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Lieschens Streiche.

1. Der Speisekammerschlüssel.

Es war ein schöner Sonntagmorgen, als Frau Doktor Pfeil sich richtete, um in die Kirche zu gehen. Sie empfahl ihrem vierjährigen Töchterchen, dem kleinen Lieschen, recht brav zu sein, und versprach ihr, sie dürfe dann nachmittags ihre kleine Freundin zu sich holen. Lieschen nahm sich vor, lieb zu sein und die Mutter ging in die Kirche. Sie war noch nicht lange fort, als Lieschens Vater, der Arzt war, aus seinem Zimmer heraufkam und zu der Magd sagte: »Ich muß rasch fortfahren, man hat mich zu einem Schwerkranken gerufen und ich werde erst heute nachmittag wieder heimkommen. Holen Sie mir schnell ein Stück Braten aus der Speisekammer, denn ich werde nichts zu Mittag bekommen; und du, Lieschen, bringe mir das Brot, aber schnell, denn ich muß fort.«

Die Magd und Lieschen eilten hinaus. »Es ist nur gut, daß wir noch übrigen Braten haben,« sagte die Magd und wollte ihn aus der Speisekammer holen; aber, o Schrecken, die Speisekammer war verschlossen! »Der Schlüssel wird doch am Schlüsselbrett hängen,« sprach sie und sah schnell nach. Aber der Nagel, an dem sonst der Schlüssel hing, war leer.

»Gewiß hat deine Mama den Schlüssel in ihre Tasche geschoben,« sagte die Magd. »Was fange ich nun an?«

Lieschen besann sich einen Augenblick, dann sprang sie zur Küche hinaus und die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu sagen. Während die Magd noch alles nach dem Schlüssel aussuchte, eilte Lieschen so schnell sie konnte auf die Straße und der Kirche zu. Dort wollte sie ihre Mutter suchen und den Schlüssel holen, damit der liebe Vater doch nicht fortfahren müsse, ohne etwas gegessen zu haben. Ganz erhitzt kam das Kind an die Kirche. Die Türen standen alle weit offen, denn der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen. Leise spielte die Orgel, es war eine feierliche Stille. Lieschen trat unter die Kirchentüre und sah in die Kirche. Alle Bänke waren schon dicht besetzt mit Leuten, Lieschen konnte ihre Mutter nicht sehen. Sie besann sich wieder nicht lange, herzhaft ging sie in die Kirche, den breiten Gang zwischen den Bänken hindurch, bis sie gerade in der Mitte stand, dann rief sie mit ihrem hellen Stimmchen, daß man es durch die ganze Kirche hörte: »Mama, wo bist du?« Frau Doktor Pfeil, die in ihrem Gesangbuch gelesen hatte, sah erschrocken auf, als sie ihres Kindes Stimme hörte und erblickte nun Lieschen, wie sie mit erhitztem Gesicht ohne Hut und in der Hausschürze mitten in der Kirche stand und sich um und um sah. Alle Leute sahen erstaunt auf das Kind. Frau Doktor Pfeil machte Lieschen ein Zeichen mit der Hand, daß sie aus der Kirche gehen solle. Aber das Kind war viel zu sehr im Eifer, um das zu beachten. Sie bemerkte die Mutter, sprang auf sie zu und rief: »Mama, hast du den Speisekammerschlüssel in der Tasche? der Papa möchte gerne kalten Braten!«

Die Mutter wurde dunkelrot vor Verlegenheit, rasch griff sie in ihre Tasche – da war wirklich der Schlüssel, sie reichte ihn dem Kinde hin. In diesem Augenblick kam mit langen Schritten der alte Kirchendiener herbei, um die kleine Ruhestörerin aus der Kirche hinauszuweisen. Er kam aber zu spät; denn Lieschen war flinker als er, und sie hatte kaum den Schlüssel, als sie auch schon zur Kirchentüre hinaussprang und ihrem Hause zueilte. Daheim traf sie den Vater, der eben ein Stück Brot gegessen und ein Glas Wein getrunken hatte und nun fortgehen wollte. Stolz und glücklich hielt Lieschen den Schlüssel in die Höhe. Die Magd nahm ihn rasch aus ihrer Hand, öffnete die Speisekammer und holte den Braten. Der Vater war froh darüber und fragte nicht lange, wo Lieschen den Schlüssel hergeholt habe. Er schnitt sich ein Stück Braten herunter, sagte seinem Töchterchen lebewohl und eilte fort.

Als aber die Mutter aus der Kirche heimkam, ging es Lieschen nicht so gut; die Mutter hielt ihr vor, wie unrecht es gewesen sei, ohne Erlaubnis von zu Hause fortzugehen und in der Kirche zu stören, und Lieschen durfte zur Strafe an diesem Nachmittag ihre kleine Freundin nicht abholen.

2. Das Wickelkind.

Eines Tages kamen Gäste, um Lieschens Eltern zu besuchen. Während sie am Kaffeetisch saßen, war Lieschen mit ihrem kleinen Brüderchen, das erst ein paar Wochen alt war, allein im Kinderzimmer. Da fing der Kleine an zu schreien. Lene, die Magd, kam aus der Küche herein und sagte: »Lieschen, fahre doch das Brüderchen hin und her, damit es nicht so schreit; denn die Mama muß bei den Besuchen bleiben und ich habe in der Küche zu tun.« Lieschen fuhr den Kinderwagen hin und her; aber der Kleine hörte nicht auf zu schreien. »Ach,« dachte Lieschen, »es ist doch recht arg, daß der Kleine so schreit, wenn Besuche da sind. Ich will ihn ein wenig herumtragen.« Mit großer Mühe nahm Lieschen das Wickelkind aus dem Wagen. Sie hatte das früher noch nie getan. Der kleine Schelm aber schrie immer noch.

