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Wenn Gott will.

Im Gewühl des Hofballes begab es sich, daß der französische Botschafter für eine Weile neben dem neuernannten Minister v. Kleefeld zu stehen kam. Der Botschafter hatte den Minister bisher nur ganz flüchtig kennengelernt, sah ihn heute zum zweitenmal und redete ihn verbindlich an.

»Es gibt keinen anderen Hof in Europa, der mit solch einer feierlichen Größe repräsentiert ...« begann er das Gespräch.

Der Minister blieb ein paar Sekunden still und nachdenklich, als prüfe er in seinem Geist diesen Ausspruch. Dann aber erwiderte er lächelnd: »Entschuldigen Sie ... was haben Sie gesagt ...?«

Der Botschafter war betroffen. Diese Phrase erschien ihm, nun er sie wiederholen sollte, von bleierner Schwere. Man dürfte in guter Gesellschaft, dachte er, nicht gezwungen werden, gewisse Höflichkeiten zweimal auszusprechen. »Ich meine,« sprach er laut, »dieses Fest ist herrlich ...«

Der Minister lächelte: »Selbstverständlich ... sehr richtig ... aber mir ist heiß.«

Jetzt schwieg der Botschafter; und der Minister fuhr fort: »Mir is' sonnisch heiß ... mein Ehrenwort ...«

Eine neue Pause entstand. Dann neigte der Minister sich zu dem Botschafter und flüsterte vertraulich: »Is Ihnen auch so heiß, Exzellenz?«

Da wurde der Botschafter völlig ratlos und betrachtete den Minister genauer. Diese dürre Greisengestalt war vom goldgestickten Frack prunkvoll umschlottert. Die Bänder zweier Großkreuze überquerten faltig diese eingesunkene Brust und das schmale, weißbärtige Köpfchen wackelte hin und her, als sei es nur lose an der goldenen Uniform befestigt worden. Ein demütig lächelndes Antlitz mit einem unbestimmbaren Ausdruck und mit nirgendwohin gerichteten Blicken. Das linke Auge war erloschen und schien vorquellend den Fußboden anzustieren, während das rechte Auge zu den Kronleuchtern emporblinzelte. Das Lächeln aber war gespenstisch. Es war ein stehengebliebenes Lächeln aus fernen Zeiten. Sein Inhalt, wenn es jemals einen besessen, war längst verflogen und verrauscht. Dieses Lächeln war eingetrocknet wie ein grünes Blatt in einem alten Buch, es saß in diesem Antlitz wie ein Insekt in einem Stück Bernstein. Der Botschafter kam sich neben diesem Mann plötzlich sehr einsam und irgendwie gefährdet vor. Er spähte umher, und da schob sich eben ein befreundeter Diplomat im Gedränge vorüber.

»Sachsenstein!« rief der Botschafter. Aber er rief es, wie man um Hilfe schreit.

Der andere kam heran. Der Botschafter zog ihn lebhaft mit sich fort. Erst nach ein paar Schritten machte er halt, wendete sich um, zeigte auf den Minister und sagte: »Ich bitte Sie, lieber Sachsenstein, Sie sind ja hier zu Hause; erklären Sie mir den Mann dort ...«

Sachsenstein sagte höflich: »Einer unserer Minister ... von Kleefeld ...«

»Das weiß ich,« fiel der Botschafter ein; »aber ... erklären ... erklären ...«

Sachsenstein schaute prüfend zu dem Minister hinüber, wurde ein wenig verlegen und fragte: »Ich weiß nicht, Exzellenz, wie Sie das meinen ...«

»Nur ganz privat meine ich das,« erwiderte der Botschafter, »selbstverständlich nur privat ... nur weil ich in diesem Moment noch ganz perplex bin ... Ich habe mit dem Mann zu reden angefangen ... wenn Sie wüßten ...«

Sachsenstein lachte: »Na, so ungefähr kann ich mir's denken.«

»Ah, lieber Freund,« rief der Botschafter, »Sie haben doch auch etwas von der Welt gesehen; wir waren ja in Athen, in Kopenhagen und in Petersburg zusammen ... und bei uns in der Diplomatie ... also Sie wissen ja, es kommen einem schon merkwürdige Exemplare vor ... aber so was hab' ich doch noch nicht erlebt.«

»Ach, meine liebe Exzellenz,« meinte Sachsenstein, »er ist noch lange nicht der Schlimmste ...«

»Aber wie er redet ... haben Sie ihn reden gehört ...?«

»Gott ... eben ein einfacher Mann ... soll aber ein tüchtiger Bureauarbeiter sein.«

»Sachsenstein ... sagen Sie mir nur, wie wird so jemand Minister ...?«

»Ich könnte Sie an einige Minister bei Ihnen zu Hause, in Frankreich, erinnern ...«

»Ach was, bei uns!« sagte der Botschafter wegwerfend.

