Agnes Sapper
Werden und Wachsen
Agnes Sapper

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Elftes Kapitel.

Die Wochen verstrichen, in der Musikschule schaltete ein junger Direktor, das Leben ging wieder seinen alltäglichen Gang, der Frühling war vergangen, in voller Sommerpracht stand die ganze Natur, Rosen und Jasmin sandten ihren Duft vom Garten herauf, aber kein Blühen und kein Duften vermochte etwas gegen die Trauer, die sich nur immer schwerer auf die Frau des Hauses legte und dadurch alle bedrückte, die sie umgaben. Kaum wagte sich von dem früheren, fröhlichen Ton hier und da schüchtern ein Klang heraus, alles stand unter einem schweren Bann.

Aber Jugend und Trauer paßt nicht zusammen. Durch die Wagnerstraße zogen täglich mit Musik die Soldaten, die vom Felddienst zurückkehrten. Dem frohen Klang folgte Resi, das junge Ding. Sie wollte nicht nur schwarze Trauerkleider sehen, das Bunte war so lockend. Kamen die Soldaten, so ließ sie alle Arbeit stehen und lief hinunter an das Haustor. Da 240 sah der eine oder andere der jungen Bursche nach ihr und bald kam es, daß Walburg ihr Schwesterkind am milden Sommerabend unten stehen sah, fröhlich lachend und plaudernd mit einem dieser Vaterlandsverteidiger. Das war aber nicht nach dem Sinn der Gestrengen. Sie berief Resi in die Küche und nahm sie scharf vor. »Willst du's auch so machen wie deine Mutter, die schon mit siebzehn Jahren geheiratet hat? Weißt du nicht, wie schlecht sie angekommen ist und wie sie es ewig bereut hat?«

»Ich will doch nicht heiraten!« rief ihr Resi ganz erschrocken ins Ohr.

»Du willst nicht heiraten? Was willst du denn sonst?« Resis verschämte Antwort war nicht zu verstehen. Da drückte ihr Walburg die Tafel in die Hand. »Was willst du sonst?« forschte sie streng. Und Resi schrieb auf die kleine Tafel: »Nix will ich als mei' Freud'!« Daraufhin änderte Walburg ihre Taktik. »Nimm dich in acht!« sagte sie, »auf einmal heiratet dich einer und prügelt dich, wie deine Mutter geprügelt worden ist!«

Resi hatte freilich nach ihrer Mutter Erfahrung Angst vor dem Heiraten, aber sie glaubte Walburg nicht, daß ihr Soldat so böse Absichten habe. Sie wollte ihn fragen.

Am späten Abend stand sie doch wieder vor der Haustüre, und richtig kam ihr Getreuer. Sein lustiges Mädchen war aber heute ernst und bedenklich und kam ihm plötzlich mit der Frage, ob er sie heiraten wolle! Er war selbst noch ein blutjunger Geselle und, wie Resi, wollte auch er nur seine Freude, 241 in allen Ehren ein Schätzlein. Ganz verblüfft stand er da. So schnell wollte die vorwärts machen? Daran dachte die Kleine? Und sie sah ihn dabei so ernsthaft an, daß er der Frage gar nicht ausweichen konnte. Sie gefiel ihm aber besonders gut in dem Augenblick. »Es ist keine von den Leichtsinnigen,« dachte er, und warum sollte er sie nicht heiraten? In fünf oder zehn Jahren konnte das ja wohl sein. Er nahm sich's vor und sagte in ganz entschlossenem Ton, während er zum erstenmal den Arm um sie legte: »Freilich will ich Sie heiraten!« Da kreischte Resi laut auf, rannte ins Haus, schlug die Türe hinter sich zu, flog die Treppe hinauf und war nie wieder zu sehen für den jungen Burschen. Der stand mit verdutzter Miene und offenem Mund, sah ihr nach und trollte sich endlich, schwer enttäuscht über den Erfolg seines Heiratsversprechens.

Auf Walburgs Tafel aber war der Satz stehen geblieben: »Nix will ich als mei' Freud'!« Frau Pfäffling las die Worte und sie gingen ihr nach. Allerdings hatte das Mädchen keine Freude, wer im Haus hatte denn welche? Natürlich waren alle traurig, es konnte ja nicht anders sein.

Dies sagte sich Frau Pfäffling und dennoch fühlte sie sich beunruhigt. War es denn recht, das fremde, junge Mädchen so mit hereinzuziehen in die Trauer? Sie war so flink und lustig gewesen und nun ging sie langsam und ernsthaft. Und doch konnte sie nicht eigene, wahre Trauer empfinden, das war ja gar nicht möglich, sie sah eben die andern so. Else sprang ja auch nicht mehr fröhlich durchs Haus wie sonst. 242 War es denn bei ihr das Vermissen des Vaters, täglich und stündlich? Das konnte auch kaum sein. Und Marie? Nie zeigte sich bei ihr etwas vom bräutlichen Glück, empfand sie es wirklich nicht oder verbarg sie es? Was Arnold seitdem an sie geschrieben, hatte die Mutter nicht zu lesen bekommen. Warum sprachen Marie und Wilhelm nie mehr von der Reise nach Afrika? War es ihretwegen? Und Frieder? Er hatte seinen Plan, nach Leipzig zu gehen, auf später verschoben, von ihm glaubte sie, daß er zu tief trauerte, um irgend etwas unternehmen zu wollen, oder hatte auch er verzichtet, um ihr den Abschied zu ersparen? Otto war nicht anders als sonst, nur daß er die Abende öfter als früher außer Haus oder in seinem Zimmer studierend verbrachte, es zog ihn nicht mehr an den Familientisch, der war ja auch ganz anders, seitdem der oberste Platz unbesetzt blieb.

