Johannes Scherr
Die Pilger der Wildnis
Johannes Scherr

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20. Um der Liebe willen.

Am folgenden Morgen beschien die Sonne einen Schauplatz der Verödung und Trauer. Die Hütten und Zelte des Wampanogen-Lagers lagen in Asche, und überall zeigten sich die Spuren des schrecklichen Kampfes, der den unglücklichen Indianerstamm vernichtet hatte.

Als Groot Willem die wenigen Überlebenden und die zwischen dem Schutt der Brandstätte zerstreut umherliegenden Leichen der Indianer sah, sagte er betrübten Auges:

»Laßt die Toten ihre Toten begraben, und dann mögen sie gehen, wohin sie wollen. Sie werden sich, denk' ich, bald genug spurlos in den Wäldern verlieren, und ich fürchte, es wird eine Zeit kommen, wo man den roten Mann überall vergebens suchen wird, außer in den Geschichten der Bücherschreiber.«

Der alte Trapper ahnte nicht, wie bald seine prophetischen Worte sich erfüllen sollten, und daß es schon in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf dem Festlande von Nordamerika nur noch wenige Landstriche geben würde, wo es der roten Rasse vergönnt wäre, ein ihrer Natur und ihren Gaben angemessenes Leben zu führen.

Auf die Äußerung des Trappers bemerkte der jüngere Oberst: »Der Herr will das Geschlecht der verstockten Götzendiener wegfegen vom Boden dieses Landes, damit Platz werde für die Gemeinde des Herrn.«

Groot Willem warf mit einem unwilligen Ruck den Kopf zurück, allein ein bittender Blick von Thorkil ließ ihn das Wort, das er auf der Zunge hatte, verschweigen. So begnügte er sich denn, den glaubenseifrigen Streiter mit den Worten abzufertigen:

»Ich vermute, Sir, Rote und Weiße hätten in diesen unermeßlichen Länderstrichen ganz gut nebeneinander Platz gehabt, wenn sie sich ehrlich und gerecht miteinander hätten vertragen wollen, und wenn den Christen die Beherzigung ihrer Glaubenssätze näher gelegen hätte als grausame Vertilgungen und Verheerungen.«

Die Worte des alten Trappers fanden bei dem älteren Oberst volle Zustimmung. Er schnitt den Streit ab, indem er seinen Sohn und Lovely aufforderte, am Saum des Waldes die Morgenandacht zu halten.

Groot Willem und Thorkil begaben sich an den Ort, wo die Indianer den Ihrigen die letzten Ehren erwiesen. Als Begräbnisstätte hatten sie einen Platz am östlichen Saume des halbverkohlten Waldgürtels ausersehen. Für Metakom war ein eigenes Grab etwas abseits von den anderen, am Fuße einer gewaltigen Eiche bestimmt.

Hih-lah-dih hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Bruder die letzten Liebesdienste zu erweisen. Sie hatte den verhängnisvollen dreischneidigen Dolch aus der Brust des Toten gezogen und ihn für seine lange Reise in die glücklichen Jagdgründe gerüstet und geschmückt. Nun saß sie an seiner Seite auf dem Moose neben dem Grabe, ihr Antlitz und ihre Arme mit ihrem Gewände verhüllend, unbeweglich, wortlos und tränenlos, wie sie seit dem schrecklichen Unheil von gestern abend stets gewesen.

Nur von Zeit zu Zeit faßte sie unter ihrer Verhüllung mit der Hand an ihren Busen, als wollte sie sich vergewissern, ob ein Gegenstand, den sie dort verborgen, noch vorhanden sei.

Jetzt nahte das kleine Häuflein ihrer Stammesgenossen, stellte sich zu Füßen des Leichnams in eine Reihe, und ein vom Alter gebeugter Greis trat vor, um Hih-lah-dih zu bestimmen, den Häuptling in die glücklichen Jagdgründe gehen zu lassen. Ohne aufzusehen, gab das Mädchen mit der Hand ihre Einwilligung.

