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Tini Holms Aufstieg.

»Mein Sohn ist ein Esel ...«

Der alte Herr Kulmbacher sagte es scherzenden Tones und blinzelte. Aber er machte ein deprimiertes Gesicht, und das Lächeln, das er bei diesen Worten versuchte, mißlang ihm vollständig. Denn er meinte es eigentlich ganz im Ernst.

Er war ein großer, breitschultriger Mann mit einem roten Gesicht, einem starken Hals und mit brutalen Augen. Jetzt freilich lag in seinem Wesen jene sanfte, gebieterische Ruhe, die eine ungeheure Arbeit und ein ungeheurer Erfolg den Menschen verleiht. Herr Kulmbacher hatte sechzig Millionen erworben, und wenn er nun Jahr für Jahr neue Millionen gewann, so kostete ihn das weit weniger Mühe, als er einst hatte aufwenden müssen, um die ersten tausend Kronen zu verdienen.

»Ihr Sohn,« sprach der Professor, der eben mit Herrn Kulmbacher konferierte, »Ihr Sohn braucht irgendeine Kräftigung seines Selbstgefühls ...«

»Wie soll ich denn das anfangen?« rief Herr Kulmbacher. »Könnten Sie mir das nicht sagen? Wenn es sein Selbstgefühl nicht kräftigt, mein Sohn zu sein ...! Uebrigens gebe ich ihm so viel Geld, als er nur verlangen mag ...«

Der Professor schaute mit seinem klugen Lächeln Herrn Kulmbacher ins Gesicht. »Ich glaube eher, daß es den jungen Herrn sehr niederdrückt, Ihr Sohn zu sein. Sie sind ihm als Vater zu schwer; er kann Sie nicht aushalten. Sie zermalmen ihn ganz einfach. Und Ihr Geld macht ihn melancholisch ...«

»Mein Sohn ...« Herr Kulmbacher wollte wieder sagen: Mein Sohn ist ein Esel. Aber er besann sich, daß er es ja soeben erst gesagt hatte, daß dieser Ausspruch wohl ein Urteil sei, aber doch zur Lösung der ganzen Frage nichts helfen könne. Deshalb verstummte er.

Da hatte er nun diesen einzigen Sohn; hatte allerlei Hoffnungen auf ihn gesetzt. Glanz und Macht und sozialen Aufstieg des Hauses Kulmbacher sollte dieser Sohn vollenden. Aber es war ein schmaler, blasser, total verschüchterter Mensch aus ihm geworden, dem nichts in der Welt eine Freude bereitete, der immer traurig war, immer Kopfschmerzen hatte, und sich jetzt mit Selbstmordgedanken trug. Ja, dabei war man nun glücklich angelangt, daß Albert Kulmbacher lebensüberdrüssig war und bewacht werden mußte, weil man fürchtete, er könne sich eines Tages erschießen.

Während der Professor sprach, empfand der alte Kulmbacher so etwas wie peinigende Beschämtheit. Dieser Sohn sträubte sich gegen ihn, den Vater, das war richtig. Er litt unter diesem Vater. Dieser Sohn verhehlte ängstlich alle seine Gedanken und Gefühle, alles, was er trieb und wollte. Nur eines zeigte er offen: seinen Ekel vor dem Geld. Und damit machte er gleichsam das ganze Lebenswerk des Vaters zunichte. Er entwertete den Reichtum, den die Tüchtigkeit des Alten aufgespeichert hatte. Die Millionen, die bereitlagen, verloren durch diesen Sohn alle ihre berauschenden Möglichkeiten; sie wurden armselig und bekamen den schalen Beigeschmack des Vergeblichen.

Der Professor sprach und der alte Kulmbacher hörte zu. Dann fing er plötzlich ein Wort auf, winkte rasch mit der Hand und sein Antlitz zeigte die gesammelte Kraft eines schnellen Entschlusses.

»Sie meinen also, mein Sohn müßte einmal um seiner selbst willen geliebt werden?«

»Ja«, entgegnete der Professor. »Daran glaubt er nicht; hat immer den Verdacht, daß man nur den jungen Millionär umwirbt, und zweifelt an nichts so sehr und so schmerzhaft als an seinem eigenen Wert. Es ist, wenn Sie es bedenken, eine anständige Regung. Nicht wahr? Und ich meine, gerade darin liegt sein ganzes Leiden.«

»Sie sagen mir da,« bemerkte der alte Kulmbacher sachlich, »wenn ein Millionärssohn anständige Regungen verspürt, dann muß er lebensüberdrüssig werden ...?«

»Man könnte es ungefähr so ausdrücken,« lächelte der Professor.