Wenn der Vater hereinsehen könnte, wie verändert fände er den Ton! Er würde seine fröhlichen Kinder nicht wieder erkennen. Bisher hatte Frau Pfäffling dies alles als natürlich und selbstverständlich angesehen. In diesem Augenblick durchzuckte sie schmerzlich die Erkenntnis: Es ist unrecht, die Trauer so herrschen zu lassen! War das Andenken des fröhlichen, tapferen Mannes dadurch geehrt, daß sein Geist nicht mehr waltete im Haus? Es kam ihr vor, als hörte sie seine Stimme: »Cäcilie, was machst du aus meinen Kindern?«

Das alles erschütterte sie tief und peinigte ihr Gewissen.

Sie brachte Entschuldigungen gegen die innere 243 Stimme vor: »Ich bin eben nichts ohne meinen Mann.«

»Aber du mußt etwas werden,« mahnte das Gewissen, »lernen allein leben; das ist ja kein Leben, das ist bloß ein Hingeben an den Schmerz.«

»Ich kann doch die Kinder nicht fröhlich machen, während mein Herz heimwehkrank ist.«

»So schicke sie hinaus aus dieser Krankenstube, bis du gesund bist, laß sie draußen leben!«

Während Frau Pfäffling noch so mit sich selbst kämpfte, trat eine der jungen, schwarzgekleideten Gestalten in des Vaters Zimmer, wohin sich Frau Pfäffling mit ihren Gedanken geflüchtet hatte. Es war Marie. Sie legte den Arm um die Mutter. »Bitte, komm, es ist schon lange Zeit zum Abendessen.« Frau Pfäffling erhob sich lebhafter, als man es jetzt von ihr gewöhnt war. »Dann hättest du mich schon früher rufen sollen,« sagte sie und folgte der Tochter. Um den Eßtisch waren die Geschwister versammelt, das Essen stand bereit, eben hatte Resi den Tee gebracht und ging hinaus. »Was meint ihr,« sagte Frau Pfäffling, »wollen wir nicht Resi entlassen und ihr eine andere Stelle suchen, damit sie auch einmal in neue Verhältnisse kommt?«

»Und nicht immer von Walburg am Gängelband gehalten wird,« fügte Wilhelm hinzu, »das wäre ihr zu gönnen.«

»Aber Walburg kann sie nicht entbehren.«

»Wir können wieder eine Vierzehnjährige dazu nehmen, Resi müßte jetzt ohnedies einen höheren Lohn bekommen.« Der Gedanke an diese 244 Veränderung schien allen richtig, man wunderte sich nur, daß er nicht früher aufgetaucht war. Und wunderbar erschien es auch der ganzen Tischgesellschaft, daß die Mutter gleich nach Tisch in die Küche ging, die Angelegenheit zu besprechen. Etwas von ihrer früheren Tatkraft war an ihr zu bemerken.

Unterdessen gingen Marie und Wilhelm miteinander in den Garten. Noch war es hell und warm, der längste Tag des Jahres. »Die Mutter ist heute frischer als bisher, findest du nicht?« begann Marie.

»Es fiel mir auch auf, eine wahre Wohltat ist's, sie so zu sehen.«

»Sieh, Wilhelm, ich sollte nun doch mit der Mutter reden. Ich weiß gar nicht, ob es recht von mir ist, Arnold noch länger warten zu lassen. Freilich ist's traurig für die Mutter, wenn ich gehe, und an den Abschied kann ich gar nicht denken. Aber für Arnold ist die Einsamkeit auch traurig, und ich habe ihm doch versprochen, zu kommen. Er schreibt so schön darüber, überreden wolle er mich nicht, aber er habe die feste Überzeugung, daß ich jetzt zu ihm gehöre und ich sollte den Mut haben, wenigstens mit der Mutter darüber zu sprechen.«

»So tu das doch.«

»Es fällt mir so furchtbar schwer, ihr jetzt mit irgend etwas wehe zu tun.«

»Soll ich mit ihr reden?«

»Nein, Wilhelm, Arnold soll mich nicht für so schwach halten, er ist immer für's ›feste stehen‹.«

»Aber Marie, beide können wir die Mutter nicht verlassen. Frieder muß nun doch nach Leipzig, muß 245 auch, wie jeder Künstler, reisen, dann würde es zu still für die Mutter. Jammerschade ist's um unseren schönen Plan, zusammen auszuziehen, und die Tätigkeit da drüben hätte mich riesig angezogen. Aber es ist nichts zu machen, man darf die Mutter nur ansehen, dann vergeht einem der Mut, ihr noch etwas Schweres aufzubürden. Du mußt schon ohne mich ziehen.« Er legte traulich den Arm um die Schwester, mit betrübten Gesichtern gingen die beiden durch die Gartenwege. Aber bald fing Wilhelm mit frischem Mut an: »Sei's um ein Jahr oder zwei, so komme ich doch hinüber auf eure Farm und sehe nach meinem Schwesterlein. Und wenn der Schwager sie nicht gut hält, dann gnade ihm Gott!«

Marie lachte fröhlich. »Da habe nur keine Angst, du solltest nur Arnolds Briefe lesen, aber dich kann ich nichts davon lesen lassen, so einen wunderlichen Menschen wie du bist, den jedes Mädchen gern hätte, und der von keiner etwas wissen will!«

»Ich habe sie auch gern, alle miteinander, zur Zeit ist mir aber meine Schwester noch die liebste. Nein, im Ernst, Marie, ich darf an keine denken, ich habe noch für viele Jahre ein Wanderleben im Sinn und muß ganz frei sein. Denke dir einen Naturforscher, einen Entdeckungsreisenden, der sich immer sagen müßte: Vorsicht, du mußt für deine Familie sorgen! Das wäre ein Unding. Wenn da einer etwas leisten will, so muß er auch sein Leben dran wagen!«

