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Ein schlimmer Winter.

Es war mittags um zwölf Uhr. Die Mutter war eben beschäftigt, den Tisch zu decken, einen großen Tisch für Vater, Mutter und fünf Kinder. Das kleinste Kind, die zweijährige Sophie, war allein bei der Mutter, denn die vier anderen Kinder gingen alle schon in die Schule. Jetzt aber wurde es laut auf der Treppe, und die zwei ältesten Knaben, Siegfried und Hermann, stürmten ins Zimmer herein.

»Mutter, weißt du's schon?« riefen sie eifrig. »Was soll ich wissen?« fragte die Mutter.

»Unser Lehrer hat gesagt, alle Schulen seien von heute an geschlossen, weil so viele Kinder krank sind und damit nicht die übrigen auch alle noch angesteckt werden.« »Das gibt eine lange Vakanz mitten im Winter!« rief Hermann ganz vergnügt. Und da kam auch der sechsjährige Fritz jubelnd ins Zimmer gesprungen und rief: »Mutter, wir haben keine Schule mehr!« Aber die Mutter antwortete: »O Kinder, freut euch doch nicht, das ist ein schlimmes Zeichen, daß die Schulen geschlossen werden müssen!«

Zuletzt kam auch das vierte Schulkind mit dem Ranzen auf dem Rücken heim. Es war die neunjährige Hedwig. Diese machte aber ein trauriges Gesicht und sagte: »Mutter, die kleine Maria Bauer, die neben uns wohnt, ist gerade gestorben und ihr Bruder ist auch schwer krank. Wenn er stirbt, so hat die arme Frau Bauer nur noch ein einziges Kind, das Gretchen. Sie dauert mich so!«

»Ja Kinder, es ist eine schreckliche Zeit,« sagte die Mutter bekümmert. In diesem Augenblick kam der Vater, der Apotheker war, aus der Apotheke herauf, zum Mittagessen. Auch er sah ungewöhnlich ernst aus und sprach zur Mutter: »Laß schnell das Essen hereinbringen, denn ich habe wenig Zeit. So lange ich die Apotheke habe, waren noch nie so viele Arzneien zu machen wie gegenwärtig. Die böse Krankheit greift immer mehr um sich. Euch Kindern verbiete ich aufs strengste, in irgend ein Haus zu gehen, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, denn wir wollen tun, was wir können, damit die Krankheit nicht in unser Haus komme.«

Stillschweigend wurde nun das Mittagessen eingenommen, denn Vater und Mutter schienen so ernst und besorgt, daß die Kinder sich auch nicht mehr über ihre Vakanz freuen konnten.

Gleich nach Tisch ging der Vater wieder in die Apotheke, das Kindsmädchen brachte die kleine zweijährige Sophie, die mittags noch ein Schläfchen zu machen pflegte, ins Bett. Die Knaben benützten die unerwartete Vakanz, um auf die Schlittschuhbahn zu gehen, und Hedwig ging hinunter in den großen Hof hinter der Apotheke, wo sie jeden Tag nach Tisch den Vögeln Brosamen streute. Bald sah sie in dem Nachbarshof, welcher der Witwe Bauer gehörte, das kleine Gretchen. Es hatte ein schwarzes Schürzchen an und ein schwarzes Tuch um den Hals gebunden, weil ihr Schwesterchen gestorben war. Gretchen sah verweint aus und Hedwig hatte Mitleid mit ihr.

»Bist du auch krank, weil du so blaß bist?« fragte Hedwig. »Nein,« sagte Gretchen und kam dicht an den Zaun heran, der die beiden Höfe trennte. »Ich bin nicht krank, aber hungrig.« »Jetzt, nach dem Mittagessen, bist du hungrig?« fragte Hedwig verwundert.

