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Die Weihnachtskiste.

Kinder, geht alle hinaus, ich muß mit der Mutter etwas besprechen!« rief Herr Werner, der eben in das Wohnzimmer trat, in dem Frau Werner mit ihren Kindern saß.

»Gewiß ein Weihnachtsgeheimnis!« riefen die Kinder voll Vergnügen und sprangen alle hinaus. Als nun Vater und Mutter allein waren, sprach der Vater: »Die Kiste von der Großmutter ist angekommen.« »Ei, das ist recht,« antwortete die Mutter, »ich hatte schon Angst, sie möchte zu spät kommen, denn morgen ist ja schon der heilige Abend.« »Ich habe die Kiste in mein Zimmer hinauf tragen lassen, wir wollen sie gleich droben mit einander auspacken.«

Die Mutter holte nun Hammer, Stemmeisen und Beißzange und sagte zu den Kindern: »Ich habe droben bei dem Vater etwas zu tun, keines von euch darf hinauf kommen und uns stören.« »Nein, nein, wir bleiben gern unten,« jubelten die Kinder. So gingen die Eltern die Treppe hinauf und ließen die drei Mädchen und den kleinen Richard allein.

»Habt ihr nicht bemerkt,« sagte Emilie, die älteste der drei Schwestern, »daß die Mutter Hammer und Beißzange mit hinauf genommen hat? Gewiß ist die Weihnachtskiste von der guten Großmutter angekommen.« »Ja, und hört nur, wie droben geklopft wird!« sagte Luise, die zweite Schwester. Da gingen die vier Geschwister mit einander auf die Treppe und horchten voll Freude auf das Hämmern und Klopfen in des Vaters Studierzimmer.

Als es wieder still wurde, sagte Mimi, das jüngste Töchterchen: »Ich möchte nur wissen, was alles aus der Kiste herauskommt! Mir wäre eine Puppe am liebsten.« »Mir auch,« sagte Emilie. »O da möchte ich lieber einen Säbel und ein Gewehr, mit dem ich schießen könnte,« rief der kleine dreijährige Richard. Dabei streckte er seine Ärmchen weit hinaus, und ehe ihn die Schwestern halten konnten, bekam er das Übergewicht und stürzte mit großem Gepolter und lautem Geschrei die ganze Treppe hinunter! Die Eltern, die den Lärm gehört hatten, sprangen ganz erschreckt herbei und wollten den Kleinen herauf führen. Er konnte aber gar nicht mehr stehen und jammerte immer: »O weh, mein Fuß, mein Fuß, mein Fuß!« Da trug ihn die Mutter in sein Bett, das neben ihrem eigenen stand, der Vater aber ging zum Arzt, der auch sogleich kam.

Während die Eltern mit dem Doktor an Richards Bett waren, ging die gute, kleine Mimi hinaus und suchte in ihrem Schränkchen etwas, das sie dem armen Brüderchen schenken wollte. Luise aber ging in den Hof, wo eine große Schleife war, und tummelte sich auf derselben. Als nun Emilie so allein im Wohnzimmer war, fiel ihr die Weihnachtskiste wieder ein.

»Ich möchte nur wissen, ob sie schon ausgepackt ist?« dachte sie, ging zum Zimmer hinaus und die Treppe hinauf bis an des Vaters Zimmer.

Die Türe stand ein wenig offen. Emilie streckte ihren Kopf durch den Türspalt; richtig, da lag Heu und Stroh auf dem Boden und ein großer Kistendeckel lehnte an der Wand.

»Ich will nur so weit hinein gehen, daß ich die Kiste sehe,« dachte Emilie, machte die Tür weiter auf und ging in das Zimmer hinein bis an das Fenster. Da stand die Kiste. Ein Papier war darüber gedeckt. Emilie hob es nur ein klein wenig auf. O was lag da für eine wunderschöne Puppe, mit goldenem Lockenhaar! Emilie nahm die Puppe sachte in die Hand und bemerkte nun, daß ein kleiner Papierzettel an der Puppe steckte, auf dem die Worte geschrieben standen: »Der kleinen Mimi zu Weihnachten von der Großmutter.«

Während Emilie eben die reizende Puppe bewunderte, kam jemand rasch die Treppe herauf. Emilie erkannte ihres Vaters Schritt und erschrak heftig. Wenn der Vater sie in seinem Zimmer entdecken würde! Zum Glück hatte das Zimmer noch eine zweite Türe, die in das Gastzimmer führte. Durch diese wollte Emilie entfliehen. Hastig warf sie die Puppe auf die Kiste und schlüpfte gerade noch zur einen Tür hinaus, ehe der Vater zu der andern hereinkam. Die Puppe aber, die nur auf dem äußersten Rand der Kiste gelegen war, fiel mit einem lauten Schlag zu Boden.

