«

In der Küche schnarchte der Chauffeur Ingels. Der ziegelrote Kopf mit den Borstenhaaren lag auf der Stuhllehne. Es roch nach versengtem Leder, des Schotten Stiefel brieten im Kaminfeuer; die fest geschlossene Hand hielt den Hausschlüssel. Er öffnete das Tor, ohne recht zu erwachen.

»Schade,« sprach der Pfarrer, als wir uns vor der wasserspeienden Urne verabschiedeten, »jetzt hätten wir gehört, was es in der höchsten Gesellschaft der Riviera Neues gibt. Eigentlich muß ich von Amts wegen auf dem Laufenden bleiben.«

Bob schlug ihm vor, im Hotel den Orvieto des Schweden zu versuchen. »Der erzählt Ihnen, was es Neues gibt, mehr noch, als selbst meine Mutter weiß.«

Nein, meinte der Pfarrer, so hoch reichte Kaspar nicht hinauf. Er deutete mit dem Stock auf meine Brust. »Herr Baron, Sie sind ein Neuling an der himmlischen Küste, merken Sie sich, bitte, eins: die Königin von England ist eine achtbare Person, knixt nicht vor ihr, wer will, sie wohnt in den Sphären, aber Missis Perkins, Missis Perkins, diese babylonische Hure, gilt mehr.« Auf das Pflaster stampfte er mit dem Knüttel. »Und unsre Giulietta schimpfen sie eine Kreatur! Warum? Sie ist nicht groß, nicht sichtbar genug in ihrer Sünde.« Mit einem Blick auf das bestirnte Streifband, das zwischen den Häusern lief:

»Ich will sie sehn, beide, nebeneinander, am Jüngsten Tag. Ja, ich will sie sehn, Messieurs. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

 

L'Amico und ich beschlossen, uns noch eine Stunde unter den Sternen umzutun. An den laut belebten Hotels vorbei schlugen wir die Straße nach Vence ein, der Stadt auf dem Hochland, das ich vom Hotelhof am Abend erblickt hatte, wie es, emporgerissen, unter dem feurigen Felsen des Baou erblaßt war. Bob erzählte mir von der Stadt. Ein Lieblingsaufenthalt für pensionierte englische Kolonialbeamte, Lungenkranke und Maler, lag sie eine Stunde von St. Paul entfernt, wir konnten sie von der Straße nicht sehn, ebensowenig wie den Baou, wohl aber zahlreiche weiße Villen am Rande der Hochebene. Bob sprach, und aus den Worten, die ich vernahm, machte ich im gleichen Atemzuge Märchen ... Zarte, junge Frauen, die auf der Terrasse der Villen lasen, erhoben sich vom Liegestuhl, beugten sich über das Geländer, griffen mit weißem Arm in das dunkle Laub des Orangenbaums. Die Frucht funkelte in ihrer Hand, sie bissen hinein wie in einen Apfel. Im Garten übte ein kleines Mädchen, den Rücken der Sonne zugewandt, mit Mandarinen das Ballspiel der Gaukler. Vor ihr stand ein weißgekleideter Mann, schmal, ein wenig gebückt, mit müde hängenden Armen, und schaute zu. Sein Schatten lag neben ihm wie ein Bündel Lumpen. Er war unheilbar krank. Aber er lächelte zufrieden ... Gegen Abend befiel sie alle dort droben ein leichtes Fieber. Die Rosen wuchsen in die Fenster. Nachts rief ein mondsüchtiges Meer die Erwachten zu Ufern, die zu fern waren; sie waren zu nah ... In der Stadt selbst gab es Volk, das hatte seine einfachen Gewohnheiten, von der Geburt bis zum Tod – lachte über die Fremden, wenn sie komisch waren, und staunte die erhabenen an. Ein Bischof residierte in Vence. Man war nicht wenig stolz darauf, obwohl man bei den Wahlen für die Freimaurer stimmte. Starb der Bischof, so kamen viele andre Bischöfe zum Begräbnis, und man hätte glauben können, man sei in Rom. Blühende Frauen, man hatte sie soeben mit einem Arm voll Nelken über den Platz kommen sehn – Herren, die noch kürzlich um vier Uhr vor dem Café die Zeitung gelesen hatten, reisten in der Nacht plötzlich ab auf einem schwarzen Wagen. Manchmal lag ein Blumenkranz auf dem Sarg. Neben dem Kutscher saß ein Mann in Gehrock und umflortem Zylinder, er war betrunken und machte im Halbschlaf jeden Sprung des Wagens mit ... Die ansässigen Maler holten an der Kleinbahn schöne Pariserinnen ab. Sie kamen und gingen. Die meisten kamen nicht wieder. Die Kinder hatten Schwärmereien, die einen Frühling dauerten; dann versteckten sie sich in der Umgebung der Hotels, um die Geliebten ungesehn zu erblicken. Die Vergänglichkeit war kein Makel ... Wenn ich bald sterben sollte – so hier! Nicht in Breuschheim, wo mein Sterben zwischen lauter Gesunden so einsam gewesen wäre wie das eines Tieres im Wald.