»Ich habe fast nichts zu essen bekommen,« antwortete Gretchen. »Die Mutter hat nichts gekocht, denn sie ist immer bei dem kranken Bruder oder bei der toten Schwester, und wir haben auch nimmer viel zu Hause.« »Warte nur ein wenig,« sagte Hedwig, »ich bringe dir etwas zu essen,« und sie lief eilig ins Haus zurück. Sie suchte die Mutter. Diese war aber gerade zum Vater in die Apotheke gegangen und dorthin durfte ihr Hedwig nicht folgen, das wußte sie. Da ging Hedwig in die Küche und fragte die Köchin, ob nicht etwas vom Mittagessen übrig sei für des Nachbars Gretchen. Und die Köchin gab ihr eine kleine Schüssel voll Suppe, die noch warm war, und schnitt noch ein Stück Brot dazu. Dies trug nun Hedwig vorsichtig in den Hof hinunter und schon von weitem rief ihr Gretchen entgegen: »Bringst du mir etwas?« »Jawohl, da sieh nur!« rief Hedwig vergnügt und wollte die Schüssel durch den Zaum schieben, aber das ging nicht, der Zaun war zu eng. »Laß nur, ich klettere über den Zaun,« sagte Gretchen, und wirklich kam sie ganz geschickt herüber. Nun setzten sich die beiden Mädchen nebeneinander auf die Hofstaffel und Hedwig sah mit Lust zu, wie sich Gretchen die Suppe und das Brot schmecken ließ. »Vielleicht darf ich dir morgen wieder etwas bringen,« sagte Hedwig, »aber jetzt gehe ich wieder hinauf, denn mich friert es.«

»Ich danke dir schön,« rief Gretchen und kletterte wieder über den Zaun in ihren Hof, Hedwig aber nahm die leere Schüssel und ging wieder ins Haus zurück.

Beim Abendessen erzählte Hedwig den Eltern und Geschwistern ihre Begegnung mit dem Nachbarskind. Als sie aber sagte, daß Gretchen sich neben sie auf die Staffel gesetzt habe, warfen sich die Eltern einen ernsten Blick zu, und Siegfried, der älteste Bruder, sagte zu Hedwig: »Was, du bist neben dem Gretchen gesessen, und du weißt doch, daß in ihrem Haus die Krankheit ist!« »Aber sie selbst ist ja nicht krank!« entgegnete Hedwig.

»Das macht nichts, deswegen kann sie uns die Krankheit doch anhängen,« sagte Siegfried, und Hermann fügte hinzu: »Nun bist du schuld, wenn auch wir krank werden oder gar sterben!« Hedwig erschrak und sah die Eltern ängstlich an. Der Vater aber wehrte den Knaben und sagte: »Macht eurer Schwester keine Angst, das läßt sich jetzt doch nimmer ändern. Und du, Hedwig, lasse das Gretchen nimmer in unsern Hof kommen, ich will schon sorgen, daß sie etwas zu essen bekommt.«

Am nächsten Morgen, ehe es noch hell war, klopfte das Kindsmädchen an die Schlafzimmertüre der Eltern.

»Was gibt es?« riefen diese erschreckt. »Ach,« sagte das Kindsmädchen, die bei der kleinen Sophie in einem Zimmer schlief, »die Kleine war die ganze Nacht so unruhig, ich glaube, sie ist krank, und mir selbst ist es auch so elend!« Rasch erhob sich die Mutter und eilte an das Bett der kleinen Sophie. Diese lag mit fieberglühenden Bäckchen da, und sofort erkannte die Mutter, daß das Kind von der gefürchteten Krankheit ergriffen war. Aber auch das Kindsmädchen sah krank aus. »Du hättest mich früher wecken sollen,« sagte die Mutter zum Mädchen, »wir müssen augenblicklich zum Arzt schicken.« Der Vater ging selbst fort und brachte den Arzt gleich mit. Als er das Kindsmädchen und die Kleine sah, erklärte er sofort, daß die beiden schwer krank seien. Es wurde nun sogleich ein Wagen geholt und das Kindsmädchen ins Spital gebracht. Die kleine Sophie aber sollte von der Mutter allein gepflegt werden und keines der Geschwister durfte mehr zu ihr ins Zimmer kommen. Der Vater und die gesunden Kinder sollten ganz getrennt von ihnen im obersten Stockwerk des Hauses schlafen.

Als Hedwig erfuhr, daß über Nacht die gefürchtete Krankheit ins Haus gekommen sei, fiel ihr wieder ein, wie gestern ihr Bruder zu ihr gesagt hatte: »Du bist schuld, wenn wir krank werden oder gar sterben,« und diese Worte bedrückten sie sehr. Sie glaubte nicht anders, als daß sie allein an der Krankheit der kleinen Schwester schuld sei, und daß die Eltern und Geschwister sie nun gar nicht mehr lieb haben könnten. Sie ging still und traurig im Haus umher, und wenn ihre Brüder vergnügt miteinander spielten und die Sorge um die kleine Sophie vergaßen, schlich sie vor die Türe des Krankenzimmers und horchte, ob sie nicht die Stimme der Mutter oder der Kleinen hören und erfahren könnte, wie es stehe.