Groot Willem und Thorkil waren in ehrerbietiger Entfernung von der Gruppe stehen geblieben. Der alte Indianer, gefolgt von den übrigen, umschritt im Kreise den Leichnam und stimmte den Totengesang an:

»Mit Wolken verhüllte sein Antlitz Manitu:
Da dunkelt es tief auf dem Pfad seiner Kinder,
Und im Finstern strauchelt' des Sachems Fuß,
Und er fiel.«

Den Kehrreim wiederholten die im Kreise Wandelnden in klagenden Kehltönen. Dann wurde auf einen Wink des Alten der Leichnam von vier Männern aufgehoben und in das Grab gebracht, Lanze, Köcher, Büchse und Maisbrot wurden ihm sorgsam zur Seite gelegt, und in wenigen Minuten bedeckte die heimatliche Erde den, der sie von den weißen Fremdlingen hatte befreien wollen.

Keiner der wenigen Männer, welche den Tod ihres Häuptlings überlebt hatten, hielt sich für würdig, einem so großen Häuptling den Grabgesang zu halten und die Eigenschaften und Verdienste des Toten zu preisen. Sie ließen es sich nur angelegen sein, den rundlichen Hügel über dem Grabe hoch aufzuwölben und sorgfältig mit Rasen zu bekleiden. Dann standen sie noch einige Minuten lang in stummer Trauer um den Hügel, und der Alte trat zu Hih-lah-dih mit den Worten:

»Meine Tochter, es ist Zeit, zu gehen.«

»Die reine Quelle« erhob sich in ruhiger Fassung und sagte dem Greise leise einige Worte, worauf der Alte seinen Gefährten winkte, um sich von Groot Willem und Thorkil zu verabschieden.

»Geht hin in Frieden,« sagte ihnen der alte Waldläufer, »möchte sich euch in den westlichen Wäldern eine sichere Zufluchtsstätte auftun, und möge es euren Pfeilen nie an Wild und eurer Angel nie an Fischen fehlen.«

Der Alte winkte mit der Hand zum Abschied, und bald hatte sich der kleine Trupp in dem Dickicht verloren.

»Es wird höllisch unlustig und jammerselig sein in den Wäldern und auf den Prärien von Neu-England, wenn die Rothäute und Büffel und Bären und Elentiere und Biber vor dem unerquicklichen Zeug, was die Puritaner ihre Kultur oder ihre Religion nennen, verschwunden sein werden. Doch da kommt Hih-lah-dih. Was soll aus dem armen, guten, treuen Kinde werden?«

Bevor der junge Jäger die Frage beantworten konnte, war das Mädchen zu ihnen getreten, und mit verhaltener Ruhe, welche ein Herz voll Verzweiflung verbarg, sagte sie zu Thorkil:

»Hih-lah-dih hat mit ihrem Blaßgesichtbruder zu sprechen, ehe sie geht. Komm!«

Thorkil folgte ihr nach der Schuttstätte des Lagers; an dem Trümmerhaufen von dem Zelte Metakoms blieben sie stehen.

Der junge Jäger mühte sich, auf dem Grunde seines Herzens ein Wort des Trostes für die Verlassene zu finden. Aber im Gefühl der Ehrfurcht vor der feierlichen Entsagung und der würdevollen Haltung der Unglücklichen, wie auch im Gefühl der Dankesschuld gegen seine Retterin war er keines Wortes fähig.

Hih-lah-dih störte mit dem Fuße die Asche auseinander, so daß darunter eine Elentierhaut sichtbar wurde. Das Fell mit der Linken wegziehend, zeigte sie mit der Rechten auf eine Vertiefung im Boden und sagte:

»Mein Blaßgesichtbruder nehme, was sein ist.«

Thorkil stieß einen Ruf der Überraschung aus: Der Schatz des Ahnherrn lag zu seinen Füßen. Mit leichtem Schauder wandte er sich von dem Hort ab, der ihn an so viel Unheil erinnerte.