»Bob, meinst du, daß ich lungenkrank bin?« Er blieb stehn, starrte mich an. »Bist du von Sinnen? Weil ich dir von Vence erzähle, wirst du plötzlich lungenkrank?«

»Ich habe abends immer ein wenig Fieber.«

»So? Ich auch, seitdem ich hier bin. Sogar der Schwede holt abends nach sechsstündiger Arbeit das Thermometer hervor. Ich glaube an eine Koketterie des Klimas. Hör' mal, mein Lieber, als ich von deiner Erkrankung erfuhr, habe ich natürlich einen Schrecken bekommen. Ich habe an deinen Vater geschrieben. Davon weißt du nichts. Aus dir hätte ich nichts Gescheites herausgebracht. Ich habe Arno Steinberg zu deinen Ärzten geschickt. Also, ich gebe dir mein Ehrenwort, alle haben mir versichert, daß von Tuberkulose nicht im entferntesten die Rede sein könne.«

Ich ergriff seine Hand:

»Sicher nicht?!«

»Claus, mein Ehrenwort.«

Tief aufatmend lächelte ich in sein Gesicht und hing an seinen Augen, die, mitten in dieser Nacht, wie ein klarer Waldmorgen waren, wenn plötzlich alle Vögel verstummen. Da zeigte mir mein Freund die Sterne.

Ich war in der Furcht vor der Nacht aufgewachsen: »La nuit n'a pas d'amis«, das einzige unheimliche Wort, das meine Mutter je zu mir gesprochen! Dafür wurde sie nicht müde, es zu wiederholen. Der Abbé Simon, der mich die kühnsten Allegorien der Alten und alle Sündengeschichten der Götter lehrte, unterschlug mir die Sternkarte. Nicht aus Liebedienerei für die Mutter, er fand es überflüssig und unehrerbietig, den Wert unsres Planeten durch abwegige Betrachtungen eines unerforschlichen Kosmos herabzusetzen. »Fangen wir erst an, uns mit Sonnensystemen zu beschäftigen,« pflegte er zu sagen, »so verlieren wir bald die Lust an unserm irdischen Familienleben. Mir wenigstens ginge es bestimmt so.« Nun, und mich nahm das irdische Familienleben vollauf in Anspruch, so daß ich mich jetzt, wo Bob den Arm hob, gewissermaßen zur Besteigung himmlischer Urgebirge bereitmachte.

Als erster war es der Sirius, der mit Namen vor mir aufstieg in seinem Stolz, dann die schmelzend süße Kapella, es folgten Castor und Pollux – »unser Bild, Claus, vergiß es nicht!«, und ich küßte rasch die Hand des Freundes auf meiner Schulter – der herrschende Orion, von dem ich den Jakobsstab kannte, aber Bob zeigte mir sein Herz: die morgenrötliche Riesensonne Beteigeuze. Unter dem Sirius wogte Argo, ein Berg, der in die Himmelstiefe segelte. Wir machten einen Sprung ... Und siehe da, aus der angeblich durch den Weltenraum sausenden Gletscherlandschaft wurde eine strahlende Mythologie, eine Musik, die Menschen sich zu unbegreiflich großen Erscheinungen für ihre kleinen Ohren gesetzt hatten. Ich erkannte sie wieder, meine Brüder! Was da oben hing, erwies sich als eine handliche Registratur, die einige hundert Mathematiker beim Anblick des Unendlichen angelegt hatten, und die sie weiterhin fleißig klarhielten, als Titel von Gedichten, als eine Anzahl figürlicher Kompositionen von Malern, und die Physiker trugen durch Messungen und Entnahme von Gasproben und andern Ingredienzien durch das Fernrohr das ihre dazu bei, daß die Sterne sich bei uns zu Hause fühlten.