Es dauerte aber nur wenige Tage, da wurde auch ihr Bruder Fritz krank und kam ins Krankenzimmer herunter, und kurze Zeit darauf mußte sich auch Hedwig legen.

Nun hatte die Mutter eine schwere Zeit: drei kranke Kinder zu pflegen und das Kindsmädchen im Spital! Und als noch eine Woche vergangen war, da kam der traurigste Tag: denn da trug man einen kleinen Sarg aus dem Hause, in dem lag die kleine Sophie, der Liebling der ganzen Familie. Die Mutter wollte den kranken Kindern gar nicht sagen, daß ihr Schwesterchen gestorben sei, aber als man ihr Bettchen hinaustrug und die Mutter ihre Tränen nicht verbergen konnte, merkte es Hedwig doch und die Mutter konnte es nicht verhehlen. Hedwig war tief betrübt über den Tod ihres Schwesterchens und dabei sagte sie sich immer: »Ich bin schuld, daß die Mutter ihren kleinen Liebling verloren hat!«

Bei diesen traurigen Gedanken verschlimmerte sich Hedwigs Krankheit sehr und der Arzt glaubte schon, sie müßte auch sterben. Endlich aber wurde es doch etwas besser bei ihr und auch der kleine Fritz war außer Gefahr. Er war aber ein ungeduldiger Patient und quälte seine Mutter sehr. Oft weckte ihn sein Husten bei Nacht, dann verlangte er Zuckerwasser; bald war ihm sein Bett zu warm und bald zu kalt, und die arme, müde Mutter hatte gar keine Ruhe. Hedwig konnte auch nicht schlafen, aber sie plagte ihre Mutter nie, denn sie dachte immer: »Ich bin ja doch schuld an all dem Kummer.« Manchmal, wenn die Mutter gerade erst eingeschlummert war, fing Fritz schon wieder an zu husten und warf sich unruhig hin und her. Dann erhob sich Hedwig ganz leise, ehe er der Mutter rief, schlich an sein Bett, gab ihm zu trinken und flüsterte ihm freundliche Worte zu, damit er nur die Mutter nicht aufwecke. Davon wußte die Mutter gar nichts, sie hätte es auch nicht erlaubt, denn Hedwig war noch so schwach, daß sie nachts recht notwendig Ruhe gebraucht hätte.

So stand es im Hause, als eines Morgens der Briefträger der Mutter einen Brief brachte. Nachdem sie ihn gelesen hatte, machte sie zum ersten Mal seit der kleinen Sophie Tod wieder ein vergnügtes Gesicht und sagte: »Denkt euch nur, Kinder, die Tante Mathilde schreibt mir, sie wolle kommen und euch pflegen helfen. Heute Abend um sieben Uhr sollen wir sie erwarten!« Das war eine Freude! Die Kinder hatten die Tante Mathilde, die Schwester ihrer Mutter, sehr lieb und gerade jetzt, in dieser trübseligen Zeit, wollte sie kommen! Der Vater hatte ihr geschrieben, daß die Mutter so traurig und so müde sei, und da hatte die Tante sich rasch entschlossen, zu ihr zu kommen und hatte geschrieben, sie fürchte sich gar nicht vor der bösen Krankheit.

Schnell wurde nun das Gastzimmer gerichtet und tüchtig geheizt, und am Abend durften Siegfried und Hermann an die Bahn gehen, um die Tante abzuholen. Inzwischen deckte die Mutter einen behaglichen Teetisch und alles war bereit, die Tante zu empfangen. Endlich kamen Siegfried und Hermann von der Bahn zurück, aber – sie kamen allein, die Tante war nicht angekommen! Das war eine bittere Enttäuschung! Vater und Mutter sprachen lange darüber, was wohl die Tante abgehalten haben könne und meinten, sie sei vielleicht selbst erkrankt. Noch trauriger als sonst ging an diesem Abend die Familie zur Ruhe.

