Agnes Sapper
Werden und Wachsen
Agnes Sapper

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Erstes Kapitel.

Wer den Bürgermeister von Marstadt kannte, der mußte sich wundern, daß dieser gesetzte Herr in seinen späteren Jahren einer alten Gewohnheit untreu wurde. So lange man ihn kannte, war er mittags den nächsten Weg vom Rathaus nach seinem eigenen Haus gegangen. Aber seit geraumer Zeit schlug er den Weg durch die Wagnerstraße ein, und das war ein Umweg, ein ganz unnötiger, denn er hatte dort nichts zu tun. Es erging ihm aber wie einem Gartenbesitzer, der ein junges Bäumchen gepflanzt hat, das vor andern herrlich gedeiht. Immer wieder fühlt er sich hingezogen, um es zu beschauen und sich zu freuen, daß es jedes Jahr mehr Blüten treibt und reichlicher Früchte trägt. So mußte der Bürgermeister, einem inneren Drang folgend, durch die Wagnerstraße gehen, seitdem dort auf sein Betreiben die neue Musikschule erbaut war. 8 Wie Blüten eines Lieblingsbaumes erschienen ihm die mit jedem Jahr zahlreicher werdenden Musikschüler, die durch das stattliche Sandsteintor aus und ein gingen, ihm mit ihren Musikmappen und Violinen unterm Arm begegneten, und wie Früchte des Baumes erfreuten ihn die Konzerte, die der Stadt bei allen Freunden edler Musik zum Ruhme gereichten. Ja, dies Werk war ihm geglückt, über Erwarten, und er wußte, daß er dieses Gedeihen dem Direktor verdankte, den er für die junge Anstalt gefunden hatte. Bei dem Gedanken an diesen ging ein heiteres Lächeln über das Angesicht des Bürgermeisters, während er auch heute wieder durch die Wagnerstraße wanderte. Ja, dieser Direktor, dieser Pfäffling, war die Seele des Ganzen. Was hatte dieser rührige Mann geschafft, um die neugegründete Anstalt in die Höhe zu bringen! Nicht aus Ehrgeiz hatte er es getan, sondern weil er gar nicht anders konnte. Sein lebhaftes Wesen, seine fabelhafte Rührigkeit trieben ihn zu unermüdlicher Tätigkeit, seine fröhliche Zuversicht hatte jeglichen Zweifel besiegt, der anfangs der neuen Musikschule entgegengetreten war, hatte alle Lehrkräfte mit fortgerissen und die Sache in Fluß gebracht.

In diesen Gedanken war der Bürgermeister schon an der Musikschule und an dem Garten, der das Gebäude freundlich umgab, vorbeigeschritten, als er von ferne einen hochgewachsenen, schlanken jungen Mann auf sich zukommen sah, der ihm wiederum ein Lächeln entlockte. »Ganz das Konterfei seines Vaters ist dieser Wilhelm Pfäffling,« sagte sich der Bürgermeister, »ebenso lang und hager, und auch bei ihm geht's 9 immer prestissimo, obwohl kein Mensch weiß, warum er's so eilig hat, dieser junge Student – und immer vergnügt,« fügte er bei sich selbst hinzu, als Wilhelm Pfäffling an ihm vorbeigekommen war und ihm fröhlichen Gruß geboten hatte. Der alte Herr ging gemächlich weiter auf der schattigen Seite der Straße, denn es war ein heißer Julitag. Von ferne tauchte wieder einer der Nachkommen des Herrn Pfäffling auf – er kannte sie alle gut, die vier Söhne des Direktors. »Das ist ein anderer Schlag,« sagte sich der Bürgermeister, und er lächelte nicht, während er den etwa Sechzehnjährigen auf sich zukommen sah. Langsam kam der Junge daher, schien in Gedanken verloren, hielt den Kopf mit dem noch kindlichen Gesicht und den runden Wangen ein wenig gesenkt, sah auf den Boden und wäre dicht an dem Bürgermeister vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken, wenn dieser ihn nicht mit einem energischen: »Holla, Frieder!« wachgerufen hätte.

Fast erschreckt blickte der Knabe auf, zog die Mütze und wollte vorübergehen. Doch der alte Herr trat vor ihn, musterte ihn und sagte: »Du siehst ja ganz sonntäglich gekleidet aus, wo kommst du denn her?« Aber er gab sich zugleich selbst die Antwort: »Schlußfeier im Gymnasium, nicht wahr. Das hatte ich ganz vergessen.«

Frieder nickte zustimmend, hatte nur ein »ja« darauf zu bemerken und die beiden gingen auseinander.

»Im Äußeren hat er gar nichts von seinem Vater,« sagte der alte Herr mißbilligend vor sich hin. »Klein und verträumt, aber das musikalische Talent soll der ja geerbt haben, nun, wenn er's nur auch zu etwas bringt.«

10 Inzwischen war der Bürgermeister aus der Wagnerstraße und somit aus dem Bann der Musikschule und der Familie Pfäffling gekommen und wieder anderen Gedanken zugänglich.

