Agnes Sapper
Werden und Wachsen
Agnes Sapper

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Sechstes Kapitel.

Nach einem Zeitraum von drei Jahren kehren wir wieder zur Familie Pfäffling zurück.

Drei Jahre – an keinem gehen sie spurlos vorüber, denn die Natur kennt keinen Stillstand. Aber während sie dem einen nur wenig bringen und wenig nehmen, arbeiten sie gewaltig an dem andern, greifen ein in sein inneres und äußeres Leben und lassen unverwischbare Spuren zurück. Und je jünger der Mensch ist, um so sichtbarer treten uns die Veränderungen entgegen. Was sind drei Jahre für den Sechziger? Der zwanzigste Teil seines Lebens. Für den Dreijährigen bedeuten sie sein ganzes Leben. Selbst die Mutter würde ihr neugeborenes Kind nach drei Jahren nicht wiedererkennen.

Mit dem Einzelnen verändert sich ganz unmerklich auch die Familie. Sie entwickelt sich durch die Einzelmenschen, aus denen sie besteht, durch den Geist der Zeit, der in sie hereingetragen wird. Und wo sie sich sträubt gegen Weiterentwicklung und sich verschließt gegen äußeren Einfluß, ist sie doch eine andere 110 geworden, gerade dadurch, denn sie ist nun etwas Starres, Gebundenes, Leben Hemmendes geworden.

Keine Sorge, daß solches von der Familie Pfäffling zu sagen wäre! Wie die Eltern einst ihre Lust daran hatten, wenn die Kleinen die ersten Schrittchen machten, so nun, wenn ihre Großen selbständig Lebensschritte tun; und wie sie sich freuten, wenn ein neuer Begriff im Wörterschatz des Kindes auftauchte, so jetzt, wenn neue Gedanken und Bestrebungen erwachen bei den jungen Leuten. Denn sie betrachteten sich selbst nicht als fertig, diese beiden Eltern, und eben darum sind sie es auch nicht, sondern schreiten immer weiter fort. Nur mit dem Unterschied gegen ihre jungen Jahre, daß sie die Hauptrichtung, in der sie gehen wollen, klar erkannt haben und sie fest einhalten. Dadurch üben sie ein oft unbewußtes Führeramt ihren großen Kindern gegenüber aus. Denn wir folgen im unbekannten Land – und das ist das Leben – gerne denen, die wir mit gutem Mut und heiterem Antlitz ruhig und stetig voranschreiten sehen. So folgten auch die großen Pfäfflingskinder bei aller Freiheit der Bewegung willig der Hauptrichtung ihrer Eltern.

Ehe wir aber zurückkehren in das uns wohlbekannte Gebäude der Wagnerstraße, folgen wir feinen, fast unsichtbaren Fäden, die sich von da hinüberspinnen in weite Ferne, über Land und Meer, bis nach Afrika.

Viele Stunden östlich von Windhuk lag die Farm, die Arnold Scheffel mit Glück und Geschick rasch in die Höhe gebracht hatte. Große Ausdauer und Geduld hatte er gebraucht, bis er ohne eigentliche fachmännische Hilfe das Haus aufführen konnte, das nun aus 111 Backsteinen errichtet, mit Wellblech bedeckt, durch eine Veranda geschmückt, wohnlich aussah. Monate hatte es gedauert, bis es ihm gelungen war, für die öden Fensterhöhlen Gläser zu erhalten. Jetzt umgab schon ein kleiner Gemüsegarten das Haus und lohnte durch üppiges Wachstum die Mühe der Anpflanzung auf dem trockenen Sandboden. Arnold Scheffel hatte Glück gehabt, noch nie war sein Brunnen, dieses kostbare Gut, versiegt.

