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Im Gewitter.

Vater, darf ich mit?« »Heute nicht, ein anderes Mal!« »Aber heute ist gerade so herrliches Wetter und ich habe Vakanz, o laß mich doch mit, du hast mir schon lang versprochen, daß du mich mitnimmst, wenn du wieder nach Neudorf fährst!« »Diesmal kann's nicht sein, ich habe in drei Orten zu tun und komme erst spät nach Neudorf. Es wird Nacht, bis ich heimkomme. Lebe wohl, Frida, ein anderes Mal.« Mit diesen Worten stieg Doktor Braun in den Wagen, der vor dem Hause hielt und fuhr davon, während sein zwölfjähriges Töchterchen sehr mißvergnügt in den Garten zurück ging, aus dem sie vorhin das Anfahren des Wagens gelockt hatte.

»Natürlich: ›ein anderes Mal,‹ so heißt es immer, und nie heißt es: ›dieses Mal,‹« brummte sie verdrießlich vor sich hin und ging dann in die Gartenlaube, wo sie ihr Buch wieder zur Hand nahm, das sie vorhin hatte liegen lassen.

Aber sie hatte noch nicht viel gelesen, als eine fröhliche Kinderstimme erschallte: »Frida, Frida, wo bist du, ich muß dir etwas sagen!« Es war Fridas vierjähriges Schwesterchen, die eilig auf sie zukam. »Was willst du denn schon wieder?« fragte Frida, die noch verdrießlich war. »Du sollst heraufkommen zur Mutter, ich werde telegraphiert in der Stadt, wir müssen gleich fort, komm nur!« Damit zog die Kleine ungeduldig die große Schwester mit sich fort und hinauf zur Mutter.

»Ich weiß nicht, was Klärchen will,« sagte Frida zur Mutter, »sie schwätzt solchen Unsinn, sie soll ›telegraphiert werden,‹ sagt sie.«

Die Mutter lächelte. »Sie will sagen photographiert, und so ist es auch. Ich habe mir vorgenommen, Klärchen photographieren zu lassen und den Vater an seinem Geburtstag mit dem Bild zu überraschen.«

»Mich willst du nicht photographieren lassen?« fragte Frida. »Nein, Kind, du bist ja erst voriges Jahr photographiert worden.« »Aber ich darf doch wenigstens mit in die Stadt zum Photographen?«

»Ich würde dich gern mitnehmen, aber sieh, wir haben ja heute Wäsche, Kathrine ist den ganzen Nachmittag in der Waschküche mit der Wäscherin, und es muß doch jemand da sein, der ihnen den Kaffee hinunter bringt und gibt, was sie sonst noch brauchen; auch weißt du, daß der Vater überhaupt nicht gerne hat, wenn gar niemand zu Hause ist, der den Leuten, die etwa kommen, Auskunft geben kann. Du darfst dann ein anderes Mal mit mir in die Stadt.« »Aber Mutter, du könntest doch an einem Tag gehen, wo wir keine Wäsche haben und das Mädchen da ist.«

»Ich kann es nimmer verschieben; in der nächsten Woche ist ja schon des Vaters Geburtstag und wer weiß, ob er vorher noch einmal einen ganzen Nachmittag fortfährt, wie heute. Sei also vernünftig und denke nicht immer nur an dich, sondern daran, was für eine freudige Überraschung dem Vater das Bild der Kleinen sein wird. Hilf mir auch schnell, alles zu richten, denn ich möchte den Postwagen benützen, der um zwei Uhr in die Stadt fährt.« »Was, ihr fahrt? Klärchen kann doch gehen!« »Klärchen kann den heißen Weg nicht zweimal zu Fuß machen, auch ich bin schon so müde, weil ich heute morgen gekocht habe. Ziehe nun der Kleinen das Sonntagskleid und die besseren Stiefel an und mache sie fertig, während ich draußen alles für die Wäscherinnen hinrichte.« »Aber warum soll sie denn ihr Sonntagskleid anziehen, sie ist ja ganz ordentlich, so wie sie ist.« »Tue, was ich dir sage und widersprich nicht immer,« antwortete die Mutter ärgerlich und ging hinaus.

