Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel. Das klassische Zeitalter deutscher Wissenschaft und Kunst

Genesis und Begriff der Aufklärung. – Die englische Philosophie des common sense. – Der französische Materialismus. – Voltaires Spott und Rousseaus Naturevangelium. – Die deutschen Aufklärer. – Die Nationalliteratur. – Wieland. – Lessing. – Kant. – »Sturm und Drang«. – Herder. – Der Hainbund. – Voß. – Bürger. – Stolberg. – Titanismus und Kraftgenialität. –Lenz. – Klinger. – Der deutsche Genius auf seinem Höhepunkte: Goethe und Schiller. – Die wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Vertreter. – Die bildenden Künste. – Die Musik. – Haydn. – Gluck – Mozart. – Beethoven. – Die Schauspielkunst. – Abschluß der Klassik und Übergang zur Neu-Romantik: Fichte und Jean Paul.

 

Deutschland ist nicht das Land der Initiative. Es liegt in unserem Nationalcharakter etwas Schwerfälliges, das des Anstoßes von außen her bedarf, um in Bewegung zu geraten; aber es liegt in ihm zugleich auch die Kraft der Durchdringung, eine unbeugsame Ausdauer, welche nicht abläßt, den einmal betretenen Weg bis ans Ende zu verfolgen, und führte er auch an tausend schwindelerregenden Abgründen vorbei und mitten durch wildverwachsene Gestrüppe zahlloser Vorurteile hinauf zu jenen Ätherhöhen des Gedankens, vor deren unerbittlich scharfer Luft andere Nationen furchtsam zurückbeben.

Seit dem Wiederaufleben der klassischen Studien war die Idee des Humanismus gegen einen barbarischen Theologismus, welcher die Basis einer gleich barbarischen weltlichen Autorität abgab, in unausgesetztem Kampfe gestanden. Das Germanentum hatte die humanistische Idee mit der ihm eigenen Empfänglichkeit in sich aufgenommen und zur Zeit der Reformation zunächst in der Richtung religiöser Freiheit zu verwirklichen versucht, was ihm, wenn nicht in Deutschland, wenn nicht in England, so doch in Amerika gelungen war. Im 18. Jahrhundert richtete sich bei uns die reformistische Tendenz sodann auf die freie Wissenschaft und Kunst, auf die Befreiung der Denktätigkeit des Menschen von der Herrschaft dogmatischer Satzung und auf die Befreiung der nationalen Kunst von der Willkür romanischer Kunsttheorie. Der Anstoß hierzu kam von außen. Zwar hatte Leibniz den Grund zur Selbständigkeit der deutschen Wissenschaft gelegt, und bemühte sich Christian Wolf (1679-1754), die Leibnizschen Ideen zu einem vollständigen System der Wissenschaften zu verarbeiten, allein beider Wirksamkeit hielt sich innerhalb der gelehrten Region, und der verflachende Formalismus des letztgenannten war wenig geeignet, Einfluß auf das Kulturleben der Nation zu gewinnen. Daher mußte Deutschland, um zu werden, was es seither geworden, das vielseitigst und umfassendst gebildete Land, das Land der Bildung par excellence, erst von den Anregungen berührt werden, welche von auswärts kamen, von England und Frankreich, wo die theologische Versumpfung früher von einem oppositionellen Luftzug angefaßt wurde als bei uns.

siehe Bildunterschrift

Nr. 66. Gerichtsverhandlung zur Zeit Friedrichs d. Gr.

In England nämlich waren Locke und Hume, in Frankreich war Pierre Bayle aufgestanden, und sie hatten, jeder in seiner Art, das Geschütz des skeptischen Verstandes gegen die Zwingburg des Offenbarungsglaubens aufgefahren. In die von ihnen eröffneten Breschen stürmten alsbald die englischen Deisten (Toland, Tindal, Wollaston, Morgan u. a.), welche man wohl auch Atheisten nannte, weil sie nicht allein das Dogma von einem dreieinigen Gott, sondern überhaupt die Annahme eines persönlichen, nach menschlichen Vorstellungen gestalteten höchsten Wesens verwarfen. Die deistische Philosophie des gesunden Menschenverstandes (»common sense«) wurde durch die schriftstellernden Lords Shaftesbury und Bolingbroke geistvoll und witzig propagiert und machte namentlich in den höheren Ständen zahlreiche Proselyten. An diese Philosophie lehnte sich der französische Empirismus, welcher, eng verbunden mit der antirömischen und widerjesuitischen, durch Rabelais' und Pascals Satire geweckten Richtung, durch praktische Denker wie Montaigne und Rochefoucauld begründet worden war, durch Condillac fortgebildet wurde und als Materialismus zu der Schlußfolgerung kam, daß es nur ein Sein gebe, die Materie, daß alles nur Zustand und Modifikation der Materie und selbst das Denken nichts anderes sei als eine Bewegung der Fibern des Gehirns. Die materialistische Philosophie legte den Maßstab einer polemischen Kritik, deren Hauptführer Voltaire wurde, an alle Erscheinungsformen des Bestehenden, zeigte deren Nichtigkeit auf und forderte, daß sie durch Institute ersetzt würden, welche der Vernunft mehr entsprächen. Auf allseitige Durchführung solcher Kritik war die von Diderot und d'Alembert begründete »Encyklopädie« gerichtet, welche den französischen Aufklärern den Gesamtnamen der Enzyklopädisten verschaffte. Ihre Wirkung auf Frankreich und Europa war außerordentlich, um so mächtiger, als ihr das Genie Rousseaus zu Hilfe kam, der jeden Widerstand, welchen der demonstrierende Verstand und der hohnlachende Spott nicht überwinden konnten, mit der Begeisterung seines Naturevangeliums zu Boden warf und die Sehnsucht nach Erlösung aus Unnatur und Knechtschaft in allen Gemütern entzündete. Übrigens fanden Voltaire sowohl als Rousseau den Ausgangspunkt ihres Philosophierens in dem Deismus, d. h. in der Annahme eines »höchsten Wesens« – so lautete der Ausdruck –, welches, weil ja die Natur oder endliche geistige Prinzipien als die Quelle der Wahrheit festgestellt werden und alle Erkennbarkeit in das Gebiet des Endlichen fällt, zwar als das »Unendliche« anerkannt, aber seiner Unerkennbarkeit wegen zu einem unbestimmten und inhaltslosen Jenseits verflüchtigt ward. Der Materialist Holbach, ein zu Paris in den Kreisen der Enzyklopädisten lebender Deutscher war also nur konsequent, wenn er unter Beihilfe seiner Freunde in seinem »Système de la nature« diesen unbestimmten Gottesbegriff als völlig müßig und überflüssig beiseite stellte.

siehe Bildunterschrift

Nr. 67. Rechtspflege zur Zeit Friedrichs d. Gr.

Der oppositionelle Geist des Jahrhunderts fand in Deutschland zuerst eine feste Stütze in der Regierungsweise Friedrichs des Großen, welcher, wie wir oben gesehen, die Aufhellung der mittelalterlichen Finsternis geradezu als sein Grundmotiv proklamierte. Der protestantische Norden unseres Landes und in diesem Berlin als Mittelpunkt wurde Hauptsitz der neuen Richtung, welche unter Joseph II. auch gegen den Süden hin sich Bahn brach. Sie erhielt den ebenso schönen als bezeichnenden Namen Aufklärung, denn aufklären sollte sie die orthodoxe Finsternis, erhellen die kimmerische Nacht philisterhafter Weltanschauung. »Aufklärung«, sagt Kant, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Die deutsche Aufklärung nahm nicht einen zahmeren, sondern einen tieferen Charakter an als die französische. Dort, bei den Franzosen, richtete sich die Bewegung, ohne sich um stufenweises Fortbauen zu kümmern, sofort auf praktische Ziele und Interessen, auf den freien Staat. Bei den Deutschen hingegen faßte sie, dem systematischen und methodischen Charakter der Nation gemäß, zunächst das die freie Religion mit dem freien Staate verbindende Mittelglied, die freie Bewegung der Persönlichkeit in Wissenschaft und Kunst, ins Auge. Freilich, die Masse der Aufklärer kam diesem Ziele nur in bescheidener Entfernung nahe. Sie bewegten sich in dem Zirkel des Deismus und modifizierten bloß den Theologismus, statt ihn aufzuheben. Aber der hausbackene Verstand, mit dem sie gegen das Hergebrachte angingen, hat dennoch eine Menge heilsamer Ideen in Umlauf gesetzt und überall dem Humanismus die Wege bereitet. Sie schufen zuerst wieder eine öffentliche Meinung in Deutschland und verstanden es auch, dieselbe in Achtung zu setzen.

siehe Bildunterschrift

Nr. 68. Das Jesuiten-Kollegium in München.