Die erste Enttäuschung, die er im fremden Land erlebte, war Maries abschlägige Antwort gewesen. Wie hatte er an diesem Tag gezürnt über das zimperliche, überfeine, kleinliche Mädchen, das an einem schlechten Witz Anstoß nahm! Wie hatte er gewettert über die ungeschickte, taktlose, geschwätzige Tante, die alles durch ihre unpassende Bemerkung verdorben hatte! Noch an demselben Abend hatte er seinen ganzen Zorn ausgelassen in einem Brief an Fräulein Scheffel und zugleich bemerkt, daß er, bis sie denselben erhalten werde, vielleicht schon glücklicher Bräutigam einer weniger empfindlichen jungen Dame sein werde. Dann aber hatte er nie mehr nach Marstadt geschrieben, die Sache war abgetan. Schwamm darüber, nicht mehr daran denken! Er kannte ja noch mehr Mädchen in Deutschland, um die er werben konnte. Aber, ohne daß er sich's bewußt geworden, hatte seine selbstsichere Zuversicht doch einen Stoß erlitten. Wenn er schreiben wollte, so kam ihm das Bedenken, die eine könnte sagen: »Farmerin will ich nicht werden;« die andere: »So weit von der Heimat mag ich nicht;« die dritte gar: »Du gefällst mir nicht.« So unterblieb das Schreiben, und 112 er mußte doch immer wieder an Marie denken. Merkwürdig, wie tapfer dieses Mädchen war, die weite Entfernung, das einsame Leben mitten unter den Wilden, die Trennung von ihren Lieben – das alles hätte sie nicht gefürchtet. Was fürchtete sie? Ihn? Nein, sie wollte ja zuerst Briefe mit ihm wechseln, nur eine Seite seines Wesens, ein Wort war es gewesen, das sie abschreckte. Lächerlich! Er wollte sich nun endlich diese Sache aus dem Sinn schlagen und in den nächsten Monaten einmal nach Windhuk reisen und sehen, was dort zu machen wäre.

Arnold Scheffel warf sich ganz und gar auf seine Arbeit, aber nicht mehr mit der fröhlichen Zuversicht, die ihn vorher über alle Schwierigkeiten hinweggehoben hatte. Er war verdrossen und mürrisch. In dieser Stimmung zeigte er sich rauh und hart im Verkehr mit seinen Arbeitern, die Schwarzen vor allem hatten darunter zu leiden. Er ärgerte sich, so oft er einen sah, der ein Weib hatte, während er, der Farmer, allein dastand. Noch mehr waren ihm die schwarzen Weiber und Mädchen zuwider, von ihnen wollte er nichts wissen, nie und nimmer, und doch liefen sie immer um ihn herum. Ihr bloßes Dasein ärgerte ihn, sie mochten tun, was sie wollten, er war gereizt gegen sie und ungerecht. Allmählich gingen die Arbeiter dem mürrischen Herrn aus dem Weg, wo sie nur konnten, und immer häufiger verschwand der eine oder andere auf Nimmerwiedersehen. Da ging die Leutenot an auf der Farm und es fehlte an den nötigen Kräften zur Bewirtschaftung. Aber das schlimmste kam erst im nächsten Jahr: eine Viehseuche brach aus in seinen 113 Herden. Zu Hunderten fielen die schönen, jungen Tiere der Krankheit zum Opfer, ein unersetzlicher Schaden. Er hätte aufschreien mögen vor Jammer, wenn er sie so liegen sah und wehrlos dem Unglück gegenüberstand. Aber er verbiß seinen Grimm, denn es war niemand da, der teil daran genommen hätte, hingegen viele, denen die Schadenfreude auf dem Gesicht geschrieben stand. So hielt er sich aufrecht vor den Leuten, aber am Abend, wenn er allein war, saß er mit finsterem Blick über seine Bücher gebeugt oder wanderte die halben Nächte hindurch ruhelos hin und her.

Er war eine tatkräftige Natur, es lag ihm nicht, über Vergangenes nachzugrübeln, vielmehr Mittel zu suchen, um ferneres Unheil abzuwenden. Aber eines Nachts überfiel ihn die Frage: warum? woher ist all das Schlimme gekommen? Wie eine schwere Kette des Unglücks erschienen ihm all diese Erlebnisse. Das letzte Glied der Kette war die Viehseuche gewesen. Wie war sie ausgebrochen? Man hatte morgens ein an der Seuche gefallenes Tier, das nicht von seiner Herde war, mitten unter diesen gefunden. Es war in boshafter Absicht dorthin geschleppt worden. Von den davongelaufenen Arbeitern war das geschehen, daran zweifelte niemand. Ja, diese Feindseligkeiten der Arbeiter waren schuld, sie bildeten viele Glieder in der Kette des Unglücks. Woher kam diese Gehässigkeit der Leute, die anfangs willig gewesen? Von seiner fast krankhaften Reizbarkeit und Verstimmung, die war auch ein Glied an der Kette und eng verbunden mit dem Brief, der ihm Maries Absage gebracht hatte. So war denn Marie an allem schuld? Er sah sie vor sich, 114 das liebe, schlichte Mädchen, mit dem edlen Anstand und der reinen Gesinnung. Nein, so schwere Schuld mochte er nicht auf die feine Gestalt legen. Ihre Absage war wohl auch nur ein Glied der Kette, eine Folge. Und die Ursache? Ein Wort, ein schlechter Witz von ihm! Konnte das das erste Glied sein? Was war sein Wort? Der Ausfluß einer Gesinnung. Wie war sie zu bezeichnen? Vielleicht Hochmut, Geringschätzung der andern, Selbstüberschätzung? So etwas derartiges mochte es sein. Nun sah er die ganze schwere Kette vor sich und das erste Glied hieß: eigene Schuld.