Wir hingegen betreten nun das große Gebäude, gehen vorüber an den Lehrzimmern des ersten Stocks, an dem Konzertsaal des zweiten und hinauf in den dritten, in dem sich die Amtswohnung des Direktors befindet. Um Mittagszeit füllen sich täglich diese Räume, und als Frieder, der jüngste der vier Pfäfflingssöhne, in das Wohnzimmer trat, war um den großen, gedeckten Eßtisch schon die Familie versammelt. Von den verschiedensten Seiten waren sie gekommen: Vater Pfäffling, der Direktor, aus den unteren Räumen der Musikschule, Wilhelm, der lange Student, aus dem naturwissenschaftlichen Kolleg, Otto von einer Felddienstübung, die er als Einjähriger mitgemacht hatte, Marie, die erwachsene Tochter, aus einem Nähkurs, und Else, die jüngste, aus der Töchterschule. So verschieden nun nach Alter und Aussehen alle diese Familienglieder waren, in einem Punkte glichen sie sich doch, alle kamen hungrig heim, und wenn wir nun die kleine, zarte Gestalt der Hausfrau ins Auge fassen, könnte uns bange werden, ob sie diesem Ansturm auch gewachsen ist. Denn nicht nur mit Verlangen nach Speise kommen sie heim, sie begehren alle auch Teilnahme für die mannigfaltigsten Erlebnisse, von Else an, die der Mutter immer Wichtiges aus der Töchterschule zu berichten hat, bis hinauf zum Vater, der seine Gattin mit dem lauten Ruf »Cäcilie« sucht, wenn er sie nicht sofort entdecken kann.

11 Aber die kleine Frau kann dem Sturm wohl trotzen. Wie sich in den etwa 25 Jahren ihrer Ehe die Anforderungen an sie vermehrt haben, so ist auch ihre Kraft gewachsen. Ja, Frau Pfäffling würde uns sagen, daß sie die schwierigste Zeit schon hinter sich habe, die Jahre, in denen ihres Mannes Einnahme nicht ausreichen wollte für die große Familie und die Haushaltung ein schweres Rechenkunststück war. Nun stand er seit Jahren der Musikschule als Direktor vor, und hatte als solcher eine große Amtswohnung und einen guten Gehalt. Auch war in dieser Zeit das letzte Glied der älteren Generation, Frau Pfäfflings Mutter, dahingegangen, und was sie treulich für ihre Kinder bewahrt und erspart hatte, kam diesen nun zugut. So war die drückende Sorge um das tägliche Brot von ihr genommen, die sieben letzten Jahre waren sieben fette gewesen im Vergleich zu den mageren vorhergegangenen. Das war der Hausfrau auch anzusehen, sie erschien nicht mehr so schmächtig wie früher, ihre anmutige Gestalt hatte sich ein wenig gerundet, zuversichtlich blickten die gütigen Augen aus dem feinen schmalen Gesicht und in dem schlichten schwarzen Haar war kein grauer Schimmer zu entdecken.

In dem Augenblick, als Frieder in das Wohnzimmer trat, war von ihm die Rede gewesen und alle Blicke wandten sich dem Jungen zu. »Da kommt er ja mit seinem Zeugnis!« rief ihm der Vater fröhlich entgegen und streckte die Hand nach dem Papier aus, das Frieders Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst enthielt. »Nun hast du schon etwas Wertvolles erreicht,« sagte Frau Pfäffling liebevoll, und ihre 12 Worte riefen einen glücklichen Ausdruck auf ihres Sohnes Gesicht hervor. Auch die Brüder freuten sich über diesen Erfolg und blickten, neben dem Vater stehend, in das Papier, das ein gutes Zeugnis enthielt. Es war ihnen verwunderlich, daß Frieder, den sie immer noch als Kind betrachteten, es auch schon so weit gebracht hatte. Während dessen nahm Marie, die neunzehnjährige, rasch aus dem Blumenstrauß, der den Tisch zierte, einen grünen Zweig und legte ihn um Frieders Teller, indem sie leise zur jüngeren Schwester sagte: »Das gilt als Lorbeerzweig«.

Als sie sich nun aber alle an den Tisch drängten und jeder seinen gewohnten Platz aufsuchte, streifte Frieder, der Gefeierte, achtlos mit dem Ärmel den Zweig, daß er zu Boden fiel. »Frieder!« rief Marie ein wenig gekränkt, und Else, die jüngste, hob lachend den Zweig auf und rief: »Du, das ist ja ein Lorbeer!«

»Ei, ei, wer wird seinen Lorbeer mit Füßen treten! Wirst du das später auch tun, wenn –« der Direktor unterbrach sich.