Als eine typische Gestalt der Aufklärung in dieser Erscheinungsform stellt sich vor allen dar der Berliner Schriftsteller und Buchhändler Friedrich Nikolai (1723-1811), der in Verbindung mit gleichgesinnten Freunden, worunter der Popularphilosoph Moses Mendelssohn, seit 1759 die einflußreichen »Literaturbriefe« und später (seit 1765) die »Allgemeine deutsche Bibliothek« herausgab, eine periodische Schrift, die nach und nach zu 225 Bänden anwuchs und ungeachtet vieler Mißgriffe unserer Kultur höchst bedeutende Dienste geleistet hat. Dazu kamen die »Göttinger Gelehrten Anzeigen«, von der 1735 eröffneten und mit Vorliebe die Realwissenschaften pflegenden Universität Göttingen ausgehend, die Jenaische »Literaturzeitung« und andere gelehrte und literarische Zeitschriften, welche dem Kreise des Wissens eine bis dahin unbekannte Ausdehnung gaben. Bei der vorwiegend theologischen Stimmung der Deutschen war es von größter Wichtigkeit, daß innerhalb der Theologie selbst die aufklärerische Bewegung anhob. Wir haben oben an dem Beispiel Edelmanns gesehen, wie sich aus der pietistischen Sektiererei der skeptische Kritizismus herausbildete. Wir sehen nun, wie Semler in Halle der hohlen Frömmigkeit des Pietismus gegenüber das Prinzip der freien Forschung zu Ehren brachte, welches auch der vielberufene Bahrdt bei aller Neigung zum Scharlatanismus immer wieder mit Verstand zu vertreten wußte, obzwar seiner Kritik die edle sittliche Haltung abging, welche die eines Reimarus, Verfasser der berühmten »Wolfenbütteler Fragmente«, auszeichnete. Theologen dieser Art gingen, in Verbindung mit Popularphilosophen wie Spalding, Abbt, Sturz, Garve und Zimmermann, dem hierarchischen Zelotentum, dem Aberglauben und der bigotten Kopfhängerei tüchtig zu Leibe, machten jene liberale Denkungsart in religiösen Dingen herrschend, welche man unter dem Begriffe »Rationalismus« zusammenfaßte, und pflanzten Toleranz in unzählige Herzen, während andererseits Männer wie Johann Konrad Moser, Karl Friedrich Moser, J. St. Pütter, A. L. von Schlözer und Justus Möser, in Fortsetzung der von Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert begonnenen Arbeit, die politischen Vorstellungen aufzuhellen, staatsrechtliche Begriffe festzustellen, Unrecht und Gewalttat zu rügen und in ihren Landsleuten das Bewußtsein des Staatsbürgertums zu wecken sich bemühten. Wohin immer die Strahlen der Aufklärung fielen, brachten sie Keime reformistischer Forschung und Tätigkeit zum Aufsprossen und Blühen. Schröckh und Planck stellten die kirchliche, Spittler und Heeren die profane Geschichtschreibung, Eichhorn die Kulturhistorik auf ganz neue Grundlagen, d. h. auf die einer vorurteilsfreien Kritik, Winckelmann lieferte mittels seiner genialen kunstgeschichtlichen Untersuchungen jenen kostbaren Beitrag zur Emanzipationsliteratur des Jahrhunderts, auf welchen die Poesie Goethes dankbar blickte, Heyne nährte den humanistischen Geist durch seine geistvolle Behandlung der klassischen Studien und Basedow fegte den pädagogischen Wust des theologischen Scholastizismus weg, indem er demselben die von Rousseau gepredigte philanthropisch-utilitarische Erziehungsweise seiner Philanthropine entgegensetzte, worauf der hochsinnige Johann Heinrich Pestalozzi aus Zürich mit seiner großen, auf die mathematisch-analytische Methode des Anschauungsunterrichts gestützten Reform des Elementar- und Realschulwesens hervortrat, einer Reform, die ihren Urheber für immer zu den erleuchtetsten Wohltätern der Menschheit stellt. Rechnet man hierzu noch alle die Anregungen, welche für das politische und soziale Leben, für Landwirtschaft, Gewerbe und Handel von der Aufklärung ausgingen, so wird man die Verketzerungen, welche die aufklärerische Bewegung des vorigen Jahrhunderts in dem unsrigen erfahren hat und erfährt, in ihrer ganzen Unlauterkeit leicht erkennen. Die Aufklärung hat Mängel und Gebrechen, ganz gewiß. Aber in diese Mängel und Gebrechen ihr Wesen setzen, heißt gerade soviel, als etwa das Wesen des Christentums ausschließlich in Erscheinungen suchen, wie die Inquisition, die Judenschlachten und die Hexenbrände waren.

siehe Bildunterschrift

Nr. 69. Das Brandenburger Tor in Berlin im 18. Jahrhundert.

In die Nationalliteratur sehen wir die Aufklärung zuerst durch Christoph Martin Wieland (1733-1813) aus Oberholzheim in Oberschwaben, entschieden eingehen, mehr jedoch in ihrer französischen als deutschen Färbung. Klopstock hatte wieder eine nationale Literatur begründet und der Poesie ihre gebührende Stellung im deutschen Kulturleben verschafft. Er hatte die jungen Gemüter gewonnen durch den heiligen Ernst seines Pathos, aber seine Dichtung hatte gerade die einflußreichsten Kreise im allgemeinen unberührt oder wenigstens ungerührt gelassen. Die französisch gebildeten Stände, welche Voltaires »Esprit« verehrten, konnten sich mit der psallierenden Christlichkeit des Sängers der Messiade nicht befreunden; ebensowenig mit seinem abstrakten Teutonismus und mit diesem um so weniger, als eine Schar talentloser Nachahmer das an sich schon gehaltlose Bardenwesen rasch zum lächerlichen Unsinn steigerte. Mehr sprach die idyllische Seite des Dichters an, welche dann Salomon Geßners anmutige Prosa den Salons noch mehr mundgerecht machte, und nicht minder sein Freundschaftskultus, welcher mit der grassierenden Bund- und Geheimbundschwärmerei zusammentraf. Man ließ sich die Herzensergießungen der um den »Vater« Gleim als ihren Mittelpunkt gescharten Freundschaftler gefallen und nahm wohl auch eine Menge bei Wasser gedichteter Weinlieder oder die sokratisch heitere Didaktik eines Peter Uz oder die schwermütig ernste Naturschilderung eines Ewald Christian von Kleist mit in den Kauf. Allein wahrhaft lebendiges Interesse gewann der höheren Gesellschaft dennoch erst Wieland ab, der dem Klopstockschen Idealismus einen blühenden Realismus gegenüberstellte und sich in Versen und Prosa mit so schalkhafter Grazie, mit so aufgeklärt geistreicher Miene, mit so tolerantlüsternem Lächeln zu bewegen wußte, daß die vornehme Welt mit Überraschung gestehen mußte, dieser Deutsche verstände das Dichten nicht weniger gut als die geliebten Franzosen. Wieland wandelte bekanntlich zuerst in den Spuren des Klopstock-Bodmerschen Seraphismus, welcher gerade bei ihm den von den Gottschedianern erhaltenen Spottnamen Sehraffismus nicht ohne Fug trug; aber bald erkannte er die wahre Mission seines Talents, die Mission, durch weltmännisch verständige, sinnlich heitere Poesie der deutschen Literatur die Türen der höheren Kreise zu eröffnen, die Weltleute, die Skeptiker, die Galanten und Frivolen für die literarische Bewegung zu gewinnen. Diese Absicht erreichte er – und die Erreichung derselben ist für die weitere Entwicklung unserer Bildung keineswegs gering, sondern sehr hoch anzuschlagen, wenn man bedenkt, welche einflußreiche Rückwirkung die Gebildeten stets auf die Literatur üben und üben werden – indem er den künstlichen seraphischen Flugapparat rasch abtat, sich tüchtig im Leben umsah und jene lange Reihe von poetischen Erzählungen und Romanen schrieb, die mit Diana und Endymion (1762) begann und im Agathon (1766), in der Musarion (1768), in den Abderiten (1774), im Gandalin (1776) und im Oberon (1780) die Höhepunkte ihrer Vorzüge erreichte. Bedeutende Talente – von dem Trosse der platten Nachahmer zu schweigen – führten die durch Wieland so anmutig geltend gemachte Berechtigung der Sinnlichkeit und des gesunden Menschenverstandes weiter aus, am glänzendsten Wilhelm Heinse, dessen glühender Kunstenthusiasmus in seinem bedeutendsten Roman »Ardinghello« zu sozialistisch-revolutionärem Stile sich erhob.