Diese Erkenntnis erschütterte manches, was zu den Grundanschauungen des jungen Mannes gehört hatte. Er war der Überzeugung gewesen, mit seinem klugen Verstand, eisernen Fleiß und kräftigen Körper könne er alles meistern. Er hatte sich bisher für einen Herrenmenschen gehalten, der, mit besseren Gaben und stärkerem Willen ausgerüstet als die große Menge, auf die anderen herabblicken und rücksichtslos vorangehen dürfe. Und nun merkte er, daß die andern dann nicht mittaten, ja gegen ihn angingen, und daß er doch die Mitmenschen nicht entbehren konnte.

Und während er darüber sann, kam ihm vor, als ob das Mädchen, das er sich gewünscht hatte, gerade dies an ihm vermißte, hingegen selbst in hohem Maß Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit besäße und er eben deshalb ein solches Verlangen nach ihr fühle. Aber damit war er wieder an dem hoffnungslosen Punkt angekommen, sie wollte ihn nicht, und jetzt, wo er noch nicht absah, ob sich seine Farm halten ließe, konnte er sich den Aufwand einer Frau gar nicht gestatten.

115 Arnold Scheffel rückte die letzte Summe, die er in Bereitschaft hatte, daran, um seinen Viehstand, nachdem die Seuche erloschen war, wieder zu ergänzen, und arbeitete unermüdlich. So hielt er sich über Wasser. Ein Deutscher, dessen Farm nicht allzuweit entfernt lag, ein schlichter Mann, kam in der schwersten Zeit aus freien Stücken dem jungen Landsmann zu Hilfe, mit Jungvieh zuerst und dann mit Arbeitskräften. Arnold behandelte diese Leute nun anders, so blieben sie ihm; allmählich, langsam – viel langsamer, als er hinunter gekommen war, arbeitete er sich wieder hinauf.

In dieser Zeit war es, daß er einmal bei dem benachbarten Farmer eine junge Verwandte von dessen Frau traf, eine fröhliche Wienerin war sie. Da erwachte wieder der Wunsch nach einer Frau in ihm und er dachte sich zu gewinnen, was so nahe zu erreichen war. Er ging mit ihr an den mit Dornengestrüpp eingehegten Viehkralen vorüber in die Einsamkeit und sie plauderten über dies und jenes, um Bekanntschaft zu schließen. Plötzlich trieb es ihn, ihr in aller Aufrichtigkeit zu erzählen, wie es ihm mit Marie ergangen war. Sie hörte zu, und als sie die Worte vernahm, die ihm die Sache vereitelt hatten, da lachte sie laut, lachte überlaut. Das verletzte ihn, er konnte es nicht leiden, daß sie sich lustig über Maries Empfindung machte, die ihm doch selbst übertrieben erschienen war, es stieß ihn ab, er wußte nicht warum und verstand sich selbst nicht.

Aber sie verstand seinen plötzlich veränderten Ausdruck, denn sie war eine in diesen Dingen erfahrene junge Dame. Lachend rief sie ihm zu: »Sie haben ja 116 das unschuldige Kind immer noch lieb, nun, Sie kriegen sie vielleicht noch, ich wünschte es Ihnen!«

Darauf gingen sie freundschaftlich auseinander, und Arnold Scheffel kehrte auf seine Farm zurück, der auch ferner die Farmerin fehlen sollte. Aus dem Gespräch mit der jungen Wienerin klangen ihm aber die Worte nach: »Sie kriegen sie vielleicht noch,« und ließen ihm keine Ruhe. Sie waren auch der Anstoß dazu, daß der junge Mann sich der Pflicht erinnerte, nach Jahren wieder einmal an Tante Scheffel zu schreiben, die er wohl durch seinen letzten Brief gekränkt haben mochte. Freilich, zu seiner Vertrauten in Herzensangelegenheiten machte er sie nicht mehr, dazu erschien sie ihm nicht geeignet, aber er erzählte ihr offen über seine Erlebnisse, und deutlich sprach er die Bitte aus, sie möchte Grüße an die Familie Pfäffling bringen und ihm von jedem einzelnen Glied derselben berichten.