»Wo könnte ich nur das Kind hintragen, damit man es nicht schreien hört,« dachte Lieschen. Da kam ihr ein Einfall: Sie packte das Wickelkind fest mit beiden Armen und trug es zum Zimmer hinaus, die Treppe hinunter in des Vaters Zimmer. Der Vater war auch oben bei den Besuchen, also konnte es ihn nicht stören, wenn das Kind unten in seinem Zimmer war. So dachte Lieschen. Sie konnte den Kleinen kaum mehr in den Armen halten, so schwer wurde er ihr und sie legte ihn schnell ab auf den dicken, weichen Fußteppich, der unter des Vaters Schreibtisch war. Das Kind hatte jetzt aufgehört zu schreien und sah sich mit hellen Äuglein in dem fremden Zimmer um. Lieschen war sehr vergnügt. »Das habe ich gut gemacht,« dachte sie, »die Mama wird mich loben.« Eine Weile setzte sie sich neben das Brüderchen, dann fiel ihr ein, daß es wohl schon längst Zeit für sie war, in die Kinderschule zu gehen, die sie jeden Nachmittag besuchte. Schnell ging sie hinauf, nahm ihren Hut und sagte zu der Magd, die sehr beschäftigt in der Küche war: »Ich gehe jetzt in die Kinderschule.« »Ja,« sagte Lene, »es ist höchste Zeit.« Und Lieschen sprang fort. Im Vorbeigehen sah sie noch einmal nach dem Wickelkind: es war ganz sanft eingeschlafen auf dem weichen Teppich. Lieschen machte leise die Türe zu und ging vergnügt in ihre Schule.

Inzwischen wurde oben Kaffee getrunken. Die Mutter im Zimmer und die Magd in der Küche freuten sich immer im stillen, daß der Kleine so ruhig war. Nach dem Kaffee sagte die Dame, die zu Besuch bei Lieschens Mutter war: »Darf ich nicht auch Ihr kleines Söhnchen sehen?«

»O ja, recht gerne,« sagte die Mutter und führte die Dame ins Kinderzimmer. Leise schlug sie die Vorhänge am Kinderwagen zurück – der Wagen war leer!! Erschrocken sah sich die Mutter im Zimmer um, das Kind war nirgends zu sehen. Die fremde Dame sagte: »Hat nicht vielleicht Ihre Magd das Kind mit hinaus in die Küche genommen?« »Lene,« rief die Mutter zur Türe hinaus, »wo ist denn der Kleine?« »Der Kleine? ist er denn nicht in seinem Wagen?« rief die Magd erschrocken und folgte der Mutter in das Kinderzimmer. Entsetzt standen alle vor dem leeren Wagen, und außer sich vor Schrecken rief die Mutter den Vater herbei, der sich ebensowenig erklären konnte, wo das Kind hingekommen war. »Wo ist denn Lieschen?« fragte er. »Sie ist in die Kinderschule gegangen,« antwortete die Magd. »Am Ende hat sie wieder die Haustüre offen gelassen und es hat sich jemand herein geschlichen und das Kind mitgenommen.« Man sah nach und fand wirklich, daß die Haustüre offen stand. Als nun die Besuche erzählten, sie hätten einen Zigeunerwagen in der Nähe gesehen, waren alle überzeugt, daß das Kind gestohlen worden sei und die arme Mutter war in Verzweiflung.

»Ich will auf die Polizei gehen,« sagte der Vater, »damit nach dem Kind geforscht wird, zuerst aber muß ich genau aufschreiben, wie das Kind gekleidet war.« Rasch eilte der Vater in sein Zimmer hinunter, um aus seinem Schreibtisch Papier zu holen. Plötzlich hörte er zu seinen Füßen einen leisen Ton. Er horchte. Noch einmal derselbe Ton. »Ist denn das Kätzchen in mein Zimmer gesperrt worden?« dachte der Vater und bückte sich, um unter den Schreibtisch zu sehen. Sprachlos vor Erstaunen blieb er stehen. Da lag ja auf seinem Teppich das verlorene Kind und guckte mit seinen Äuglein ganz vergnügt umher! Fröhlich eilte nun der Vater an die Treppe und rief hinauf: »Kommt doch schnell herunter, das Kind ist da!«

»Wo denn, wo denn?« riefen nun verschiedene Stimmen, und die ganze Gesellschaft eilte herbei; da sahen sie denn auch den Kleinen auf dem Boden liegen. Die Mutter hob das Kind auf und drückte es unter Lachen und Weinen an ihr Herz. »Wer kann denn aber das Kind hier hergelegt haben?« fragten die Gäste.

»O sicherlich niemand anders, als unser Lieschen,« sagte der Vater; »es ist nicht der erste Streich, den sie uns gespielt hat.« Als Lieschen heimkam und erfuhr, welchen Schrecken sie der ganzen Familie gemacht hatte, weinte sie bitterlich und sagte zur Mutter: »Ich habe gemeint, du lobest mich, daß ich dir für Ruhe gesorgt habe.«

Da erließen ihr die Eltern für diesmal die Strafe; doch mußte Lieschen versprechen, künftig nichts mehr zu unternehmen, ohne es vorher den Eltern oder der Magd zu sagen.