Da war also der »Wagen«, ja, den kannte ich auch. Daß aber auf seiner Deichsel ein Reiterlein saß, Alkor mit Namen, dies hörte und sah ich zum erstenmal. Und dem Wagen voraus ritt Arktur, der prächtige Pikör, auf seinem gelbrötlichen Frack zitterte der Wind. Manchmal wandte er den Kopf nach rechts, manchmal nach links, dort ritten die Amazonen Spica und Denebola – vergeblich mühte er sich, sie einzuholen. Welch eine Heerstraße zog diese Mail-coach! Die Fahrt schien nach links zu gehn, doch die »Jagdhunde« hielten sich rechts. Nun mußte ich von dien Hinterrädern des Wagens eine gerade Linie in die Höhe ziehn, so erreichte ich durch das lange, gewundene Bild des Drachens den Polarstern. Schön war er, doch bald nur mehr der Ausblick auf die herrliche Kassiopeia. Da hatte ich den Gipfel des Himmels erreicht!

Sie habe die Form eines W, behauptete Bob, doch mir hing sie deutlich als ein M in der Höhe, alle andern Sterne überragend, alle überstrahlend – »Maria!« jubelte ich heimlich, »Maria! Maria!« Nur flüchtig blickte ich noch hin, wo Andromeda Sternenhaufen vor Perseus ausschüttete, all ihr Geschmeide, mit vollen Händen geworfen, und hinter ihm auf die wimmelnde: Schar der Plejaden, die Frauen des Großtürken Aldebaran. Ich kehrte schnell zum Sternbild Marias zurück. Und Bob mußte mir recht geben. Die Kassiopeia bildete kein W, sondern, unbestreitbar, ein M – und was für ein M! Ausladend wie ein Gebirge, breit wie das doppelte Delta eines Stromes, schwebend wie der Flug eines Volkes himmlischer Wandervögel, ein solches M.

»Sie kommt sicher«, sagte ich plötzlich. »Sie muß kommen, meine Sehnsucht ist zu groß – oh, sie ist sicher schon unterwegs.«

»Von wem sprichst du?« fragte Bob, erstaunt über meinen plötzlichen Ausbruch.

»Von Maria«, erwiderte ich stolz.

Er antwortete nicht. Schweigend schritten wir nebeneinander her. Dann bogen wir von der Straße ab, erkletterten durch Gestrüpp eine kahle Anhöhe. Bob sagte: »Vor zwei Jahren war dies hier ein Pinienwald, der schönste, den ich je gesehn ... Sieh, ein Muster haben sie übriggelassen.«

Auf dem Gipfel des Hügels breitete eine uralte Pinie ihre Arme, darunter war es dunkel wie in einem Dom, wir umgingen sie scheu. Bald trafen wir auf ein mondhelles Wässerlein, das, mit hellen Steinen eingefaßt, eilig bergab lief, dem folgten wir.

»Nicht wahr, Claus?, man sieht, die Steine haben Frauen aneinandergesetzt. Das Tälchen gehört zum Klostergut.« In der Tat, man sah es. Eine solche Arbeit konnten nur Klosterfrauen verrichtet haben. Männer wären mit dem Wässerlein härter umgegangen, Kinder unaufmerksamer, andre Frauen hätten sich so oft darin gespiegelt, sich soviel umgeschaut, bis ein vorüberziehender Ritter sich erbarmt und sie auf sein Roß gehoben hätte.

»Claus, sie kommt bestimmt«, sagte mit eins L'Amico. »Ich freue mich für euch beide und auch für mich.«

Das Wässerlein sprang in einen umzäunten Garten, ein großes Haus tauchte auf, wir gelangten auf eine breite, vernachlässigte Straße, und da drängte sich St. Paul mit glänzenden Dächern um seinen Kirchturm. Er glich einem Festungsturm. Und auch die Wehrhaftigkeit der Häuser kam jetzt, in der Nacht, noch stärker zum Ausdruck, als bei Tag, wo die atmenden Hänge immer ein wenig des Gemäuers zu spotten schienen. Ja, diese Stadt war angelegt, um das weite, schluchtenreiche, von Bauern und Fischern bewohnte Land zusammen und in einer Faust zu halten. Zwischen den hellen Lichtern der Häuserfront brannte ein einziges rotes. »Lady Berricks Schlafzimmer«, sagte Bob.