Während dieser Brief auf dem großen Wasser schwimmt, sehen wir uns um, wie sich in den Jahren, die für den jungen Farmer so schwer waren, die Verhältnisse in der Familie Pfäffling gestaltet haben. Fast unverändert finden wir den Direktor und seine Frau. Einige Fältchen mehr in seinem Gesicht, vielleicht vereinzelte graue Fäden in ihrem glänzend schwarzen Haar – sonst können wir nichts bemerken. Jedermann schätzt den Direktor jünger als er ist, das kommt von seiner schlanken Figur, von seiner flinken Beweglichkeit. Und doch ist er kein junger Mann mehr, ist schon Schwiegervater geworden. Zuerst glaubte er, man müßte ihm hell ins Gesicht lachen, wenn er von seinem verheirateten Sohn sprach, aber nun ist er's 117 gewöhnt; nur daß seine Frau in einigen Monaten Großmutter werden soll, das ist ihm noch immer unglaublich. Cäcilie – Großmutter? Er hatte es nicht bemerkt, daß sie gealtert war, weil die gegenseitige Liebe so jung und frisch geblieben war.

Nicht weit von der Musikschule entfernt wohnte das junge Ehepaar. Der Bürgermeister hatte richtig Karl eine Stelle zu verschaffen gewußt, wie ihm Wilhelm zugetraut hatte. Es war schon gut, daß Frau Pfäffling in der Nähe war und der jungen Hausfrau ein wenig helfen konnte, denn diese war vollständig unerfahren auf diesem Gebiet und dabei nicht eine bedächtig überlegende Natur, sondern eine rasch und tatkräftig handelnde, die immer die gute Zuversicht hatte: »Es wird schon werden.« »Es« wurde aber oft nicht, nämlich das Essen nicht genießbar, die Wäsche nicht brauchbar, die Einkäufe nicht vorteilhaft, die Hausordnung nicht pünktlich. Der junge Ehemann war, wie alle Pfäfflinge, anspruchslos und nahm häusliches Mißgeschick nicht schwer. Wenn ihn je einmal eine leise Unzufriedenheit ankam, dann trat die Mutter entschieden für die junge Frau ein: »Wenn du eine Künstlerin heiratest, kannst du nicht verlangen, daß sie plötzlich alle Hausfrauenkenntnisse und Tugenden besitzt, das kommt erst nach und nach, dazu braucht es Jahre.« Er war gerecht genug, das einzusehen, und das frische, geistig lebendige, wahrhaftige Wesen seiner jungen Frau freute ihn noch wie am ersten Tag. Und zudem – die Mutter und Marie waren ja so nahe, man kam täglich zusammen, mit ihnen konnte er nach alter Gewohnheit alles Häusliche besprechen und Hanna konnte 118 sich dort Rat holen. Sie tat das auch reichlich und gern, hatte eine große Liebe zu der Mutter und stand mit jedem einzelnen Familienglied aufs beste. Dabei strebte sie aber doch bewußt danach, selbständig zu werden in dem, was nun einmal ihr Beruf war, und wenngleich ihre Begabung nicht gerade auf diesem Gebiet lag, so machte sie doch gute Fortschritte und es verdroß sie manchmal im stillen, daß die anderen das weniger zu bemerken schienen als sie selbst, und daß jetzt, nach zweijähriger Ehe, ihr Mann noch immer die Gewohnheit hatte, sich in allem an die Mutter und fast noch mehr an seine Schwester Marie zu wenden. Von Natur praktisch angelegt, war Marie schon als Kind ein brauchbares Haustöchterchen gewesen und auch in den vergangenen Jahren hatte sie sich immer in dieser Weise betätigt. Da und dort hatte sie bei Verwandten und Bekannten einem Ruf zu häuslicher Hilfe Folge geleistet, war aber stets gerne wieder heimgekommen. Die große Frage: »Was willst du werden?«, die viele ihrer Freundinnen beschäftigte, war ihr nie nahe getreten. Ihr war alles zuteil geworden, was sie sich nur wünschen konnte, voller Beruf zu Hause und dabei fröhlicher Verkehr mit den Geschwistern, durch die allerlei geistige Anregung ins Haus kam; ein Kreis von Freundinnen aus der Schulzeit und das musikalische Leben im Hause, an dem sie, mit guter Singstimme begabt, vollen Anteil nehmen konnte. Dabei war sie eine anmutige Erscheinung und eine gesunde Natur, die sich eben so wohl fühlte, als sie andern wohl tat. Das Erlebnis, das ihr vor drei Jahren eine schmerzliche Enttäuschung gebracht, hatte die Harmonie ihres 119 Wesens nicht dauernd gestört. Und doch hatte sie es nicht völlig vergessen. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken manchmal weg aus dem alltäglichen Kreis, eine unbestimmte Sehnsucht nach etwas Großem, Neuem erfüllte bisweilen das junge Mädchen. Doch blieb dies Sehnen verborgen vor ihrer Umgebung, die nur die tätige, freundliche Außenseite ihres Wesens kannte.