»Mein Bruder,« sagte Hih-lah-dih, die den Abscheu Thorkils vor dem alten Golde wohl gemerkt hatte, »freut sich nicht groß über das gelbe Metall, das doch die Wonne der Blaßgesichter ist.«

»Nein, Hih-lah-dih,« versetzte Thorkil, »ich kann mich nicht darüber freuen und wollte, meine Augen hätten dieses Gold nie gesehen. Doch wir wollen von dir sprechen, armes Kind. Mato und ich und wir alle haben die heilige Verpflichtung, für deine Zukunft Sorge zu tragen.«

»Hih-lah-dih,« entgegnete die Indianerin ruhig, »hat nichts mehr mit den Blaßgesichtern zu tun. Sie kennt den Pfad, welchen sie zu wandeln hat: er führt sie zu ihrem Volke.«

»Zu deinem Volke, Kind? Du kannst ebensogut von dem Laub des vorjährigen Sommers reden. Wo ist es?«

»Hih-lah-dih geht zu ihrem Volke.«

Thorkil überhörte den doppelsinnigen Ausdruck, womit sie die Worte sprach. Sie bot ihm jetzt die Hand und sagte mit bebender Stimme:

»Mein Bruder Goldhaar lebe wohl, und lange und glücklich lebe er! Manitu schaue mit gnädigem Auge auf ihn, und sein Pfad sei stets rein von Disteln und Dornen!«

»Nein,« entgegnete Thorkil, die dargebotene Hand festhaltend, »nein, du darfst nicht gehen, darfst uns nicht verlassen. Du hast Furchtbares erlebt, und dein Gemüt ist erschüttert. Aber die Hand der Freundschaft weiß tiefe Wunden zu heilen. Bleibe bei uns, Hih-lah-dih. Mato wird dir ein treuer Vater sein. Mich selbst hast du Bruder genannt, ich will es sein und mich bemühen, so brüderlich an dir zu handeln, wie du an mir schwesterlich gehandelt hast. Lovely glaubt nicht anders, als daß du bei uns bleiben wirst. Sie wird dich mit den Augen einer Schwester ansehen und dir durch innige Liebe zu vergelten trachten, was du an uns getan. O nein, du darfst nicht verlassen in den Wäldern irren. O, bleibe bei uns, um zu erfahren, daß auch die Leute von meiner Farbe Freunde sein können bis in den Tod.«

Die mit unverkennbar echter Herzenswärme gesprochenen Worte taten der Indianerin augenscheinlich sehr wohl. Sie blickte auf und dem jungen Jäger in die treuen Augen. Ein mildes Gefühl, fast das der Freude, sänftigte die Starrheit ihrer Züge.

»Mein Bruder spricht gut,« sagte sie, »und Hih-lah-dih weiß, daß seine Stimme aus dem Herzen kommt. Allein Hih-lah-dih hat erfahren, daß Manitu nicht will, weiße und rote Leute sollen zusammenwohnen. Das Goldhaar wird meine Blaßgesichtschwester, die Wasserlilie, in sein Zelt führen. Die braune Waldbeere nicht passen zu der weißen Blume. – Hih-lah-dih muß gehen. Mein Bruder lebe wohl, und wenn er durch die Wälder streift, aus denen mein Volk verschwunden ist, mag er zuweilen seiner Rothautschwester gedenken.«

Sanft zog sie ihre Hand aus der des Jünglings und wandte sich, seiner bittenden Gebärde nicht achtend, zum Fortgehen. Doch in ihrer glühenden, so innig gepflegten und doch so heldenmütig beherrschten Leidenschaft kehrte sie um, sah den jungen Jäger mit unendlicher Zärtlichkeit an, sprang auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen und Tränen.