In der Nacht war Fritz wieder unruhig. Hedwig hörte ihn, ehe die Mutter erwachte, und da sie merkte, daß er die arme Mutter wieder wecken wollte, huschte sie geschwind aus ihrem Bett und gab ihm einen Schluck Zuckerwasser, das schon hingerichtet war. Kaum hatte sich Fritz wieder beruhigt, als Hedwig an der Glastüre ein leises Klingeln hörte. »Wer kommt da mitten in der Nacht?« dachte Hedwig, »ich will nur leise hinausgehen und nachsehen, damit die Mutter nicht gestört wird.« Sie schlüpfte rasch in ihr Röckchen, denn es war eine kalte Nacht, dann nahm sie das Nachtlämpchen, das immer im Krankenzimmer brannte, und ging hinaus. Sie sah ängstlich durch das Fenster der Glastüre. Da rief eine freundliche Stimme: »Mach nur auf, Kind, die Tante ist's!« Da schloß Hedwig auf, so schnell es ihre kalten, zitternden Händchen zustande brachten, und die Tante in einen dicken Wintermantel gehüllt mit Muff und Pelz stand vor der kleinen Nichte im Unterröckchen.

»O Tante, wie herrlich, daß du kommst, wir hatten dich schon um 7 Uhr erwartet!« rief Hedwig. »Ich weiß wohl, liebes Kind, aber ich habe den Zug versäumt, es war mir so leid für euch,« antwortete die Tante. »Aber komm nur ins warme Zimmer, Kind, du siehst ja so blaß und elend aus, daß ich dich kaum mehr erkannt hätte und du zitterst vor Kälte. Was fällt dir ein, in deinem dünnen Röckchen nachts herauszukommen?«

Hedwig führte die Tante ins Wohnzimmer und erzählte ihr, wie es gekommen war, daß sie ihr die Glastüre aufgemacht habe.

»Aber das ist nichts für dich, Hedwig, du sollst die ganze Nacht schlafen,« sagte die Tante.

»Ich kann aber nicht schlafen,« antwortete Hedwig, »Fritz hustet immer und ist so unruhig, er weckt auch die Mutter so oft; o Tante, ich habe so angst, daß die Mutter auch krank wird und stirbt und ich bin an allem schuld!« Bei diesen Worten brach Hedwig in bittere Tränen aus und konnte vor Schluchzen gar nimmer reden. Da zog die Tante das arme Mädchen wie ein kleines Kind auf ihren Schoß, hüllte sie warm in ihren großen Reisemantel und drückte sie voll Mitleid an ihr Herz. Dann aber sagte sie: »Nun sei still, mein Kind, und höre mir zu. Wenn deine gute Mutter müde und matt ist, so wundert mich das gar nicht, weil sie so viel Schweres erlebt hat, aber sieh, ich bin jetzt gekommen, damit sie sich recht ausruhen kann; ich werde ihr alles abnehmen und du wirst sehen, daß sie dann bald wieder frisch und gesund wird. Aber nun sage mir auch, warum du vorhin gesagt hast, du seiest an allem schuld?«

Hedwig erzählte nun der Tante ihre Begegnung mit Gretchen und sagte ihr, wie unglücklich sie seitdem gewesen sei. Die Tante hörte aufmerksam zu und fragte dann: »Also gleich in der Nacht, nachdem du bei dem Gretchen im Hof warst, ist dein Schwesterchen krank geworden?« »Ja, in derselben Nacht,« antwortete Hedwig. »Nun, dann bist du nicht schuld gewesen, du törichtes Kind,« sagte die Tante bestimmt, »so schnell kann diese Krankheit gar nicht von einem Menschen dem andern gebracht werden. Hat dir denn das deine Mutter nicht gesagt?«

»Ich habe es nie übers Herz gebracht, sie zu fragen,« sagte Hedwig.