»Wenn du einmal Geigenkönig bist,« vollendete Wilhelm. Frieder sagte entschuldigend: »Ich habe gar nicht gedacht, daß der Zweig mich angeht, und daß man überhaupt etwas daraus macht, alle in meiner Klasse haben das Zeugnis bekommen.« Es schien ihm gerade recht zu sein, als die Aufmerksamkeit nun von ihm abgelenkt wurde durch das Mädchen, das eben das Essen auftrug. Das kleine Dienstmädchen war ihnen noch eine neue Erscheinung. Bisher hatte Walburg, die alte getreue, aber fast taube Dienerin, alles allein besorgt, und es wäre vielleicht noch lange so 13 geblieben,wenn nicht in der Direktorswohnung ein Fernsprecher eingerichtet worden wäre. Als dies vor einigen Wochen geschah, stand Walburg mit mißtrauischem Blick dabei. Für Neuerungen war sie nicht eingenommen, denn sie witterte in einer jeden Gefahr. So lange alles im alten Geleise ging, konnte sie ihrer Arbeit genügen, aber bei jeder Änderung trat ihr Gebrechen störend zutage und Walburg bangte seit Jahren, daß sie als dienstunfähig erklärt würde. Bald erkannte sie den Fernsprecher als die schlimmste aller Neuerungen. Sie sah, wie ein Familienglied um das andere die Hörrohre an das Ohr hielt und offenbar etwas hörte. Am späten Abend hielt auch sie heimlich die Leitung an das Ohr, als aber nicht der geringste Laut wahrnehmbar wurde, ließ sie den Griff mutlos fallen und warf dem geheimnisvollen Kasten einen Blick zu wie dem schlimmsten persönlichen Feind. Dabei bemerkte sie ein wenig Staub, entfernte ihn pflichtgetreu mit dem Wischtuch und dachte als gute Christin an das Gebot: liebet eure Feinde.

Nach einer schlaflosen Nacht erklärte Walburg ihrer Frau in wenig Worten, die nicht ahnen ließen, wie schwer ihr der Entschluß geworden, sie wisse jetzt, daß sie nichts mehr tauge und wolle gehen. »Wohin gehen?« rief ihr Frau Pfäffling ins Ohr. Darauf wußte Walburg freilich keine Antwort. Es gab nun Familienberatung. Sie waren alle einig, daß die Schwerhörigkeit unbequem sei, aber auch alle viel zu gutmütig, um die Heimatlose ziehen zu lassen.

So reifte der Entschluß, der Altbewährten eine kleine Gehilfin zu geben. Zwei halbe konnten ja ein 14 ganzes machen. Mit Eifer ging Walburg auf diesen Gedanken ein und brachte ihr Schwesterkind Resi in Vorschlag. So war die vierzehnjährige ins Haus gekommen.

Heute hatte Walburg dem kleinen Mägdlein zum erstenmal anvertraut, die große Supppenschüssel aufzutragen, und darum wandten sich nun alle Blicke ihr zu, als sie sich noch ungewandt und ängstlich dieser Aufgabe entledigte. Sodann trat sie zur Hausfrau und sagte in dem artigen Ton, den die gestrenge Walburg ihr beigebracht: »Herr Karl hat telephoniert, er würde heute abend ankommen.«

»Heute schon!« erklang es vielstimmig und fröhlich aus dem Familienkreis. Karl, der Philologe, war der älteste, der einzige, der sein Studium vollendet hatte und nun als Aushilfslehrer tätig war. Er kam als Feriengast. »Dann sind wir wieder alle Sechs beisammen,« rief Else vergnügt und alle empfanden wie sie; nur über Marie kam plötzlich eine wehmütige Stimmung. »Alle Sechs,« dachte sie, »wir sollten sieben sein.« Vor einigen Jahren war ihre Zwillingsschwester Anna gestorben, mit der sie sich vollständig eins gefühlt hatte. Wie eine leise Schwermut lag diese Erinnerung über dem jungen Mädchen. Sie konnte sich nicht sogleich wieder an dem fröhlichen Tischgespräch beteiligen.

Und auch Frieder schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Er sah ein wenig träumerisch und wie in Gedanken verloren aus während der ganzen Mahlzeit, und nicht so glücklich wie einer, der eben sein Schuljahr gut abgeschlossen hat.

15 Lebhaft und frisch wie ein Junger stand nun der Direktor auf. »Komm, Frieder,« sagte er, »wir wollen dein Zeugnis einschließen, das ist eine wertvolle Urkunde.« Vater und Sohn gingen über den langen Gang, an dessen Ende des Direktors Zimmer lag; der Vater mit langen Schritten munter voran, Frieder ihm nach, langsam und bedenklich. Während der Direktor den Schreibtisch aufschloß und noch einmal das Zeugnis überlas, sagte Frieder in der langsamen Art, durch die er sich von der Pfäfflingschen Lebhaftigkeit unterschied: »Fünf aus meiner Klasse treten jetzt aus dem Gymnasium aus und ich bin der sechste.« Herr Pfäffling war dermaßen von dieser ruhig und bestimmt ausgesprochenen Mitteilung seines Jüngsten überrascht, daß sie ihm wie ein Spaß erschien, über den er lachte und bemerkte: »Das ist ja für mich eine überraschende Neuigkeit!« Als er aber den Blick seines Kindes ganz ernsthaft auf sich gerichtet sah, sagte er in anderem Ton: »Du kannst doch nicht nur so erklären: ich trete aus, wie hast du denn das gemeint?« Frieder wurde verlegen. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich wohl nicht passend ausgedrückt hatte. »Vater,« sagte er, »ich möchte dich bitten, daß du mich austreten läßt. Ulrich geht, er wird Kaufmann, und ich möchte jetzt zur Musik. Du hast es mir schon voriges Jahr versprochen.«