siehe Bildunterschrift

Nr. 70. Überredung. Galanter Kupferstich.

So sehr aber diese ganz von Wieland ausgehende Richtung mit dem Inhalte der Aufklärung erfüllt war, in einem Grade erfüllt war, daß sogar die alten Volkssagen und Volksmärchen durch Musäus im aufklärerischen Sinne wiedererzählt wurden, fehlte ihr doch der nötige Ernst, um der reformistischen Stimmung der Zeit höhere, edlere, wahrhaft positive Gestalt zu geben. Dies war zwei Männern von weit gediegenerem Naturell vorbehalten, Lessing und Kant, von denen jener die Aufklärungsperiode zum national-literarischen, von denen dieser sie zum wissenschaftlichen Abschlüsse brachte. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), aus Kamenz in der Oberlausitz, hat mittels seiner unvergleichlichen Kritik den deutschen Geist sich selbst wiedergegeben, hat ihn zum Vollbewußtsein der eigenen Kraft und Würde gebracht. In diesem Nummer-Eins-Mann verband sich das klarste Erkennen mit dem tüchtigsten Wollen, und diesem entsprach das tatkräftigste Können. Sein Patriotismus bestand nicht darin, daß er sich in Klopstocks Weise ein willkürliches Ideal von Deutschtum zusammenphantasierte, sondern darin, daß er die Schäden des deutschen Lebens bloßlegte und die Mittel zur Heilung derselben angab. Er wendete sich mit seiner genialen Kritik einerseits gegen die theologische Verkommenheit der Deutschen, andererseits gegen die ausländischen Geschmacksgötzen, vor deren Altären seine Zeitgenossen noch immer räucherten. Wie er in solchen glorreichen Kämpfen gegen eine stupide Orthodoxie, als deren Typus der Hamburger Pastor Götze in den Annalen unseres Kulturlebens unsterblich ist, unsere Bildung mit herkulischer Kraft aus dem theologischen Sumpfe herausriß, um sie auf den gesunden Boden des Humanismus zu stellen, so markiert auch sein stolzer Ausruf: »Man zeige mir ein Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte!« eine höchst wichtige Stufe unserer nationalen Entwicklung. Lessing zeigte nicht nur, daß unsere geistige Abhängigkeit vom Auslande, namentlich von Frankreich, schmachvoll wäre; er wies auch nach, daß sie dumm wäre, weil auf ganz unstatthaften Prinzipien beruhend. Er gab uns in seinem Laokoon (1766) und in seiner Hamburger Dramaturgie (1767-1768) Werke, welche man mit vollem Rechte die Verfassungsurkunden unserer ästhetischen Freiheit nennen könnte. Er schuf uns ein selbständiges Theater, indem er die Schemen gallomanischer Konvenienz vor den nationalen Gestalten seiner preiswürdigen Komödie »Minna von Barnhelm« und seiner nicht minder preiswürdigen Tragödie »Emilia Galotti« erbleichen ließ. Immer auf der Wacht, stets schlagfertig, erhöhte er die Wirkung seines aufopfernden Mutes durch edelstes Maßhalten. Der klare, frische, energische Strom seiner Gedanken drang reinigend bis in die verstecktesten Winkel des Augiasstalles deutscher Philisterei. Ihn blendete kein Flitter, ihn täuschte kein Schein, ihn verwirrte keine Sophistik. Fest, unentweglich den Blick dem Lichte der Vernunft zugekehrt, schritt er vor, das giftige Gewürme der Finsternis unter seinen Fersen zermalmend, nach allen Seiten hin das Gestrüppe des Wahnes niederschlagend, überall anregend, wegzeigend, mustergebend. Er war der erste freie Mensch, der erste freie Forscher, der erste freie Künstler in Deutschland. Er rühmte sich nicht seiner Liebe zum Vaterlande, er betätigte sie auf jedem Schritt und Tritt. Der Patriotismus erschöpfte auch nicht die Fülle seiner Erkenntnis und seiner Liebe. Jene weltweite Gesinnung, welche »die Sache der Menschheit als die eigene betrachtet«, schwellte seine Brust und diktierte ihm am Ende seiner Laufbahn sein Schauspiel »Nathan der Weise« (1779), das voll wunderbarer Zukunftsahnung, unserem Auge die tröstliche Fernsicht in eine menschenwürdige Entwicklung der Menschheit auftut.

siehe Bildunterschrift

Nr. 71. Picard, Am Beichtstuhl.

Der »Nathan« manifestiert recht augenscheinlich den Vorschritt und Gegensatz, welchen Lessing gegenüber von Klopstock bildet. Klopstock hatte mit seinem Messias den Versuch gemacht, die religiöse Autorität mittels der Poesie zu retten; Lessings Nathan ist gleichsam die Proklamation, welche die Autonomie der menschlichen Vernunft beim Antritt ihrer Herrschaft erließ. Der Messias schloß die protestantisch-theologische Entwicklungsperiode unserer Kulturgeschichte ab; der Nathan, welcher unsere ganze Klassik im Keime enthielt, eröffnete die menschlich-freie. Wenn es nun Lessing gelungen war, mittels theologischer und ästhetischer Kritik die Selbstherrlichkeit der Vernunft zu begreifen und darzustellen, so erreichte dies Immanuel Kant (1724-1804) aus Königsberg auf dem Wege jenes streng-philosophischen Kritizismus, welcher dem von ihm aufgestellten System den Namen des kritischen Idealismus verschaffte. Das Hauptwerk dieses kühnen Denkers, der die bisherige Weltanschauung geradezu umkehrte und eine geistige Revolution bewerkstelligte, gegen deren Titanismus die gewaltigsten Geschehnisse der großen französischen Staatsumwälzung Kinderspiele waren, ist die »Kritik der reinen Vernunft« (1781), in welcher mit völliger Beiseitestellung des Materials der Offenbarung das Reich des Wissens ganz aus sich selber aufgebaut und der aufgeklärte Deismus so gut wie die orthodoxe Fiktion vernichtet wird. Nachdem Kant zu den letzten Quellen unseres Erkenntnisvermögens hinaufgestiegen und dieselben untersucht hat, setzt er den Menschen als Mittelpunkt der Welt. Das selbstbewußte menschliche Ich ist das apriorische Zentrum, nach welchem sich die Gegenständlichkeit, als Objektivierung dieses erkennenden Ichs, zu richten hat. Die Konsequenzen hiervon sind leicht zu ziehen: der Mensch kann nicht über den Menschen hinaus, und daher sind alle seine Phantasien von Übermenschlichem eben weiter nichts als Phantasien, leere Hirngespinste, von einer Generation auf die andere fortgeerbte Einbildungen, denen nicht die mindeste Realität zukommt. In seinen späteren Schriften (»Kritik der praktischen Vernunft« 1785, »Kritik der Urteilskraft« 1787) statuierte Kant die von der reinen Vernunft negierten Begriffe Gott und Unsterblichkeit wieder als Postulate der praktischen, indem er der Ansicht war, daß ohne dieselben die Widersprüche der Welt nicht zu lösen wären. Die Kantische Philosophie ist das granitne Fundament, auf welchem die Befreiung des deutschen Geistes ruht. So wie ihr Inhalt durch begeisterte Schüler und Erklärer, unter denen vor allen K. L. Reinhold zu nennen ist, ihrer abstrusen Form entkleidet worden war, begann sie dem Geistesleben unseres Landes ihr Gepräge aufzudrücken und alle Gebiete des Wissens zu befruchten. Die unerbittliche Logik des Königsberger Denkers säuberte das deutsche Gehirn von tausendjährigem Wust und verlieh dem deutschen Gedanken die Stärke, der ihres Schleiers entledigten Wahrheit ohne Zagen in das strenge und leuchtende Antlitz zu sehen.