Von ihrem Fenster aus hatte Frau Pfäffling schon lange das Geschwisterpaar beobachtet. Früher hatte es ihr die reinste Freude gemacht, wenn sich ihre 246 Kinder untereinander gut verstanden, sich ihre Anliegen mitteilten und sie selbst dadurch weniger in Anspruch genommen war. Jetzt aber tat es ihr weh. Sie fühlte sich ausgeschlossen aus ihrem Vertrauen. Sonst war ihr nie verborgen gewesen, was jedes einzelne bewegte, jetzt hatte sie keine Ahnung, was die beiden besprachen. Aber es lag nicht in ihrer Art, sich diesem Gefühl hinzugeben, vielmehr darüber nachzudenken und die Ursache dieser Veränderung aufzusuchen. Und ihr Wahrheitssinn half ihr bald auf die rechte Spur. »Die Kinder sind nicht anders geworden, sondern du. Elend und kummervoll wie du bist, kannst du ihnen nichts sein.« Eine schwere Anklage nach der andern erhob sie gegen sich selbst. »Du denkst immer nur an ihn, der nicht mehr da ist. Gott hat ihn genommen und du willst ihn halten. Du meinst, du seist ergeben, weil du nicht murrst und dich nicht auflehnst. Das ist nur eine äußerliche Ergebung. Wollen, was Gott will, das ist wirkliche Ergebung.« Da entstand ein schwerer Kampf in ihrem Gemüt. Wollen, was Gott will? Wollen, daß sie getrennt von ihrem Manne leben solle? War das menschenmöglich? Sie rang sich durch zum »Ja«. »Ja, ich will, daß es so sei, wie es ist, ich will nun ohne dieses Glück leben, will wirken und vorwärts kommen. Ich will Segen davon haben, reichen Segen, und seine Kinder sollen ihn mit mir teilen.«

Wilhelm und Marie sahen die Mutter auf sich zukommen. Im Garten waren sie noch kaum beisammen gewesen seit des Vaters Tod. »Meint man nicht,« sagte Wilhelm leise zu Marie, »man müßte des 247 Vaters Ruf ›Cäcilie‹ hören? Entsetzlich, sie so allein zu sehen.«

»Gut, daß du auch ein wenig in den Garten kommst, Mutter,« sagte Marie, »es ist solch eine köstliche Luft.«

»Ja,« entgegnete Frau Pfäffling, und erhoben durch den Sieg über ihre Schwäche begann sie in heiterem Ton: »Ich habe euch gesehen und wollte hören, wie es nun steht mit euch kühnen Afrikareisenden. Ihr macht ja gar nicht vorwärts mit euren Plänen!«

Die beiden wechselten Blicke. So war es ihnen leicht gemacht, über die Sache zu sprechen. »Beide gehen wir jetzt natürlich nicht fort,« sagte Wilhelm, »ich kann im Land eine Stellung finden, auf mich wartet drüben kein sehnendes Herz wie auf Marie.«

»Aber natürlich geht ihr beide,« sagte Frau Pfäffling bestimmt. Und dann, aus dem festen, heiteren Ton fallend, sagte sie ernst, indem sie des Sohnes Hand faßte: »Mir ist jetzt nichts lieber, als wenn meine Kinder fröhlich und tapfer ihren Weg gehen und nicht so traurig ihre Köpfe hängen lassen; das ist nicht Pfäfflingsche Art. Solch ein Trauern ist eine Krankheit, eine ganz ansteckende. Da ist nichts so gut als Luftveränderung. Jedes von euch soll schauen, daß es in frische Luft kommt!«

»Aber du, Mutter?«

»Merkt ihr nicht, daß es bei mir auch schon besser wird?« fragte sie, aber ihre Lippen zuckten dabei verräterisch und die Festigkeit wollte nicht mehr recht standhalten. »Bei mir kann es noch manchen 248 Rückfall geben, aber ich werde auch wieder gesund. Was schreibt Arnold, Marie?«

Damit gingen sie zu praktischen Besprechungen über.


Der junge Farmer in Afrika hatte sich schwer genug darein gefunden, daß sich wieder etwas dem ersehnten Ziel entgegenstellen wollte, nachdem er endlich soweit gekommen war, mit gutem Gewissen eine Farmerin willkommen heißen zu können. Mit höchster Anstrengung hatte er seine Wirtschaft wieder in Ordnung gebracht und mit Glück und Stolz dies seiner Braut verkündet, als er von ihr die Trauernachricht erhielt und Briefe in so niedergedrückter Stimmung, daß er erkannte, niemand im Hause Pfäffling war zu anderem als zur Trauer fähig. Neben aller Teilnahme regte sich bei ihm wachsend der Mißmut. Mußte denn das so sein? Das Leben konnte doch nicht stille stehen, wenn auch das beste Gatten- und Vaterherz zu betrauern war. Es war doch nicht nötig, daß sein Glück geopfert würde! Zu weitgehend schien ihm nun der Familiensinn des Hauses Pfäffling. Immer wieder trieb es ihn, der Mutter aus diesem Gefühl heraus zu schreiben; doch hielt er sich gewaltsam zurück, er fürchtete jeden Mißton, scheute sich vor allem, was unzart erscheinen konnte, und sagte sich immer wieder: Habe Geduld, Marie ist eine gesunde Natur, es wird alles von selbst recht werden.

249 So schrieb er nun mit doppelter Liebe, und traute auf die Macht dieser Liebe. Aber die Tage und Wochen vergingen ihm unerträglich langsam, die Zwischenzeit von der Ankunft eines Schiffes bis zum nächsten, von einer Post zur andern, kam ihm um so länger vor, je sehnlicher er darauf wartete, bis eines Tages ohne Schiff eine Nachricht kam, die ihm fast unglaublich dünkte, ein Telegramm lief ein von Wilhelm in übermütiger Siegesfreude abgesandt. »Prüfung bestanden, wir kommen!«


In den wenigen Wochen, die noch vor dem Zeitpunkt der Abreise lagen, waren die Gedanken aller mit den Reisevorbereitungen beschäftigt, nur Frieder lagen diese Dinge fern. Er lebte in seiner Musik, studierte bei dem neuen Direktor und war neuerdings auch schon Lehrer zweier kleiner Privatschüler. Er hatte sich in dem Wunsch, der Mutter die Geldsorgen zu erleichtern, um Schüler bemüht und sich in dieser Sache an Neureuther gewandt, den Geigenmacher, mit dem ihn eine große Neigung verband. Seit Jahren ging Frieder aus und ein bei diesem Manne, sah ihm bei der Arbeit zu, half ihm, probierte seine Geigen und musizierte mit ihm und seiner Frau, die beide ein feines künstlerisches Verständnis hatten.