3. Der Schinken.

Als Lieschen eines Nachmittags in ihre Kinderschule ging, kam sie an dem Metzgerladen vorbei, in dem sie schon oft mit der Magd oder auch allein etwas hatte einkaufen dürfen. Am Schaufenster hingen lange Würste und prächtige Schinken. Zwei ärmlich gekleidete Knaben standen außen an dem Laden und betrachteten die guten Fleischwaren. Lieschen hörte, wie der eine Knabe zu dem andern sagte: »Hast du schon einmal Schinken gegessen?« »Nein,« sagte der Kleinere, »hast du schon einen gegessen?« »Ja, an Ostern habe ich ein Stück bekommen; das war gut, sage ich dir, es gibt gar nichts besseres.« »Ich wollte nur, ich dürfte mir da ein Stück herunter schneiden.« »Ich auch,« sagte der erste, »ich habe ohnedies so Hunger.«

»So geht doch in den Laden und kauft euch Schinken,« sagte Lieschen. Die beiden Knaben wendeten sich erstaunt um und sahen Lieschen hinter sich stehen. »Bist du aber dumm,« sagte der Kleinere zu ihr, »wir haben doch kein Geld.« »Ach so,« erwiderte Lieschen, »aber das tut nichts, der Metzger ist sehr freundlich und hat mir oft schon etwas geschenkt. Er gibt euch gewiß etwas von seinem großen Schinken.« »Daß er dir was gibt, glaube ich schon; aber uns gibt er nichts!«

Die Knaben wollten weiter gehen; da rief Lieschen: »Wartet, ich hole euch Schinken.« Und wirklich ging sie in den Laden. Die Metzgersfrau kannte Lieschen gut und fragte sie freundlich, was sie wolle. »Ein Pfund Schinken,« antwortete Lieschen. »Ein ganzes Pfund?« fragte die Frau. »Ja, ein ganzes,« sagte die Kleine entschieden.

»Dann mußt du schon den frischen Schinken anschneiden, der am Fenster liegt,« sagte der Metzger zu seiner Frau. Diese nahm den schönen Schinken vom Fenster. Die zwei Knaben auf der Straße bemerkten es und rieben sich die Hände vor Vergnügen. Nun fing die Metzgersfrau an, aufzuschneiden. »Mach es auch fein,« sagte der Metzger, »der Herr Doktor will es immer fein.«

Die Frau gab sich alle Mühe und es dauerte lange, bis sie ein ganzes Pfund fein aufgeschnitten hatte. Endlich wickelte sie es in ein weißes Papier und gab Lieschen das schöne Paket.

»Hast du denn keinen Korb?« fragte die Frau. »Nein.« »Und kein Geld?« »Nein.« »Laß sie nur gehen,« sagte der Metzger zu seiner Frau, »wahrscheinlich hat es pressiert, dann hat man die Kleine schnell ohne Korb und Geld fortgeschickt. Gewiß kommt heute Abend die Magd und bezahlt.« Als Lieschen auf die Straße kam, sah sie die Knaben nimmer. Sie sah sich mit betrübtem Gesichtchen nach ihnen um; da bemerkte sie dieselben auf der andern Seite der Straße. Die Knaben winkten ihr und Lieschen sprang fröhlich auf sie zu. »Da habt ihr viel Schinken,« sagte sie, »jetzt teilt ihn mit einander, und du sage mir auch, wie er dir schmeckt,« sprach sie zu dem Kleineren.

Der größere machte das Paket auf und voll Entzücken betrachteten beide den köstlichen Schinken. Der Kleine nahm gleich ein Stück in den Mund und sagte: »Es ist wahr, etwas besseres kann es gar nicht geben.« »Ich weiß schon,« sagte Lieschen, »ich esse ihn auch so gern.« »So nimm doch ein Stück,« sagte der Ältere zu ihr, »wir haben noch genug!«

»Nein, ich darf nichts von fremden Leuten annehmen,« sagte Lieschen, »und jetzt muß ich auch in die Kinderschule.« Damit sprang sie fröhlich davon.

»Ich dank,« rief ihr der Größere nach. »Ich dank,« rief nun auch der Kleinere. Lieschen nickte ihnen noch einmal zu, die Knaben aber verteilten ihren Schatz und jeder lief dann heim, um sein Glück zu Hause zu erzählen.

An diesem Nachmittag, während Lieschen noch in der Schule war, schickte die Frau Doktor ihre Magd zum Metzger, damit sie Wurst hole. Als die Magd eingekauft und bezahlt hatte, sagte der Metzger zu ihr: »Der Schinken ist noch nicht bezahlt, den das kleine Lieschen heute geholt hat.« »Der Schinken?« sagte die Magd, »davon weiß ich ja gar nichts.« »Wahrscheinlich hat der Herr Doktor das Kind selbst hergeschickt,« sagte der Metzger. »Wieviel war es denn?« fragte Lene. »Ein Pfund.« »Ein ganzes Pfund?« sagte die Magd erstaunt, »das begreife ich gar nicht.« »Ja,« sagte die Frau, »ich habe extra einen neuen Schinken angebraucht.« »So, so,« sagte die Magd und bezahlte.

Als sie heimkam, sagte sie zur Frau Doktor: »Ich habe auch gleich das Pfund Schinken bezahlt, das Lieschen heute nachmittag geholt hat.« »Schinken?« fragte die Frau, »und ein ganzes Pfund? Davon weiß ich ja gar nichts.« »Vielleicht hat ihr Papa sie zum Metzger geschickt,« meinte die Magd. »Das glaube ich kaum,« sagte die Frau Doktor; »doch ich will gleich fragen.«

Sie ging hinunter in ihres Mannes Zimmer. »Hast du heute durch Lieschen ein Pfund Schinken holen lassen?« »Schinken?« sagte der Herr Doktor, »nein, davon weiß ich gar nichts; ich habe Lieschen überhaupt nicht fortgeschickt.« »Nun, dann hat der Metzger gewiß ein anderes Kind mit ihr verwechselt,« sagte die Frau Doktor und erzählte, was die Magd beim Metzger gehört hatte. »Da hat eben Lieschen wieder einen dummen Streich gespielt,« meinte der Vater. »Nein, das glaube ich nun doch nicht von ihr,« entgegnete die Mutter; »denn noch nie hat Lieschen etwas gegessen, was man ihr nicht erlaubt hat.«