Sachsenstein fuhr fort: »Dieser da ist freilich auf eine besondere Weise Minister geworden. Man hat ihn von klein auf dazu ausersehen. Es war gewissermaßen nichts dagegen zu machen ...«

Der Botschafter unterbrach ihn: »Ich verstehe ... er stammt aus einer eurer alten Familien.«

Sachsenstein schüttelte den Kopf: »Das wäre ja keineswegs sonderbar. O nein. Herr von Kleefeld ist selbst erst vor wenigen Jahren geadelt worden ... Sein Großvater war noch Tafeldecker hier bei Hof ...«

»Lakai ...?«

»Ja ... Lakai! Diese Leute haben durch Unglücksfälle ihr Glück gemacht.«

»Ich verstehe nicht ganz ...«

»Das ist ja auch nicht zu verstehen. Sehen Sie, Exzellenz, Peter Kleefeld, der Großvater, war also königlicher Tafeldecker. Ob er seinerseits ebenfalls von irgendeinem königlichen Bedienten abstammt, ist nicht erforscht worden. Jedenfalls ist ihm kein nennenswertes Unglück zugestoßen, und so mußte er schon Tafeldecker bleiben bis an sein Lebensende. Das heißt, man hat ihn wohl rechtzeitig pensioniert, wie dann sein Sohn ...«

»Das war der Vater des jetzigen Ministers?«

»Ganz recht.«

»Erzählen Sie doch, Sachsenstein ... aber nicht so langsam!«

»Ach, Exzellenz, es ist eine Anekdote, weiter nichts. Kein Schicksal, höchstens ein Bonmot der Vorsehung. Keine Entwicklung von Charakteren. Nichts. Der Hof war damals im Sommerschloß Marienburg. Sie kennen es? Erinnern Sie sich der langen Einfahrt zwischen hohen Taxuswänden? Also denken Sie: die Kinder der Hoflakaien laufen dort herum und spielen, obgleich sie das eigentlich nicht tun dürfen. Auch der Sohn des Tafeldeckers springt dort umher. Eines Tages kommt die Equipage der Königin Christina angesaust ... bums, liegt der kleine Kleefeld unter den Rädern. Er schreit wahnsinnig, und das hätte von Rechts wegen ein Zeichen sein müssen, daß ihm nichts passiert ist. Es ist ihm auch weiter nichts geschehen. Das Gesicht ein bißchen zerschunden, die Hände vom scharfen Kies geritzt. Die Königin aber war maßlos erschrocken, sieht das Kind von Blut überströmt, gerät in Verzweiflung und fährt den Jungen schnell die paar Schritte in die Gesindewohnung. Besucht dann den Tafeldecker alle Tage, und der Kleine wird im Bett gehalten, damit der Glanz in dieser Hütte so lang als möglich währe. Am Krankenbett verspricht die gute Königin den Eltern, sie wolle für den Jungen sorgen. Der wird denn auch zu den Dominikanern ins Gymnasium geschickt, wird auf die Universität bugsiert, weil er aber den Doktor durchaus nicht erreichen kann ... Sie verstehen, nicht wahr? Kurzum, er wird Hofbeamter und endigt als Rechnungsrat erster Klasse, als ein Mann von sozialem Klang, geschmückt mit vierundzwanzig Orden. Da haben Sie den Aufstieg der Familie ...«

»Sie sprachen aber doch von mehreren Unglücksfällen?«

»Gewiß, das kommt ja erst. Das Ueberfahrenwerden war ja nur der Anfang. Nun sehen Sie, der Sohn des Herrn Rechnungsrates ...«