Neureuther war es nun auch, der Frieder seine zwei ersten Schüler verschaffte; der eine wollte 250 Waldhorn blasen lernen, der andere sollte Geige spielen, wenngleich mehr auf Wunsch der Eltern als aus eigenem Antrieb. Hatten die Schüler keine Freude an den Stunden und kein Talent, die Kunst zu erlernen, so mußte man leider zugeben, daß sie darin ganz ihrem Lehrer ähnlich waren. Der hatte auch weder Freude an den Stunden, noch Geschick zum Lehren; so konnte man sich keinen großen Erfolg von seinen Stunden versprechen. Es ging aber schlechter damit, als man bei Frieders Gewissenhaftigkeit und seiner eigenen Kunst erwartet hätte. Der kleine Waldhornbläser, zu dem Frieder einmal gegangen war, wartete in der zweiten Stunde vergeblich auf seinen jungen Lehrer. Der hatte völlig vergessen, daß es an der Zeit war. Ein Freund hatte ihm seine Geige gebracht, an der eine kleine Ausbesserung notwendig war, denn es war bekannt, daß Frieder sich hierauf verstand. So saß er ganz vertieft in diese Arbeit, als Else ihn aufsuchte und ihn mit der Frage: »Hast du nicht deine Stunde zu geben?« aufschreckte. »Es wird noch nicht so spät sein,« sagte er, aber es war statt fünf sechs Uhr. Else fand das komisch und lachte ihn aus, ihm war es aber gar nicht lustig. Er eilte in das Haus des kleinen Schülers – der war eben fortgegangen.

Das wäre nun nicht so schlimm gewesen, denn der junge Lehrer holte gewissenhaft das Versäumte nach. Wenn nur nicht in der nächsten Stunde dasselbe Ungeschick noch einmal geschehen wäre. Diesmal war Frieder ausgegangen. Eine Komposition lag ihm im Sinn und trieb ihn um. Da hatte er der Mutter 251 gesagt, er wolle hinaus, der schöne Sommerabend sei wie gemacht, um draußen ein Lied zu finden, das ihm, halb fertig, keine Ruhe lasse. Die Mutter war mit Marie zusammen, schon wurden die Koffer gepackt, all ihre Gedanken waren in Anspruch genommen. Frieder ging seines Weges. Auch Wilhelm stand vor seinen Büchern, Instrumenten und Werkzeugen, prüfte alles und ordnete, was die Reise mitmachen sollte.

Nach einer Weile steckte Else den Kopf herein: »Ist Frieder nicht bei dir? Er wird doch nicht wieder seine Stunde vergessen?« Bald standen vier Personen bestürzt beisammen, Frau Pfäffling wollte es kaum glauben, aber es war so. »Wieviel Uhr ist's denn?« fragte nun Wilhelm, »noch nicht fünf Uhr? Dann ist's noch Zeit. Diesmal können wir ihn nicht wieder stecken lassen, ich gehe statt seiner, tue, wie wenn das ganz in der Ordnung wäre, ist ja auch ganz einerlei für den kleinen Geiger.«

»Der Geiger ist's nicht, der Hornbläser.«

»Alle Wetter, Horn? Das Instrument kann ich ja gar nicht. Ach was, es wird schon gehen. Das kann man nicht auf Frieder sitzen lassen, es spricht sich herum und kostet ihn seine Schüler.«

»Aber wenn du doch nicht blasen kannst, Wilhelm!« warf die Mutter ein.

»Es geht schon irgendwie,« rief dieser und lief davon.

Nachdenklich stand Frau Pfäffling. »Wie ist's doch schwer,« dachte sie bei sich, »daß ein Mensch sich ändert! Haben wir nicht bei Frieder gegen diese 252 Eigenschaft angekämpft, schon als er mit sechs Jahren seine Harmonika spielte? Nun macht es der Mann noch wie das Kind!«

Inzwischen war Wilhelm in das Haus des kleinen Schülers gekommen und traf ihn bei seiner Mutter. Mit aller Seelenruhe erklärte er sich bereit, seinen Bruder zu ersetzen, der augenblicklich verhindert sei, wenn die gnädige Frau nicht vorziehe, die Stunde auf morgen zu verlegen, was wohl noch besser wäre.

Aber ach, die gnädige Frau fand das nicht, sie hatte viel Sinn für Regelmäßigkeit.

»Gut, so fangen wir an,« sagte Wilhelm und hoffte, die Mama würde sich entfernen. Aber sie blieb, denn sie hatte auch viel Sinn für die Musik. Dem Schwindler, der da in seiner ganzen Länge neben dem Jungen stand, wurde es schwül zumute. »Nun,« sagte er, »laß mich hören, was du für die Stunde geübt hast.« Der Schüler fing an zu blasen und der Lehrer zu tadeln, denn was falsch war, hörte er wohl. Es mußte wiederholt werden, leiser, lauter, mit anderer Körperhaltung; der Lehrer nahm's sehr gründlich, aber die Aufgabe war kurz und eine Stunde ist lang. Neues durchzunehmen war gewagt, aber es mußte sein. Ein hoher Ton wollte nicht herauskommen. »Es geht nicht,«sagte der Junge. Wilhelm nahm das Horn und sah es mit ernster Miene an. Er kannte die Tücken solcher Blasinstrumente, wenn man falsch ansetzt, kommt kein Ton heraus, aber er wußte nicht wie ansetzen. Da wandte er sich an die Mutter. »Oft sind diese Instrumente sehr heikel und versagen. Mein Bruder macht aber kleine Ausbesserungen immer selbst, ganz unentgeltlich, zu 253 seiner Freude. Wir wollen das Horn lieber beiseite legen, ich nehme es mit heim. Am wichtigsten ist ja doch für jeden Musiker Takt und Notenlesen, darin fehlt es noch bei Ihrem Jungen, wir müssen das vor allem einüben.« Und er nahm ein Notenblatt zur Hand, fühlte nun festen Grund unter den Füßen und suchte durch großen Eifer seine Schwindelei wieder gut zu machen. Es gelang ihm vorzüglich. »Ich glaube, Sie sind noch ein besserer Lehrer als Ihr Herr Bruder,« meinte die Dame.