»Nein, Frieder, das habe ich gewiß nicht versprochen, es wäre ja auch Unsinn.«

»Ich weiß noch, wie du gesagt hast voriges Jahr: wenn ich erst die Berechtigung zum Einjährigen habe, wollten wir weiter sehen.«

16 »Ja, ja, weiter sehen! Aber wenn ich nun weiter sehe, dann ist's mir ganz klar, daß es das Beste für dich ist, noch in der Schule zu bleiben. Warum denn auch nicht? Es fällt dir ja gar nicht schwer, deine Zeugnisse sind ordentlich, Musik hast du immer nebenbei treiben können und bist darin weiter als die meisten deines Alters. Hingegen fehlt es dir noch ganz und gar an allgemeiner Bildung.«

»Aber ich möchte jetzt ganz zur Musik.«

»Frieder, du bist noch so jung, in deinem Alter kann man nicht bestimmt sagen, welchen Beruf man ergreifen will, und wenn du jetzt schon aus der Schule trittst, ist dir vieles für alle Zeiten verschlossen, das kann dich später reuen.«

»Mich reut das nie.«

Herr Pfäffling ging hin und her und blieb endlich vor Frieder stehen. »Wie stellst du dir eigentlich deinen Musikberuf vor? Denkst du als Violinspieler Konzerte zu geben oder gefällt dir der Lehrberuf oder meinst du Kapellmeister zu werden? Was lockt dich?«

»Von dem allen lockt mich nichts, ich habe mich auch noch nie darüber besonnen, ich will nichts als eben die Musik.«

»Nun siehst du, wenn einer noch gar nicht über seine Zukunft nachgedacht hat, kann er auch noch nicht darüber bestimmen. Bleibe du nur noch in der Schule, du bist noch zu jung.«

»Wenn Ulrich geht, ist's gar nicht mehr schön für mich.«

»Ach was, es gibt noch mehr nette Kameraden in deiner Klasse.«

17 »Die sind so anders.«

Der Direktor wurde ungeduldig. »Das alles sind keine Gründe, die in Betracht kommen können,« sagte er, ging an sein Pult und begann zu arbeiten. Aber Frieder blieb wie angewurzelt stehen.

»Nun, wie ist's jetzt?« fragte nach einer Weile der Vater. »Hast du noch etwas zu bemerken?«

»Ich möchte jetzt schon zur Musik.«

»Nun ja, das hast du vorhin schon gesagt. Sonst weißt du nichts?« Frieder schwieg. »Rede, oder wenn du nichts mehr zu sagen hast, dann gehe hinüber.« Aber Frieder sagte nichts, weil ihm nichts anderes einfiel, als: »Ich möchte zur Musik,« und das wollte der Vater nicht mehr hören. Aber hinausgehen mochte er auch nicht. So schwieg er und rührte sich nicht von der Stelle. Herr Pfäffling wurde ungeduldig. »Wenn du nicht gehst,« sagte er, »dann gehe ich,« und war schon an der Türe. Jetzt rührte sich Frieder. »Bleib nur Vater,« bat er, »ich gehe schon.« Dicke Tränen traten in seine Augen und nicht wie ein trotziger Bursche, vielmehr wie ein Kind in großer Betrübnis verließ er langsamen Schrittes das Zimmer.

Ein paar Minuten wanderte der Direktor erregt in seinem Zimmer hin und her, ein paar Minuten stand Frieder am Fenster des Ganges und blickte in den Garten, der still in der sommerlichen Mittagsglut lag. Es kam von dort kein Trost für seinen Kummer, es kam auch für Herrn Pfäffling keine Befriedigung durch das Hin- und Herwandern, so verließ ein jeder seinen Posten. Langsam ging der Junge den Gang entlang zum Wohnzimmer, um dort die Mutter 18 aufzusuchen. In derselben Absicht ging der Direktor durch die Räume, die sein Zimmer mit dem Wohnzimmer verbanden. So machten Vater und Sohn im gleichen Augenblick je eine der Wohnzimmertüren auf, sahen mit dem ersten Blick, daß Frau Pfäffling nicht da war, bemerkten sich gegenseitig, vermieden die Begegnung und verschwanden wieder.

Else, die allein im Zimmer weilte, sah erstaunt auf und lachte belustigt über die rasch verschwundenen Gestalten. Aber die eine derselben tauchte bald wieder auf. »Wo ist die Mutter?« fragte Herr Pfäffling.

»Im Besuchzimmer, Fräulein Scheffel ist bei ihr.«

»Fräulein Scheffel, schon wieder? sage es mir gleich, wenn sie geht.« Der Direktor ging, statt dessen kam Frieder. »Wo ist die Mutter?« fragte auch er, aber mit trostlosem Gesicht. »Was gibt's denn, Frieder?« fragte Else dagegen, »die Mutter hat Besuch.«

»Ich kann jetzt nicht davon reden. Sage nur der Mutter, ich sei fortgegangen mit meinem Horn.« Und er verließ das Zimmer.