»Jedenfalls,« sagte der alte Kulmbacher und stand auf, »jedenfalls wollen wir auch das noch versuchen. Ich werde ihm ein Mädchen verschaffen, das ihn um seiner selbst willen liebt.« Er wendete sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das über sein Gesicht flog.

Aber zwei Tage später hatte er seinem Sohn das Mädchen verschafft. Er hatte Tini Holm gefunden.

Sie war die Tochter eines Bankdieners, der am Abend Billetteurdienste in einem Vorstadttheater versah. Dort hatte der Bankdiener auch eine Anstellung für seine Frau erwirkt, die sich in einem schwarzen Kleid mit einer weißen Schürze des Abends im Theater an abseits gelegener Oertlichkeit den Damen nützlich machte. Tini war durch die glänzenden Verbindungen ihrer Eltern zuerst in eine Schauspielschule aufgenommen worden. Sie sah mit ihrer zarten, hohen Gestalt, mit ihrem bleichsüchtigen Gesicht und ihren schwarzen Augen wahrhaft tragisch aus; und sie träumte denn auch davon, eine Heroine zu werden und den verwaisten Thron der Wolter einzunehmen. Aber ihr Vater fand es praktischer, wenn sie für den Anfang eine kleine Gage verdiente, und meinte, auf diese Weise könne man leichter abwarten, bis die Burg Tini Holm einlud, den Thron der Wolter zu besteigen. Tini Holm spielte denn auch in dem Vorstadttheater, wo man französische Possen gab, allerhand niedliche Mädchen, spielte dämonische Kokotten und entsetzliche Ehebrecherinnen und tröstete sich in ihren freien Stunden, indem sie Gedichte von Theodor Körner und von Freiligrath deklamierte. Als nun der alte Kulmbacher unter den vortrefflichen Damen dieser Vorstadtbühne Umschau hielt, bemerkte er, daß alle diese Künstlerinnen ihren eigenen Monatswagen besaßen oder ihr Elektromobil. Er bemerkte, daß sie fabelhafte Brillanten trugen, und er sah daraus, daß es schwer sein würde, hier ein Mädchen zu finden, das einen schüchternen, melancholischen und – wie Herr Kulmbacher meinte – ungewöhnlich dummen Menschen um seiner selbst willen zu lieben bereit wäre.

Da entdeckte er Tini Holm und erfuhr, daß ihre ganze Familie des Abends im Theater versammelt und beschäftigt sei. Tini auf der Bühne, der Vater im Parkett und die Mutter in mehr abseits gelegenen Räumlichkeiten. Herr Kulmbacher suchte diese Räumlichkeiten auf, verständigte sich mit Tinis Mutter und saß am nächsten Tage schon in der Wohnung des Billetteurs, um die Verhandlungen zu Ende zu führen.

Tini hörte ihn mit einem tragischen Gesichtsausdruck an. Herr Kulmbacher war kurz und sachlich. »Sie erhalten fünfzigtausend Kronen von mir«, sagte er. »Und wenn das, was wir abgemacht haben, gelingt, vor allem aber, wenn es geheim bleibt, erhalten Sie weitere hunderttausend Kronen. Von meinem Sohne dürfen Sie nichts annehmen; verstehen Sie? Es ist Ihr eigenes Interesse, daß mein Sohn und überhaupt kein Mensch auch nur das geringste erfährt. Sonst wäre ja alles aus.«

Die Mutter schüttete einen ganzen Katarakt von Beteuerungen über Herrn Kulmbacher. »Kaufen Sie sich keinen Schmuck und keine Toiletten,« sagte Kulmbacher, »das wäre das Dümmste, was sie jetzt tun können.« Damit ging er.

Es wurde sehr fein arrangiert, daß der junge Kulmbacher Tini bei einer Jause kennenlernte, die eine ihrer eleganten Kolleginnen gab. Tini hatte zu dieser wichtigen Gelegenheit außer einem bescheidenen weißen Waschkleid nur noch den Namen »Toinon« angelegt. Das war der einzige Aufwand, den sie sich erlaubte.

