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(Der Freiburger Herrgott)
(1937)
Im »Alemannen«, der Freiburger Tageszeitung, stand in der Abendausgabe vom 28. Februar 1936 unter der Überschrift: »Ein wackerer Mann« folgende Mitteilung:
»Ein wackerer Freiburger Bürgerssohn war der Franz Jakob Herrgott, der Sohn des Chirurgen Johann Jakob Herrgott, geboren am 9. Oktober des Jahres 1694. Im Kloster zu Sankt Blasien wurde er 1718 zum Priester geweiht, studierte daraufhin bei den gelehrigen Benediktinern zu Paris. Nach seiner Heimkehr wurde er Hofkaplan im heimatlichen Kloster. Schon im Jahre 1728 wurde er an den Wiener Hof gesandt, und hier begann nun sein Aufstieg. Man rühmte dem Schwarzwälder Pater nach, er sei einer der schönsten Männer seiner Zeit gewesen; er wurde einer der bekanntesten Hofleute in Wien. Sein Einfluß war groß, doch nötigten ihn Mißstände der verschiedensten Art, den Wiener Hof zu verlassen, und sein Abt übertrug ihm die Statthalterei der Herrschaft Staufen und Kirchhofen. Wie der Chronist berichtet, wurde Herrgott nicht nur ein bedeutender Geschichtsschreiber, er hat sich auch um die Bienenzucht und um die Maulbeerpflanzung im Breisgau große Verdienste erworben.
Vom Statthalter Herrgott – oder wie er später hieß, Pater Marquard – ist in einer alten Chronik eine lustige Geschichte enthalten, die zeigt, daß der Gottesmann namens Herrgott nicht nur auch Sinn für weltliche Dinge hatte, sondern daß er auch einen gesunden Humor besaß. Er unternahm eines Tages eine Reise nach Basel. Etliche Bediente waren bei ihm. Die Reisegesellschaft stieg in den ›Drei Königen‹ zu Basel ab und hielt sich hier einige Tage auf. Der Wirt mag sich über diese Art von Gästen wohl gefreut haben, denn sie knauserten nicht im Essen und Trinken. Aber alles ging zu Ende, auch der schöne Aufenthalt zu Basel. Als die Pferde schon gesattelt und die Kutsche des Herrn Statthalters schon angespannt war, überreichte der Basler Wirt seinem vornehmen Gast die Rechnung, die dieser flüchtig übersehen und seinem Hausmeister übergeben wollte. Als er aber die Endsumme von 500 Gulden unter dem Strich sah, kam ihm dieser Betrag als Zehrgeld für die wenigen Tage doch viel zu hoch vor, und er fragte den Wirt, wie er zu dieser ungewöhnlich hohen Summe komme. Gleichzeitig forderte er ihn auf, ihm eine neue Rechnung zu schreiben, in der die einzelnen Posten getrennt aufgeführt seien. Der Wirt war nicht faul. Rasch hatte er eine neue Rechnung geschrieben, die allerdings nicht allzu viel Posten aufwies. Der Wirt sagte nun: ›Mit Verlaub, Herr Statthalter Herrgott! – Solange ich in Basel meine Wirtschaft betreibe, sind unzählige Ordensleute bei mir eingekehrt. Mancher von ihnen hat das Zahlen vergessen, viele aber haben mich an den Herrgott verwiesen und mir versichert, er werde mir eines Tages vergelten, was ich an ihnen getan hätte. Und nun, da der Herrgott bei mir eingekehrt ist, will ich nicht versäumen, die Rechnung zu präsentieren, die andere auf seinen Namen gemacht haben.‹ –
Der Statthalter Herrgott lachte über die Schalkhaftigkeit des Basler Schenkwirts. Und da er in Gelddingen nicht kleinlich war, hieß er seinen Hausmeister, die Rechnung auf Heller und Pfennig zu bezahlen.«
Als mir ein Ausschnitt der Zeitung mit der Anfrage gesandt wurde, ob in der Mitteilung nicht der Stoff zu einer Anekdote stäke, fing ich gleich Feuer. Der prächtige Statthalter mit dem ungewöhnlichen Namen, der dreiste Wirt, der Schauplatz in den »Drei Königen« zu Basel: alles das lockte mich, eine Gestaltung zu versuchen. Die Fußangeln, die in dem Stoff lagen, sah ich im ersten Eifer nicht; und wer mir gesagt hätte, daß die Arbeit eine kleine Leidensgeschichte würde, den hatte ich wohl ausgelacht.