Herrn Pfäfflings stärkste Seite war das Warten nicht. Als Fräulein Scheffels Besuch noch einige Minuten gedauert hatte, trat er in das Besuchzimmer, und auf die Frage des Fräuleins, ob sie nicht störe, sagte er offenherzig: »Ich hätte allerdings gerne etwas Wichtiges mit meiner Frau besprochen.« Daraufhin empfahl sich der Besuch schleunigst.

»Cäcilie,« begann der Direktor, sobald sie allein waren, »wußtest du denn, daß Frieder durchaus jetzt schon aus dem Gymnasium austreten will?«

19 »Er hatte ja schon voriges Jahr diesen Wunsch. Hast du deshalb Fräulein Scheffel fortgeschickt? Wir haben doch noch die ganzen langen Ferien, um das zu beraten!«

»Freilich, aber die Sache treibt mich um. Er will nicht einsehen, daß sein Wunsch töricht ist, will nicht nachgeben und macht ein so trostloses Gesicht. Ich kann es nicht aushalten, wenn so etwas zwischen mir und einem der Kinder steht. Sieh doch, daß du ihn zur Einsicht bringst.«

»Es ist so wunderlich,« sagte die Mutter nachdenklich, »gewöhnlich ist Frieder von allen der gutmütigste, tut den andern alles zuliebe, ja sogar Else macht mit ihm, was sie will. Aber plötzlich, wenn es sich um wichtigere Dinge handelt, hat er einen Willen, ja einen Starrsinn, daß man ihm gar nicht beikommt. Kann man ihn denn wirklich nicht jetzt schon austreten und zu seiner geliebten Musik gehen lassen?«

»Freilich kann man, aber es ist eben unvernünftig und wir haben doch nie der Unvernunft nachgegeben. Frieder verlangt etwas, dessen Folgen er nicht beurteilen kann, und ich meine doch, der fünfzigjährige Vater hat seine Lebenserfahrung dazu, daß er sie dem Jungen zugute kommen läßt.«

»Ja, aber bist du auch sicher, daß es besser ist?«

»Cäcilie, meinen Hauptgrund konnte ich Frieder nicht sagen. Sieh, wenn ich ihn mit anderen Musikschülern seines Alters vergleiche, so sehe ich, wie eigentümlich er ist. Die anderen sind ehrgeizig und wollen bei Schülerkonzerten ihr Bestes leisten, oder sie sind befangen und aufgeregt. Alle aber sind erfüllt davon, 20 wie wichtig es ist, ob ihr Streben Erfolg hat, ob sie gute Aussichten für die Zukunft haben. Für Frieder gibt es das alles gar nicht. Er empfindet es nur als eine unbequeme Störung, ihn freut seine Musik nur, wenn er allein mit ihr ist. Mit dieser wunderlichen Art kann ich ihn mir in keinem Musikerberuf vorstellen, denn da ist man auf den Beifall der Menschen angewiesen. Viele junge Musiker sah ich scheitern, und deshalb möchte ich meinem Kinde noch weitere Berufsmöglichkeiten sichern.«

»Ja, ja, ich will mit ihm reden, er wird es einsehen und nachgeben. Wenn die erste Enttäuschung überwunden ist, wird er sich mit dieser Wartezeit schon aussöhnen können.«

»Ja, sprich mit ihm, noch ehe Karl ankommt, damit er bald wieder ein fröhliches Gesicht macht.«

Aber Frau Pfäffling suchte vergeblich nach Frieder. Er war mit seinem Waldhorn vor die Stadt hinausgegangen bis dahin, wo ein kleiner Pfad seitab von der Straße führte, zwischen Feldern und Wiesen. Es war heiß und schattenlos dort, aber eben deshalb war weit und breit kein Mensch zu sehen als der eine, blutjunge, der alle anderen meiden wollte, den der Kummer hinaustrieb in die Einsamkeit. Frieders Leidenschaft war die Musik, so lange er zurückdenken konnte, und sich ihr ganz und voll hinzugeben seit Jahren sein Streben. Nun sollte er darauf noch länger warten, Jahr und Tag? Es schien ihm grenzenlos lang. Wohl waren ihm die letzten Schuljahre verschönt worden durch die Freundschaft mit Ulrich Scheffel, aber Ulrich ging und er sollte bleiben!

21 Die Gründe, die ihm sein Vater dafür angegeben hatte, erwog er nicht, vielleicht hätte er sie kaum mehr sagen können. Überlegung war gar nicht dabei, nur Gefühl, heißes Verlangen, tiefe Traurigkeit. Der junge Musiker nahm sein Horn und blies, und als ihm die altbekannten Lieder nicht zum Ausdruck brachten, was sein Herz bewegte, suchte er Text und Melodie nach seinem Sinn, suchte unermüdlich, bis ihm beides kam. Aber es half ihm doch nicht über das Leid hinweg, es weckte nur das Verlangen, so ein Lied nach dem andern zu ersinnen, und nun sollte er in die Schule gehen wie bisher, noch dazu ohne den Freund, der an seiner Seite gesessen war und ihn immer verstanden hatte! Nein, es war unmöglich! Er hatte das nur dem Vater nicht deutlich machen können. Den Menschen gegenüber war er immer unbeholfen im Ausdruck. Aber jetzt, während er weiter wanderte in der Feldeinsamkeit, wie beredt strömten ihm da die Worte über die Lippen! Er schilderte dem Vater, wie die Musik sein Leben sei, wie ein unwiderstehlicher Drang ihn dazu treibe und es vergeblich sei, dagegen anzukämpfen. Und dieser Vater, den er da in seiner Phantasie vor sich sah, der verstand ihn, der wurde durch seine glühenden Worte überzeugt und sprach zu ihm: »Folge dem Geist, der dich treibt.« Es mußte ihm gelingen, noch heute wollte er mit den Eltern reden.