Er versicherte, man gewahre das rote Licht aus weiter Entfernung. Und die Fremden, die nachts vorbeikamen, und selbst viele Ansässige glaubten, es sei die Liebesfackel Madams, obwohl deren Haus nach der andern Seite, neben der Kirche lag. War das nicht zum Lachen? So diente die Lady ahnungslos dazu, dem romantischen Ruf ihrer Feindin eine Leuchte aufzusetzen, wie sie nicht tiefer in die Einbildungskraft des Philisters hinein brennen konnte!

 

Kurz vor dem Hotel begegnete uns eine mit einer Kapuze bedeckte Frau, die englische Brocken unverständlich vor sich hinmurrte – die Hornbrille.

»Passa presto«, rief Bob ihr nach, und wahrscheinlich erkannte sie seine Stimme, denn sie gab zurück:

»Passo piano – io! Non mi ruba alcuno.« Sie sang es fast, es klang tragisch wie das abgerissene Stück einer Arie. Wohin eilte sie in der Nacht? Sie wohnte im Kloster, in dessen Garten der fraulich eingefaßte Bach geschlüpft war, und das jetzt Schwestern gehörte, die sich mit Geschick der Fremdenindustrie angeschlossen hatten. Früher war das Kloster von Mönchen bewohnt gewesen, offenbar robusten Gesellen, hieß es doch im Lande, daß sie Mädchen und junge Frauen von der Straße weg raubten, weshalb das Kloster bis auf den heutigen Tag den Namen »Passa presto« führte, zu deutsch: »Lauf schnell vorbei!« Sie barmte mich. Einsame, verlassene Hornbrille, sprach ich, die man nicht einmal in der Nacht nach Hause begleitete! Warum auch, die Mönche von Passa presto waren schon lange tot, und arme Mädchen brauchte man hier nicht zu überfallen – sie gar zu rauben, dazu hätte man den ärmsten Orangenhändler nicht einmal mit Stockschlägen gebracht. Lustiger Vogelbauer mit einer Spottdrossel auf dieser, einem Kanarienvogel, dem aber der Schnabel zugebunden, auf der andern Seite! Trauerhaus, worin einzig und allein ein Paternosteraufzug umging, ein Mühlrad der Bosheit – wieviel lieber mahlte es wohl das weiße Mehl der Freude! Sie hatte einen Lord zum Bruder und eine reiche schottische Edeldame zur Schwägerin, schöne Kinder, ihre Nichten, tanzten in ein sorgloses Leben, die manikürten Füße schauten aus seidenen Pyjamas, und zwischen Meisterwerken der Malerei zeigte die Vorkämpferin der Frauen Hundert-Pfund-Toiletten. Die arme Vogelhändlerin aber hauste in einem Klosterzimmer, und wochenlang fragte niemand nach ihr. Man wußte, am ersten Tag des Monats stellte sie sich von selbst ein, um ihr Taschengeld in Empfang zu nehmen ... Wenig fehlte, und ich hätte mich in sie verliebt! Schon malte ich mir aus, was für ein Gesicht sie machen würde, wenn ich sie in meine reiche, fröhliche Heimat, in das Breuschheimer Schloß mit den großen hellen Zimmern heimführte ... Hei, wie würde der Kanarienvogel schmettern, die Spottdrossel verlegen, ergeben tun!

Der Anblick des Speisesaals, in den wir traten, unterbrach meine Betrachtungen. Die Tische waren zur Seite geräumt, im üppigen Renaissancekamin brannte ein Scheiterfeuer, provenzalische Kronleuchter an der Decke trugen in gerundeten Armen das Licht. Ein dutzend Paare drehte sich zum Spiel eines arg mißhandelten, aber immer noch angenehm klingenden Klaviers.

Am Kamin saßen zwei Herren, der eine, in dem ich meinen Trambahngefährten erkannte, hatte die Beine ausgestreckt und seine Aufmerksamkeit auf das lichterlohe Feuer gesammelt, der andre blickte überlegen auf das Treiben im Saal, wobei er ein Monokel vor seiner Kravattennadel pendeln ließ. Diese Bewegung schuf ein eigenartiges Feuerwerk, denn das Kaminfeuer setzte die dicke Perle der Nadel in Brand, das vorbeischlagende Glas aber verstreute die Farben.