siehe Bildunterschrift

Nr. 72. Die Tracht des entblößten Busens. Nach einem alten Stich.

siehe Bildunterschrift

Nr. 73. Charles Eisen, Illustration zu Lafontaine.

siehe Bildunterschrift

Nr. 74. Charles Eisen, Illustration zu Lafontaine.

Es war aber notwendig, daß ein so überlegener Genius wie Kant in das wimmelnde Gewühl der deutschen Geistesregungen der drei letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts trat, um der überflutenden Bewegung die richtige Bahn vorzuzeichnen. Denn während besonnene Männer, wie z. B. der Humorist Th. G. von Hippel, die Probleme der Aufklärung mit ruhiger Mäßigung zu lösen suchten, erging sich die jüngere Generation in unklarem, titanischem »Sturm und Drang«, eine Fülle bester Kraft an Unmöglichkeiten verschwendend, eine große Summe von Talent in Phantastereien aufzehrend. Die Lessingsche Kritik hat dem jüngeren Geschlechte die Armseligkeit der deutschen Literatur enthüllt und ihm die Welt Shakespeares, von welchem Wieland die erste Übersetzung geliefert, vor Augen gerückt. Zugleich war es Winckelmann gelungen, das deutsche Auge für die Schönheit hellenischer Götter- und Heroenbilder zu öffnen, und hatte der brennend sehnsüchtige Ruf Rousseaus nach Naturunmittelbarkeit auch diesseits des Rheins in unzähligen Herzen Widerhall gefunden. Die jungen Geister erhoben die Losung: »Freiheit und Natur!« und begannen überall mit Macht an den Säulen des Herkommens zu rütteln, welche die Tempel der Philisterei stützten. Allem Verrotteten und Vermoderten in Denkweise, Sitte und Tracht wurde der Krieg erklärt, allen Vorurteilen des Standes und der Zunft Trotz geboten, gegen alle verlebten Formen der Gesellschaft mit Begeisterung, mit Spott und Satire angestürmt. Die wunderlichsten Gegensätze durchkreuzten sich in dieser allgemeinen Gärung. Vom äußersten Norden und vom äußersten Süden des deutschen Landes her regte sich gegen die Friedrichisch-Nikolaische Aufklärung eine Reaktion im Sinn der Sturm- und Dranggenialität. Der geniale Johann Georg Hamann aus Königsberg, der »nordische Magus«, welcher den »greisenhaften Geist der Überlebung«, an welchem die Gesellschaft krankte, durch die Unmittelbarkeit des Bibelglaubens gebannt wissen wollte, und Johann Kaspar Lavater aus Zürich, dessen wundersüchtige Christlichkeit bei allem liebseligen Tränengeträufel im Grunde doch ganz exklusiv-fanatisch war, erhoben ihre orakelnden Stimmen, deren Äußerungen sich mit denen des geisterseherischen Schwärmers Jung-Stilling und des »Gefühlsphilosophen« Jakobi begegneten. Die Spielereien der Freundschaftlerei wechselten mit denen der Physiognomik und der Bündlermysterien, und während in Schwaben der ganze Vulkanismus der Zeitstimmung in der Poesie und Publizistik eines Schubart ungestüm zum Ausbruche kam, setzte sich von Göttingen aus der nüchterne Verstand des Epigrammatikers Kästner und die unbeirrbar helle Vernunft des Humoristen Georg Christoph Lichtenberg den Überstiegenheiten des kraftgenialen Treibens entgegen, durch dessen Wirrsale hindurch der Blick des erleuchteten Patrioten Georg Forster die Notwendigkeit einer politischen Umgestaltung mit einer Klarheit und Sicherheit erkannte, wie so deutlich diese Notwendigkeit sonst keinem Deutschen von damals sich darstellte.

siehe Bildunterschrift

Nr. 75. Die Tracht des entblößten Busens. Nach einem alten Stich.

Unterdessen hatte die Tätigkeit Lessings in Johann Gottfried Herder (1744-1803) aus Mohrungen in Ostpreußen einen Fortsetzer gefunden. Herders kulturhistorische und nationalliterarische Mission bestand darin, daß er die antike Bildung mit der christlichen zu vermitteln suchte, durch universelles Verständnis und eindringendes Verstehenmachen aller über die Welt hin zerstreuten Schätze der Bildung die weltbürgerliche Bestimmung der deutschen Literatur allseitig klar machte und ihr für immer das Gepräge der Humanität aufdrückte. Seine segensreichen Bemühungen um Homer und Shakespeare, um die orientalische und spanische Literatur erweiterten den Horizont des deutschen Geistes unermeßlich und bildeten recht eigentlich die Brücke von der Kritik zur originalen Schöpfung. In der Fülle ihrer Fruchtbarkeit erscheint seine Wirksamkeit einerseits in seinen »Stimmen der Völker in Liedern« (1778-1779), andererseits in seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit« (1784 fg.). Beide Werke, jenes ebenso heilsam anregend für unsere Dichtung, wie dieses für unsere Geschichtewissenschaft, sind getragen von dem Gedanken des Humanismus, Beide legen den Entwicklungsprozeß der Menschheit dar und stellen als Resultat die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit unseres Geschlechtes hin.

siehe Bildunterschrift

Nr.76. Im Münchener Bockkeller um 1830.