In diesen Gedanken schlug Frieder den Heimweg ein und wunderte sich, wie weit er gewandert war, ohne darauf zu achten. Zu Hause war er überrascht, seinen beiden Schwestern auf der Treppe zu begegnen. Marie und Else hatten große, weiße Gartenhüte 22 auf, und was sie in den Händen trugen, schien auch für den Garten bestimmt, die bunte Teedecke, Tassen und Kannen und ein Korb mit Gebäck. Munter und geschäftig sprangen die beiden Mädchen die Treppe herunter und lachten über Frieders erstaunte Frage, ob denn Besuch komme.

»Frieder, du weißt doch, daß Karl kommt!« rief Else.

»Ach ja, freilich, aber ich meinte, er käme erst gegen Abend.«

»Nun ja, es ist auch schon halb sieben Uhr, um sieben kommt der Zug, der Vater und Wilhelm sind zur Bahn gegangen, sie können bald kommen!«

»Hilf uns ein wenig,« sagte die ältere Schwester, »es fehlen noch Stühle, und dann –«

Sie hatten noch dies und jenes zu wünschen, Frieder kam ihnen gerade recht.

Es war ein besonderes Ferienvergnügen, die Mahlzeiten im Garten zu halten. Während des Schuljahrs ging es zu belebt zu im großen Musikschulgebäude, man mochte nicht mit Tellern und Tassen treppauf und treppab laufen, Musiklehrern und Schülern entgegen. Aber in den Ferien war die Familie Pfäffling Herr im Hause und konnte auch den Garten ungestört benützen. Im dichten Schatten der Bäume wurde jetzt der Tisch für die große Familie gedeckt, und die Fröhlichkeit, mit der die Schwestern das besorgten, galt nicht nur dem erwarteten Bruder, sie war Ferienstimmung, Sommerfreude. Frieder wurde unversehens in die fröhliche Geschäftigkeit mit hineingezogen und mußte seine Lebensfrage beiseite schieben. 23 Dienstfertig ging er zu holen, was Marie und Else begehrten, und als Frau Pfäffling ihn in solcher Tätigkeit traf, sagte sie sich beruhigt: »Er hat sich schon zurecht gefunden, ich kann eine ruhigere Zeit abwarten, um mit ihm zu reden.« Sie ging an ihm, der mit zwei Stühlen beladen war, vorüber. »So ist's recht, Frieder,« sagte sie, ihm herzlich zunickend. Ihr Lob galt seiner Selbstbeherrschung, er aber bezog es auf die Sorgfalt, mit der er die Stühle behandelte und das Treppenhaus schonte.

Eine Weile später hatte sich Else ihren Frieder geholt, daß er mit ihr unter dem Haustor den Erwarteten entgegensehe. Einträchtig, wie immer, standen sie beisammen, der sechzehnjährige Junge und die zwölfjährige Schwester. Sie schlank und beweglich, ein anmutiges Geschöpfchen, er eine etwas gedrungene Gestalt, den Kopf immer etwas seitwärts geneigt. Die ausdrucksvollen Gesichtszüge mit den dunklen, träumerischen Augen ließen ahnen, daß dies Menschenkind anders dachte und fühlte als die große Menge.

Ungeduldig trippelte Else unter der großen Haustüre der Musikschule auf und ab und sah die Wagnerstraße entlang, bis sie endlich in der Ferne die Erwarteten entdeckte: den Vater zwischen den beiden Brüdern. »Wir springen ihnen entgegen, wenn ich auch nur meinen alten Gartenhut aufhabe,« rief Else, aber nach ein paar Schritten hielt sie inne. »Nein, es kommt ja ein fremder Herr mit ihnen, wie schade, der wird hoffentlich nicht mit zu uns kommen, ich gehe in den Garten.« So ging Frieder allein dem Bruder entgegen, der ihn herzlich begrüßte. »Das ist mein 24 jüngster Bruder,« stellte Karl ihn dem Reisegefährten vor, »unser Frieder, Ulrichs bester Freund. Frieder, das ist Herr Scheffel, ein Vetter deines getreuen Ulrich. Aber wo ist denn Else hin verschwunden? Warum hat sie die Flucht ergriffen?«

»Daran werde ich schuld sein,« entgegnete der junge Mann, »ich will jetzt auch gar nicht stören, ich empfehle mich, Herr Direktor.«

»Vielleicht kommen Sie einmal zu uns herüber,« sagte dieser, »an einem schönen Abend in den Garten. Wie lange bleiben Sie hier?«

»Nur zwei Tage, aber ich komme gerne einmal, ehe ich in die Ferne ziehe.« Mit freundlichem Gruß verabschiedete man sich an der Musikschule. »Es ist recht, daß du nicht gleich am ersten Abend einen Fremden mitgebracht hast,« sagte Frieder und nahm die Hand des großen Bruders. Herr Pfäffling beobachtete seinen Frieder. Er erschien ihm fröhlich und unbefangen, die Mutter hatte wohl schon mit ihm gesprochen und alles zurecht gebracht.