»Er ist aber der bessere Hornbläser,« versicherte Wilhelm, »ein wahrer Künstler«.

»Das mag sein, aber für den Anfang kommt wohl mehr auf das Lehrtalent an.«

»Es geht für den Schüler doch nichts über einen großen Künstler, wenn ein solcher auch nicht viel lehrt, das musikalische Verständnis geht doch über auf den Schüler.«

»Ja, meinen Sie, es geht über?« fragte etwas kleingläubig die Mutter. Wilhelm beruhigte sie nach Kräften und empfahl sich mit dem Horn. Er war kaum ein paar Häuser weit weg, als Frieder im Sturmschritt daher kam. Er wollte sich gar nicht von Wilhelm aufhalten lassen! »Ich muß in die Hornstunde!« rief er.

»Unglückswurm, auch das noch! Komm, die Stunde ist gegeben, deine Ehre ist gerettet, höre nur und verdirb nicht den Spaß! Aber du mußt das Horn behandeln, es ist ein dummes Horn, es ist nicht gegangen.«

Frieder erriet den Zusammenhang. Am Horn fehlte 254 nichts. »Nun, dann putze es recht blank, etwas mußt du daran tun, da hilft nichts!«

Zu Hause erregte Wilhelms Bericht über die Hornstunde große Heiterkeit, nur Frieder stimmte nicht ein in das Lachen. Frau Pfäffling bemerkte es wohl. »Er schämt sich,« sagte sie sich, »dies wenigstens haben wir erreicht. Es ist schon etwas wert, daß er seine Zerstreutheit nicht gleichgültig nimmt oder gar für eigenartig und interessant hält.«

Ja, Frieder nahm es ernst. Kurz darauf, als die Mutter allein war, redete er sie an: »Warum hast du mich nicht gezankt, Mutter, und mir Vorwürfe gemacht? Ich hätte es noch verdient wie als Bub. Aber du magst nicht mehr, du denkst, es hilft doch nichts!« Er sah so mißvergnügt und mit sich selbst unzufrieden aus, daß er ihr leid tat. »Warum soll ich dir Vorwürfe machen,« entgegnete sie, »das besorgst du jetzt selbst und es wird auch helfen.«

»Glaubst du? Ja, du hast wohl recht. Ich habe gar nicht für möglich gehalten, daß ich meine Stunden vergessen würde, jetzt weiß ich's und will schon Maßregeln treffen. Es kommt mir nicht mehr vor!« Es kam auch tatsächlich nicht mehr vor, die vielen Merkzeichen und die Mahner, die er sich aufgestellt, und der ernste, eigene Wille verhüteten es.

Aber doch konnte Frieder nicht als guter Lehrer gelten. Es währte nicht lange, da kam die Mutter des kleinen Violinschülers zu Neureuther, der ihr den jungen Lehrer empfohlen hatte. »Hören Sie,« begann sie, »das ist ein wunderlicher junger Mann, den Sie mir da empfohlen haben, ich glaube nicht, daß mein 255 Mäxlein bei dem viel lernt.« Neureuther stand in der kleinen Werkstatt, hatte den Zirkel in der Hand und maß die Wölbung einer Violine. Es kam dabei auf Haaresbreite an und er schenkte zunächst der Mutter keine Beachtung. Die sah dem Meister zu. Er war ein großer, älterer Mann, scharf blickten seine Augen unter buschigen Brauen hervor. Jetzt legte er seine Geige beiseite und sah auch die Mutter scharf an. »Wenn nicht viel bei dem Unterricht herauskommt, so fragt sich doch, ob der Lehrer schuld ist oder das Mäxlein. Haben Sie Herrn Pfäffling einmal spielen hören? Ja? Dann meine ich, könnten Sie froh sein, wenn sich so einer zum Lehrer hergibt.«

»Ja, gewiß, er spielt ja vorzüglich,« sagte die Mutter begütigend, »nur gerade zum Lehrer eignet er sich vielleicht nicht so. Wissen Sie, mein Junge ist gar schlau. Der hat die Schwächen seiner Lehrer gleich los. So sagt er gestern in der Stunde zu Herrn Pfäffling: ›Spielen Sie mir doch etwas vor, ich höre es so gern!‹ Nun fängt Herr Pfäffling an und spielt und spielt und merkt gar nicht, daß mein Junge längst durch die Türe hinausgeschlüpft ist ins Nebenzimmer, sitzt da ganz vertieft in seine Indianergeschichte, hält sich dabei die Ohren zu, damit ihn das Spiel nicht störe, und wie Herr Pfäffling endlich aufhört, geht der Spitzbube hinein und sagt: ›Das war wundervoll, Herr Pfäffling!‹«

Neureuther machte ein böses Gesicht. »Das haben Sie mit angesehen und ihn nicht durchgeprügelt?«

»Nein, Herr Neureuther, der Lehrer muß sich selbst Achtung verschaffen.«

256 »Lehrer, Lehrer, Sie sagen immer Lehrer, ein Künstler ist dieser junge Mann und außerdem – wissen Sie, was er noch ist? Sehen Sie ihm nur in die Augen! Ein so wahrer, unschuldiger, kindlich vertrauender Mensch ist er, daß er eine solche Abgefeimtheit, wie Ihr Junge sie zeigt, gar nicht für möglich hält. Der ist nur viel zu gut für solche Schüler, weiter nichts.«