Frida holte das Sonntagskleid der kleinen Schwester und fing an, sie ziemlich unsanft auszukleiden. Als sie sie in das Kleidchen schlupfen ließ, blieben die Haken desselben in dem Lockenhaar der Kleinen hängen. Ungeduldig zerrte Frida daran. »Du tust mir so weh, laß mich doch,« rief die Kleine kläglich, »ich will mich lieber selber anziehen!« »Meinetwegen, so zieh dich selbst an,« sagte Frida und ließ die Kleine stehen. Diese gab sich nun alle Mühe, ihre Haare zu entwirren, und endlich gelang es ihr, aus dem Kleid wieder herauszukommen. Dann schlupfte sie aufs neue hinein, aber diesmal kam es verkehrt hin und die Ärmel hingen auf dem Boden. Hilfesuchend sah Klärchen nach der Schwester. »Frida, es geht nicht,« klagte sie. »Du hast dir ja nicht helfen lassen wollen,« sagte Frida, »nun siehe nur, wie du fertig wirst.«

Klärchen weinte. Als die Mutter nach längerer Zeit ganz angekleidet und schon mit dem Hut auf dem Kopf ins Zimmer zurückkam, fand sie Frida müßig am Fenster stehen und die kleine Schwester im Unterröckchen sich vergeblich bemühen, das umgekehrte Kleid zurecht zu bringen.

»Frida, was ist das?« fragte die Mutter vorwurfsvoll. »Ich wollte Klärchen anziehen, aber sie läßt sich nicht!« »Ja, weil mich Frida so am Haare reißt!« »Ist das die ganze Hilfe, die ich von dir habe, Frida?« fragte die Mutter vorwurfsvoll. Dann ergriff sie eilig Klärchens Kleid, um es der Kleinen anzuziehen. In diesem Augenblick aber rollte der Postwagen am Hause vorbei, der Stadt zu.

»Das war der Postwagen,« sagte Frida, die am Fenster stand. »Ja, nun können wir nicht mehr fahren! Hätte ich eine liebe fleißige Tochter gehabt, die mir schnell geholfen hätte, so wären wir noch recht gekommen,« sagte die Mutter. »Wir gehen zu Fuß, Mutter,« bat die Kleine, »ich bin ja schon einmal in die Stadt gegangen.« »Ja, aber nicht bei solcher Hitze und dann müssen wir auch wieder zu Fuß heim, denn abends geht kein Postwagen.« »Ich kann schon zweimal gehen,« versicherte das Kind. »Nun, so wollen wir's eben versuchen,« sagte endlich die Mutter; »aber dann müssen wir um so mehr eilen.«

Sie gab Frida noch genaue Anweisungen wegen der Wäscherinnen; als sie aber sah, daß Frida immer noch nicht ihre mürrische Stimmung überwunden hatte, sagte sie ganz betrübt zu ihr: »Kind, du verdirbst mir die ganze Freude an diesem Gang, wie kannst du nur so selbstsüchtig sein und bloß daran denken, daß du nun heute zu Hause bleiben mußt?« Frida antwortete nicht. Klärchen aber streckte ihr zum Abschied freundlich ihr Händchen hin und sagte: »Du darfst ja ein anderes Mal mit!«

»Ja, ja, ein anderes Mal,« sagte Frida bitter vor sich hin, als Mutter und Schwester fortgegangen waren. »Für mich heißt es immer nur ›ein anderes Mal‹. Die Kleine wird mitgenommen, sie wird geputzt und photographiert; ich aber muß wie ein Aschenbrödel daheim bleiben!«

Frida sah sich im Zimmer um – was war das für eine Unordnung! Auf dem Boden lag noch das Kleid, aus dem Klärchen herausgeschlupft war, auf dem Tisch lag das alte Schürzchen, die Schublade stand weit offen, aus der die Mutter eine frische Schürze herausgenommen hatte, da auf dem Stuhl lag der Regenmantel von der Mutter und ein Jäckchen von der Kleinen – wahrscheinlich hatte die Mutter beides in der Eile mitzunehmen vergessen. »Fällt mir nicht ein, all den Durcheinander aufzuräumen,« dachte Frida, »das kann Klärchen heute abend selbst tun.« Und sie ließ alles, wie es war, setzte sich ans Fenster und sah hinaus. Dann nahm sie ein Buch und las; aber die Stunden verstrichen ihr langsam. Endlich war es Zeit, den Wäscherinnen hinunter zu bringen, was die Mutter hingerichtet hatte.

Als sie in die Waschküche kam, sagte Kathrine zu ihr: »Wir reichen nicht mit der Seife, und nun ist die Mutter fort und hat wohl die Speisekammer zugeschlossen; woher sollen wir nun Seife nehmen?« »Die Mutter hat mir den Schlüssel übergeben,« sagte Frida, »ich kann euch Seife bringen,« und sie ging hinauf, schloß die Speisekammer auf, nahm Seife heraus und trug sie hinunter.

