Johannes Scherr
Brunhild
Johannes Scherr

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3. Ich kam, sah und – ward besiegt.

»In der Tat, das Ding hat Stil und läßt sich ansehen,« sagte der Pfarrherr, seine Brille zurechtrückend, um sich auf der Höhe des Burgruinenhügels mit Behagen der Betrachtung des herrlichen Landschaftsbildes zu überlassen, welches sich allerdings ansehen ließ.

Es gibt freilich in dem schönsten und glücklichsten Lande Europas viele Aussichtspunkte, welche umfassendere oder auch großartigere Blicke darbieten als der, auf welchem die beiden Freunde standen, unfern der Bank, auf welcher Brunhild von Hohenauf noch immer saß. Aber es dürfte wenige Stellen im Umfange der Alpen geben, wo das Erhabene und Anmutige in so reicher Fülle auf so engem Raume sich beisammen findet wie gerade hier. Wendet man sich scharf zur Linken, so schweift das Auge an einer Bergwand voll wechselnder Formen hin, aus deren felsigen Schluchten weißschäumende Wildwasser talwärts springen und längs deren Fuß da und dort eine Kirchturmspitze aus dem Grün üppigen Baumwuchses hervorlugt. Geradeaus fällt der Blick zunächst auf den mehrerwähnten kleinen Hochsee, hinter dessen dunkler, mit Weiden, Rüstern und Ahornbäumen bestandener Muldenwand eine große, stahlblau und silbern schimmernde Spiegelfläche sich auftut, die weithin gedehnte Wassermasse eines der schönsten Seen des Landes. Gen Osten und Süden zu ist dieser See von Gebirgen eingefaßt, welche sich in ungeheueren Stufen mählich zu Bergriesen auftürmen, deren Brust den Gletscherpanzer und deren Haupt den Firnschneehelm trägt. Wendest du dich, an den Rand des Hügels vortretend, zur Rechten, so siehst du tief unten den Strom aus dem großen See, worin er sich vom Gletscherstaub reingewaschen, hellgrün hervorkommen und in sanften Windungen längs eines paradiesischen Talbodens von mäßig großer Ausweitung hinfließen, um nach etwa dreiviertelstündigem Laufe abermals in ein Seebecken sich zu ergießen, in den unteren See, dessen Gewässer fernher duftig zu dir heraufblauen. Das Gelände zwischen den beiden durch den Strom also verbundenen Seen bildet vielleicht den schönsten Park, welchen es auf Erden gibt. Es ist eine Harmonie in diesem Landschaftsbild, welche selbst durch die an der Südseite des Stromes sich hinziehenden Gruppen von Hotels und Pensionen eines Kurorts von Weltberühmtheit nicht gestört wird. Oder aber, falls deine Landschaftsästhetik das Vorhandensein dieser Institute als Störung empfinden sollte, so würde dich ein Blick wieder darüber wegheben, der Blick über die Talebene südwestwärts dorthin, wo dir aus einer riesigen Spalte der von der Natur wie eigens zu diesem Zweck auseinander geschobenen Bergwände die Königin der Alpenkolosse im Vollglanz ihrer wunderbaren Majestät entgegenleuchtet.

Ehrwürden Schwarzdorn – so hieß der Herr Pastor – sog sozusagen mit vollen Zügen die vor seinen Augen entrollte Schönheit in seine Seele. Da er aber ganz entschieden zu jenen Leuten gehörte, die sich daran gewöhnt haben, ihren Empfindungen keinen vollen Ausdruck zu gestatten, sagte er nach einer Weile: »In der Tat, recht niedlich.«

»Niedlich? O, du strohener Philister! Ein Wunder von Schönheit, ein helles, liebes Wunder!«

»Nun, nun, nur nicht gleich so obenhinaus, alter Junge. Habe denn doch in den letzten Wochen landschaftliche Szenen gesehen, welche –«

