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(1929)
Aus langen Winterwochen in der Stadt bin ich zu früh für den sonst um diese Zeit schon wirkenden Frühling an den Bodensee heimgekehrt. Die Schneedecke, wie ich sie auf der Fahrt von Stettin nach Breslau und von dort über Dresden zurück gleichförmig auf dem stummen Land liegen sah, ist zwar schon an einzelnen braunen Hängen verschlissen; aber grausame Kälte fegt heute im Ostwind.
Der See freilich ist nicht zugefroren, wie mir die Breslauer berichteten; nur der flache Untersee hat wie in jedem rechtschaffenen Winter einen Eismantel an: so kann ich vorläufig noch nicht den Reiter auf dem Bodensee spielen. Wer wie ich eben durch ein angehauchtes Loch in der überfrorenen Fensterscheibe gegen Bodman blicke, hat draußen ein merkwürdiges Treiben begonnen. Bei fünfzehn Grad Kälte ist der See immer noch ein gewaltiges Sammelbecken von Wärme; und wie nun die Sonne zu scheinen beginnt, dampft die Oberfläche, so daß über dem Wasser eine gleißende Nebelschicht liegt, in der hellsten Luft und unter blauem Himmel.
Indessen läßt der Ostwind den Nebel nicht auf dem Wasser ruhen; er fegt hinein, ihn wie schleierdünne Schaumwogen nach Westen zu treiben. Und während die Sonne das Eisgeblüm an den Scheiben auszulöschen beginnt, daß der Blick freier wird, sehe ich staunend über eine sich drehende Scheibe hinaus; denn vorn am Ufer jagen die Schleier flatternd hin, aber je weiter hinaus, desto langsamer scheinen sie zu wehen, und drüben vor dem andern Ufer stehen sie still in phantastischen Figuren. Natürlich wehen sie dort so schnell wie hier: nur die Perspektive zaubert dieses Bild, daß mir ein Karussell vorgedreht wird.
Während ich gebannt in das Märchen dieser weißen Drehscheibe staune, scheint es der Luft langweilig zu werden mit ihrem gleichmäßigen Tun. Über die Sommerhalde her wirft sich ein Nord- in den Ostwind hinein, daß die nach Westen hin treibenden Nebelfiguren vor ihm her nach Süden gejagt werden und eine breite Barre hinein gerissen wird. Weil aber drüben der Ost Meister bleibt, so geschieht es, daß sich eine Gegenbewegung auf dem See zu drehen beginnt. Das große Karussell ist gestört durch ein Chaos mitten drin, das sich wie die Papiermühle an der Stecknadel des Knaben dreht, bis ein unwirklicher Kampf der gegen einander wehenden Dämpfe anhebt.
Das Schaubild dieser zuletzt in allen Windrichtungen durcheinander jagenden Schleierfiguren unter dem blauen Himmel und seiner strahlenden Sonne ist urweltlich über alle Begriffe. Der See hat aufgehört, Wasser zu sein; wo seine Oberfläche durchblickt in einem schwärzlichen Blau, sieht sie aus wie dunkles Land unter dem weißen Getreibe, wie Land, das in die blaue Kälte des Himmels hinein mit tausend Geisern zu kochen und quirlen begonnen hat.
Die Umrisse der bergigen Ufer hüben und drüben, die mir aus tausend Tagen vertraut sind, schwinden als die Ränder eines ungeheuren Gletschers in den diesigen Südosten hinein. In seiner Mitte vor mir hat sich das Chaos aufgetan, über alle Vertrautheit und alle vermeintliche Menschengeborgenheit hin die Elemente in lautloser Stille ringen und wühlen zu lassen, indessen die Sonne sich müht, wieder wie im Anfang der Schöpfung das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste zu scheiden.