»Ja, ja,« sagte die Wäscherin, »jetzt hat es eben die Frau Doktor gut, weil sie schon so eine hilfreiche, große Tochter hat!«

Frida antwortete nichts, es war ihr aber bei diesem Lob ganz unbehaglich zu Mute und sie dachte, die Mutter habe wohl heute nicht das Gefühl, daß sie eine hilfreiche, große Tochter und es deshalb sehr gut habe! Als sie wieder aus der Waschküche heraufkam, stand ein Mann vor der Türe, der schon zweimal vergeblich geklingelt hatte und eben wieder fort wollte.

»Haben Sie zu meinem Vater gewollt?« fragte Frida. »Ja, ich wollte den Herrn Doktor bitten, nach meinem kranken Kind zu sehen; ist er nicht zu Hause?« »Nein,« sagte Frida, »hat es nicht Zeit bis morgen?« Der Mann schüttelte bedenklich den Kopf: »Mein Kleiner ist schwer krank, es wird doch besser sein, ich fahre in die Stadt und bitte einen andern Arzt, daß er gleich mit mir nach Neudorf kommt. Wenn es nur einer tut!«

»Sind Sie denn von Neudorf?« fragte Frida. »Ja, von Neudorf bin ich.« »Dort kommt ja mein Vater heute hin, ja er ist vielleicht schon dort,« sagte Frida, »er hat dort lange zu tun und kommt erst spät wieder heim.«

»Gott sei Dank!« rief der Mann, »das hätte ich ja gar nicht besser treffen können; ich danke für die gute Auskunft,« und nun eilte der Mann die Treppe hinunter, so schnell es nur ging, um nach Neudorf zurückzukehren. Frida aber dachte, daß es nun doch recht ärgerlich gewesen wäre, wenn der Mann niemand getroffen hätte, und je mehr sie fühlte, wie sie daheim nützlich war, umsomehr bereute sie, daß sie so unverständig verlangt hatte, mit in die Stadt gehen zu dürfen.

Als sie ins Zimmer trat, fiel ihr wieder die Unordnung auf, und unwillkürlich wurde sie rot bei dem Gedanken, daß sie aus Trotz diesen Zustand habe lassen wollen, bis die Mutter heim käme. »Nein,« dachte sie, »Mutter, du sollst nimmer sagen, ich denke nur an mich, ich will dir nun auch eine hilfreiche große Tochter sein! Du sollst nicht, wenn du müde heim kommst, erst aufräumen müssen.«

Und sie machte sich mit Eifer daran, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Die Kleidungsstücke kamen alle an ihren Platz, die Schubladen wurden geschlossen, die Stühle zurecht gerückt, bis alles nett und ordentlich aussah. Da lag nur noch der vergessene Regenmantel und das Jäckchen.

»Nun, die Mutter wird sie nicht vermissen,« dachte Frida, »es ist ja heiß, obgleich die Sonne nimmer scheint.« Dabei sah sie zum Fenster hinaus: »Ei, ei, was ziehen da für schwere Wolken auf!« Frida erschrak. »Das gibt heute noch ein Gewitter, wenn nur die Mutter und Klärchen noch glücklich vorher heim kommen.«

Es klingelte wieder. Frida ging hinaus, um zu öffnen. Es war ein Mädchen ihres Alters vor der Türe; Frida kannte sie wohl, sie wohnte ganz in der Nähe und Frida wußte, daß ihre Mutter schwer krank war. »Ist dein Vater nicht zu Hause?« fragte das Mädchen. »Nein, hast du ihn holen wollen?« »Ja, es geht so schlecht bei der Mutter, sie kann gar nimmer atmen. Der Vater hat gesagt, ich soll den Herr Doktor holen, er werde freilich nichts mehr machen können.« »O, so schlimm steht es!« sagte Frida bewegt.

Das Mädchen antwortete nicht, fing an zu weinen und zu schluchzen. Frida wußte nicht, wie sie das Mädchen trösten sollte, endlich sagte sie: »Wenn mein Vater heimkommt, sage ich es ihm augenblicklich und dann kommt er gewiß noch zu euch, wenn es noch so spät ist.« »Ich danke dir,« sagte das Mädchen und entfernte sich schluchzend.