In diesem Augenblick kam fröhlich vor sich hinsingend die Kleine aus der Schule heim. Sie wurde gleich in des Vaters Zimmer gerufen und gefragt, ob sie beim Metzger Schinken geholt habe. Lieschen erzählte genau, was sie getan hatte und als sie fertig war und bemerkte, daß die Eltern sie streng ansahen, sagte sie: »Nicht wahr, es ist doch recht, wenn man armen Kindern etwas gibt?« »Ja, wenn man etwas hat und wenn es die Eltern erlauben,« sagte der Vater; »du aber hast etwas hergeschenkt, was dir selbst nicht gehört und hast nicht um Erlaubnis gefragt.«

Die Mutter führte nun Lieschen an die Kommode, in der Lieschens Sparkasse stand, nahm aus derselben ein schönes neues Markstück heraus und sagte: »Siehst du, mit diesem Geld mußt du mir nun den Schinken zahlen; eigentlich sollte ich dir auch dein anderes Markstück noch nehmen, denn der Schinken hat viel gekostet. Ich will es dir aber erlassen.«

Lieschen weinte. Wie gut hatte sie es gemeint und nun mußte sie ein Markstück hergeben. Da fielen ihr auf einmal die vergnügten Gesichter der Knaben wieder ein. Sie hörte auf zu weinen und sagte: »Aber den Buben wird es doch recht gut geschmeckt haben. Meinst du nicht auch, Mama?« »Ja freilich,« antwortete die Mutter freundlich, »für die war es ein Festtag. Damit kannst du dich über dein Markstück trösten.«

Da trocknete Lieschen ihre Tränen und sprang wieder fröhlich umher.

4. Die Frau mit den Spitzen.

Lieschen wollte in den Garten gehen; sie stand in dem Vorplatz und setzte ihren Gartenhut auf. Da hörte sie, wie ihre Mutter rasch aus dem Zimmer in die Küche kam und zur Magd sagte: »Lene, ich habe soeben zum Fenster hinausgesehen und bemerkt, daß wieder die Frau mit den Spitzen kommt, die neulich erst da war und immer so zudringlich ist. Wenn sie klingelt, so mache ihr gar nicht auf.«

»Es ist recht, Frau Doktor,« sagte Lene.

Lieschen hatte ihren Hut aufgesetzt, ging zur Glastüre hinaus und machte sie hinter sich zu. Als sie eben die Treppe hinunter wollte, sah sie eine Dame mit schwarzem Spitzenschawl und Spitzenhut heraufkommen. »Aha,« dachte sie, »das ist die Frau mit den Spitzen, von der die Mama geredet hat.«

Es war aber nicht so, sondern die Dame, die da herauf kam, war ein Besuch, der zu Lieschens Mutter wollte, während die zudringliche Spitzenhändlerin noch vor der Haustüre stand und mit jemand plauderte.

Die Dame kam die Treppe herauf und redete Lieschen freundlich an: »Du bist gewiß das Töchterchen von Frau Doktor Pfeil; ist deine Mama zu Hause?« »Ja,« antwortete Lieschen, »aber klingeln Sie nur nicht, denn es wird doch nicht aufgemacht.« »So,« sagte die Dame ganz erstaunt, »warum denn nicht?«

»Weil es die Mama der Lene extra verboten hat.« »Hat denn deine Mama gewußt, daß jemand kommt?« »Freilich, sie hat gerade zum Fenster hinausgeschaut und hat Sie kommen sehen.« »Da hat mich deine Mutter gewiß nicht erkannt.« »O, doch, versicherte Lieschen, »sie hat Sie an Ihren Spitzen erkannt; ich will aber doch der Lene rufen, daß sie aufmacht, und will Mama bitten, daß sie Sie hereinläßt,« sagte Lieschen, der die Dame leid tat.

Aber diese hielt das Kind zurück. »Nein, Kind, das tust du nicht; ich will mich nicht aufdrängen; sage nur deiner Mutter, die Frau käme nie in ihrem Leben wieder zu ihr!« Mit diesen Worten ging die Dame tief beleidigt die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. Lieschen hatte gar keine Lust mehr, in den Garten zu gehen. Sie kehrte wieder um und rief an der Glastüre: »Lene, mach' auf!«

Lene machte auf und ließ sie herein. Die Mutter war in der Küche, Lieschen ging zu ihr und sagte: »Mama, ich habe mit der Spitzenfrau geredet; ich glaube, sie hat es übel genommen; denn sie läßt dir sagen, sie komme nie in ihrem Leben wieder.« Lene lachte: »Ja, du verstehst's, Lieschen; das hast du gut gemacht; nun haben wir doch die zudringliche Person los!« Auch die Mutter lächelte ein wenig, dann sagte sie aber: »Nein, Kind, das war wieder sehr naseweis von dir; niemand hat dir aufgetragen, mit der Spitzenfrau zu reden.«

Es klingelte. Lene machte auf – wer war es? Die Spitzenhändlerin. »Was, jetzt kommen Sie doch; ich habe gemeint, Sie kommen nie in Ihrem Leben wieder,« rief Lene überrascht. »Das ist ja gar nicht die Frau mit den Spitzen,« sagte Lieschen. »Doch, das ist sie, Kind; hast du nicht mit dieser gesprochen?« fragte die Mutter. »Nein, meine war viel schöner angezogen und hatte einen schönen Spitzenhut auf.« »Kind, Kind, was hast du wieder angestellt, mit wem hast du gesprochen?« »Ich weiß es nicht,« sagte Lieschen weinerlich, »ich kenne die Dame nicht.«