»Hättest du es doch getan,« sagte die Tante, »dann hätte dir die Mutter auch gesagt, was sie mir geschrieben hat, daß euer Kindsmädchen mit der kleinen Sophie einige Tage vorher in dem Hause ihrer Schwester war, die an der Krankheit gestorben ist. Euer Arzt glaubt, dort habe sie sich und dem Kinde die Krankheit geholt.« »O Tante,« rief Hedwig, »wenn das wahr wäre! Aber die Mutter sieht mich doch seitdem immer so ernst an, wie wenn sie sagen wollte: ›Du hast mich traurig gemacht!‹«

»Freilich sieht sie dich ernst und traurig an, du kleine, dürre, blasse Person; mache, daß du wieder frische, rote Backen bekommst, dann wird dich die Mutter gleich wieder anders ansehen. Hat sie mir doch erst geschrieben, daß ihr Töchterchen sich gar nicht erholen könne, das sei jetzt ihr größter Kummer!«

Hedwigs Augen leuchteten vor Glück, als sie diese Worte hörte. Da fragte plötzlich die Tante: »Sage mir, habt ihr mir auch das Gastzimmer geheizt?« »Jawohl, Tante!« »Und das Bett gewärmt?« »Schon seit heute Mittag sind Bettflaschen darin.« »Gut,« sagte die Tante, »dann lege dich nur gleich hinein.« »Ich?« fragte Hedwig mit größtem Erstaunen. »Ja du! Du darfst mir nun nimmer neben dem Schlingel, dem Fritz, schlafen und gleich morgen mache ich auch deiner Mutter Bett ins Gastzimmer.«

»Aber Tante, du mußt doch auch schlafen und kannst doch nicht in mein Bett!«

»Ich will nicht schlafen, ich bin gesund!« und nun begleitete die Tante Hedwig in das Gastzimmer und verließ sie erst, als Hedwig ganz behaglich in dem weichen, warmen Gastbett lag. Wie war es dem Kind jetzt so wohl ums Herz! »Ich bin nicht schuld,« sagte sie sich immer wieder, dann faltete sie ihre Händchen und dankte dem lieben Gott und schlief in dem stillen Zimmer so tief und so erquickend, wie seit lange nimmer. Die Tante aber setzte sich an Fritzchens Bett.

Als er einmal aufwachte, war er so überrascht, die Tante neben sich zu sehen, daß er laut ausrief: »Mutter, Mutter, die Tante ist da!« Natürlich erwachte jetzt auch die Mutter und war nicht wenig erstaunt, als sie beim Schein des Nachtlichts das liebe Gesicht der Tante erkannte. Die Tante mußte sich zu ihr ans Bett setzen und ihr erzählen, wie sie ins Haus gekommen war. Da erfuhr die Mutter auch alles, was Hedwig der Tante anvertraut hatte.

»Das arme Kind!« sagte die Mutter, »wieviel unnötigen Kummer hat sie sich gemacht. Aber wie rührend ist es, daß sie mir zuliebe nachts heimlich aufgestanden ist, freilich hätte sie dabei noch einmal schwer krank werden können.«

Als am Morgen die Mutter ins Gastzimmer ging, um nach Hedwig zu sehen, schlief diese noch fest. Erst um 10 Uhr, als die Mutter sich wieder nach ihr umsah, dehnte und streckte sich die kleine Langschläferin und schlug endlich die Augen auf.

Da stand die Mutter neben ihr am Bett und sah ihr lächelnd in das verschlafene Gesichtchen. Da fiel Hedwig erst wieder ein, was sie heute Nacht erlebt hatte. Sie richtete sich schnell in ihrem Bett auf, umarmte ihre Mutter so innig wie noch nie und rief: »O Mutter, ich bin so glücklich und mir ist so wohl!«

»Ich seh es dir an, Kind, du hast dir ja rote Bäckchen hergeschlafen,« und dabei küßte die Mutter zärtlich ihr Töchterchen. In diesem Augenblick kam auch der Vater ins Zimmer, und hinter ihm streckten die beiden großen Brüder neugierig die Köpfe zur Türe herein, denn sie hatten nun Hedwig lange Zeit nimmer gesehen.

»Du siehst ja heute ganz frisch aus,« sagte der Vater zu Hedwig, »und auch die Mutter macht ein glückliches Gesicht. Hat das die Tante gleich in der ersten Nacht zustande gebracht? Das ist eine wahre Hexenmeisterin!«

»Hurra, die Tante soll leben,« riefen die beiden Brüder; da kam die Tante heraus und in dem Gastzimmer versammelte sich die Familie zum erstenmal wieder mit fröhlichen Gesichtern. Nur Fritz war noch nicht dabei, aber bald wurde auch er wieder gesund, und als einige Wochen vorüber waren und der Frühling kam, da nahm die Tante die ganze Familie mit sich fort aufs Land, wo sie sich alle wieder erholen konnten von dem schlimmen Winter mit der bösen Krankheit!



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