Gehen wir von Herder, dem Vermittler zwischen Kritik und Hervorbringung, zu den nächstliegenden Äußerungen der letzteren fort, so stoßen wir zuvörderst auf den Göttinger »Hainbund«. In Göttingen hatte sich eine Anzahl von Männern und Jünglingen zusammengefunden, die von der literarischen Bewegung lebhaft ergriffen und vom besten Wollen beseelt waren, ihr zu dienen. Zu diesem Zwecke stifteten sie, ganz im Geiste des Bündlerwesens der Zeit, einen förmlichen Dichterbund, dessen Gelübde auf »Religion, Tugend, Empfindung und reinen unschuldigen Witz« lautete, und der in seiner Ausdrucksweise und seinem ganzen Gebaren wie eine Vorwegnahme des späteren altdeutschen Burschentums erscheint. Denn Klopstockischer Teutonismus, waldursprünglicher Patriotismus und die willkürliche Fiktion urgermanischen Bardenwesens waren die Ideen, welche dem Hainbund, zu dessen Schutzpatron Klopstock erklärt wurde, zugrunde lagen. Johann Heinrich Voß (1751-1826), die beiden Grafen Christian und Friedrich Stolberg, Ludwig Hölty, Johann Martin Miller (später berühmt als Verfasser des empfindsamkeittränensprudelnden Klosterromans »Siegwart«) und andere gehörten dem Bunde an. Boie und Göckingk redigierten den Göttinger »Musenalmanach«, welcher, 1770 gegründet, dem Bunde als poetisches Organ diente und nachmals viele Nachahmungen hervorrief. In engerer oder entfernterer Beziehung zu dem Bunde standen Leisewitz, der Verfasser der Tragödie Julius von Tarent, Matthias Claudius, der »Wandsbeker Bote«, von dessen tiefgefühlten Liedern einige zu außerordentlicher Popularität gelangten, und Gottfried August Bürger (1748-1794), durch Unglück und Genie über die Hainbündler weit hinwegragend, der Schöpfer unserer Balladenpoesie, der sich die Liebe der Nation für alle Zeit gesichert hat. Der Hainbund ist mehr als soziale denn als literarische Erscheinung merkwürdig. Seine Bardenlieder sind längst vergessen, aber die Stellung der Hainbündler zu ihrer Zeit, die Art und Weise, wie sie in den Sturm und Drang derselben eingingen, ist noch immer von Bedeutung. Es war ein seltsames Gemisch von harmloser Idyllik und idealischem Nationalgefühl in ihrem Bestreben, das Poetische zu verwirklichen, und wenn ihnen dieses auch mißlang und mißlingen mußte, so darf doch nicht übersehen werden, daß sie zur Erfrischung der öffentlichen Meinung, zur Verjüngung deutschen Sinnes wesentlich mitgewirkt haben. Voß, der später im bäuerlichen, kleinbürgerlichen und pastorlichen Idyll den seinem Wesen entsprechendsten dichterischen Ton fand und durch seine Übersetzung der homerischen Gesänge (1781 fg.) sich so hoch und so bleibend um die deutsche Kultur verdient machte, war die Seele des Bundes und charakterisiert diesen in seinen Briefen aufs beste. »Ach, den 12. September (1772) hätten Sie hier sein sollen,« schrieb er an einen Freund. »Die beiden Miller, Hahn, Hölty und ich gingen noch des Abends nach einem nahgelegenen Dorf. Der Abend war heiter und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an und versprachen uns ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die schon gewöhnliche Versammlung (behufs der Vorlesung und Beurteilung neugefertigter Gedichte) noch genauer und feierlicher zu halten. Ich ward durchs Los zum Ältesten gewählt.« Weiterhin briefliche Schilderungen der Versammlungen des Bundes. »Zu beiden Seiten der Tafel, mit Eichenlaub bekränzt, die Bardenschüler. Gesundheiten wurden getrunken. Boie nahm das Glas, stand auf und rief: Klopstock! Jeder folgte ihm, nannte den großen Namen und nach einem heiligen Stillschweigen trank er. Nun Ramlers, Lessings, Gleims usw. Jemand nannte Wieland, mich deucht, Bürger war's. Man stand mit vollen Gläsern auf und: Es sterbe der Sittenverderber Wieland! Es sterbe Voltaire!« Ferner: »Klopstocks Geburtstag feierten wir herrlich. Eine lange Tafel war gedeckt und mit Blumen geschmückt. Oben stand ein Lehnstuhl ledig für Klopstock und auf ihm seine sämtlichen Werke. Unter dem Stuhl lag Wielands Idris zerrissen. Die Fidibus waren aus Wielands Schriften gemacht. Boie, der nicht raucht, mußte doch auch einen anzünden und auf den Idris stampfen. Hernach tranken wir in Rheinwein Klopstocks Gesundheit, Luthers, Hermanns Andenken. Wir sprachen von Freiheit, die Hüte auf dem Kopf, von Deutschland, von Jugendgesang, und Du kannst denken, wie! Zuletzt verbrannten wir Wielands Idris und Bildnis.« Endlich: »Klopstock, der größte Dichter, der erste Deutsche von denen, die leben, der frömmste Mann, will Anteil haben an dem Bunde der Jünglinge. Alsdann will er Gerstenberg, Schönborn, Goethe und einige andere, die deutsch sind, einladen, und mit vereinten Kräften wollen wir den Strom des Lasters und der Sklaverei aufzuhalten suchen. Gott wird uns helfen, denn Freiheit und Tugend sind unsere Losung.«

siehe Bildunterschrift

Nr. 77. Student im 18. Jahrhundert.

siehe Bildunterschrift

Nr. 78. Student im 18. Jahrhundert.

Wie bedeutsam kontrastieren diese hainbündlerisch-akademischen Szenen und Äußerungen mit dem anderweitigen wüsten Studententreiben jener Zeit, in welches uns oben Laukhard hineinführte! Die hochfliegenden Erwartungen, welche Voß von dem Bunde hegte, gingen freilich nicht in Erfüllung. Es entstand in diesem Kreise nicht ein einziges epochemachendes poetisches Werk – Bürgers Balladen haben mit der Tendenz des Hainbundes gar nichts zu schaffen –, und die Gesellschaft zerfiel ganz naturgemäß in ihre Elemente, sowie das Band akademischen Zusammenlebens sich löste. Wie sehr diese Elemente im Grunde verschieden waren, zeigt uns die spätere Laufbahn der zwei bedeutendsten Persönlichkeiten des Bundes, Fritz Stolberg und Voß. Stolberg, der die Bardensängerei bis zum aufgedonnerten Wahnsinn getrieben hatte, ging aus den deutschen Urwäldern mit einem Saltomortale zur Bewunderung der französischen Revolution fort, wandte sich aber bald voll Zerknirschung zum feudalen Mittelalter zurück, wurde katholisch und endigte, um einen Ausdruck von Voß zu gebrauchen, als vollständiger »Pfäffling«. Voß hingegen arbeitete sich aus der teutonischen Nebelei zu klarem Zeitbewußtsein durch und blieb sein Leben lang ein abgesagter Feind alles Mystizismus, ein rücksichtsloser Demokrat und Rationalist, der den vom Prinzip der Vernunft abgefallenen Stolberg mit seiner Schrift: »Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?« wie mit einer Keule totschlug, allem romantischen Wesen heftig entgegentrat und in starrem Festhalten an den Grundsätzen der Aufklärung selbst die Gefahr der Lächerlichkeit nicht scheute, wie in seinem bekannten tolerant-deistischen Bekenntnisse, das in einen so komisch-trivialen Schluß ausläuft.

Während die Göttinger sich abmühten, ihre dichterischen Ideale mittels eines geschlossenen Bundes zu verwirklichen, bewegte sich in den Rhein- und Maingegenden eine andere Gruppe von Stürmern und Drängern in freieren Formen kraftgenialischer Geselligkeit. Zu dieser Gruppe gehörten vornehmlich Reinhold Lenz, dessen geniales Dichten zuletzt in wirkliche Tollheit überschnappte, und Friedrich Maximilian Klinger, dessen jugendlich vulkanisches Schauspiel »Sturm und Drang« dieser ganzen Literaturperiode den Namen gab und der später in einer langen Reihe von Tragödien und Romanen den Rousseauschen Naturenthusiasmus mit der herben Resignation des Stoizismus in Verbindung setzte; ferner Leopold Wagner und Ludwig Philipp Hahn, die beide keine bleibenden Spuren hinterließen, und endlich Goethe. Auch der Maler Friedrich Müller kann hierher gezogen werden, obgleich er mit seinen früheren Dichtungen an die teutonische Richtung sich anlehnte und mit seinen späteren in die Romantik hinübergriff. Die poetische Jugend der Rhein- und Mainländer war ganz und gar von dem revolutionären Titanismus der Zeit erfüllt. Die Lieblingsform, welche diese Stürmer und Dränger kultivierten, war, im Gegensatze zu der lyrischen Richtung der Hainbündler, das Drama, denn »im Sturmschritt der Handlung wollte die kecke Musenjüngerschaft den Ungestüm ihrer Gefühle und Überzeugungen der Macht des Überlieferten entgegenwerfen.« Hier war nicht Klopstock der Prophet, sondern Shakespeare, dessen Verehrung in diesem Kreise »bis zur Anbetung ging«. Goethe nennt in seiner Selbstbiographie im Rückblick auf die Tage, wo er mit seinen oben genannten Freunden in Straßburg, Frankfurt und Gießen zusammenlebte, jene Zeit die »fordernde«; denn, sagte er, man machte an sich und andere Forderungen auf das, was noch kein Mensch geleistet hatte. »Es war nämlich vorzüglichen, denkenden und fühlenden Geistern ein Licht aufgegangen, daß die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegründetes Handeln das Beste sei, was der Mensch sich wünschen könne. Der Freiheits- und Naturgeist raunte jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren, man habe ohne viele äußere Hilfemittel Stoff und Gehalt genug in sich selbst, und alles komme nur darauf an, daß man ihn gehörig entfalte.« Aber das »gehörige Entfalten« war eben nur dem Einen, Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) aus Frankfurt a. M. gegeben.