Inzwischen war die Spitzenhändlerin vorgedrungen und hatte ihren Kram ausgepackt. Jetzt sagte sie: »Ich habe gerade eine Dame mit schwarzem Spitzenhut zum Hause herausgehen sehen, ich kenne sie wohl.« »Wer ist es denn?« fragte die Frau Doktor. »Das will ich Ihnen gleich sagen, nur kaufen Sie mir zuerst etwas ab. Sehen Sie nur, so feine Spitzen und so billig, ein wahrer Spottpreis, und diese Stickereien.«

Was wollte Frau Doktor Pfeil machen. Sie mußte eben der widerwärtigen Händlerin etwas abkaufen und erst dann sagte dieselbe: »Also die Dame, die vorhin aus dem Haus gekommen ist, ist die Frau Regierungsrat Lust. Sie hat mir früher auch schon abgekauft. Heute aber hat sie ein bitterböses Gesicht gemacht.«

Mit diesen Worten ging die Spitzenhändlerin fort, und Frau Doktor Pfeil stand ganz bestürzt da. Lieschen mußte nun jedes Wort erzählen, das sie mit der Dame gesprochen hatte, und als sie fertig war, sagte die Mutter: »Ich kann nun gar nichts anderes tun, als sogleich mit dir zu Frau Regierungsrat gehen und sie um Entschuldigung bitten.« Lieschen war gleich bereit dazu und sagte: »Ja, Mama, dann sage ich der Dame, daß du sie nicht gemeint hast, und dann ist alles wieder gut.«

Frau Doktor Pfeil machte sich nun mit Lieschen auf den Weg. Als sie in die Wohnung der Frau Lust kamen, führte das Dienstmädchen sie in das Besuchszimmer und sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz, die Frau Regierungsrat wird gleich kommen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus. Nach einer kleinen Weile ging die Tür auf – es kam aber nicht die Frau Regierungsrat, sondern wieder ihr Mädchen und diese sagte ganz verlegen: »Die Frau Regierungsrat ist für Sie nicht zu sprechen.«

»Siehst du nun, Kind, was du angestellt hast,« sagte die Mutter; »nun können wir uns nicht einmal entschuldigen.« Das war Lieschen sehr arg; aber sie besann sich nicht lange, ließ der Mutter Hand los und rief: »Ich suche die Dame,« und ehe es die Mutter hindern konnte, war Lieschen zur Türe draußen. »Es ist vielleicht gut so,« dachte die Mutter, und blieb allein in dem Besuchszimmer zurück, während das Dienstmädchen in die Küche ging.

Die Frau Regierungsrat war in ihrem Wohnzimmer und horchte gespannt, ob Frau Doktor Pfeil fortgehen würde. Da – auf einmal steckte Lieschen ihr Köpfchen zur Türe herein und sprang lebhaft auf die Frau Regierungsrat zu, welche die Kleine mit größtem Erstaunen anblickte.

»Die Mama hat gar nicht Sie gemeint, sondern die andere Frau, die immer Spitzen verkauft. Aber Sie verkaufen ja gar keine Spitzen. Nicht wahr, dann sind Sie der Mama wieder gut?« sagte Lieschen in freundlich bittendem Ton. »Was sagst du da, Kleine, du hast mir doch selbst erzählt, deine Mama habe mich in euer Haus gehen sehen und erkannt?« »Ja, die Spitzenhändlerin ist eben auch gerade ins Haus gegangen und von der hat die Mama gesagt, man solle sie nicht hereinlassen.« »Ja, das ist wahr, eine Spitzenhändlerin, die ich wohl kenne, ist mit mir zugleich an euer Haus gekommen.« »Die Mama sagt, Ihnen hätte sie so gern aufmachen lassen und es ist ihr so arg!« »Wenn das so ist, so wollen wir gleich zu deiner Mama hinübergehen,« sagte die Frau Regierungsrat.

Lieschens Mutter war es die ganze Zeit unbehaglich gewesen. Als nun aber die Türe aufging und Lieschen so freundlich an der Hand geführt hereinkam und die Frau Regierungsrat ihr lächelnd die andere Hand entgegenstreckte, merkte sie, daß Lieschen ihre Sache gut gemacht hat. »Ich begreife das ganze Mißverständnis,« sagte die Frau Regierungsrat; »es ist nur gut, daß die Kleine, die die Verwirrung angerichtet hat, sie auch so schnell wieder gelöst hat.«

Die beiden Frauen blieben noch eine Weile in heiterem Gespräch beisammen und als sie sich wieder trennten, sah Lieschen an dem freundlichen Gesicht ihrer Mutter, daß alles wieder gut sei.

5. Die Nudeln.

Jeden Montag morgen fuhr Herr Doktor Pfeil in das nächste Dorf und kam erst mittags um 12 Uhr wieder zurück. Lieschen durfte ihm dann manchmal entgegengehen, und wenn der Vater sie sah, ließ er den Kutscher halten und nahm Lieschen zu sich in den Wagen. Es war immer ein großes Vergnügen für das Kind, mit dem Vater vollends heim zu fahren.

Auch heute war Montag und Lieschen fragte ihre Mutter: »Darf ich wieder dem Papa entgegengehen?« »Jetzt noch nicht,« entgegnete die Mutter; »es ist noch zu bald.« »Aber später darf ich ihm entgegengehen?« »Ja wohl, das darfst du; vorher aber kannst du noch einen Einkauf machen,« sagte die Mutter. »Hole beim Kaufmann dort an der Ecke ein halb Pfund Nudeln; daraus machen wir für heute mittag eine gute Nudelsuppe.« Lieschen setzte ihren Hut auf, nahm das Geld und sagte: »Aber gelt, Mama, wenn ich die Nudeln gekauft habe, darf ich dem Papa entgegengehen?«

»Ja, das darfst du,« versicherte die Mutter und Lieschen ging. Bald war sie im Laden und besorgte ganz geschickt ihren Einkauf. Sie bekam eine große Gucke voll Nudeln, bezahlte sie und ging hinaus. »So,« dachte Lieschen, »jetzt habe ich die Nudeln gekauft, jetzt darf ich dem Papa entgegengehen, die Mama hat es erlaubt.«

So hatte es aber Frau Doktor Pfeil nicht gemeint, sie hatte gedacht, Lieschen würde erst die Nudeln heimbringen; inzwischen wäre es auch später geworden und der Wagen des Vaters wäre schon in die Stadt hereingefahren. Statt dessen wanderte nun Lieschen mit ihrer Gucke voll Nudeln im Arm fröhlich den ihr wohlbekannten Weg dem Vater entgegen.