Aus Else, dem Schulkind, hatten die drei Jahre ein erwachsenes, hübsches, junges Mädchen gemacht. Aber ihr Wesen war noch unausgeglichen. Sie schwankte zwischen lauter Lustigkeit und unzufriedenem Begehren, wußte nicht recht, was mit sich selbst beginnen. Einstweilen folgte sie dem bestimmten Rat der jungen Schwägerin, klug zu sein und auf alle Fälle die Künste zu lernen, die der Hausfrau unentbehrlich sind.

Else hing mit ganzem Herzen an Hanna, mit deren Wesen sie mehr Ähnlichkeit hatte, als mit dem der eigenen Schwester. Auch Hanna verkehrte gern und leicht mit der jungen Schwägerin, aber eine tiefere Neigung empfand sie für Marie, der sie ihr ganzes Vertrauen schenkte.

Heute, da wir einkehren in der jungen Haushaltung, treffen wir Hanna in ihrer kleinen, schmucken Küche, in der sie selbst die Köchin macht, es ist Mittagszeit und sie erwartet den Gatten. Statt seiner erscheint die Schwester.

»Elserl? Du? Seid ihr noch nicht beim Essen?« rief Hanna erstaunt. »Oder locken dich meine Pfannkuchen? Du kannst einen haben, sieh, ob sie nicht schön geworden sind! Iß nur Karls Anteil, warum kommt er so spät!«

120 »Er schickt mich ja eben,« sagte Else und griff frisch nach einem Pfannkuchen. »Du möchtest noch eine Viertelstunde Geduld haben, er ist von der Schule aus geschwind zu uns heraufgekommen, um etwas Wichtiges mit den Eltern zu besprechen. Aber deine Pfannkuchen sind so gut wie die von Walburg.«

Hanna war gedankenvoll. Was gab es zu besprechen? Hätte Karl das nicht zuerst mit ihr bereden und nach Tisch zu den Eltern gehen können? Sie mochte das junge Mädchen nicht fragen, ob sie Näheres wisse. Else plauderte weiter. »Morgen ist Sonntag, da kommt ihr zum Essen und dann gehen wir in den Wald.«

»Ich weiß noch nicht, ob wir mitgehen,« sagte Hanna, ohne selbst recht zu wissen, weshalb.

»Warum nicht, das wäre zum erstenmal!«

»Karl ist aufgefordert, mit einigen Herren zusammen zu kommen, sie haben Besprechung in Schulsachen, doch erst gegen Abend.«

»Dann könnt ihr vielleicht doch mit uns gehen, oder du jedenfalls.« Sie umschlang die Schwägerin, küßte sie und ging.

Was Karl mit den Eltern besprochen hatte, erfuhr die junge Frau während des Mittagessens. Eine Stelle war ihm angeboten worden, die den Vorzug höheren Gehalts vor seiner jetzigen hatte, aber auch Nachteile, vor allem den, daß sie von Marstadt weit entfernt war. »Ich habe eigentlich gar nicht ernstlich daran gedacht,« sagte Karl, »doch wollte ich die Eltern darüber hören; wir wollen doch nicht fort von ihnen und den Geschwistern, wenn's nicht sein muß. Wie schön ist der tägliche Verkehr.«

121 »Freilich, den würden wir sehr vermissen,« sagte Hanna, »aber der höhere Gehalt täte uns wohl.«