Das, was Paul Heyse nach der Novelle Boccaccios den Falken nannte, den jede Novelle als das Neue und Besondere ihrer Handlung haben müsse, lag in dem ungewöhnlichen Namen des Statthalters von Staufen und in der dreisten Verwechslung dieses Freiburger Herrgotts mit dem himmlischen durch den Wirt in Basel. Wenn man die dreiste Anzapfung des Kirchenfürsten und die prahlerische Gewährung drastisch darstellte, müßte man – so schien es mir zunächst – die Novelle, die neue Handlung von selber haben.
Damit saß ich aber schon in Kürze fest; denn ein Statthalter, der sich durch einen dreisten Wirt so über den Löffel barbieren ließ, wie man sagt, war als Dräger der Handlung einfach nicht zu gebrauchen; noch weniger der Wirt natürlich als halber Eulenspiegel. Einerseits tat mir der »Freiburger Herrgott« leid, daß er ein so dummer Prahlhans gewesen sein sollte und dadurch gewiß kein »wackerer Mann« war, wie die Überschrift im »Alemannen« verhieß. Wenn ich hingegen den halben Eulenspiegel zum Helden meiner Handlung machte – und das wurde er von selber, wenn ihm seine Dreistigkeit geriet –, so blieb der Statthalter als Objekt der Handlung übrig, das keine Großspurigkeit des Kirchenfürsten retten konnte.
Es half mir nichts, ich mußte ihn selber zum Träger der Handlung machen. Und das schien mir nach langer Überlegung nur möglich, indem er auf die Dreistigkeit des Wirtes seinen Trumpf setzte, den dreisten Schelm durch eine dreistere Schelmerei überwand. Damit war ich bei dem alten Thema des betrogenen Betrügers angelangt, dem ich durch meinen »Freiburger Herrgott« ein farbiges Gewand zu geben hoffte.
Indem der Statthalter, der so dreist für die Zechprellereien angeblicher Ordensleute in Anspruch genommen wurde, nur scheinbar großspurig die Zahlung zusagte, in Wirklichkeit aber durch die Bedingung, daß jeder im voraus mit abgegolten sei, der sich in den nächsten vierzehn Tagen etwa als Gast auf den Freiburger Herrgott berufen würde: indem er durch diese Bedingung dem Wirt eine böse Falle stellte, machte er durch diese kaltblütige Eulenspiegelei die schäbige des Wirtes zu nichte. Denn er brauchte nun bloß seine Leute dem Dreikönigenwirt auf den Hals zu schicken, so war bald die Grenze erreicht, wo die fünfhundert Gulden nicht mehr ausreichten, die Herrgottszechen zu bezahlen. Wenn dann der Wirt zwischen Skylla und Charybdis seiner Habsucht die Nerven verlor und die weiteren Gäste abwies, um nicht in noch größeren Schaden zu geraten, so verlor er die zugesicherten fünfhundert Gulden noch dazu und war also selber der Geprellte.
Damit hätte ich das Thema des betrogenen Betrügers nicht unwitzig abgewandelt gehabt, aber mit dem Ergebnis – wie ich zu meinem Schrecken wahrnahm –, daß der Statthalter auf diese Weise ein ebenso dreister Preller war wie der Wirt, sogar ein dreisterer. Denn er hatte den Vertrag arglistig auf eine beabsichtigte Täuschung hin aufgesetzt und blieb mir und dem Leser als ein ausgemachter Betrüger übrig, während ich ihn als »wackeren Mann« zu retten gedachte.
Indem ich dies nachträglich niederschreibe, habe ich gut lachen, weil ich mir später aus der Patsche half; damals aber war ich recht verzweifelt, einen so schönen Stoff nicht bezwingen zu können. Denn es kommt mir in der Epik – wie ich seitdem mehrmals ausgeführt habe nicht darauf an, daß eine beliebige Handlung anschaulich dargestellt wird, sondern ich muß, wie man so sagt, die Konsequenzen tragen. Diesen prächtigen Statthalter zu einem Schelm gemacht zu haben, den jedes rechtschaffene Gericht verurteilen mußte: einen solchen Vorwurf konnte ich nicht auf mein Gewissen laden.