Diesmal kam sie weit durch die Stadt und zum Tore hinaus, ohne den Vater zu treffen. Sie ging ein gutes Stück Weg auf der heißen staubigen Landstraße; die Gucke mit den Nudeln war inzwischen aufgegangen und die Nudeln wollten immer herausfallen. Je öfter Lieschen die Gucke zudrückte, um so schlechter wurde das Papier und endlich platzte es ganz auseinander und die Nudeln fielen heraus in den dicken Staub der Landstraße. Nun war Lieschen in großer Not. Sie setzte sich mitten auf die Straße und fing an die Nudeln wieder aufzulesen. Aber sie fielen immer aufs neue wieder aus dem zerrissenen Papier heraus, Lieschen bekam einen ganz heißen Kopf und kämpfte mit den Tränen. Sie war so sehr mit ihren Nudeln beschäftigt, daß sie nicht einmal den Wagen bemerkte, der auf sie zukam. Da lehnte sich der Kutscher auf seinem Bock zurück und sagte zu seinem Herrn: »Sehen Sie nur dorthin, Herr Doktor, da sitzt ein kleines Mädchen mitten in der Straße, wie leicht könnte das Kind überfahren werden.« Der Doktor sah heraus: »Ja, wahrhaftig, es ist unbegreiflich, wie manche Leute ihre Kinder ohne Aufsicht lassen. Man sollte sie wirklich strafen.« Inzwischen war der Wagen ganz nahe zu Lieschen herangekommen, diese bemerkte ihn jetzt und sprang auf.

»Um Gottes Willen, das ist ja unser Lieschen!« riefen zu gleicher Zeit der Herr und der Kutscher, und Lieschens Stimme ließ sich hören: »Ach, kommst du endlich, Papa!« Der Wagen hielt und der Doktor wollte sein erhitztes und bestaubtes Kind in den Wagen nehmen. Aber Lieschen wollte um keinen Preis. »Meine Nudeln, zuerst muß ich meine Nudeln aufheben,« rief sie, und sprang zu dem Platz zurück, wo im Straßenstaub die Nudeln lagen.

»Was hast du denn da, Kind?« »Ach, das gibt ja unsere Suppe für heute mittag!« seufzte Lieschen. »Für die Suppe danke ich,« sagte der Vater, »lasse das Zeug nur liegen, die Mutter wird schon eine andere Suppe machen.« Damit hob er Lieschen auf und trug sie in den Wagen, der nun rasch dem Hause zufuhr. Lieschen, die von ihrem langen Gang und der großen Hitze ganz erschöpft war, lehnte ihr Köpfchen an den Vater und schlief ein.

Einstweilen hatte die Mutter daheim schon längst auf ihr Lieschen gewartet und die Köchin auf die Nudeln, die sie kochen sollte. Endlich sagte die Mutter zu Lene: »Ich begreife nicht, warum das Kind so lange nicht heimkommt. Gehe doch in den Eckladen und sieh, ob es noch dort ist.« Die Köchin eilte hinüber und erfuhr vom Kaufmann, daß Lieschen schon lange fort sei, daß sie aber nicht nach ihrem Hause zugegangen sei, sondern eine andere Straße.

»Was ist unserem Lieschen wieder eingefallen,« dachte Lene und lief der Straße nach, die ihr von dem Kaufmann angedeutet war, um Lieschen zu suchen. Die Mutter daheim wartete und wurde ganz ängstlich, als nun auch die Köchin nicht wieder kam. Am liebsten wäre sie auch noch zum Kaufmann gegangen; aber sie mußte bei dem Kleinen bleiben und nach dem Essen sehen.

»Aus der Nudelsuppe wird heute nichts mehr, das merke ich schon,« dachte die Mutter und ging in die Küche, um eine andere Suppe zu kochen. Nach einiger Zeit fuhr der Wagen des Doktors an und auch die Magd kam die Treppe herauf. »Ist Lieschen da?« war der Mutter erste Frage: »Ja wohl, sie ist im Wagen,« antwortete Lene. Lieschen war so fest eingeschlafen, daß sie nicht einmal erwachte, als der Vater sie sanft die Treppe herauftrug und auf ihr Bettchen legte. »Das Kind ist sehr müde und erhitzt,« sagte der Vater, »wir wollen sie nicht wecken; sie soll nur ein gutes Mittagsschläfchen machen.«

Die Mutter knüpfte ihr nun sachte die Kleider auf und bemerkte dabei, daß Lieschen fest im Arm ein Päckchen hielt, das sie nicht einmal im Schlaf loslassen wollte. »Was hat sie denn da wohl für einen Schatz?« fragte die Mutter und nahm das Papier. Es war die zerknitterte Gucke vom Kaufmann mit einem kleinen Rest ganz zerbröckelter Nudeln. Der Vater lachte: »Das hat sie aus dem Staub der Landstraße gerettet,« sagte er, und erzählte der Mutter, wie er das Kind getroffen hatte.