»Der jetzige reicht auch.«

»Aber nur, weil drüben bei den Eltern so oft ein gastlicher Tisch für uns gedeckt ist und bald Walburg, bald Resi für uns arbeiten. Das macht viel aus. Was meinten die Eltern?«

»Daß wir bleiben sollen, dir zuliebe hauptsächlich, jedenfalls diesen Winter, wo wir das Kleine erwarten. Wir wären ja ratlos mit so einem Wickelkind. Hast du je schon eines in den Händen gehabt?«

»Nein, natürlich nicht. Immer nur Pinsel und Palette!«

»Das macht nichts, Hanna, die Mutter ist ja da und Marie, die besorgen das schon. Ich weiß noch von Elschen, wie zappelig so ein kleines Ding im Bad ist und wie leicht es von der Hand in das Wasser rutscht.«

»Nun, weißt du, ertrinken ließe ich's auch nicht,« sagte Hanna lebhaft. »Wenn ich kein Kind baden könnte, wäre ich auch nicht wert, daß ich eines bekäme!« Sie stand vom Tisch auf, stellte das Eßgeräte rasch zusammen und ließ dabei die Bestecke zur Erde fallen. Karl bückte sich danach, hob sie auf und sah dabei in das gerötete, erregte Gesicht seiner Frau. »Hanna, was hast du?« fragte er befremdet. »Seit wann bist du empfindlich? Das kenne ich gar nicht an dir. Ich wollte dich nicht kränken. So siehst du nicht nett aus!« Er sagte es in ehrlicher Bestürzung und freundlichem Ton. Sie lachte. »Wenn man ärgerlich ist, dann ist man nicht schön, aber man wird sich doch auch einmal ärgern dürfen!«

122 »Über den Mann?« fragte er, »das möchte ich nicht haben.« Er sah sie noch immer ganz ernsthaft an, aber sie entgegnete heiter: »Später ärgere ich mich vielleicht über das Kind, aber jetzt habe ich nur dich, nun mußt du für alles herhalten.«

Er gab sich zufrieden, aber er verstand sie nicht recht, denn noch immer hatte sie selbst die Neckereien über ihr Ungeschick veranlaßt.

Hanna selbst mochte sich kaum eingestehen, was sie empfand. Es kam ihr häßlich vor, unbegreiflich, und doch war es so, daß sie Lust empfunden hätte, fortzuziehen und sich enttäuscht fühlte über die Ablehnung. War sie wirklich so undankbar? Wie gut waren alle gegen sie, wie hatte auch sie jedes Einzelne von der Familie so herzlich lieb!

Das sagte sie sich vor, während sie am Nachmittag hinüberging in die Musikschule. Sie trug ein Päckchen Stoff unter dem Arm. Marie hatte versprochen, ihr zu helfen, Kinderhemdchen zuzuschneiden.

Als Hanna durch das Tor der Musikschule trat, hörte sie im Garten Stimmen. Sie warf einen Blick nach der Laube und sah darin ihre beiden Schwäger Wilhelm und Otto. Rasch kam ihr Wilhelm entgegen und nahm ihr sofort das Päckchen Stoff ab. »Gehst du hinauf, Hanna?« fragte er, »ich werde dir das tragen, ist Karl zu Hause?« – »Ja, warum meinst du?« – »Weil es dann seine Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre, dir den Pack herüber zu tragen. Ich werde ihm eine Vorlesung halten über die richtige Stellung zur Ehefrau.«

Hanna lachte. »Du mußt es ja wissen.«

123 »Weiß ich auch. Der Mann nimmt der Frau die Last ab, wofür sie ihn durch holdseliges Lächeln belohnt.«

»Er hat gut reden,« sagte nun Otto, »er bringt es noch lange zu keiner Frau, darum kann er wohl andern predigen.«

»Aha, jetzt ist er giftig,« sagte Wilhelm, »wir haben uns nämlich gerade gestritten. Ich wollte ihn mit ins Bad nehmen, nun sitzt der Musterknabe über dem Bürgerlichen Gesetzbuch und sagt, er sei mitten im Studieren. Ich bitte dich, Hanna, wie kann einer an solch einem Sommerabend dasitzen und ochsen, Paragraphen auswendig lernen!«

»So etwas tätest du freilich nie,« sagte Hanna lachend, »aber Otto kommt vor dir ans Ziel.«