»Ach was! Glorios, sag' ich dir!«

»Wohl, wohl; aber ich behaupte dessenungeachtet –«

»Geh, geh! Es ist, beim Jupiter, ganz unmöglich, daß du jemals so etwas Herrliches gesehen!«

Schwarzdorn kehrte sich verwundert um: es war in der Äußerung des Freundes ein so ganz eigener Ton! »Was hast du denn?« wollte er fragen, verschluckte aber die Frage, spitzte seinen Mund zu einem leisen Pfeifen und murmelte dann, während seine Mephistonase sich so weit herunterzog, daß ihre Spitze fast das Kinn berührt hätte, vor sich hin: »Ah so, da haben wir's! Und der schwatzt von Proudhon und Ironie! – Schön ist sie allerdings, merkwürdig schön, originell, pikant! – Aber was ist das? Ich glaube gar, der tolle Mensch will die Schöne im Sturm erobern.«

Er tat einige Schritte gegen die Bank am Fuße des halb zerfallenen Wartturms hin und blieb dann stehen, um, geteilt zwischen Verblüffung und Neugier, die Entwickelung des kleinen Dramas abzuwarten, welches er vor sich sah.

Angefaßt von einer jener plötzlichen, unerklärlichen Regungen, welche schicksalsmächtig den Menschen überfallen und überwältigen, war Siegfried, nachdem er, während sein Freund in der Schönheit der Aussicht schwelgte, die junge Dame mit steigendem Staunen betrachtet hatte, auf sie zugeschritten.

Selbstverständlich war es ihr nicht entgangen, daß sie der Gegenstand der entzückten Bewunderung des fremden Mannes war; aber solcher Huldigungen gewöhnt, fühlte sie sich davon weiter nicht berührt. Oder doch? Denn möglicherweise konnte das blitzende Aufleuchten ihrer Augen, als Siegfried mit seinem Freunde den Hügel heraufgekommen war, bezeugen, daß sie den Fremden schon einmal bemerkt, vielleicht drunten im Kurort, und von seiner allerdings imponierenden Erscheinung einen ungewöhnlichen Eindruck empfangen habe. Wie dem sei, sie machte, als sie ihn jetzt auf sich zukommen sah, eine Bewegung, um aufzustehen. Allein sie unterließ es, und als Siegfried, zwei Schritte vor der Bank stehen bleibend, sie mit einer tiefen Verbeugung grüßte, erhob sie mit dem Ausdrucke kalten und stolzen Befremdens ihre Augen zu den seinigen.

Aber aus diesen Männeraugen schimmerte ihr ein unbekanntes Etwas entgegen, ein Etwas, von welchem sie sich erschreckt und beleidigt fühlte, und doch zugleich gebannt und bemeistert. Sie wollte ihren Blick abwenden, vermochte das jedoch nur mit großer Anstrengung, und wie ihr Antlitz ein heißes Rot, so überflog ihre Seele ein Geheimnisvolles, von dem sie um keine Welt zu sagen gewußt hätte, ob es schluchzendes Weh oder jauchzende Wonne.

»Mein Fräulein,« sagte der kecke Mann im Tone der tiefsten Ehrerbietung, »ich bitte Sie inständig um Verzeihung, wenn ich den Versuch wage, in dieser ungewöhnlichen Weise mich Ihnen vorzustellen. Ich heiße Siegfried von Lindenberg, war vormals ein Stück von einem Juristen, item von einem Poeten, Revolutionär und Freischärler, bin aber jetzo ein solider Mann von anständiger Bildung, nebenbei auch, falls Sie, meine Gnädigste, das interessieren sollte, Besitzer eines freiherrlichen Wappens, das vor Alter ganz schimmelig geworden, item Schloßherr, Gutsbesitzer und so weiter.«

Sie warf die Lippen spöttisch auf, als wollte sie sagen: »Was geht denn das alles mich an?« Aber sie schwieg und gewann es mit gewaltsamer Bemühung sich ab, den Kühnen mit vornehmer Wegwerfung anzusehen. Er ließ sich jedoch nicht abschrecken, sondern begann wieder: »Mein Fräulein, ich bitte ehrfurchtsvoll, daß Sie geruhen mögen, mir Ihren Namen zu nennen. Ich bitte, bitte!«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, das beispiellose Abenteuer, welches ihr zugestoßen, komisch und drollig zu finden; aber es wollte nicht gehen. Was war doch nur für ein seltsamer Klang in der Stimme dieses Mannes?