»Herr Scheffel ist im Begriff, nach Afrika zu gehen,. dort wird er Farmer,« erzählte Karl dem jüngeren Bruder, während der Direktor mit Wilhelm vorausging.

Bald saß die Familie Pfäffling vollzählig im Garten beisammen und genoß den köstlichen Sommerabend. Nach längerer Trennung saß Karl zum erstenmal wieder unter den Geschwistern, und es fiel allen auf, daß er kein Jüngling mehr war. Von jeher hatte er eine ruhige, gesetzte Art gehabt, und nun, da er etwas in die Breite ging und einen Vollbart trug, 25 konnte man ihn wohl fünf Jahre älter schätzen als Wilhelm, den fröhlichen Burschenschafter, von dem ihn doch nur zwei Jahre trennten. Die Geschwister sahen mit einem gewissen Stolz auf seine männliche Erscheinung. Auch hatte es Karl schon zu einer selbständigen Stellung gebracht. Für den Direktor und seine Frau war das ein Lebensabschnitt. »Von deiner Geburt bis zu deinem Examen ist unsere Aufgabe immer größer geworden,« sagte Herr Pfäffling zu seinem Ältesten. »Immer mehr Kinder, immer mehr Studium zu bestreiten, immer mehr Weisheit einzukaufen für all die heranwachsende Jugend – von jetzt an wird es immer leichter, einer ist fertig, Gott Lob und Dank! Jetzt stoßen wir an auf unseren Großen, ruft mit: ›Die Mutter soll leben, hoch!‹« Sie lachten alle über diese unvermutete Wendung. Fröhlich klangen die Gläser zusammen.

Frau Pfäffling saß neben ihrem Mann, ihre Hand in der seinen. Still lehnte sie sich zurück in ihrem Sessel und sah mit innigem Glück auf ihre Lieben. Die Geschwister sprachen lebhaft miteinander und der Direktor neigte sich zu seiner Frau: »Cäcilie, das sind Höhepunkte im Leben, die muß man dankbar genießen; wie schnell kommt es oft anders!« Während er so sprach, kam schon »das andere«. Karl hatte ganz harmlos den jüngsten Bruder gefragt: »Und du kommst jetzt in die Klasse von Professor Weidler?« Darauf erwiderte Frieder: »Nein, ich gehe zur Musik.« Herr Pfäffling hörte diese Worte, die ihm wie offene Widersetzlichkeit klangen, der fröhliche Ausdruck wich aus seinem Gesicht, ein heftiges Wort lag 26 ihm auf den Lippen. Aber in demselben Augenblick fühlte er einen freundlichen Druck der Hand, die ihn immer zu beruhigen verstand. Frau Pfäffling stand auf: »Gehen wir noch ein wenig durch den Garten,« sagte sie, »komm, Frieder!« und während alle sich erhoben und die Geschwister erstaunt Frieders Äußerung besprachen, nahm die Mutter ihren Jüngsten mit sich nach der vorderen Seite des Gartens und wanderte allein mit ihm durch die stillen Wege. »Frieder,« begann sie, »wie kannst du sagen: ›Ich gehe zur Musik‹, wenn es der Vater nicht haben will, ich verstehe dich gar nicht!«

»Aber es ist ganz gewiß besser, wenn ich jetzt aus der Schule trete. Ulrich geht jetzt auch –« Frau Pfäffling unterbrach ihn.

»Davon können wir nachher reden. Zuerst möchte ich verstehen, warum du sagst: ›so wird's‹, wenn doch der Vater gesagt hat, es soll anders werden. Wenn du dich so zu uns stellst, dann ist es nicht mehr wie zwischen Kind und Eltern,« und sie entzog ihm die Hand, die er nach lieber Gewohnheit gefaßt hielt. »Mutter!« rief Frieder, und ein ehrliches Erschrecken klang aus seinen Worten, »so meine ich's ja gar nicht, gib mir doch deine Hand wieder!«

»Frieder, meine Hand ist nicht ohne des Vaters Hand zu denken, und was ihn kränkt, das kränkt auch mich.«

»Ich wollte den Vater nicht kränken, es ist ganz anders herausgekommen, als ich gemeint habe. Gewiß, Mutter, es ist mir leid.«

»Dann ist's gut, ich will es auch dem Vater sagen.«

27 Die Hände fanden sich wieder zusammen, Mutter und Sohn wandelten hin und her, und in der trauten Abendstunde kamen dem spröden Jungen Worte über die Lippen, die seine glühende Liebe zur Musik offenbarten, sein heißes Verlangen, sich ihr ganz hinzugeben. Die Mutter fühlte, wie schwer es einer solchen Natur fallen mußte, nach nüchternen, verständigen Erwägungen zu handeln, und der junge Mensch tat ihr leid.