Die gekränkte Mutter brauste nun auf. »Nein, Herr Neureuther, alles was recht ist, aber das kann ich von jedem Künstler verlangen, der Stunden gibt, daß er merkt, ob sein Schüler im Zimmer ist oder nicht. Das ist gewiß kein unbilliges Verlangen. Und er sollte sich auch ein wenig hüten, daß er sich nicht lächerlich macht vor seinen Schülern. Nun war der junge Mann schon viermal bei uns im Haus und jedesmal nach der Stunde, wenn er fort will, macht er draußen im Gang statt der Treppentüre die daneben auf. Dann steht er im Badezimmer und fährt zurück. Darüber lacht natürlich der Junge und macht sich lustig, das können Sie keinem Kind übelnehmen.«

»Ach, das sind so geringfügige Kleinigkeiten, die kommen alle nicht in Betracht. Bleiben Sie ein wenig dabei in den Stunden, bis die Sache gut im Gang ist, und Sie werden sehen, nach ein paar Wochen hat Ihr Max den jungen Mann so lieb und achtet ihn so hoch, daß ihm das Lachen vergeht.«

»Nun, ich will noch eine Weile Geduld haben.«

»Ja,« sagte Neureuther, »und Herr Pfäffling wird auch nicht wenig Geduld nötig haben mit Ihrem Max!«

An demselben Abend kam Ulrike zu Else. Sie war bekannt in dem Hause des kleinen Schülers, und 257 Frieder wandte sich an sie: »Wie ist denn das in der Wohnung, immer, wenn ich fort will, gerate ich in das Badezimmer, das ist mir unangenehm.« Else lachte höchst belustigt, aber Ulrike zeichnete ihm auf ein Blättchen Papier die Einteilung der Wohnung. Frieder studierte sie mit großem Ernst, prägte sich die Zeichnung fest ein und kam von da an ohne Schwierigkeit aus der Wohnung hinaus.

Aber große Freude erlebte er dennoch nicht in seinem Lehrberuf.


Inzwischen war für Marie und Wilhelm die Zeit der Abreise herangekommen. Hanna war hergereist, um nocheinmal mit Marie zusammen zu sein. Ihr Kindchen hatte sie daheim in Resis Hut gelassen, denn in diesem jungen Haushalt tummelte sich nun Walburgs Schwesterkind als Köchin und Kindsmädchen und war nicht wenig stolz auf ihre Selbständigkeit. Walburg dagegen hatte wieder eine Vierzehnjährige um sich. Es war kein Schwesterkind und stand ihr doch nahe. Ihr »Schatzkind« nannte es Wilhelm. In früheren Jahren hatte Walburg ein paar Tage Heiratsgedanken gehabt, in ihrem Heimatdorf sollte sie einen Witwer mit Kindern heiraten. Die Ehe war damals wegen Walburgs Taubheit nicht zustande gekommen, aber daß der Mann sie lieb gehabt hatte, tat ihr heute noch wohl, und eines seiner Kinder war es, das sie nun 258 ins Haus brachte. Das »Schatzkind« war besser daran als das Schwesterkind und wurde nicht so streng gehalten.

Der letzte Abend vor der Abreise der Geschwister war gekommen. In stiller Übereinkunft kämpften alle gegen den Abschiedsschmerz, keins wollte mit dem eigenen Weh das des andern vermehren. Nur Else brachte dies nicht zustande. Die hellen Tränen liefen ihr über die rosigen Wangen, so oft sie die Schwester ansah. Hanna nahm die junge Schwägerin bei guter Gelegenheit mit sich in das Gastzimmer und redete ihr zu: »Du mußt den Abschied nicht so schwer nehmen, du wirst sehen, es ist auch schön, wenn du nun die einzige Tochter für die Mutter, die einzige Schwester für die Brüder bist. Bis jetzt haben sich alle an Marie gewendet, nun wird mein liebes Elserl eine ganz wichtige Persönlichkeit im Hause, das freut sie.«

»Gar nicht, Hanna, so bin ich gar nicht, daß mich das freut. Für mich kommt nichts dabei heraus, als daß ich mehr im Haus arbeiten muß, alles, was bisher Marie getan hat.« Sie legte schmollend ihr feines Köpfchen aus Hannas Schulter. Diese streichelte sie. »Ein verwöhntes Prinzeßchen bist du, meinst, weil du ein nettes Gesichterl hast, so seist du nur zum Vergnügen auf der Welt. Es kommt schon auch Vergnügen an dich, ganz gewiß. In den Ferien soll es recht lustig werden! Aber jetzt mach ein freundliches Gesicht, sonst wird ja Marie der Abschied so schwer und auch der Mutter, gelt, tu mir's zuliebe.« Die beiden kamen Arm in Arm zurück in das Familienzimmer und Else sah wieder fröhlicher drein.

259 Man saß nicht wie sonst ruhig beisammen an diesem Abend, denn immer wieder gab es eine letzte Vorbereitung zu treffen, und wo eines der beiden Reisenden allein zu finden war, ergab sich ein trauliches Gespräch. Wilhelm traf im Vorplatz mit Frieder zusammen. »Du Herzensbruder, dir möchte ich noch etwas sagen.« Er faßte ihn unter dem Arm und führte ihn an das offene Fenster des Ganges, von dem man hinuntersah in den Garten. Dort lehnten sie in brüderlicher Vertraulichkeit und Wilhelm begann von Frieders Zukunft zu sprechen. »Wenn du nun fortgehst, wird es wohl auf zwei oder drei Jahre sein, wer weiß, mit wem du zusammenkommst. Mache nur draußen keine Sachen, über die du dich nachher schämen mußt. Mir hat's immer am meisten geholfen, wenn ich an zu Hause gedacht habe. So einem Vater zu Ehren, wie wir gehabt haben, und so einer Mutter zuliebe, wie die unserige, kann man sich schon halten. Wir Großen haben's fertig gebracht, und du bist doch auch ein Pfäffling, gelt, Frieder, ein rechter und reiner?« Er bot ihm die Hand und Frieder schlug ein.