»Irgend wann einmal werde ich auch mit meinem Studium fertig. Wenn in diesem Winter nichts Besonderes los ist, setze ich mich ganz brav in die Hörsäle und dann kann's geschehen, daß ich im nächsten Jahr mein Examen mache!«

Es war Wilhelm anzusehen, daß er einige »Seitensprünge« gemacht hatte. Er hatte sich einem Mineralogen angeschlossen zu Forschungsreisen in den Karpathen und diesem gute Dienste geleistet. Sonnenverbrannt und mit mancher Narbe war er zurückgekehrt; er trug aber diese Andenken, die ihn nicht eben verschönten, gerne mit sich herum als Erinnerung an manche verwegene Bergbesteigung. Jetzt geleitete er Hanna aus dem Garten. »Den Eltern ist's ja zu gönnen,« meinte er, »daß Otto so vernünftig bei seinem Studium bleibt. Der wird fein heraus sein beim 124 Examen, und ein Unglück ist's auch nicht, wenn einer von uns Pfäfflingen höher hinauf kommt!«

»Da hast du recht. Nur, wenn einer so ein richtiger Streber ist, dann ist er, meine ich, kein ganz echter Pfäffling mehr.«

»Es ist nett von dir, Hanna, daß du so eine echte Pfäffling geworden bist und daß die Pfäfflinge nicht aussterben. Du darfst es mir nicht übel nehmen, daß ich das sage, es freut mich so unbändig, daß ich es einmal aussprechen muß.«

Sie sah ihn dankbar an. Ja, in diesem Augenblick fühlte sie sich als »echte Pfäffling«, aber wenn er sie recht durchschaut hätte, dann würde er ihr diesen Namen heute nicht gegeben haben. Sie waren die ersten Stockwerke hinaufgestiegen und kamen jetzt an einem für gewöhnlich verschlossenen Zimmer vorbei, dessen Türe heute ein wenig offen stand.

»Das ist das Instrumentenzimmer,« sagte Wilhelm. »Frieder wird darin sein. Bist du schon einmal hereingekommen? Es ist ganz nett, all die Musikinstrumente zu sehen.«

»Da mag sich allerdings Frieder fühlen wie der Vogel im Hanfsamen,« sagte Hanna, durch die Türe blickend. Rings an den Wänden lagen in Glaskasten oder hingen frei alle Arten von Streich- und Blasinstrumenten.

Sie traten ein. Am andern Ende des Zimmers, über einen Tisch gebeugt, auf dem eine Violine lag, stand Frieder, der nun vollständig ausgewachsene, kräftig entwickelte junge Mann. Er grüßte Hanna freundlich, aber doch wie jemand, der ganz hingenommen ist von 125 seiner Beschäftigung und seinen Posten nicht verlassen kann. Wilhelm und Hanna traten näher und bemerkten nun, daß die Violine, die Frieders ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, an einer Stelle zerbrochen war. »Ist dir das begegnet?« fragte Hanna. Aber Wilhelm lachte: »Nein, Hanna, Frieder zerbricht die Geigen so wenig wie ein Vater seine Kinder. Was ist's mit der, Frieder? Scheint ein gutes Instrument, wem gehört es?«

»Kennst du sie nicht? Es ist die von Dr. Banz, der in unserem Quartett spielt,« und zu Hanna sich wendend, sagte er mit tiefer Empfindung: »Sie hatte einen wundervollen Ton!«

»Eines von den ganz wertvollen Instrumenten,« bemerkte Wilhelm, »es mag wohl tausend Mark wert sein, nicht, Frieder?« Er nickte bloß und sah auf die Violine mit einer wahren Trauermiene.

»Es scheint doch nicht viel zerbrochen,« sagte Hanna, »kann man das nicht wieder machen?«

»Doch,« sagte Frieder, »aber ob der Ton wieder ganz derselbe wird? Sieh da, wo der Span abgesplittert ist, da innen liegt die Seele, und die ist verletzt.«

Hanna sah teilnehmend auf das Stückchen Holz, das diese hohe Bezeichnung führte.

»Hat dir Banz das Instrument gebracht?« fragte Wilhelm. »War er nicht ganz außer sich?«

»Zuerst nicht so sehr, weil er nicht wußte, daß die Stimme verletzt sei, aber man sieht es doch ganz deutlich.«

»Wie ist denn das Unglück geschehen?« fragte Hanna.