Er schwieg nun und sie kämpfte mit sich selbst, denn ihr Herz trieb sie, nachzugeben, und ihr Verstand verwehrte es.

In diesem Zwiespalt wandte sie sich an das, was sie als das Beste in ihrem Jungen kannte, an sein Gewissen. »Frieder, du bist immer wahr gewesen, sei es auch jetzt gegen dich und mich. Sage mir, glaubst du wirklich, der Vater irrt sich, wenn er es für besser hält, daß du noch in die Schule gehst? Glaubst du, daß vernünftige Gründe dich bestimmen? Ist es nicht nur die leidenschaftliche Liebe zur Musik, die dich hinreißt?«

Frieder blieb stehen. Er fühlte, daß mit dieser Frage sein Schicksal in seine eigene Hand gelegt wurde. Gewann er die Mutter für seinen Wunsch, so mochte sie wohl den Vater gewinnen. Aber die Gewissensfrage! Er blieb lange die Antwort schuldig, und je länger es währte, um so düsterer wurde sein Gesicht. Dann kam es in abgerissenen Sätzen und rauhem Ton heraus: »Freilich ist's die Leidenschaft zur Musik. Nichts weiter. Ich wollte, sie wäre nicht mit mir auf die Welt gekommen. Sie macht mich nur 28 unglücklich. Aber ich kann ja unglücklich sein. Ich bleibe in der Schule. Sage du es dem Vater. Ich kann jetzt nicht zu den andern gehen. Ich lasse ihnen gute Nacht sagen. Gute Nacht, Mutter.«

Dies letzte Wort klang weich und liebevoll, aber so plötzlich wandte er sich von der Mutter, daß sie ihn nicht zurückhalten konnte. Seine Schritte verhallten in der Richtung nach dem Hause.

Die übrige Familie mochte Frieders Weggehen bemerkt haben, denn Else kam zur Mutter. »Der Vater wartet schon lange so ungeduldig auf dich,« sagte sie.

»Ich komme gleich; gehe nur und sage, ich komme im Augenblick nach.« Verwundert gehorchte Else. Mit Macht zog es die Mutter zu dem Kinde, das so traurig von ihr gegangen war, sie hätte ihm gerne nur noch einen Kuß gegeben, ein Wort des Trostes gesagt. Aber er war so schnell von ihr gegangen, nun mußte er sich allein durchkämpfen.

Sie hatte erreicht, was sie gewollt, und doch kam sie schweren Herzens ihrem Manne entgegen. »Hat er nun nachgegeben? Sieht er es ein?« fragte dieser lebhaft.

»Ja, er hat nachgegeben und er läßt dir gute Nacht wünschen. Aber er fühlt sich jetzt tief unglücklich und tut mir so leid.«

»Wir werden es uns noch einmal recht ernstlich überlegen, wir haben ja noch Wochen vor uns. Jedenfalls durfte Frieder nicht in der gewalttätigen Art, wie er es heute abend tat, seinen Willen durchsetzen.«

»Nein, das sieht er jetzt selbst ein.«

29 »Dann ist alles wieder gut. Man darf einem jungen Menschen auch Schweres zumuten, wenn man die Kraft fühlt, ihm durchzuhelfen. Du bringst das schon zustande, Cäcilie. Frieder ist der einzige, mit dem ich manchmal nicht fertig werde, du verstehst ihn besser. Ich bin so froh, daß du ihn zurecht gebracht hast. Wenn er mir gute Nacht sagen ließ, ist alles gut.«

Liebevoll legte Herr Pfäffling den Arm um seine Frau, langsam wandelten sie zusammen durch die dunklen Gartenwege nach der Laube, aus der ihnen die Ampel entgegenleuchtete. Als aber die Gestalten der erwachsenen Söhne sichtbar wurden, löste sich Frau Pfäffling aus dem Arm ihres Mannes und sie traten nacheinander ein.

Unter der Jugend herrschte lautes Lachen und lebhaftes Gespräch, die Eltern wurden mit hineingezogen. Karl erzählte von seinen ersten Erfahrungen im Schulamt, dann kam Wilhelm zu Wort mit lustigen Studentengeschichten und endlich klangen frohe Lieder im Chor gesungen aus der Laube.

Ferienstimmung hatte alle erfaßt, auch die Mutter; nur empfand sie nebenbei einen stillen Herzenszug, nach dem Jungen zu sehen, der sich selbst aus dem fröhlichen Kreis ausgeschlossen hatte. Die Brüder hatten darauf nicht viel geachtet. Frieder war manchmal wunderlich, warum sollte er nicht zu Bett gehen, wenn er wollte! Aber Marie entfernte sich unbemerkt und verschwand in dem Hause, und als sie wiederkam, ging sie an der Mutter vorüber und sagte nur so nebenbei: »Frieder schläft schon ganz gut, ich habe 30 nach ihm gesehen.« Nun erst war es auch Frau Pfäffling wieder ganz wohl zumute. Wie hatte die Tochter nur der Mutter verborgene Gedanken erraten? Sinnend ruhte Frau Pfäfflings Blick auf dem jungen Mädchen, und was sie dachte, ließe sich zusammenfassen in die Worte: »Du liebes Zukunfts-Mütterlein!« 31

 


 


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