»Darin kannst du auf mich bauen, Wilhelm, aber in anderer Hinsicht weiß ich nicht, wie es gehen wird. Sage mir ehrlich, Wilhelm, meinst du, daß einmal etwas Rechtes aus mir wird, in dem Sinn, wie es Karl geworden ist?«

»Aber Frieder, natürlich, dafür möchte ich meine Hand ins Feuer legen, du bist ja kein Faulpelz. Lerne nur erst aus; mit solcher Begabung, wie du sie hast, findet sich dann sicher irgend etwas, mit dem du dein Brot verdienst, auch Brot für Frau und Kind, wenn 260 darnach dein Sinn steht. Hab' guten Mut, dir kann's nicht fehlen!«

Während sich so die Brüder besprachen, saß Marie mit der Mutter in dem kleinen Besuchzimmer zu einem letzten traulichen Gespräch. Frau Pfäffling war mit all ihrem Denken und Fühlen bei den beiden Menschenkindern, die sich vereinigen wollten, nicht bei dem Abschied, der bevorstand. Sie hatte mit der Tochter als mit der jungen Frau gesprochen, die sie bald sein würde, und nun saßen sie still beisammen, Marie mit wachen Augen in die Zukunft blickend. »Eines wollte ich dich noch fragen, Mutter. Etwas ist mir aufgefallen an Arnold, nicht bei uns, aber drüben bei seiner Tante. Er hat manchmal so einen befehlenden Ton. Einmal zum Beispiel, als beim Tee die Zuckerbüchse fehlte, sagte er ganz kurz zu Tante Scheffel: »Zucker!« und die sprang eiligst auf und entschuldigte sich noch. Das hat doch bei uns der Vater nie getan. Darf denn eigentlich ein Mann so verlangen?«

»Bei seiner Tante hat er dazu kein Recht, aber im eigenen Hause darf er es wohl, denn die Frau übernimmt doch die Pflicht, für den Tisch zu sorgen, aber wenn er es auch darf, so ist es sicher nicht schön. Du wirst bei euch schon einen anderen Ton einführen können, denn ich glaube, bei Arnold ist das nur ein Mangel der Erziehung, nicht der Empfindung.«

»Ja, er wird zu mir nicht so reden. Aber wenn er es doch einmal täte, nicht wahr, Mutter, dann würde ich mich nicht gleich darein ergeben, sondern ihm sagen, wie der Vater und die Brüder das so ganz anders gemacht haben.«

261 »Nein, Marie,« entgegnete Frau Pfäffling mit Lebhaftigkeit, »warum willst du von Vater und Brüdern sprechen? Selten wird ein Mann es gut vertragen, wenn ihm andere immer wieder zum Muster vorgehalten werden. Ein Mann wie Arnold tut nicht etwas, weil ein Wilhelm Pfäffling es getan hat, wohl aber tut er es seiner Frau zuliebe.«

Marie wurde nachdenklich. »Ja, er wird mir's zuliebe tun, denn ich möchte ihm ja auch alles zuliebe tun; wenn er aber befiehlt, so muß ich gehorchen und habe es ihm dann schon nicht aus Liebe getan.«

»Ja, das sage ihm, wenn es nötig ist, das wird er schon annehmen. Und lasse ihn merken, wie es dich freut und dir vornehm und gut erscheint, wenn er bittet, wo er befehlen könnte, wenn er der Frau Ehre erweist.«

»Mutter, wenn ich nur hie und da etwas mit dir beraten könnte.« – »Es wird gar nicht nötig sein, Kind. Wenn dich etwas bekümmert, so denke nur in der Stille darüber nach, wo der Fehler liegt,. und sieh dann, daß du in heiterer, freundlicher Art die Sache zurecht bringst. Oft genügt ein Scherzwort. man muß nicht gleich mit schwerem Geschütz auffahren. Darin nimm dir deinen Vater zum Muster.« – »Bei euch ist alles so herrlich gegangen, Mutter, auch mit dem Geld, und ihr war't doch früher so knapp daran. Was Hanna manchmal aus ihrem Elternhaus erzählt, ist mir immer schrecklich erschienen. Ich glaube, wenn mir mein Mann nicht gern das nötige Geld gäbe, würde ich lieber verhungern, als immer wieder darum betteln.«

262 »Habe keine Angst, Kind. Mir ist noch selten ein junger Mann vorgekommen, der wirklich geizig war und nicht zum Notwendigen das Geld hergeben wollte. Freilich ist man nicht immer gleicher Meinung darüber, was notwendig ist. Es kann ja sein, daß Arnold in seinen unsicheren Verhältnissen und nach seiner ganzen Anlage darin ängstlicher ist, als es zum Beispiel der Vater war. Dann mußt du dich ihm möglichst anpassen und ihm zeigen, daß du gern und mit Freuden sparst. Er wird dann bald da und dort einmal eine praktische Einteilung oder Ersparnis bemerken, auf die er selbst nicht gekommen wäre, so gewinnst du sein Vertrauen und die gemeinsame Kasse wird dann ein weiteres Band zwischen euch. Ich glaube, daß viele Männer in der Meinung aufwachsen, die Frauen möchten alles für Putz und Tand ausgeben. Wenn sie dann sehen, daß es bei ihrer Frau ganz anders ist, werden sie ihr gerne freie Hand lassen.«

»Es muß fein sein, wenn man sich so allmählich das Vertrauen erobert.«

»Ganz gewiß. Es ist wunderbar beglückend, wenn man sich immer besser zusammenlebt und eines aus dem anderen das Beste herauslockt. Aber Schwächen haben wir alle, darum sei nicht bestürzt, wenn du welche an Arnold entdeckst, und nicht empfindlich, denn das ist deine Schwäche, liebes Kind.«

»Mutter,« sagte nun Marie, »ich möchte dir noch etwas zum Andenken geben, das du lesen sollst in einer Stunde, wo du traurig bist, damit du siehst, wie lieb mich Arnold hat. Ich weiß ganz gewiß, daß du 263 dann glücklich sein wirst.« Und sie drückte der Mutter einen Brief in die Hand. »Es ist mein letzter von Arnold.«

»Aber Kind, den wirst du vermissen auf der langen Seereise.«

»Ja, aber du sollst ihn doch haben. Abschreiben mochte ich ihn nicht, es muß seine Handschrift sein. Nimm ihn, lieb Mütterlein!« – Frau Pfäffling drückte die Tochter fest an sich – sie dachten jetzt an den Abschied.