»Bitte, bitte!« wiederholte er.

»Mein Herr, ich heiße Brunhild von Hohenauf,« sagte sie kurz und schneidend.

»Brunhild?« entgegnete er mit einem Lächeln, von welchem, wie die Sage ging, schon mehr als eine Frau mit Grund gemeint hatte, daß es ein sehr verführerisches sei. »Brunhild? Das trifft sich ja ganz wunderbar! Brunhild und Siegfried, urzeitlich-mythisch-heroische Namen, die sozusagen gar nicht voneinander getrennt gedacht werden können.«

Sie lächelte unwillkürlich, weil auch ihr die Beziehung auf die altgermanische Heldensage blitzschnell sich aufdrang.

»Und nicht nur Brunhild und Siegfried stimmen zusammen,« fuhr er fort, »sondern auch Hohenauf und Lindenberg. Beim Jupiter, der wunderbarste Schicksalswink! Brunhild von Hohenauf und Siegfried von Lindenberg? Da wird einem ja ganz literaturhistorisch-wundersam zumute, ganz eddaisch und nibelungisch oder auch nikolaiisch und müllerisch.«Der Sprechende spielt zweifelsohne auf Nikolais »Sebaldus Nothanker« (1773) an, in welchem eine Frau von Hohenauf vorkommt, und auf Gottwerth Müllers dermaleinst hochberühmten »Siegfried von Lindenberg« (1779). Anm. d. Setzers.

Er lachte herzlich und, mochte sie wollen oder nicht, sie mußte mitlachen.

Dadurch kühn gemacht, falls das überhaupt noch nötig war, dämpfte er seine Stimme zu tiefem Ernst und sagte: »Ich weiß nicht recht, hab' ich selbst oder hat ein anderer mal gesagt: Wenn die Götter dir die Pforte zum Himmel auftun, so zögere keinen Augenblick, hineinzuschlüpfen, sonst schlägt sie unwiederbringlich zu. – Nun wohl, ich nehme mein Herz in beide Hände: Fräulein Brunhild von Hohenauf, wollen Sie die Frau Siegfrieds von Lindenberg werden?«

Sie wurde bleich, als wäre plötzlich ein Schuß ihr ins Gesicht gefeuert worden. Dann stand sie langsam auf, schwang ihren Hut auf den Kopf, zog ihre Mantille auf die Schultern und mit dem Sonnenschirm spöttisch grüßend, rauschte sie an dem kecken Freiwerber vorüber mit den stolz hingeworfenen Worten: »Mein Herr, Sie sind entweder ein ausbündiger Narr oder der geckenhafteste aller Gecken!«

Mephisto Schwarzdorn setzte an, in ein homerisches Gelächter auszubrechen. Als er jedoch den Freund ansah, wie dieser der rasch den Hügel hinabschreitenden Schönen nachblickte, die Brauen finster zusammengezogen, mit der Rechten im Barte wühlend, unterließ er das laute Lachen und sagte nur: »Lieber Junge, du hast kein Glück in Römerrollen. Beim Heraufgehen kamst du mir wie ein parodierter Scipio vor, und hier oben war es dir beschieden, einen travestierten Cäsar vorzustellen: – Veni, vidi, victus sum.«

»Du hast recht: ich ward besiegt. Aber merke, was ich dir sage. Diese stolze und spröde Walküre Brunhild wird mein Weib, oder – Genug! Laß uns den steileren, aber bedeutend kürzeren Pfad durch das Gehölz hinabgehen, weil ich vor der Dame im Orte drunten anlangen will.«