Frida war ganz ergriffen von dem Kummer des Kindes und mußte immer an die schwerkranke Frau denken, die nimmer atmen konnte, und sie wünschte ihren Vater herbei. Dann dachte sie wieder an ihre eigene Mutter, die sicher ganz müde und matt von dem raschen Gange an dem heißen Nachmittag war und am Ende noch ins Gewitter kam, das immer drohender heraufzog. Unruhig ging Frida hin und her, die Zeit wollte auch gar nicht vergehen. Endlich klingelte es wieder. »O wenn es doch schon die Mutter wäre!« dachte Frida und ging eilig hinaus, um zu öffnen.

Nein, es war wieder dasselbe Mädchen, das schon vor einer Stunde da gewesen war. »Ich wollte dir nur sagen, du sollst deinen Vater nicht mehr bemühen, es ist schon aus bei der Mutter.«

Frida wurde ganz blaß. »Ist sie gestorben?« »Ja, gleich nachdem ich von dir heimkam. Es war schrecklich, aber jetzt sieht sie so schön und friedlich aus. Ich muß aber heim, es kommt ein Gewitter und meine Kleinen fürchten sich!« Das Mädchen ging. Frida dachte, wie nun diese Kinder ihre Mutter vermissen würden und dann dachte sie, wie schrecklich es wäre, wenn sie ihr eigenes liebes, zartes Mütterchen verlieren müßte. Und in Gedanken sah sie den traurigen, vorwurfsvollen Blick, den die Mutter auf sie gerichtet hatte beim Fortgehen. Sie konnte nicht begreifen, wie sie die Mutter habe so betrüben können, und es überkam sie eine unnennbare Angst. Sie ging hinunter in die Waschküche zu dem Mädchen. »Es zieht so ein schweres Gewitter herauf,« sagte sie, »und die Mutter und Klärchen sind noch nicht zu Hause!«

Aber in der Waschküche, wo es immer dunkel war, hatten die Wäscherinnen noch nicht viel von den drohenden Wolken bemerkt. »Es wird nicht so schlimm werden,« meinte Katharine, »jedenfalls können wir nichts tun.« »Ich wundere mich nur, daß die Frau Doktor mit dem Kind zweimal den weiten Weg macht, das ist doch zu viel für beide!« sagte die Wäscherin. »Ja,« antwortete Katharine, »wenn wir nicht zu viel zu waschen hätten, würde ich ihr vielleicht mit dem Kinderwagen entgegenfahren; aber heute geht's unmöglich. Wahrhaftig es blitzt und donnert schon; sind doch die Fenster droben geschlossen?«

»Ich will dafür sorgen,« sagte Frida und ging wieder hinauf. Und es war gut, daß sie kam, denn ein Windstoß fuhr durch das Haus und schmetterte die offenen Fenster und Türen zu. Ja, es war ein schweres Gewitter ausgebrochen und je mehr sich der Himmel bewölkte, je greller die Blitze zuckten, um so unheimlicher wurde es Frida zu Mute und laut stieg aus ihrem geängstigten Herzen das Gebet zum Himmel: »O lieber Gott, laß doch heute meiner Mutter und meiner Schwester kein Unglück geschehen, verzeihe mir, daß ich so unfreundlich gegen sie war und lasse sie glücklich wieder heimkommen, daß ich ihnen um so mehr Liebe erweisen kann!«

Und wie eine Antwort auf ihr Gebet kam ihr plötzlich der Gedanke: »Ich will der Mutter entgegen gehen mit dem Kinderwagen, ich will ihr zu Hilfe kommen und sehen, ob ich wieder gut machen kann, was ich versäumt habe!« Ohne Zögern packte sie den Mantel und das Jäckchen von Mutter und Schwester, nahm Schirme zur Hand, schloß die Wohnung, ging hinunter, rief im Vorbeigehen in die Waschküche hinein: »Ich gehe der Mutter entgegen,« und ehe die erstaunten Wäscherinnen etwas entgegnen konnten, hatte sie schon den Kinderwagen hervorgeholt, die Mäntel und Schirme hineingelegt und war in Sturm und Regen unter Donner und Blitz fortgeeilt. Manche Leute im Dorf, die hinter den geschlossenen Fenstern ängstlich dem Unwetter zusahen, bemerkten Frida, wie sie mit dem Kinderwagen vorbei fuhr. Alle kannten des Doktors Töchterchen und manche wollten ihr nachrufen, sie solle sich doch nicht hinauswagen bei diesem Wetter. Aber Frida hörte nicht und wollte nichts hören; sie hatte auch keine Angst für sich. Es war ihr gleich, ob der Regen auch noch so sehr auf sie herunterströmte und der Sturm sie peitschte, sie hatte nur den einen Gedanken: der Mutter zu Hilfe zu kommen und so stürmte sie hinaus auf die offene Landstraße der Stadt zu.