So ruhte sie eine Sekunde an seiner Brust. Dann raffte sie sich, an allen Gliedern zitternd, gewaltsam auf, riß sich los und glitt schnell über den Platz. Am Saume des Waldes sah sie noch einmal zurück, warf Thorkil noch einen Blick zu und einen dem Grabhügel ihres Bruders und stürzte in das hinter ihr zusammenschlagende Dickicht. –

Das Benehmen Hih-lah-dihs an diesem Morgen und ihr plötzliches Verschwinden hatte Thorkil und Groot Willem mit banger Besorgnis erfüllt. Es bedurfte nicht erst der dringenden Aufforderung von seiten Lovelys, um die Männer zu bewegen, ohne Zögern dem Mädchen nachzugehen, um alles aufzubieten, es zurückzubringen. Mit Hilfe Prinslos gelangten sie bald auf die richtige Spur in ein Weidengestrüpp am Flusse.

Aber sie kamen zu spät, in dem grünen Versteck lag Hih-lah-dih, den dreischneidigen Dolch im Herzen. – Am Fuße einer Rotbuche wurde ihr das Grab gegraben. In kummervollem Schweigen erhöhten Willem und Thorkil den Rasenhügel über dem Grabe, und weinend bepflanzte ihn Lovely ringsher mit Immergrün und wilden Reben. – – –

Thorkil und Lovely wurden einige Monate nach den letzten Ereignissen ein Ehepaar. Roger Williams vereinigte ihre Hände und segnete ihren Bund ein, dessen Innigkeit und Heiligkeit keine Prüfung des Lebens zu stören vermochte. Groot Willem trat seinem Pflegesohn seine Vrolykheid ab, und so erblühte an dem Orte, wo die jungen Leute sich zuerst begegnet waren, das Glück einer reich gesegneten Familie, von welcher mehrere der geachtetsten Häuser Neu-Englands mit dankbarer Ehrfurcht ihre Abstammung herleiteten.

Lovelys Vrolykheid, wie Thorkil seiner Gattin zu Ehren seinen Wohnsitz nannte und wie der Ort bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts hieß, bot den beiden Obersten, die mit über König Karl I. zu Gericht gesessen hatten, einen sicheren Zufluchtsort. Die Verfolgung gegen sie erneuerte sich nicht mehr, da bald darauf in England Ereignisse eintraten, welche geschehene Dinge weit in den Hintergrund drängten.

Der alte Willem blieb ein unsteter Waldläufer bis an das Ende seiner Tage. Er war ein häufiger Gast in Lovelys Vrolykheid, wo er der Abgott der Kinder wurde. Aber keine Bitte Lovelys und Thorkils konnten ihn bewegen, seinen vorübergehenden Aufenthalt in einen bleibenden zu verwandeln. Auf den Grenzen zwischen den Ansiedlungen der Weißen und den Jagdgründen der Indianer des Westens gingen noch lange nachher Sagen um von dem riesigen, einohrigen Jäger, der, fast ein Hundertjähriger, durch Kühnheit und gerechten Sinn beiden Völkern Hochachtung abgenötigt hatte. Drei Jahre nach seinem letzten Erscheinen in Thorkils Hause brachte eines Tages ein Pelzhändler das Roer Willems als den letzten Gruß des biederen, einfachen, hochsinnigen Waldläufers. Er war gestorben in den Wäldern, die er so sehr geliebt hatte.

Das Schicksal de Lussans und Desdemonas blieb den Bewohnern von Lovelys Vrolykheid verborgen. Nie mehr zeigten sich ihnen die Segel und die rote Flagge der »Gloria«. – – –

Der entschiedene Sieg, den die Weißen in König Philipps Krieg erfochten hatten, sicherte ihnen für immer die herrschende Stellung gegenüber den ursprünglichen Besitzern des Bodens von Neu-England und schuf Raum für einen Freistaat von unerhörtem Wachstum. Der weltgeschichtliche Ruhm, den Grund dazu gelegt zu haben, gehört für allezeit den »Pilgern der Wildnis«.


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