Fräulein Brunhild zügelte ihren Schritt, als sie am Fuße des Burghügels den Fahrweg erreicht hatte. Sie fühlte sich wunderlich beklommen, und es war ihr zu Sinne, als rollte eine Feuerkugel in ihrer Brust. Unwillkürlich mußte sie vor sich hinsagen: »Was war doch das? Wie konnte ein Mensch es wagen, mir einen solchen Schimpf anzutun? – Und doch!«

Dieses »Und doch!« war einer jener Naturlaute, in welche Menschenherzen mitunter ausbrechen ohne Wissen und Willen, und wie die stolze Schöne das Wort sprach, empfand sie zugleich das gebieterische Bedürfnis still zu stehen und nach der Hügelhöhe zurückzublicken. Sie widerstand indessen und setzte ihren Weg fort. Wer sie aber genau beobachtet hätte, mußte bemerken, daß ihr Gang die sanft abfallende Straße zum Strom hinab nicht ihr gewohntes elastisches Schweben war, sondern ein mattes Schlendern, als müßte sie sich Gewalt antun, vorwärts zu kommen. Und nach etlichen hundert Schritten stand sie abermals still, um wie selbstvergessen vor sich hinzusprechen: »Und doch!« Dann warf sie, wie über sich erzürnt, trotzig die Lippen auf, legte den Rest ihres Weges rasch zurück, überschritt die Brücke und bog jenseits derselben in die Nußbaumallee ein, an welcher ihr Quartier lag.

Im Vorzimmer zu ihrem Gemache harrte ihr Kammermädchen der Herrin. Die Dienerin stand auf, als Brunhild eintrat, und sagte schüchtern: »Gnädiges Fräulein, sind Sie unwohl?«

»Unwohl? Wieso?«

»Sie sehen so angegriffen aus, so blaß!«

»Bah, ich bin ganz wohl. Hast du Georg zur Post geschickt?«

»Ja, und er brachte einen Brief zurück,« versetzte das Mädchen, die Tür zu dem inneren Zimmer öffnend.

Brunhild trat ein, nahm den Brief vom Tische und legte ihn wieder gleichgültig hin, als ihr die Adresse die Handschrift ihres Vaters gezeigt hatte. Sie ging ans Fenster und stand eine Weile nachdenklich, die Blicke mehr in das eigene Innere als in die Landschaftspracht draußen tauchend. Mit einmal trat, sie heftig zurück; sie hatte den »Narren« oder »Gecken« erblickt, welcher, aus dem Hotel kommend, drunten rasch über den Vorplatz schritt. Wie sie sich vom Fenster wegwandte, fiel ihr Blick zufällig auf den großen Spiegel an der Seitenwand, und dieser zeigte zu ihrer Überraschung, daß ihr Antlitz, welches doch nach der Aussage der Zofe soeben noch blaß gewesen, mit Purpurröte bedeckt war. Unwillig kehrte sie sich von der ärgerlichen Glasfläche ab, nahm zerstreut den Brief auf, öffnete den Umschlag und begann mechanisch zu lesen. Plötzlich jedoch erweiterten sich in Staunen und Schrecken ihre Augen, sie wankte auf ihren Füßen, schwankte bleich wie der Tod auf einen Stuhl zu, ließ sich auf denselben niederfallen und preßte, das Papier in ihren gerungenen Händen zerknitternd, halb atemlos hervor: »Eine Bettlerin! Eine Bettlerin!« Tonlos fügte sie nach einer Weile hinzu: »Ah, wie sagte denn der – der – der Mann? Wenn die Götter dir die Pforte zum Himmel auftun! – Zum Himmel? – Aber schon ist sie zugeschlagen, unwiederbringlich!«

Nach Verlauf einer Stunde ging im Vorzimmer draußen die Klingel. Die eintretende Zofe fand ihre Herrin in gewohnter Fassung und Haltung. Fräulein Brunhild sagte kurz und kalt: »Rasch die Koffer gepackt, Hanne! Laß Georg die Rechnung fordern und bereinigen. Wir reisen mit dem zunächst abgehenden Dampfboot.«


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