Der Feuerwerker selbst war einem alten Modejournal entstiegen, um sich, verwittert und verknittert wie er war, an diesem Kamin niederzulassen und von dorther das junge Geschlecht zu mustern. Sein Eindruck schien nicht ungünstig. Er lächelte in seinen fahlblonden, gesträubten Schnurrbart, neigte wohlgefällig den Kopf, so daß der Feuerschein auf die Glatze übersprang, wo er sich mit dem einer gerupften Hahnenfeder vergleichbaren Scheitel zu schaffen machte. Der richtige »vieux beau«, wie die Franzosen solche überalterten Jünglinge nennen. Seine Blicke folgten einer jungen Frau, deren glattgekämmtes Haar das Oval ihres Gesichtes noch betonte, wie ihr kurzes Mieder die starken, hohen Beine, die schwellenden Schultern hervorhob. Während ihr Tänzer auf sie einredete, hing ihr Blick starr an der feurig atmenden Perle, die der Zauberer am Kaminfeuer mit seinem Monokel künstlich am Leben erhielt. Ihr Tänzer, ein Franzose, vielleicht von einem Amerikaner in Korsika gezeugt, hager, mit einem knochigen, kranken Gesicht, hielt sie, zog sie, als wollte er in die säulenartige Gestalt unauffällig eingehn, während sie, erhärtend, sich ihm entzog. Mit der schmalen, schwarzäugigen Frau des Wirtes kam der Schwede angetanzt, er führte uns zum Kamin.

Der Engländer, Hände in den Hosentaschen, das Gesicht von der Hitze verblödet, rührte sich nicht. Der Beau machte mit übertriebener Höflichkeit Platz, wobei er sich bemühte, seinen Vexierspiegel in Gang zu halten. »Hallo! entschuldigte sich Kaspar, hob den Engländer mitsamt seinem Stuhl fürsorglich wie einen Schlafenden und setzte ihn ebenso an der Ecke des Kamins ab. »Ich höflich – wie?« fragte er lachend den Mann. Der schnurrte, ohne seine Haltung zu ändern: »Damned Madam!«, worauf Kaspar sich zu meinem Ohr beugte: »Die zwei hier überzählig«, sagte er. »Madam nicht daheim, weißer Ball Nizza. Ich alten Geck mit Macht aus ihrem Haus fortschaffen hierher, jetzt er Hirschkuh belauern. Rien ne va plus, alter Esel, Hirschkuh mein.« Er ging und kam gleich mit einer Flasche Gin und einem Wasserglas zurück, die er neben die Füße des Engländers stellte. »Hier, Gentleman, für Trost.« Schnell bückte sich der Mann und sicherte Flasche und Glas. »Ice«! herrschte er in den Saal. »Ice«! brüllte er, »ice«! Der Klavierspieler hörte auf zu spielen, die Paare blieben stehn, wo der Schrei sie getroffen hatte, dem Beau riß die Schnur des Monokels, das langsam bis vor die Füße der Schönen rollte. Den Spitzhut in der Hand, eilte der Wirt herbei. »Ice«, wiederholte der Mann, auf die Flasche mit Gin deutend.

Nachdem alle im Saal Bescheid wußten, dem Engländer am Kamin sei es um die Erlangung eines Eiskübels zu tun, hoben Klavierspiel und Tanz von neuem an, nur der vermutlich von einem Amerikaner in Korsika gezeugte Franzose zögerte errötend ... Seine Tänzerin hatte sich gebückt und das Einglas in den Ausschnitt des Kleides geschoben.

Dem Schweden war es nicht entgangen. »Immer Sparbüchsen«, meinte er, an Bob gewandt. »Ich es ihr heute Nacht in den – stecken.«

Da verbeugte sich der Beau:

»Mein Herr,« fragte er mit äußerster Höflichkeit, »hätten Sie wohl die große Güte, mir den Namen jener blonden Dame –«

»Hirschkuh«, sagte Kaspar.