Ich war zum zweiten Mal und diesmal gründlich mit meinem »Freiburger Herrgott« gescheitert, und nun ließ ich den Stoff verdrießlich liegen, bis mir eines Tages die Besinnung auf die eigentliche Aufgabe des Epikers half: nicht nur Handlungen darzustellen, sondern darin das zu geben, was ich die absolute Entscheidung nenne.
Die moderne Psychologie sagt uns zwar, daß es diese absolute Entscheidung garnicht gäbe, daß auch hier alles relativ sei: von dem Zustand, dem Milieu und Gott weiß was abhängig, wie es in der Wirklichkeit scheint und in den meisten Fällen tatsächlich ist. Mit dieser Wirklichkeit habe ich es aber als Dichter garnicht zu tun, weil ich kein Photograph bin; ich benütze nur den Anschein der Wirklichkeit, eine Anschauung der Welt aus höherer Sicht zu geben.
Wenn zwei das selbe tun, sagt das Sprichwort der Relativität, so ist es doch nicht das selbe. Dem Dichter aber handelt es sich nicht darum, was dieser oder jener tut, sondern was er tun müßte, um dem absoluten Anspruch zu genügen, den die landläufige Moral freilich nicht formulieren kann. Wie es Jesus in der Bergpredigt uns Menschen für alle Zeit gesagt haben sollte: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist, du sollst nicht ehebrechen; ich aber sage euch, wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, hat schon mit ihr die Ehe gebrochen usw.« Aus den Ansprüchen dieser absoluten Moral trifft der Dichter seine Entscheidungen: das ist seine Berufung, der er sich nicht entschlagen kann.
Wie also hatte sich mein Statthalter zu entscheiden, um nicht das großspurige Opfer der Wirtsdreistigkeit zu werden, noch weniger aber der einen Schelm überschelmende Betrüger zu sein? Der Dreikönigenwirt mußte an ihm zuschanden werden: nicht, weil er ihm in der Gerissenheit, sondern in der Moral unterlegen war. Aus einem höheren Lebenskreis mußte die Plattheit ihre Abfertigung empfangen: Wenn er die fünfhundert Gulden wirklich zahlte, aber der Wirt hatte keinen Nutzen davon, weil die Zeche dafür nun wirklich verzehrt wurde, so war er weder ein dummer Prahlhans noch ein Betrüger. Er führte dem Wirt natürlich keine Zechpreller, sondern wirkliche Gäste des Herrgotts zu, die sonst nicht in die »Drei Könige« kamen, jetzt aber durch die dreiste Rechnung des Wirts gerufen und durch seine Großzügigkeit bewirtet wurden. Er ließ es sich fünfhundert Gulden kosten, die Habgier zu bestrafen. Indem ich meine Novelle auf diese Weise der absoluten Entscheidung unterstellte, kam ich mit einem Schlag über alle Schwierigkeiten hinaus. Gut, Herr Wirt, sagte mein Statthalter zu sich selber: du sollst nicht vergeblich meine Verachtung des Geldes angerufen haben; aber herein legen lasse ich mich nicht. Du sollst die Konsequenzen deiner Dummschlauheit erfahren. Ich werde dir die Gäste des Herrgotts ins Haus laden, deren sich deine Habgier bedienen wollte, damit du siehst, daß ich dir an Witz nicht unterlegen, als Mensch aber überlegen bin!
So bewährte sich der »Freiburger Herrgott« an dem Dreikönigenwirt wirklich als wackerer Mann, indem er seine Leute bei ihm zu Gast lud, »die Hirten auf dem Felde«, wie er sagte, »die den Stern so hell am Himmel sahen wie die drei Könige, nur waren ihre Hände leer und sie hatten nichts als ihre glücklichen Herzen, während die Bürger von Bethlehem in ihren verschlossenen Häusern überhaupt nichts von dem Kind merkten«.
Der Dreikönigenwirt hatte seine fünfhundert Gulden, aber auch die Gäste dafür; die Gäste hatten ihr Fest und der Freiburger Herrgott die Freude, ihnen und sich einen schönen Tag bereitet zu haben, den letzten Endes doch der Wirt als »der beschämte Swinegel« bezahlen mußte.
Um diesen beschämten Swinegel geht es dem Dichter immer, wenn er mit seiner absoluten Entscheidung gegen den Alltag ausfällig wird.