»Das hat er nicht erzählt. Oder doch, ja, ich weiß es aber nicht mehr, über diesem Anblick habe ich nicht 126 darauf gehört. Ich kann ihn fragen. Er kommt heute abend, dann bringen wir sie hinüber zu Neureuther.« Und wiederum beugte er sich über das Instrument und spähte in das Innere.

»Ich muß jetzt endlich zu Marie hinauf,« sagte Hanna. Draußen wandte sie sich zu Wilhelm: »Da wird es einem ganz traurig zumute, Frieder sieht die Geige an, wie wenn er ein schwerkrankes Menschenkind vor sich liegen hätte.«

»Ja, und das darfst du glauben, wenn sie erst bei Neureuther ist, so sieht er sich jeden Tag nach ihr um und verweilt bei ihr wie bei einer geliebten Kranken.«

»Er faßt eben alles mit dem Gemüt auf,« sagte Hanna, »das sieht man schon an seinen seelenvollen Augen, aus welcher Tiefe blicken die!«

»Es ist ein Segen, daß er jetzt endlich seiner Neigung folgen darf, ich mag es ihm gönnen, daß er bei seiner Musik angekommen ist,« sagte Wilhelm.

Eine Weile später saß Hanna traulich neben Marie in deren kleinem Stübchen und die beiden arbeiteten zusammen. Maries ruhiges, harmonisches Wesen tat Hanna allezeit gut. Mit feinem weiblichem Takt verstand sie die junge Frau auch da, wo sie keine eigene Erfahrung hatte, und Hanna vertraute ihr alles an. Nur das, was sie heute dunkel empfunden hatte, mochte sie auch ihr gegenüber nicht aussprechen. Niemand, der Pfäffling hieß, hätte sie darin verstehen können.

Die beiden saßen beisammen, bis es dunkel wurde, dann legten sie die Arbeit beiseite, standen gemütlich plaudernd am Fenster und sahen Karl auf das Haus zukommen und ihnen zunicken. »Karl holt mich ab,« 127 sagte Hanna, »wir möchten noch einen kleinen Gang miteinander machen, der Abend ist so schön!« Es war ihr aber nicht nur um den schönen Abend zu tun, sie hatte das Bedürfnis, den inneren Zwiespalt zu lösen durch ein trautes Beisammensein mit ihrem Manne.

Es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis Karl herauf kam, denn er war da und dort einem der Geschwister begegnet und hatte mit jedem geplaudert.

»Hanna wartet schon lange auf dich,« sagte Marie, als er in ihr Zimmer trat, »ihr wollt ja noch miteinander gehen.«

»Ja,« entgegnete Karl, »wo ist denn die Mutter, ich will ihr nur schnell Guten Abend sagen.«

»Ihr eßt ja heute bei uns zu Abend,« sagte Marie, »halte dich doch lieber nicht mehr auf, es wird schon dunkel,« und da er trotzdem rasch noch nach dem Wohnzimmer ging, bemerkte sie: »Er bringt es nicht über sich, die Mutter nicht zu begrüßen.« Als er länger verweilte, folgten ihm die beiden und fanden Frau Pfäffling zum Ausgehen bereit.

»Die Mutter geht mit,« rief Karl den Eintretenden entgegen, »sie sieht ein, daß sie auch noch ein wenig in die frische Luft muß.« So wandelten sie zu dreien durch den stillen Herbstabend und plauderten traulich über dies und jenes, und Hanna dachte bei sich, daß diese beiden Menschen ihr die liebsten auf der Welt seien und daß sie selbst eine häßliche Kreatur sei, weil sie den einen dieser beiden Menschen lieber ganz allein für sich gehabt hätte.

Eine Stunde später saß die ganze Familie zum Essen beisammen und auch Hanna war in fröhlicher 128 Stimmung, denn sie saß neben dem Direktor, der immer das Heitere in ihr anzuregen verstand. Ihm gegenüber hatte sie auch nie die Empfindung, die sie sonst manchmal beschlich, daß ihre Hausfrauenmängel nachsichtig mit dem Mantel der Liebe zugedeckt wurden. Er merkte gar nichts von diesen Mängeln und verehrte in ihr noch immer die frische, fröhliche Münchner Künstlerin; er war's auch, der ihr von Zeit zu Zeit brachte, was sie sich als solide Hausfrau längst nicht mehr gestattete: ein Päckchen Zigaretten. 129

 


 


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