»... das ist der Minister ...?«

»Freilich. Der Enkel des Tafeldeckers, der Sohn des Rechnungsrates, der Herr Minister. Also, der Sohn des Rechnungsrates wird zum Gespielen des Prinzen Eberhard ausersehen. Man nimmt bei uns, wenn Aristokratenkinder nicht zu haben sind, ganz gern die Kinder von Hofbeamten für diese Dinge. Sie eignen sich denn auch vortrefflich dazu. Es sitzt ihnen gewissermaßen schon im Blut, daß sie ganz genau wissen, was ein Prinz ist, und daß sie so ein sicheres Gefühl für ihre eigene Stellung haben. Man nimmt also den jungen Kleefeld, weil er gerade so alt ist wie der Prinz Eberhard. Ein paar Jahre geht die Sache auch ganz gut. Freilich behaupten die Erzieher, unser Prinz Eberhard haben den kleinen Kleefeld niemals leiden mögen, habe immer geschimpft, der Bub sei ihm zu dumm. Aber es hilft nichts. Der kleine Kleefeld bleibt. Vielleicht gerade deshalb. Prinzen dürfen sich ihren Umgang ja nicht wählen. Seine Königliche Hoheit nahmen deshalb die Gewohnheit an, den Sohn des Rechnungsrates zu prügeln. Teils zur Zerstreuung, teils aus Mangel an persönlicher Sympathie und Wertschätzung, teils auch aus angeborenen Herreninstinkten. Und wieder eines schönen Tages hatte der Prinz Eberhard eine herzige kleine Reitpeitsche, die er natürlich an seinem Spielkameraden probiert. Hat nun der Teufel seine Hand dabei gehabt, oder hat einfach das Glück des Hauses Kleefeld seines Amtes gewaltet, genug ... der Sohn des Rechnungsrates brachte ein Auge weniger mit nach Hause, als er des Morgens besessen, da er ins Schloß gekommen war ...«

»Daher also dieses starre Auge?«

»Jawohl, daher! Das Auge selbst ist ja allerdings erhalten geblieben. Aber es ist blind seit damals. Nur sind seit jener Zeit so viele Jahre vergangen, daß ich absolut nicht mehr weiß, ist es das linke gewesen, das jetzt immer zu Boden starrt, oder das rechte Auge, das beständig in die Höhe blinzelt. Jedenfalls, ein Auge war pfutsch, und man muß gerecht sein: das ist immerhin eine ernstere Sache als das bißchen Ueberfahrenwerden. Es war eine große Geschichte. Der Vater des Prinzen Eberhard, weiland König Adalbert, ließ den Rechnungsrat holen, tröstete ihn und versprach ihm, die Einäugigkeit solle den Jungen nicht hindern, dereinst Minister zu werden.«

»Ach soo ...?«

»Natürlich, Exzellenz. Der Herr Rechnungsrat hatte ja in diesen Dingen sozusagen schon eine Praxis. So kam sein Sohn nicht zu den Dominikanern, sondern ins adelige Knabenstift. Und die Doktorprüfungen wurden einfach bestanden. Man sagte den gestrengen Herren: Wissen Sie, das ist der junge Kleefeld, dem der Prinz Eberhard ein Auge ausgeschlagen hat. Man sagte das später im Ministerium; bei allen Gelegenheiten, bei allen Beförderungen. Immer hieß es: Der muß besonders berücksichtigt werden; dem hat der Prinz Eberhard ein Aug' ausgeschlagen. Oder man erklärte: Für den Kleefeld muß doch etwas geschehen, der hat durch den Prinzen Eberhard ein Aug' verloren. Und wie jetzt ein Ministerportefeuille zu vergeben war, brachte dieses Wort die Entscheidung.«

»Ich danke Ihnen, Sachsenstein. Jetzt verstehe ich alles. Aber ich muß sagen, ich finde, diese Anhänglichkeit des Prinzen Eberhard ... das ist ein schöner Zug.«

»Aber nein, Exzellenz. Sie irren sich. Anhänglich sind nur die Kleefelds. Das Nette ist ja, daß der Prinz Eberhard den Kleefeld heute noch ebensowenig ausstehen kann wie damals. Er ist ihm nur gnädig, verstehen Sie, aber er mag ihn nicht.«

»Sie haben recht, Sachsenstein. Es ist eine Anekdote.«

»Nicht wahr, Exzellenz? Andere Leute, die überfahren werden, oder denen man ein Auge ausschlägt, gehen kaputt. Diese aber werden Rechnungsräte und Minister. Das heißt nach der Butterseite fallen. Sehen Sie übrigens den jungen Offizier dort?«

»Den Generalstäbler?«

»Ja. Das ist der Sohn des Ministers Kleefeld.«

»Ah – und auf welch glückliche Weise ist der verunglückt ...?«

»Auf gar keine! Was denken Sie? Den hütet der Vater wie seinen Augapfel. Pardon – besser, wollt' ich sagen. So was war für den Sohn eines Tafeldeckers nützlich oder für den Sprößling eines Rechnungsrates. Aber der Sohn eines Ministers hat es doch wirklich nicht notwendig, auch nur einen Fingernagel zu riskieren, um vorwärtszukommen.«


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