Das Ohr des Beau näherte sich Kaspars Mund:

»Wie bitte?«

Eine Weile betrachtete Kaspar aufmerksam das Ohr, bevor er, die Hände zum Trichter formend, hineinflüsterte: »Hirschkuh, mein König Midas, Hirschkuh. Auch Agathe genannt, wenn genau wissen wollen.«

Wir gingen spät zu Bett. Nachdem Kaspar die beiden überzähligen Besucher Madams, alle, auch die Franzosen sprachen das Wort englisch aus, mit allerhand Spaßen vom Kamin vertrieben und sich statt ihrer sein Modell, die Hirschkuh, zu uns gesetzt hatte, brachte Bob ihn unschwer auf das Geschäft eines Fremdenführers durch St. Paul. Erst aber wollte der Maler von uns erfahren, wie er sein heutiges Bild benennen sollte: »Die Gralsburg im Abendschein« oder »St. Paul rüstet sich auf die Nacht«. Seine Freundin erklärte vorlaut, das erste zu bevorzugen, worauf er sich, ohne unsern Rat abzuwarten, für das zweite entschloß. Sodann riet er ihr, sowohl den Beau wie auch den Americo-Korsen von der Schwelle ihrer Träume zu verweisen: »Agathe, aufpassen! Alter Franzose abgestanden Käse – puh! Schlechter Schneider, nicht viel Geld. Junger Franzose leere Wursthülle – pah! Gar kein Schneider, gar kein Geld.«

»Sie, Baron, wissen, ich großer Maler?« fragte er noch, und als ich bejaht hatte, war sein Ruhm, seine Ehre, sein Reichtum, alles, was einem Künstler unter den Menschen Glanz verleiht, abgetan. In Demut bekannte er sich zum Handlanger und Packdiener Giuliettas. Selten hatte er mit ihr am gleichen Tisch gesessen, im Vorzimmer nahm er die Gäste in Empfang, denen er in ihrem Auftrage St. Paul zeigen, die er in den Privathäusern und Hotels einquartieren, denen er helfen mußte, ihren Frauen Körbe mit Orangen und Blumen zu schicken. Nie kaufte einer von ihnen ihm ein Bild ab. Was waren auch diese Bilder im Vergleich mit der in Farbe und Zeichnung vollkommenen Giulietta?! Viel zu teuer, sonst nichts. Ein Luxus für Leute, die Giulietta nicht kannten. Er aber kannte sie, darum: sooft er ein Bild verkaufte, schenkte er ihr ein andres. Agathe starrte traurig in den Kamin, und so, im Feuerschein, erinnerte sie an die alten Madonnen, die auf Goldgrund gemalt sind und dünnhäutige, rote Gesichter haben. Kaspar zog die Uhr. »Vorwärts, Hirschkuh, wechseln in Bett!«

Wortlos, mit einem Lächeln, das über uns hinstrich, schwand Agathe aus dem Halbkreis um den Kamin.

Dem Schweden wuchs die Erde ins Große.

Madam war eine um ihre Krone betrogene Christine von Schweden, eine verhinderte Kleopatra, die große Katharina der himmlischen Küste, eine Lady Hamilton der Provence, nicht weniger bedeutend als sie, aber so schön wie sie alle zusammen. Mit einem Regenschirm und einer Handtasche war sie nach St. Paul gekommen, und jetzt besaß sie »Goldminen« in fünf europäischen Ländern, in Amerika aber stand sie an der Spitze eines Trusts, nicht in Nordamerika, sondern in Argentinien. Dabei lebte sie einfach, viel einfacher, als etwa Lady Berrick, so einfach wie hier Madame Roux. Und Madame Roux, die zwischen uns Platz genommen hatte, bestätigte dies.

Inzwischen führte Monsieur Roux seine Flaschen gleich vornehmen Damen an die Tische, wo die Gäste nach dem Tanz versammelt blieben. Kaspar trank einen weißen Orvieto, »un petit vin« sagte Madame Roux, »que la maison réserve pour le maître«, aus einer Zehnliterflasche. Die Damen und ich hielten mit. L'Amico hatte die Erlaubnis erhalten, in einer Zeitschrift für Maschinenbau zu lesen, zuweilen roch er an meinem Glas. Zuweilen trat der Wirt herzu und leerte »mit gütiger Erlaubnis« das Glas seiner Frau. Als die Flasche wiederum zur Neige ging, begann das Bild Madams aus dem Reich der Geschichte in das der nordischen Sage zu treten. Schön und gefährlich lagerte sie als Norne an den Wurzeln der Welteiche, sie wußte die Vergangenheit und weissagte die Zukunft, sie war imstande, von den Augen des Marquis Capponi die katastrophalsten Ereignisse seines Lebens abzulesen, oder sie hörte sie aus seiner Stimme heraus. Nein, sie schlug nicht die Karten, so dummes Zeug trieb sie nicht – sie hörte, sie sah.