siehe Bildunterschrift

Nr. 79. Puschner, Doktorpromotion an der Universität Altdorf.

In Goethe erfüllten sich die Forderungen, welche Lessing und Herder an den deutschen Genius gestellt hatten. Was durch den bisherigen Gang unserer literarischen Entwicklung hoffnungsvoll vorbereitet worden war, das Kommen eines wirklichen, eines souveränen Dichters, traf ein. Was unserer Poesie nottat, die Füllung originaler Formen mit nationalem Gehalt, die Stempelung des realen Stoffes mit idealem Gepräge, wie es der einsichtige, um Goethe hochverdiente Heinrich Merck gewünscht hatte, das vollbrachte mit einmal der Dichter des Götz von Berlichingen (1773) und der Leiden des jungen Werther (1774). Diese Dichtungen, geschrieben mit dem besten Herzblut der Zeit und bei aller Ungebundenheit dennoch die künstlerische Vollendung erreichend, schlugen wie Blitze in die Gemüter, entzündeten eine beispiellose Teilnahme und dokumentierten den anhebenden Triumph des deutschen Geistes im Reiche des Schönen. Wie Goethe, von Stufe zu Stufe zur höchsten Meisterschaft aufsteigend, uns als Lyriker seine wunderbar ergreifenden Lieder, seine erhabenen Oden und hochherrlichen Elegien, als Epiker seine unvergleichlichen Balladen, seinen Wilhelm Meister, seine Wahlverwandtschaften, sein herzerhebendes bürgerliches Epos Hermann und Dorothea, als Dramatiker den Egmont, die Iphigenie, den Tasso und endlich seines Lebens Hauptwerk, der deutschen Nation Stolz und der europäischen Poesie größte Tat, den Faust, gab, das steht zu lebendig vor der Seele aller Gebildeten, als daß es hier noch des Breiteren auseinandergesetzt werden müßte.

siehe Bildunterschrift

Nr. 80. Studententrachten um 1820.

Zu Goethe gesellte sich, seine Wirkung zu vervollständigen, seine Größe zu teilen, Johann Christoph Friedrich Schiller (1759-1805) aus Marbach in Unterschwaben. Die Werke seiner ersten Periode wurzeln in dem vulkanischen Boden der Sturm- und Drangzeit, deren titanisches Wollen in seinen Räubern (1781), im Fiesko und in Kabale und Liebe mit der ganzen Energie und Schroffheit einer rebellischen Feuerseele sich kundgibt. Das Studium der Geschichte und der Kantischen Philosophie vollzog in dem jungen Dichter den Läuterungsprozeß, welchen die Beschäftigung mit physikalischer Wissenschaft, wie die Anschauung italischer Natur und antiker Kunstschätze in Goethe bewerkstelligt hatten. Mit dem Don Carlos und den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen betrat Schiller die höhere Sphäre der Kunst, wo ihm als größte Schöpfungen seine »Gedankenlyrik« und seine Trilogie Wallenstein gelangen und aus welcher er mit dem Wilhelm Tell in erhabener Vollkraft seines Genius schied, glücklich zu preisen, »daß er von dem Gipfel des menschlichen Daseins zu den Seligen emporgestiegen«. Von 1794 an war er mit Goethe in inniger Freundschaft verbunden gewesen und hatte in Gemeinschaft mit ihm 1797 jenes große Strafgericht über die Armseligkeiten, Jämmerlichkeiten und Schlechtigkeiten in der Literatur ergehen lassen, welches unter dem Namen des Xenienkampfes bekannt ist. Es ist wunderbar und war für die deutsche Bildung von heilsamster Wirkung, daß sich, wie in ihrer Freundschaft, so auch in Goethes und Schillers Werken der Realismus des einen und der Idealismus des andern gegenseitig ergänzten. Vereinigt stellen sie das moderne Griechentum, d. h. die Durchdringung der hellenisch-edlen Form mit deutschem Gemüt, in schönster Blüte dar, vereinigt zeigen sie die Erringung ästhetischer Freiheit in höchster Potenz auf. Aber bei aller Gemeinsamkeit lassen sie in Erfüllung ihrer Sendung einen sehr bedeutenden Unterschied wahrnehmen: Goethe schließt als vollendet freier Künstler die ästhetische Entwicklungsphase der deutschen Kultur ab, Schiller macht den Übergang von der Idee der Schönheit zu der Idee der Freiheit, von der freien Kunst zum freien Staat, vom freien Menschen zum freien Bürger. Goethe ist der deutsche Künstler par excellence, Schiller der deutsche Seher, welcher zum Beschlusse seiner Laufbahn seine Prophetengabe noch einmal recht herrlich manifestierte, indem er im Teil dem deutschen Geiste die Zurückwendung vom weltbürgerlichen Ideal zum vaterländischen vorgezeichnet hat.

siehe Bildunterschrift

Nr. 81. Studentenleben um 1820: Paukerei.

»Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.« Aber die Kärrner machten einen weit größeren Lärm als die Könige, der Troß der Nachahmer war so rührig, daß er beim großen Haufen die Vorbilder in den Hintergrund schob. Der Empfindsamler Lafontaine mit seinen Romanen, der Zotenreißer Langbein mit seinen Schwänken, die Rührdramenschreiber Schröder und Iffland, der Virtuos in theatralischer »Mache« Kotzebue, das waren, verbunden mit den Verballhornern der jugendlichen Ritter- und Räuberdichtung Goethes und Schillers, die Leute, welche Theater und Markt ausbeuteten. Nur ist zu nennen Friedrich Hölderlin (1770-1843) aus Lauffen in Schwaben, der wie ein Adler über das Volk zwitschernder Schwalben sich erhebt, mit seiner Lyrik, die unser Herz kaum weniger mächtig ergreift als die Goethesche, und uns eine Persönlichkeit vorführt, in welcher sich Germanentum und Hellenismus auf wundersame Weise verbanden.