Und ihre Hilfe war nötig! Nachdem Klärchen photographiert worden war, hatte die Mutter noch einige notwendige Einkäufe mit ihr in der Stadt gemacht und erst als sie aus den engen Straßen der Stadt wieder heraus aufs freie Feld kamen, bemerkte die Mutter, daß ein schweres Gewitter im Anzug war. Erschreckt trieb sie Klärchen zur Eile an, und das Kind marschierte auch anfangs ganz tapfer; es wurde ihr leichter als der Mutter, die noch eine schwere Tasche zu tragen hatte und vorher schon müde war. Allmählich aber ging es bei Klärchen immer langsamer und als sich der Sturm erhob, und Donner und Blitz die Kleine erschreckten, hängte sie sich immer schwerer an der Mutter Hand und endlich erklärte sie schluchzend, sie könne gar nicht mehr weiter, die Füße täten ihr so weh in den neuen Stiefeln! Die Mutter war ratlos. »Wir müssen weiter, Kind,« sprach sie, »wir können nicht auf der Landstraße liegen bleiben.« »Kannst du mich nicht ein wenig tragen, Mutter?« bat Klärchen, und die Mutter, so erschöpft sie war, versuchte es; aber bald mußte sie das Kind wieder absetzen. Es war zu viel für sie. Klärchen versuchte wieder zu gehen, aber die kleine Gestalt konnte sich kaum gegen den Sturm aufrecht halten, dazu strömte der Regen herunter und durchnäßte die Kleider, daß sie ganz schwer wurden. Immer langsamer kamen die beiden vorwärts und immer ängstlicher fragte sich die Mutter: »Wie soll ich das Kind den weiten Weg vollends heimbringen? Wird nicht eines von uns beiden bald umsinken und am Wege liegen bleiben?« In dieser Not sah die Mutter plötzlich in der Ferne auf der einsamen Straße eine Gestalt auftauchen.

»Gottlob, dort kommt irgend ein Mensch, der uns vielleicht helfen kann,« sagte sie, »aber freilich jemand, der auf die Stadt zugeht, das wird nicht viel helfen; Klärchen, kannst du nicht erkennen, wer dort kommt?« Die Kleine wischte sich die Tränen und den Regen von den Augen und sah nun mit hellen Augen die Straße hinauf. »Es sieht aus wie ein Kinderwagen – und ein Mädchen, die ihn fährt – o, es ist ja Frida und mein Wagen,« rief sie.

»O nein, Kind, das wird ein anderes Mädchen sein,« sagte die Mutter, und mit Bitterkeit dachte sie: »Meine Frida würde mir und Klärchen zulieb sicher nicht in das Unwetter hinausfahren, sie denkt ja nur an sich

»Aber es ist doch Frida,« erklärte nun die Kleine entschieden.

»Ja, wahrhaftig, jetzt sehe ich es auch,« rief die Mutter, »es ist Frida, und sieh nur, wie schnell sie deinen Wagen daherfährt!«

Klärchen konnte nun auf einmal wieder laufen, sie ließ der Mutter Hand los und wollte dem Wagen entgegenspringen; aber ein furchtbarer Donnerschlag erschreckte sie, daß sie entsetzt stehen blieb und auf die Mutter wartete. Aber nun war auch Frida schon bei ihnen. Sie war ganz außer Atem von dem raschen Lauf in Sturm und Regen, und das Wasser lief an ihr herunter; aber sie achtete nicht darauf.