Albert Kulmbacher sah dürftig aus, aber seine schönen blauen Augen nahmen für ihn ein, und sein scheues, beinahe wehleidiges Benehmen stimmte Tini poetisch. Sie saß mit ihm auf dem Sofa und deklamierte leise Gedichte von Freiligrath. Die anderen störten die beiden nicht, denn die Sache war so arrangiert worden.

Als dann Albert nach Hause ging, stellten sich seine Zweifel wieder ein. Sein Rausch verflog; er wurde von furchtbarer Traurigkeit befallen, wütete gegen sich selbst und gegen Tini, was ihm besonderen Schmerz verursachte.

»Dieses Mädchen«, sagte er zu sich, »versucht es mit der Erhabenheit, um mich zu gewinnen. Natürlich bin ich ihr ganz gleichgültig, aber mein Name erregt ihre Habsucht. Mag sie glücklich werden mit dem Firlefanz, den sie sich wünscht.«

Er ging zum Juwelier, kaufte einen teuren Schmuck und sendete ihn an Tini. Dazu schrieb er, mit Bitterkeit im Herzen, einen flotten lebemännischen Brief. Er werde Tini morgen nach der Vorstellung abholen.

Am nächsten Tag erhielt er den Schmuck zurück. Tini konnte ihn keine zehn Minuten im Hause gehabt haben, so rasch kam das Etui wieder zu Albert. Es war auch ein Brief dabei, in dem Tini erklärte, diese Juwelen seien nicht bloß ein Schimpf für sie, sie seien ihr auch eine herbe Enttäuschung. Sie habe geglaubt, Albert sei »nicht so« wie die anderen, das habe sie ganz glücklich gemacht. Nun sei ihr ein schöner Traum zerstört, und sie verlange jetzt nur, Albert solle sie in Ruhe lassen.

Er war überwältigt. Er zitterte am ganzen Körper und empfand eine Freude, die ihn zu zersprengen drohte. Eine Hoffnung erwachte in ihm und regte sich wie ein lebendiges Wesen und nahm ihm den Atem. Kaum hatte die Vorstellung begonnen, stand er schon beim Bühneneingang, um Tini zu erwarten. Stundenlang stand er da; bald geduldig, bald fiebernd vor Ungeduld, bald geschwellt vor Mut, bald wieder zerrissen von Verzweiflung. Als Tini kam, sprach er sie an und bat sie um Verzeihung. Er mußte ihr sein Wort geben, nie wieder so etwas Häßliches zu tun. Dafür erlaubte sie, daß er sie nach Hause begleiten dürfe. Dann deklamierte sie, durch die abenddunkeln Straßen gehend, Gedichte von Theodor Körner und von Freiligrath, und in Alberts Gemüt ergoß sich aus dieser Stimme und aus diesen Versen ein ganzer Strom von Lebensmut und Seligkeit. Er wollte nur eines wissen: wie sie denn dazu gekommen sei, an jener Jause teilzunehmen. Die Dame des Hauses sei doch ... Tini erklärte das sehr einfach: »Ich bitte Sie, es ist schließlich eine Kollegin von mir ... Man darf sich da nicht verfeinden.« Er begriff das, gab ihr recht, bedauerte sie und war beruhigt.

Von diesem Tage an war im Hause Kulmbacher von Alberts Lebensüberdruß nicht mehr die Rede. Albert begann sogar wieder Klavier zu spielen; er begann bei Tisch wieder Gespräche mit seinem Vater zu führen. Er war freilich verschlossen wie sonst und schüchtern. Aber er lächelte doch manchmal, und seine blauen Augen strahlten.

Langsam trug er sein ganzes Leben zu Tini und breitete es vor ihr aus. Seine Kindheitserinnerungen, seinen Weltschmerz, seine Verachtung des Geldes, sein Klavierspiel. Tini lernte Beethoven und Chopin durch ihn kennen. Sie ging mit ihm in Konzerte, sie hörte zu, wenn er bei ihr, in der Wohnung ihrer Eltern, auf dem schlechten Pianino musizierte, das sie bezahlte. Dann hörte er wieder zu, wenn sie deklamierte. Sie sprach ihm die Maria Stuart vor, die Jungfrau von Orleans und die Iphigenie. Er war berauscht von dem Glück, daß eine große Künstlerin ihn liebe. Denn er hielt Tini für die größte Künstlerin, die es jemals gegeben.