Emilie schlich durch das Gastzimmer leise auf den Gang und die Treppe hinunter. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich im Wohnzimmer an die Arbeit und tat, wie wenn nichts geschehen wäre. Kurz darauf kam die Mutter aus dem Schlafzimmer und sagte freundlich zu Emilie: »Setze dich ein wenig zum Kleinen ans Bett. Der Herr Doktor hat gesagt, wenn wir ihm fleißig Umschläge machen, so wird ihm bis morgen sein Beinchen nimmer weh tun und wir können ein fröhliches Fest feiern.« »Nein, das können wir nicht,« sagte der Vater, der in diesem Augenblick aus seinem Zimmer herunter kam. »Eines der Kinder hat sich heimlich an die Weihnachtskiste geschlichen und eine Puppe zerbrochen. Emilie, rufe deine Schwestern!« Der Vater sah so erzürnt aus, Emilie traute sich nichts zu sagen, sie ging hinaus und holte die Schwestern.

»Wer war in meinem Zimmer?« fragte der Vater strenge. »Ich nicht, ich nicht!« riefen alle drei Kinder.

»Wo waret ihr, so lange der Arzt bei uns war!« forschte der Vater weiter. »Ich war im Hof,« sagte Luise. »Und ich an meinem Schränkchen in unserem Zimmer,« sagte Mimi. »Und ich im Wohnzimmer,« antwortete Emilie.

»Ja,« sagte die Mutter, »ich fand Emilie eifrig an der Arbeit, als ich von Richard heraus kam; ob aber die anderen die Wahrheit sagen, weiß ich nicht.« »Ganz gewiß,« riefen die Kinder weinerlich. »Ich weiß aber ganz gewiß, daß eine von euch an der Kiste war. Wenn ihr es mir nicht sagt, so nagle ich die Kiste wieder zu und keine von euch bekommt von den schönen Sachen, die darin sind.«

Die Kinder fingen nun an zu weinen, auch Emilie kamen bittere Tränen, sie konnte sich aber nicht entschließen, ihre Schuld einzugestehen, sie schämte sich zu sehr vor den Eltern und Geschwistern.

Da sprach der Vater: »Wenn die Großmutter gewußt hätte, daß ihr so böse Kinder seid, so hätte sie euch nichts geschickt; deshalb sollt ihr auch nichts von ihren Gaben erhalten. Bloß was für Richard bestimmt ist, das werde ich heraus nehmen.«

Da ging der Vater zur Türe hinaus und bald darauf hörten die Kinder wieder hämmern und klopfen, aber diesmal weinten sie alle darüber, denn sie wußten, daß der Vater nun die Weihnachtskiste wieder zugenagelt hatte!

Der Vater wollte an diesem Abend die Kinder gar nimmer sehen, sie durften ihm nicht Gute Nacht sagen und mußten allein in ihr Schlafzimmer gehen, wo die drei Schwestern beisammen schliefen. Als sie aber in ihren Betten lagen und das Licht schon ausgeblasen war, öffnete sich leise die Tür und die Mutter trat herein. Sie setzte sich zuerst an das Bettchen der kleinen Mimi und sagte: »Hast du mir nichts zu sagen, Mimi? Wenn du an der Weihnachtskiste gewesen bist, so sage es mir jetzt, dann kann ich dir verzeihen.«

Aber Mimi antwortete: »Glaube mir nur, Mutter, ich war es nicht, ich würde es ja so gerne sagen, damit der Vater die Kiste wieder aufnagelt!«

Da ging die Mutter an Luisens Bett. Luise aber war so traurig, daß sie vor Weinen und Schluchzen gar nicht antworten konnte. Da dachte die Mutter: »Gewiß hat es Luise getan!« Emilie nahm sich vor, sie wolle nun der Mutter die ganze Wahrheit sagen. Als aber die Mutter an Emiliens Bett kam, sprach sie freundlich zu Emilie: »Du hast uns noch gar nie angelogen, deshalb glauben wir dir auch, daß du es nicht getan hast.«

Als das Emilie hörte, konnte sie sich doch nicht entschließen, ihr Unrecht einzugestehen, und so ging die Mutter ganz betrübt wieder hinaus aus dem Zimmer.