Als Lieschen spät am Nachmittag erwachte, brachte ihr die Mutter einen Teller voll Griessuppe und sagte: »Nudelsuppe gibt es heute nicht, weißt du vielleicht warum?« Da nickte Lieschen beschämt; sie griff aber eifrig nach der Griessuppe, aß sie mit Lust und freute sich, daß ihr die Mutter freundlich lächelnd zuschaute.

6. Lieschens letzter Streich.

Es war Lieschens Geburtstag. Die Freude hatte sie schon früh am Morgen aufgeweckt und nun lag sie wach in ihrem Bett und hätte gar zu gerne die Mutter aufgeweckt, um mit ihr über den Geburtstag zu sprechen. Vor 6 Uhr durfte sie aber die Mutter nicht wecken, das wußte Lieschen. Sie kannte zwar die Uhr noch nicht recht, aber so viel hatte ihr die Mutter gelehrt: Wenn der große Zeiger ganz oben und der kleine ganz unten ist, dann ist es 6 Uhr und dann darfst du mich wecken. Lieschen sah auf die große Wanduhr; der große Zeiger war noch lange nicht oben und der kleine auch noch nicht ganz unten und sie gingen so langsam vorwärts, Lieschen wurde ganz ungeduldig.

Da kam ihr plötzlich ein Gedanke: »Wenn ich den großen Zeiger hinaufschiebe und den kleinen hinunter, dann ist's ja 6 Uhr und dann darf ich die Mutter wecken.«

Sie besann sich nicht lange – denn das Besinnen war nie ihre Sache – sie schlüpfte leise aus dem Bett, um die Mutter ja vor 6 Uhr nicht zu stören, sie stieg auf den Tisch, über dem die Uhr hing und streckte sich. Mit knapper Not konnte sie die Zeiger erlangen. Sie rückte zuerst an dem kleinen – das ging viel schwerer als sie gedacht hatte und es knackte auch ein wenig, aber es ging doch und auch den großen brachte sie hinauf.

»So, nun ist es 6 Uhr,« dachte sie. Voll Vergnügen stieg sie herunter und kam an der Mutter Bett. »Guten Morgen, Mutter, hast du auch schon daran gedacht, daß heute mein Geburtstag ist?« »Guten Morgen, kleine Geburtstägerin,« antwortete die Mutter freundlich, »ist's denn schon 6 Uhr?« »Ja, sieh nur auf die Uhr!« »Wirklich, gerade 6 Uhr, ich bin aber noch ganz müde und will noch ein wenig liegen bleiben, schlupfe nur noch ein Viertelstündchen zu mir ins Bett!«

Das ließ sich Lieschen nicht zweimal sagen, da konnte sie nun nach Herzenslust mit der Mutter über alles plaudern, was der heutige Tag wohl bringen würde. Endlich sagte die Mutter: »Jetzt wird's aber Zeit sein, aufzustehen,« und sie sah nach der Uhr. Aber diese zeigte noch immer auf 6 Uhr, genau wie vor einer Viertelstunde.

»Was ist denn das, die Uhr geht ja gar nimmer!« rief die Mutter erstaunt. Lieschen erschrak. »Ich werde doch nicht schuld daran sein, Mutter?« fragte sie ängstlich. »Nein,« sagte die Mutter lächelnd, »du bist zwar meistens an allem schuld, aber dafür kannst du doch nichts, wenn die Uhr stehen bleibt.«

»Ich habe auch gar nichts an der Uhr gemacht, bloß die Zeiger habe ich gerückt, damit es schneller 6 Uhr wird.«

Die Mutter konnte kaum glauben, was sie hörte. »Was sagst du? Was hast du getan?« und nun mußte Lieschen alles genau erzählen und zu ihrem großen Schmerz erfuhr sie, daß sie wieder einen ganz ungeschickten Streich gemacht, die Uhr verdorben und ihr neues Lebensjahr schlecht begonnen habe! Sie mußte ihr Lieblingsplätzchen in der Mutter Bett verlassen und sich noch einmal in ihr eigenes Bett legen. Dort weinte sie lange ganz still in ihr Kissen, es tat ihr so leid, daß die Mutter gerade heute so ärgerlich über sie war, es kam ihr vor, als sei nun der ganze Geburtstag verdorben. So hatte sie wohl ein halbes Stündchen gelegen, da kam die Mutter leise zu ihr her, setzte sich an ihr Bett, wischte ihr die Tränen ab und sprach ganz freundlich: »Du hast mir alles gesagt, was du zu deinem Geburtstag wünschst, nun will ich dir aber auch sagen, was ich mir an deinem Geburtstage wünsche. Ich wünsche mir, daß mein Kind in seinem neuen Lebensjahr keinen einzigen dummen Streich mehr macht und diesen Wunsch sollst du mir erfüllen.«

»Das kann ich aber nicht, Mutter, ich weiß ja nie vorher, was ein dummer Streich ist, und meistens bist du nicht gerade bei mir, daß ich dich fragen könnte.«

»Ich bin nicht immer bei dir, liebes Kind, aber der liebe Gott ist immer bei dir, und von nun an sollst du Ihn immer bitten, daß Er dir sagt, was recht und unrecht ist. Wenn dir irgend ein Einfall kommt, etwas zu tun, was du noch nie getan hast, so bete du vorher ganz im stillen und sage: »Lieber Gott, ist's wohl recht und gut?« und du wirst sehen, der liebe Gott gibt dir Antwort. Du wirst auf einmal wissen, ob es recht ist, oder unrecht, und nicht wahr, dann wirst du auch darnach tun?«

»Ja, Mutter, das will ich schon tun.«

»Nun dann ist's gut, Gott helfe dir dazu, mein liebes Kind, und nun stehe auf, ich will ganz vergessen, was du heute morgen getan hast und wir wollen einen fröhlichen Geburtstag feiern.«

Ganz getröstet sprang nun Lieschen aus dem Bett und wie die Mutter gesagt hatte, so kam es. Der Geburtstag wurde ein sehr fröhlicher Tag, Lieschen wurde reich beschenkt, die Mutter hatte keinen ihrer Wünsche vergessen. Daß aber auch Lieschen den Wunsch der Mutter nicht vergessen hatte, sollte diese noch am Abend erfahren.