»Mutter, Mutter, gottlob, daß ihr da seid!« rief sie; »und gottlob, daß du kommst, Frida, ich weiß nicht, wie es uns gegangen wäre,« rief die Mutter dagegen. Frida aber nahm aus dem Wagen, den sie vorsichtig zugedeckt hatte, den Mantel und legte ihn der Mutter um, so sorgfältig und liebevoll, daß die Mutter sie erstaunt und gerührt ansah: »War das dieselbe Tochter, die vor ein paar Stunden so lieblos gewesen war?« Aber jetzt unter dem strömenden Regen war keine Zeit zum Fragen; die Mutter wollte Klärchen in den Wagen heben. »Laß nur, Mutter,« bat Frida, »du bist müde, ich will alles tun!« Sie hob Klärchen auf, setzte sie in den Wagen, legte ihr das Jäckchen um und zog die Vorhänge zu, so daß die Kleine gut beschützt gegen Wind und Wetter war. Dann nahm sie auch noch der Mutter schwere Tasche ab, legte sie in den Wagen und nun ging's wieder vorwärts, aber freilich leichter für Mutter und Kind als vorher! Klärchen streckte von Zeit zu Zeit ihr Köpfchen heraus und nickte gar freundlich der großen Schwester zu; ihr war's nun ganz behaglich. Aber auch Frida war glücklicher als sonst die Menschen zu sein pflegen, wenn sie im schlimmsten Unwetter auf der nassen Landstraße einen Kinderwagen mühsam vor sich herfahren müssen!

Frida war's, als könne ihnen nun im schlimmsten Gewitter kein Unheil mehr zustoßen. Gott hatte ihr Gebet erhört, und die Mutter und Schwester beschützt. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß ihnen auch jetzt noch etwas zustoßen könne, und doch wurde der Sturm wieder heftiger und tobte ärger als vorher. Man sah nun das Dorf vor sich und war von demselben nur noch durch eine Allee von uralten Pappeln getrennt, zwischen denen die Straße hindurchführte.

»Nun, Kind, fahre so schnell du kannst,« rief die Mutter Frida zu und half selbst noch den Wagen schieben. Frida wußte nicht, warum die Mutter plötzlich so zur Eile antrieb und so ängstlich aussah; aber sie setzte ihre ganze Kraft daran und bald waren sie mitten in der Pappelallee. Da ertönte ein furchtbares Krachen, ein schwerer Schlag und zugleich flog ein Pappelzweig auf den Wagen des Kindes.

»Was war das, Mutter?« fragte Frida und sah zurück. Da sah sie quer über der Straße einen mächtigen Pappelbaum liegen, den der Wind umgerissen hatte und dessen zerschmetterte Äste weit umher lagen. Wäre er ein paar Minuten früher gestürzt, so hätte er Mutter und Kinder treffen müssen!

»Nur vorwärts, Kind, nur vorwärts,« trieb die Mutter, bleich vor Entsetzen, und ohne Aufenthalt ging's nun durch die Pappelallee hindurch in die Dorfstraße, bis endlich das Haus glücklich erreicht war. Freundlich wurden sie dort von dem Dienstmädchen empfangen, das inzwischen auch in Angst und Aufregung geraten war. Als ein Stündchen vorüber war, lag Klärchen schon in sanftem Schlafe in ihrem Bett, während die Mutter mit Frida am behaglichen Teetisch saß. Frida hatte der Mutter alles anvertraut, was sie in den letzten Stunden empfunden hatte, und nun war nach all dieser Aufregung ihr Herz voll Friede und Dankbarkeit. Auch draußen hatte es aufgehört zu stürmen, das Gewitter war vorübergezogen, es war Abend und Mutter und Tochter erwarteten den Vater. Er kam spät heim und sah sehr ernst aus. »Das Gewitter hat viel Unheil angerichtet,« erzählte er, »mein Wagen konnte kaum weiterkommen, die Straße war stellenweise ganz überschwemmt. Es war mir ein Trost, euch alle zu Hause zu wissen, besonders, als ich erfuhr, daß auf dem Wege nach der Stadt sechs Pappeln vom Sturm umgerissen worden sind!«

»Wer um diese Zeit unterwegs in den Alleen gewesen wäre, dem hätte es das Leben kosten können.« Frida sah die Mutter an; der Vater sollte ja nichts wissen von allem, was sie erlebt hatten. Erst am Geburtstag wollten sie ihm alles erzählen. Aber Frida fühlte, daß sie ihre Aufregung nicht verbergen konnte. Sie verließ das Zimmer und ging hinüber in das Schlafzimmer. Dort an dem Bett, wo die kleine Schwester süß schlummerte, kniete sie nieder, drückte leise einen Kuß auf das liebe Kindergesichtchen und dankte Gott von ganzem Herzen, daß er sie alle so gnädig bewahrt hatte!

Als der Geburtstag des Vaters kam, lag Klärchens liebliches Bild nicht nur auf des Vaters Tisch, sondern es hing auch eingerahmt über Fridas Bett und darunter standen von der Mutter Hand geschrieben die Worte, die Frida nie wieder vergaß:

O lieb, so lang du lieben kannst,
O lieb, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!

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