»Und Orangen?« unterbrach ihn Bob. »Wo kauft man Orangen? Mein Freund möchte Orangen nach Hause schicken.«

Ich erfuhr es auf der Stelle. Die saftigsten Orangen, Blutorangen, pflückte man sich selbst im Garten der Mère Barat, und man bezahlte, was man wollte, einen Franken für einen Korb voll. Die zartesten Artischocken wuchsen bei La Colle, auf Spargelzucht verstand sich nur der Hauptlehrer von Vence. Die schönsten Rosen, edle Sorten, auch die neuesten, nicht der Massenartikel für die Parfumfabriken von Grasse, gediehn bei Captain Neil Johnson. Es schmerzte Kaspar, zugeben zu müssen, es verdrehte ihm das Gedärm, jedoch der Teufel in Person hätte es nicht leugnen können: die fabelhaftesten Nelken erstanden in den Glashäusern der Missis Perkins. Jedes Jahr kamen dort neue Wunderkinder zur Welt, Geschöpfe von skandalöser Schönheit, Ungeheuer an Pracht, vor denen die Orchideen sich verkrochen. Oh, so hoch wie jene Missis sollte auch Giulietta steigen. Noch höher! Kaspar wollte nicht ruhen, als bis auch diese einen Palast am Meer bewohnte, an der Seite eines geschmeichelten amerikanischen Milliardärs, der nicht viel anders Figur machte, als ein Kassenschrank in einem sehr großen, mit Blumen überladenem Zimmer. Bereits war allerhand Vorarbeit getan, um für Giulietta den letzten, steilen Teil des Weges freizulegen. Ja, das war bereits getan. Der Präfekt, führende Mitglieder der englischen Kolonie, der große Hotelier, der hier an der himmlischen Küste auserwählte und verwarf, Dichter, Maler und Journalisten stritten offen, noch viel mehr aber geheim für ihre Königin Giulietta. Der Hauptschlag sollte in kurzem geführt werden, bei der Eröffnung von Kaspars Ausstellung in Nizza.

Je näher der Maler auf die Einzelheiten der gesponnenen Intrigue einging, um so nüchterner wurde er. Alle hingen mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit an seinen Lippen: »Es geht um die Ehre St. Pauls«, rief der Wirt und schob den Kalabreser in den Nacken. Seine Frau nickte fromm – sie hatte glühende Augen. Mit Giulietta, betonte der Maler, würde endlich einmal nicht einfach die Unzucht siegen, sondern das erdhafte Genie der Frau.

Nun äußerte ich auch mein Erstaunen, daß Madam, von der ich bei unserer Begegnung in Cagnes nicht das geringste gewußt, mir gleich so bekannt vorgekommen sei, ja, daß ich in meinem Kinderland nach ihr gesucht hätte ... Der Maler packte triumphierend meinen Arm: »Sie sehn, Baron, Sie sehn! Das vielen so gehn. Sie sein Weib unserer frühesten Begierde, ohne Gesicht fast, nur Glanz – Mutter, von der unmerklich später Geliebte sich ablösen. Ich auch sie als Knabe kennen, alle sie kennen, nicht wissen, woher. Weib, Alleswisserin, mystisch, bitter, erdhaft, Himmelfahrt.« So schwärmte er noch lange weiter.

Als er beim Aufbruch schwankte, ergriff er voll Entrüstung den Sektkübel des Engländers und stülpte ihn sich über den Kopf. Prustend und lachend trocknete er sich ab, dann schritt er leichtfüßig vor uns die Treppe hinauf.

 

In meinem Zimmer ging ich auf und ab. Ich wollte an Doris schreiben, die Ferne ... An Doris, die um mich verweilte wie ein besorgter Wald ... Doris, die Undurchdringliche in ihrer Liebe, die Ruhende, die Stumme ... Nur sie liebte ich! Leben und Tod war in ihr, ich erkannte keine Grenze. Als ein Glied fühlte ich mich in einer langen Kette. Die Eimer, aus denen man den Lebensbaum begießt, gingen von Hand zu Hand, in der Schwebe hing er zwischen ihr und mir, und wir hielten ihn – wie zuversichtlich, wie vertrauenerweckend war ihre Hand! Unsere Liebe war Arbeit an unsrer Einsamkeit wie an der Welt, der wir verpflichtet waren, Treue um des Ewigen willen, werktätige Geduld ...

Und so oft ich die Arme öffnete, um Doris entgegenzueilen, trat, mit einem luftigen Schritt, Maria dazwischen und wollte spielen.


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