Eine Philosophie wie die Kantische, konnte nicht innerhalb der Schule in selbstgefälliger Unfruchtbarkeit vegetieren, sondern mußte auf alle Richtungen des Geisteslebens vom weitgreifendsten Einfluß werden. Wer nicht hinter der Zeit zurückbleiben wollte, ließ sich von ihr mittelbar oder unmittelbar zu männlichem Denken, zu selbständigem Forschen anregen. So geschah es, daß zur Zeit, wo Goethe und Schiller durch ihre Meisterwerke die deutsche Nationalliteratur verherrlichten, auch die deutsche Wissenschaft auf allen Gebieten Triumphe feierte. Die linguistischen und archäologischen Studien gewährten, in der geistvollen Weise eines die Kritik zur Künstlerschaft erhebenden Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und eines Friedrich August Wolf (1759-1824) betrieben, ganz neue, dem Humanismus entschieden förderliche Resultate. Johannes von Müller (1752-1809) schuf den Kunststil der deutschen Historik, Barthold Georg Niebuhr (1777-1831) zeigte mittels ihrer Anwendung auf die Geschichte Roms zuerst die ganze Schärfe und Unbestechlichkeit unserer historischen Kritik, Friedrich Christoph Schlosser (1776-1861) begann seine preiswürdige Tätigkeit als Geschichtschreiber der alten und neuen Zeit, eine Tätigkeit, welche, fest auf dem Boden der Kantischen Aufklärung fußend, jugendfrisch in die spätere Zeit hineingriff. Gustav Hugo († 1844), Anselm Feuerbach († 1833) und K. S. Zachariä († 1843) unterwarfen die Geschichte, die Theorie und Praxis des Rechtes ihren scharfsinnigen, human reformistischen Untersuchungen. Auch die Naturwissenschaften nahmen durch Einführung Kantischer Ideen in dieselben, womit Kielmeyer voranging, einen gewaltigen Aufschwung, wie ihn die Mathematik durch Gelehrte wie Euler genommen hatte. Die immer bestimmter sich gestaltende Auffassung des Naturganzen als eines Organismus befruchtete die Bemühungen eines Blumenbach um die Physiologie, eines Sömmering um die Anatomie, eines Hufeland um die praktische Medizin und leitete Abraham Gottlob Werner, den Begründer der wissenschaftlichen Geognosie, zu seinen großen Entdeckungen.

Mittels des Kultus der Schönheit unser Volk zur Freiheit zu erziehen, das auf dem Wege ruhig und sicher vorschreitender Bildung gewonnene Wissen zur Grundlage humanen Handelns zu machen, die Ausstrahlung des weltbürgerlich-deutschen Geistes mittels der weltliterarischen Gestaltung unserer Literatur vorzubereiten, das war der Gedanke, welcher die deutsche Klassik beseelte, diese große geistige Umwälzung, deren unzerstörbare Errungenschaften durch Lessing und Kant, Herder, Goethe und Schiller festgestellt wurden, zur nämlichen Zeit, als die französische Revolution den feudalen Staat in Trümmer warf. Die mächtige Triebkraft, welche damals unserem Kulturleben innewohnte, brachte auch in die Künste neues Wachstum. Geringeres freilich zunächst in die, welche man die bildenden nennt (Architektur, Skulptur und Malerei). Zwar betätigte sich das fürstliche Mäzenat in Ansammlung antiker und moderner Kunstschätze; es füllten sich zu Düsseldorf, Kassel, Dresden, Wien, Berlin und anderswo die Bildergalerien mit den Meisterwerken der italischen und niederländischen Malerei, auch Kunstschulen entstanden, und die deutsche Malerei machte durch Rafael Mengs, durch Philipp Hackert und Angelika Kauffmann, die Kupferstecherei durch den genialen Chodowiecki anerkennungswerte Vorschritte. Allein, wie für die Malerei, so noch mehr für die Plastik und Architektur mußten, um wahrhaft originale und große Schöpfungen zuwege zu bringen, einerseits die durch Winckelmanns Wiedererweckung der Antike gewonnenen Einsichten, andererseits die in unserer klassischen Dichtung enthaltenen Anschauungen im Bewußtsein der Nation erst zu Fleisch und Blut werden, bevor jener Aufschwung der bildenden Künste möglich wurde, wie er im 19. Jahrhundert vor sich ging.

siehe Bildunterschrift

Nr. 82. Im Karzer.

siehe Bildunterschrift

Nr. 83. Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus – Ade!

Anders in der Musik. Die Deutschen waren von jeher ein musikalisch hochbegabtes Volk und sie hatten sich daher um das Wort jenes Alten, daß man Musik machen müsse, wo man Sklaven haben wolle, nie sonderlich bekümmert. Allerdings häufig nur allzuwenig. Denn jenes antike Wort enthält zweifelsohne die große Wahrheit, daß musikalische Überwucherung die Denktätigkeit abstumpft, die Menschen in flaue Gefühlsschwelgerei einlullt und sie mählich in feige Knechtschaffenheit hinüberdudelt. Schon im Mittelalter jedoch war in unserem Lande die Anleitung zur Vokal- und Instrumentalmusik Gegenstand des Schulunterrichtes gewesen, und die letztere hatte durch das erfinderische Genie der deutschen Mechanik, insbesondere zur Reformationszeit, wesentliche Bereicherungen erhalten. Als die innerlichste, in ihrem Entwicklungsgange an äußere Verhältnisse am wenigsten geknüpfte aller Künste entsprach sie dem eigensten Wesen unseres Volkes von allen am meisten. Ihre Fortbildung ging stetig vorwärts, und das 18. Jahrhundert sah sie in seltenstem Zusammenklange von Theorie und Praxis auf die Höhepunkte weltlicher, nach unserem Sinne menschlich-freier Schönheit gelangen, nachdem, wie wir früher bemerkten, Bach und Händel den religiösen Tonstil zur Vollendung geführt hatten. Was in neuerer Zeit für die theoretische Seite der Musik Thiebaut, Winterfeld, Kiesewetter und andere leisteten, das ruht auf dem Fundamente, welches im vorigen Jahrhundert Mattheson mit seinem Hauptwerke »Der vollkommene Kapellmeister«, dem Grundbau unserer musikalischen Ästhetik, und Marpurg mit seinen kontrapunktischen Schriften legte, welche auch von Italienern und Franzosen als Triumphe deutschen Tiefsinns anerkannt wurden. Mit solcher gediegenen Theoretik verschwisterte sich innigst die schöpferische Praxis. Georg Benda (1721-95) führte mit seiner »Ariadne« das Melodrama, Johann Adam Hiller (1728-1804) das Liederspiel (Operette) bei uns ein, während Joseph Haydn (1728-1809) seine anmutsvollheiteren Symphonien und Quartette, seine herrlichen Tongemälde die Schöpfung und die Jahreszeiten schuf. Christoph von Gluck (1714-1787) wurde der eigentliche Begründer eines edleren dramatischen Stils in der Musik. Der italischen Weichlichkeit und Zerflossenheit, der französischen Unnatur und Schnörkelei setzte er die Tiefe und Wahrheit der deutschen Empfindung, den erhabenen Schwung der deutschen Phantasie entgegen und gewann in der Fremde der deutschen Musik den glänzendsten Sieg, indem seine Oper Iphigenie in Aulis 1774 zu Paris unter unerhörtem Beifallssturm aufgeführt und binnen zwei Jahren 170mal wiederholt wurde. Die späteren Opern Iphigenie in Tauris und Echo und Narcissus sind seine Meisterwerke; denn Glucks Genius hatte das Eigentümliche, daß er erst in den reifsten Jahren seines Trägers zur vollsten Entfaltung kam. Auf Gluck folgte Johann Wolfgang Mozart (1756-91) aus Salzburg, groß in kirchlicher Komposition, wie als Dichter von Symphonien, Quartetten und Sonaten, aber größer noch als Schöpfer unserer klassischen Oper. Die Melodien und Harmonien seiner Opern, die Entführung aus dem Serail, Figaros Hochzeit, die Zauberflöte waren das Entzücken seiner Zeitgenossen und werden noch das der fernsten Geschlechter sein, und Mozarts Don Juan ist in eben dem Grade Universaltondichtung, wie Goethes Faust Universalpoesie ist. Durch einen Genius von unermeßlichem Umfange ist hier alle Süßigkeit, aller Schmelz, alle Heiterkeit des Südens mit dem gediegenen germanischen Ernst zu einem vollendet kunstschönen großen Ganzen zusammengeschlossen. Die Gunst des Geschickes ließ dann in der deutschen Musik ein ähnliches Ereignis eintreten, wie es in der deutschen Dichtung eingetreten war. Denn wie sich neben den Goethe der Schiller gestellt hatte, so stellte sich neben den Mozart sein jüngerer Zeitgenosse Ludwig Beethoven (1770-1827), durch seine neun großen Symphonien der Vollender dieser Kunstgattung und um seiner grandiosen, ganz einzig dastehenden »Missa solemnis« willen allein schon des höchsten Preises würdig. Die Beethovensche Musik ist voll von Zukunftsahnung, gerade wie die Schillersche Poesie. Sie verhält sich zur Mozartschen, wie sich Schillers Gedankenlyrik zur Goetheschen Liederdichtung verhält. Häufig stürmt und grollt in Beethovens Schöpfungen der Titanismus von Schillers Räubern, aber die Meisterhand des Tondichters bändigt mit souveräner Sicherheit die dämonischen Mächte und verleiht den elementar-gewaltigen Ausströmungen seines Genius die hohe Kunstvollendung des Schillerschen Wallenstein. Vielleicht träfe man das Richtige, wenn man sagte, daß in der Beethovenschen Musik und in den Schillerschen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen der deutsche Idealismus seine kühnsten Adlerflüge gewagt habe.