Dieser kindliche, vornehme und gütige Mensch erschütterte Tini. Ihr Hang nach Poesie erwachte durch ihn zu neuer Heftigkeit, und eines Tages gewahrte sie, daß sie Albert stürmisch liebe. Je deutlicher ihr das wurde, je fester sie sich dieser Empfindung hingab, desto mehr quälte sie der Vertrag, den sie mit Alberts Vater geschlossen. Jetzt erst sah sie ein, daß sie etwas Schmähliches begangen habe. Sie glaubte sich verloren und entschloß sich zu einem Schritt der Verzweiflung.

Der alte Kulmbacher lachte böse, als Tini ihm sein Geld zurückgeben wollte. »Das glaubt Ihnen der Teufel,« sagte er hart, »daß Sie meinen Sohn jetzt wirklich lieben. Sie sind eine Spekulantin! Aber erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen aufsitze!«

Er ließ gleich, nachdem Tini fort war, den Professor holen. »Das Ganze ist mir verdächtig,« schloß er seine Erzählung. »Jetzt bleibt mir nichts übrig, als meinem Sohn reinen Wein einzuschenken. Er ist ja jetzt ohnedies wieder munter.«

Der Professor wurde ernst: »Wenn Sie das jetzt oder überhaupt jemals tun würden, dann stehe ich für nichts! Ihr Sohn würde unrettbar und für immer an der Welt verzweifeln. Ich weiß natürlich nicht, ob er wieder seinem Lebensüberdruß anheimfiele. Wahrscheinlich ist es. Aber eines weiß ich: Mit Ihnen wäre Ihr Sohn fertig. Als Vater würden Sie ihn jedenfalls verlieren, wenn er hört, was für eine Komödie Sie mit ihm aufgeführt haben!«

Der alte Kulmbacher fühlte, daß er gefangen sei. Er begriff, daß die kleine Tini ihn in der Hand habe. So wagte er denn nur eines noch. Er tat, als habe er das Verhältnis seines Sohnes erst jetzt entdeckt. Er ließ ihn holen, fiel mit Wut und Jähzorn über ihn her, denn er wußte, daß Albert gegen die Heftigkeit des Vaters von jeher willenlos gewesen war. Er verlangte, Albert solle sofort abreisen. Gleichviel wohin. Nach Japan, nach Australien. Und er selbst, der Vater, wolle dann dem Mädchen eine anständige Abfertigung geben.

Albert hörte den Vater ruhig an: ruhig und mit einem leisen, glückseligen Lächeln. Nur zuletzt, als dann das von der Abfertigung kam, wurde er plötzlich rot, stand heftig auf, kämpfte mit seiner Schüchternheit und sagte endlich sanft, aber entschlossen: »Ich muß doch bitten, meine Braut nicht zu beleidigen ...«

Ruhig und festen Schrittes verließ er hierauf das Zimmer. Der alte Kulmbacher saß wie vom Donner gerührt da, zugleich aber empfand er irgendwie eine freudige Genugtuung über das männlich freie, energische Wesen Alberts.

Nun kam eine Zeit, in der es der alte Kulmbacher endlich erlebte, daß sein Sohn fröhlich nach all den aufgespeicherten Millionen griff. Beinahe gierig, glücklich und dankbar griff er danach, um der kleinen Tini alle Herrlichkeiten zu Füßen zu legen. Und als sie dann eines Tages aus der Kirche kamen, als die Tini dann neben Albert in der prachtvollen Equipage der Kulmbacher saß und mit ihrer schlanken Eleganz, mit ihrem schönen blassen Gesicht, mit ihren schwarzen Augen darin aussah wie eine spanische Prinzessin, da fiel es dem alten Herrn, der an der Kirchentreppe stand, aufs Herz, daß es doch nur die Tochter eines Bankdieners sei, nur eine kleine Vorstadtkomödiantin, und es fiel ihm ein, an welchem Ort er zum erstenmal mit Tinis Mutter gesprochen hatte.

»Mein Sohn ist ein Esel ...«, sagte er vor sich hin. Aber er lächelte und winkte den Neuvermählten, die davonfuhren, mit der Hand.


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