Die kleine Mimi bat nun den lieben Gott, er möge machen, daß es morgen doch ein schönes Weihnachtsfest gebe und schlief friedlich ein. Auch Luise, die ganz müde war von Weinen, schloß die Augen und schlummerte bald. Nur Emilie konnte nicht schlafen. Ihr böses Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Sie konnte auch nicht beten.

»Ich habe allen die Weihnachtsfreude verdorben,« dachte sie. Unruhig warf sie sich in ihrem Bett hin und her und wachte noch, als nach ein paar Stunden die Eltern in ihr Schlafzimmer kamen, das neben dem Schlafzimmer der Mädchen war. Da hörte Emilie, wie die Eltern mit einander sprachen. Die Mutter sagte: »Wie haben sich sonst die Kinder am letzten Abend vor Weihnachten gefreut und wir uns mit ihnen und heute sind wir alle so traurig!« »Ja,« sagte der Vater, »am liebsten möchte ich morgen gar keinen Christbaum anzünden lassen, so wehe tut es mir, daß mir die Kinder nicht die Wahrheit sagen.«

Diese Worte gingen Emilie zu Herzen, es ließ ihr keine Ruhe mehr und laut rief sie: »Vater, Mutter, kommt doch noch einmal zu mir herein!« Als nun die Eltern bei ihr waren, sagte Emilie: »Vater, ich bin in deinem Zimmer gewesen und habe die Puppe aus der Kiste genommen und als ich sie schnell wieder hinein legen wollte, ist sie hinunter gefallen.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt und uns so sehr betrübt?« fragte der Vater. »Verzeiht mir doch,« rief Emilie, »es tut mir so leid und ich will gewiß nie mehr lügen.«

»Ja, wir wollen dir verzeihen, weil du uns jetzt die Wahrheit gesagt hast,« antwortete der Vater. »Ist die schöne Puppe für Mimi ganz zerbrochen?« fragte nun Emilie.

»Ja, der Kopf ist zerbrochen,« sprach der Vater, »aber die Großmutter hat für jede von euch eine Puppe geschickt und so werde ich deine Puppe der Mimi bescheren, und für dich ist es eine wohlverdiente Strafe, daß du keine neue Puppe bekommst.«

»Ja, ich gönne Mimi die neue Puppe,« rief Emilie, »ich bin jetzt wieder ganz glücklich!« Sie küßte die Eltern, sprach ihr Abendgebet und schlief gleich darauf mit leichtem Herzen ein.

Am nächsten Morgen sagte die Mutter zu Luise und Mimi: »Ich weiß jetzt, daß Emilie an der Weihnachtskiste war, sie hat es selbst eingestanden.« Da waren die beiden Schwestern sehr glücklich, und als der kleine Richard erklärte, sein Fuß tue ihm nimmer weh, und der Vater mit freundlichem Gesicht sagte: »Kinder, bringt mir wieder Hammer und Beißzange, daß ich die Kiste noch einmal aufklopfe,« da war die Freude und der Jubel groß im Hause.

Die Mutter hatte den ganzen Tag alle Hände voll zu tun und die Kinder durften nicht mehr in das Besuchzimmer. Wenn sie aber hie und da ein wenig die Türe aufmachte, dann strömte ein feiner Duft von Tannennadeln und Lebkuchen aus dem Weihnachtszimmer und man hörte die Goldsternlein vom Christbaum rauschen. Endlich wurde es dunkel und der Vater sprach: »Jetzt Kinder, haltet euch bereit!« Dann ertönte ein helles Glöcklein, die Türe ging auf und da stand der strahlende Christbaum und vor demselben ein Tisch mit den schönsten Weihnachtsgaben. Jedem der Kinder wurde sein Plätzchen angewiesen; Richard sah schon von weitem Säbel und Gewehr blitzen. Luise und Mimi langten zuerst nach ihren schönen Puppen, aber auch Emilie war reich beschenkt, denn die gute Großmutter hatte auch Spiele und Bilderbücher geschickt und es wäre jammerschade gewesen, wenn die Kiste zugenagelt geblieben wäre!

So dachte auch die gute Mimi und sie sagte leise zu Emilie: »Du darfst mit meiner neuen Puppe spielen, so oft du nur willst!« Da küßte Emilie die liebe, kleine Schwester und war glücklich mit ihr.



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