Die Mutter war eben beschäftigt, Lieschens kleines Brüderchen zu Bett zu bringen, und Lieschen sah ihr zu, als der Vater aus seinem Studierzimmer herauf kam und sagte: »Laß mir doch in meinem Zimmer einheizen, ich komme eben erhitzt nach Hause und finde nun das Zimmer sehr kühl.« »Ach, das ist mir leid,« sagte Lieschens Mutter, »das Mädchen ist eben ausgegangen und ich kann im Augenblick nicht weg, sonst würde ich dir gleich selbst Feuer machen.«

Mehr hörte Lieschen nicht, denn sie war rasch zur Türe hinaus gegangen. »Ich will dem Vater einheizen,« hatte sie sich im stillen vorgenommen, und rasch, wie immer, eilte sie, ihren Vorsatz auszuführen. Sie holte in der Küche das nötige Holz und trug es hinunter in des Vaters Studierzimmer. Sie hatte schon oft gesehen, wie man Feuer macht und war überzeugt, daß sie das prächtig zustande bringen würde. Und wie mußte sich der Vater freuen, wenn sie nach einigen Minuten hinauf käme und sagte: »So, Vater, jetzt brennt das Feuer, ich habe es angezündet!« Während sie sich dieses ausmalte, nahm sie einige Papiere, die auf dem Boden herum lagen, schob sie in den Ofen, legte das Holz darauf und nun griff sie nach der Zündholzschachtel und wollte ein Hölzchen anstreichen.

»Das habe ich noch nie getan,« dachte sie, aber mit diesem Gedanken kam ihr plötzlich ein anderer: die Mutter hatte ja gesagt, wenn du etwas tun willst, das du noch nie getan hast, so frage erst den lieben Gott. Ja, das wollte sie befolgen! Sie legte die Schachtel weg, faltete ihre Händchen und sprach halblaut: »Lieber Gott, meinst du ich soll?« Und es war ihr, als sagte ihr eine Stimme: »Nein, du sollst nicht Feuer machen, ohne daß die Mutter etwas davon weiß.« Lieschen zögerte noch ein wenig, es wäre doch recht lustig gewesen, das Hölzchen anzustreichen und das Papier aufflammen zu sehen. Aber sie hörte zu deutlich die Stimme, die ihr sagte, daß es unrecht sei. »Ja, lieber Gott, ich folge dir,« sagte Lieschen und nachdenklich stand sie auf und ging langsam hinauf zur Mutter, die wieder allein mit dem Kleinen war.

Und nun erzählte sie der Mutter, was sie getan hatte. Die Mutter freute sich so sehr darüber, daß Lieschen sich ganz glücklich fühlte. Sie hatte gar nicht gedacht, daß die Mutter eine so große Freude haben würde, wenn sie nicht einheizte, gewiß eine größere Freude, als der Vater über das Einheizen gehabt hätte! In diesem Augenblick kam der Vater ganz aufgeregt ins Zimmer. »Ich habe vorhin einige wichtige Papiere auf meinen Schreibtisch gelegt und nun, wie ich eben wieder hinunterkomme ins Studierzimmer, sind die Papiere verschwunden. Ich begreife durchaus nicht, wo sie hingekommen sind. Freilich geht ein starker Wind, und als ich eben die Türe aufmachte, flog auch ein Blatt von meinem Schreibtisch weg auf den Boden, aber ich sehe die Papiere nirgends, sie müssen gerade zum Fenster hinaus geflogen sein, denn es war doch kein Mensch in meinem Studierzimmer!«

»Ich war in deinem Zimmer,« sagte Lieschen. »Ja, Lieschen war soeben in deinem Zimmer, sie hatte den Einfall, dir Feuer machen zu wollen, aber sie war diesmal brav und hat es nicht getan.«

»Aber ich habe Papiere vom Boden aufgehoben, sie waren neben dem Papierkorb gelegen und habe gemeint, ich dürfte sie zum Einheizen nehmen. Sie sind im Ofenloch!« Bei diesen Worten Lieschens eilten Vater und Mutter hinunter, Lieschen wollte auch mit, die Mutter aber schob sie sanft zurück und sagte: »Du bleibst bei dem Kleinen.« Die Mutter dachte sich wohl, daß der Vater sehr böse auf Lieschen sein würde und sie wollte ihm erst alles erzählen, ehe er das Kind strafen würde.

Die Papiere fanden sich richtig im Ofen, die Mutter nahm sie vorsichtig heraus, reinigte und glättete sie, so daß man ihnen schließlich kaum mehr ansah, wie nahe sie schon dem Feuertod gewesen waren. Dabei erzählte die Mutter dem erzürnten Vater, was sie heute morgen dem Kind ans Herz gelegt und wie lieb Lieschen ihre Worte befolgt hatte. »Nun gottlob,« sagte der Vater, »so ist doch Hoffnung, daß Lieschen endlich ihre Streiche aufgibt! Dieser wäre wohl noch der schlimmste geworden, denn diese Papiere sind mehr als 100 Mark wert!« Als Lieschen das erfuhr, erschrak sie noch nachträglich bei dem Gedanken, was sie fast angestiftet hätte. Sie dachte darüber nach, wie ihr Beten sie vor großem Unheil behütet hatte und sie faßte nun ein solches Vertrauen zu dem lieben Gott, daß sie nie mehr etwas unternahm, ohne vorher zu beten, und mit Lieschens Streichen war es für immer vorbei.



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