Der letzte Abend wurde abgekürzt. Man wollte zeitig zur Ruhe gehen, denn schon am frühen Morgen ging der Zug ab, der die Reisenden zunächst nach Hamburg bringen sollte. Nun standen sie alle beisammen und wünschten sich zum letzten Male gute Nacht. »Wenn doch der Abschied schon überstanden wäre,« sagte Marie.

»Ei was, nur standhaft,« entgegnete Wilhelm, und in frischem, ermutigendem Ton forderte er aus: »Hier meine Hand, wer von euch Geschwistern schlägt ein: es soll morgen beim Abschied keine Träne fließen!«

Herzhaft schlug Hanna ein, Otto folgte ihrem Beispiel. Aber wo blieben die anderen Hände?

»Frieder, sei ein Mann!« rief Wilhelm.

Der antwortete zögernd: »Wer kann wissen, ob man sein Wort halten kann?«

»Else, Hand her!« Die wandte sich ab und weinte. Unvermerkt schob sich jetzt die schmale, weiche Hand der Mutter in die große ihres Sohnes. »Ich werde hoffentlich nicht Tränen vergießen, wenn euch das Glück winkt,« sagte sie. Alle sahen staunend auf sie, 264 Wilhelm umschloß sie mit seinen langen Armen und rief: »Kleine Mutter, du bist stärker als wir alle!« Ja, der große Sohn selbst hatte in diesem Augenblick gegen eine weichmütige Regung zu kämpfen.

Beim ersten Morgengrauen fuhr der Wagen vor der Musikschule an. Marie stieg ein, Else, Frieder und Otto mit ihr, Wilhelm setzte sich auf den Bock. Frau Pfäffling und Hanna hatten schon Abschied genommen, sie sahen durch das offene Fenster. Walburg stand am Wagen, reichte eine Handtasche hinein und glättete noch Maries Reisekleid. Dann wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Wilhelm sah dies und mit einer gewaltigen Stimme, die die ganze noch verschlafene Wagnerstraße wecken mußte, rief er der Schwerhörigen zu: »Weinen verboten!« Darüber mußten alle lachen, und da in diesem Augenblick die Pferde anzogen, so war das letzte, was Frau Pfäffling sah, ein Wagen voll heiterer Gesichter, und heiter blieb auch das ihrige, so lange sie den Abreisenden nachblicken konnte. Und dann – nun dann sahen die Kinder sie nicht mehr, und das war gut.

Hanna saß bei der Mutter, liebevoll bemüht ihr über diese Stunde hinwegzuhelfen, allein es war eine trostlose, nüchterne, kalte Morgenstunde. Plötzlich stand Hanna auf: »Mutter, weißt du, was wir tun? Wir schlupfen noch einmal in unsere Betten.« Dieser Vorschlag wirkte besser als alle Trostgründe. Wer hatte denn schlafen können in dieser Nacht? Die Mutter sicher nicht. Aber jetzt, nachdem der Abschied überstanden, jetzt fand sie die Ruhe, und Walburg wachte darüber, daß sie nicht gestört wurde. Die Jungen, die 265 von der Bahn zurückkehrten, folgten dem Beispiel, schlichen sich leise in ihre Zimmer und allen half der Schlaf über die ersten Trennungsstunden hinweg.


Während die Reisenden sich auf hoher See befanden, erhielt Frau Pfäffling einen Brief des Schwiegersohnes. Jetzt konnte er ja schreiben, wie es ihm ums Herz war, jetzt, da die Braut sich losgerissen hatte aus der alten Heimat. Er war nun froh, daß er vorher in der inneren Unzufriedenheit wegen des langen Zögerns sich zurückgehalten hatte; durch keinen Mißton war das Verhältnis zu der Mutter getrübt worden, sie hatte von selbst empfunden, daß die Zeit gekommen war, das gegebene Wort einzulösen. Nun schrieb er voll Glück und Dankbarkeit, erzählte ihr, wie er den Reisenden mit dem Ochsenwagen entgegenfahren werde bis zu der fernen Bahnstation, wie alles für die Trauung in Windhuk vorbereitet sei und seine Farm festlich geschmückt werden sollte.

So wußte die Mutter, daß fürsorgende Liebe die Tochter im fernen Lande empfangen würde, und sie begleitete sie im Geist während der folgenden Wochen.

Als dann vom Hafen in Swakopmund die telegraphische Nachricht einlief, daß die beiden Geschwister glücklich auf festem Boden gelandet seien, da empfand Frau Pfäffling, daß zwar Schmerz und Trauer sich nicht bannen lassen aus dem treuen Herzen, aber 266 daß dieses weit genug ist, um zugleich auch Glück zu fassen. Sie tat ihr Herz weit auf, um die Freude einzulassen, und der fröhliche Geist früherer Jahre waltete an diesem Tage wieder in der Familie. »Wie hätte der Vater über die Nachricht gejubelt,« sagte sie zu den Kindern, und alle glaubten seine fröhliche Stimme zu hören.

»Else,« sagte Frau Pfäffling, »du hast früher so gerne das Lied vom Sonnenschein gesungen, laß es doch einmal wieder hören.« Seit Monaten erklang zum erstenmal wieder die helle Stimme des jungen Mädchens: »Mein Herz, tu' dich auf, daß die Sonne drein scheint, du hast ja genug schon geklagt und geweint; mein Herz, tu' dich auf, mein Herz, tu' dich auf, daß die Sonne drein scheint!« 267

 


 


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