siehe Bildunterschrift

Nr. 84. Die Universitätsbibliothek zu Göttingen.

siehe Bildunterschrift

Nr. 85. Puschner, Das chemische Laboratorium der Universität Altdorf.

Neben der Oper, welche von den Höfen eifrig gefördert wurde und, was wir schon im zweiten Buche berührten, ungeheure Summen verschlang, eine festere Stellung und allmählich größeres Ansehen zu erringen, war für das deutsche Schauspiel eine sehr schwierige Sache. Dennoch gelang es ihm nach und nach, der glänzenden Nebenbuhlerin zur Seite zu treten. Der erste Schritt hierzu war die Seßhaftmachung des Theaters, wozu die Ansiedelung der Truppe Konrad Ackermanns, der auch Konrad Eckhof angehörte, in Hamburg (1767) ein gutes Beispiel gab. Nachdem hier das erste deutsche »Nationaltheater« gegründet war, entstanden solche auch anderwärts, wie zu Wien, wo Joseph II. i. J. 1776 die deutsche Bühne unter seinen unmittelbaren Schutz nahm und das berühmte Burgtheater einrichtete, während er das kostspielige Ballett abschaffte. Die dramaturgische Tätigkeit Lessings, die nähere Bekanntschaft mit Shakespeare, die das Publikum elektrisierenden dramatischen Jugendtaten Goethes und Schillers, die Errichtung von weiteren Nationaltheatern zu Mannheim und Berlin, das Auftreten so großer Schauspieltalente wie Schröder, Beil, Beck, Iffland und Fleck waren – das alles wirkte zusammen, um der deutschen Schauspielkunst einen außerordentlichen Aufschwung zu geben und ihr das Interesse der Nation zuzuführen. Ihre höchste künstlerische Blüte erreichte sie in der Weimarer Schule von 1791-1805. Goethe führte die Direktion des Weimarer Theaters, auf welches auch Schiller großen Einfluß übte. Aber die idealische Höhe, auf welche die großen Freunde die Weimarer Bühne gehoben, war nicht von Dauer. Auch hier sollte es sich tragikomisch bewahrheiten, daß ein Hoftheater, auch das beste, doch stets nur ein Spielball wechselnder Hoflaunen ist. Goethe mußte zuletzt als Theaterdirektor einem Hunde weichen! Ja, das ist auch ein charakteristischer Beitrag zur deutschen Kunstgeschichte. Ein französisches Melodrama, »Der Hund des Aubry«, in welchem ein Pudel, ein leibhaftiger Pudel, die Hauptrolle spielte, machte auch in Deutschland Furore, und ein Komödiant gastierte mit seiner zu diesem Zwecke dressierten Bestie in Deutschland umher. Die Weimarer Hofdamen konnten dem Gelüste, einen Pudel Komödie spielen zu sehen und nebenbei Goethe eins zu versetzen, nicht widerstehen. Goethe widersetzte sich dem beabsichtigten Unfug, allein die vornehmen Hundeliebhaberinnen wußten den Herzog zu gewinnen, Goethe erhielt seine Entlassung von der Intendanz, und der Pudel machte da seine Kapriolen (1817), wo hochgebildete Schauspieler vordem die Gestalten Wallensteins und Egmonts vorgeführt hatten. Mit Recht macht Eduard Devrient zu dieser Geschichte die Bemerkung: »Die Wiege des idealen Dramas, die Kunststätte, welche das Schauspiel zum edelsten Geschmack, zum höchsten Gedankenleben erheben sollte, war auf den Hund gekommen.«

siehe Bildunterschrift

Nr. 86. Gravelot, Die Beichte.

siehe Bildunterschrift

Nr. 87. Chodowiecki, Häusliche Erziehung.

siehe Bildunterschrift

Nr. 88. Chodowiecki, häusliche Erziehung.

Blicken wir noch einmal auf die Zeit unserer Klassik zurück, so sehen wir zwei große Persönlichkeiten vorrücken, um dieselbe abzuschließen und zugleich von ihr zu weiteren Entwicklungen unseres Kulturlebens eine Brücke zu schlagen. Diese zwei Männer waren Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) aus Rammenau in der Oberlausitz, und Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) aus Wunsiedel im Fichtelgebirge. Der erstere, dessen wir, wie des letzteren, später noch einmal zu gedenken haben werden, erkämpfte die souveräne Freiheit des Denkens, während Jean Paul die souveräne Freiheit des Fühlens erfocht. Fichtes Philosophie, wie sie in seiner Wissenschaftslehre (1794) am originellsten und kühnsten hervortrat, erhob den kritischen Idealismus Kants zum absoluten, indem sie die absolute Freiheit des Subjekts theoretisch bewies und das selbstbewußte menschliche Ich zum höchsten Prinzip, zum produktiven Faktor der gegenständlichen Dinge machte. Dieses souveräne Ich nun trieb in Jean Pauls Dichtung, deren Eigentümlichkeiten sich am umfassendsten im »Titan« (1800-1803) darstellen, sein humoristisches Spiel, mit dem idealistischen Maßstabe die Dinge messend und sie durch den Kontrast mit der Idee vernichtend. Der außerordentliche Reichtum an Phantasie, über welchen der große Humorist gebot, und die unergründliche Tiefe und Zartheit seines Gemütes verschafften seinen Romanen die weitgreifendste Wirksamkeit. Er wurde insbesondere der Abgott der Frauen, welche, von seiner seelenvollen Schwelgerei in Natur und Empfindung unwiderstehlich angezogen, über die Formlosigkeit der Jean Paulschen Werke hinwegsahen. Der Vorzug derselben bestand darin, daß sie die Freiheit des Gefühls ihrem ganzen Umfange nach in Anspruch nahmen; ihr Mangel darin, daß sie die Willkür der Genialität als höchstes Gesetz der Kunst proklamierten und daneben durch Verherrlichung der Jammersäligkeiten des Lebens eine tatlos sentimentale Schwärmerei pflanzten. Eine solche lag freilich durchaus nicht in der Absicht Jean Pauls. Er sowohl als Fichte würden sich entsetzt haben, wenn sie geahnt hätten, daß die von ihnen in verschiedener Weise gepredigte Lehre von der schrankenlosen Berechtigung der Subjektivität die Keime der Doktrin einer neuen literarischen Schule, der sogenannten romantischen, enthielte, welche an die Stelle der Freiheit die Frechheit setzen wollte, an die Stelle des sittlichen Enthusiasmus die Ironie, an die Stelle kosmopolitischer Humanität eine bornierte und servile Deutschtümelei.

siehe Bildunterschrift

Nr. 89. Deutsche Schwankillustration.

 


 << zurück weiter >>