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Hic Rhodus.

»... ich habe in meinem ganzen Leben kein Glück gehabt ...«

Während der Bittsteller diese Worte aussprach, blinzelte der Minister, denn er mußte jedesmal blinzeln, so oft vor seinen Augen eine Ungeschicklichkeit geschah. Ein kleiner Widerstand begann sich heftig in ihm zu regen. Habe ich vielleicht Glück gehabt? dachte er. Sind wir denn in einem Hasardspiel, wo jeder Dummkopf gewinnen kann? Er wendete den Kopf, sah in eine entfernte Ecke des Zimmers und dachte: dieser Mensch wird jetzt lauter Dinge sagen, mit denen er sich schadet.

Der Bittsteller neigte sich ein wenig über den Schreibtisch des Ministers. Die weite Fläche dieses Schreibtisches lag vor ihm da wie ein Panorama; breitete sich vor ihm aus wie ein wohlgeordnetes, prunkvolles Reich. Er empfand eine heiße Sehnsucht und sagte mit klagender, Einlaß begehrender Stimme: »... es hat mir auch immer an Protektion gefehlt ... ja ...«

Der Minister blinzelte. Das war ein falscher Ton. Er seufzte leise. Wieder einer, dachte er, dem es nicht einfällt, daß man sein Leben selber in beide Hände nehmen und vorwärts tragen muß. Kommt da mit einem Empfehlungsschreiben herein und erzählt mir, es fehle ihm an Protektion. Setzt sich hier in mein Zimmer und wartet, daß ich ihn jetzt irgendwohin bringe, wo es ihm gefällt. Lieber Gott, wie bequem sind doch diese Leute im Grund genommen. Die setzen sich einfach mitten ins Leben, mitten auf die Straße des Lebens, und warten, daß jemand kommt, der sie vorwärts trägt. Benehmen sich, als ob sie leblose Bündel wären und als ob sie von irgendeiner Post befördert werden müßten. So einfach stellen sie sich das Dasein vor. Dann aber wundern sie sich, wenn man sie überfährt oder beiseite wirft. Protektion! Das heißt: andere sollen für sie etwas tun; sollen ihnen in den Wagen helfen, sollen sie in den Sattel heben, sollen sie an eine üppige Tafel setzen, sollen für sie gehen und stehen. Und für diese anderen sind wieder andere tätig gewesen, und für diese wieder andere. Nicht wahr? Eine ganze Kette; ... so daß man eigentlich keinen einzigen Menschen mehr finden könnte, der von selbst etwas geworden ist.

Der Minister begann schneller zu denken: Aber natürlich, das weiß ich ja ... an einen Menschen, der sich wirklich durch seine eigene Kraft emporgerungen hat, glaubt diese Sorte niemals. Wenn man's ihnen sagt, lächeln sie schlau, als wüßten sie's besser. So einer spricht hier das Wort Protektion aus, wie man einen Schuldschein präsentiert. »Na, Freunderl, du hast selbst einmal Wohltaten empfangen, sei jetzt menschlich und bezahl'!« Und das bißchen Verdienst, das man sich erworben, das zwicken sie einem mir nichts, dir nichts ab, wie einem die Taschendiebe die Uhr abzwicken. Ich danke.

Der Bittsteller sprach und vollendete seinen Satz: »... es hat mir auch immer an Protektion gefehlt ... und wenn man keine Protektion hat ...«

Der Minister dachte: Diese Melodie kenne ich nun schon zum Ueberdruß. Alle pfeifen dasselbe Liedchen. Gütiger Himmel, wie alt werden doch die Lügen unter den Menschen. Und wie wenig bemerken sie es, wenn eine Wahrheit von einst anfängt, eine Lüge von jetzt zu werden. Das war eine kluge Einrichtung der Aristokraten, daß sie ihrer Kaste die besten Karrieren als ein Vorrecht gesichert haben. Eine wundervolle Schutzvorrichtung, damit die Talentlosen nicht über Bord stürzen. Hätten sie das nicht jahrhundertelang geübt, es wäre schon niemand mehr von ihnen vorhanden. Protektion! Wie früher ist es heutzutage nicht mehr. Aber selbst wenn ich's gelten lasse; selbst wenn ich's zugebe, daß noch viel damit erreicht werden kann ...

Er maß den Bittsteller mit einem raschen Blick: Protektion! Erwirb dir doch einmal eine Protektion, wenn du's imstande bist. Auch dazu gehört ein gewisses Talent. Wer's trifft, der hat damit allein schon eine Art von Leistung vollbracht. Da sitze ich und sehe die vielen hundert Menschen, die zu mir hereinkommen mit allen möglichen Hoffnungen, Absichten, Plänen, Bitten, Wünschen. An mir müssen sie ihr Probestück machen. Sie müssen die Kraft haben, mich zu erobern, die Geschicklichkeit, mich zu interessieren, den Griff, mich festzuhalten, den geheimnisvollen Takt, mir zu gefallen, mich zu gewinnen, meine Neugierde, mein Zutrauen zu wecken. Und wie erbärmlich stümpern sie an mir herum, die meisten. Wie untüchtig sind sie, wie dreist in ihrer Ohnmacht, wie plump, wie nachlässig. Ja, nachlässig, denn sie haben nicht einmal alle ihre Gaben zusammengerafft, haben sich nicht einmal aufs genaueste vorbereitet, ehe sie zu mir kamen, sind verwirrt, zerstreut, werden unverständlich. Wie viele glauben nicht einmal recht an sich, halten ihren Aufstieg selber für etwas Unwahrscheinliches, benehmen sich hier wie Leute, die in der Lotterie setzen. Und man hört aus ihrer Stimme, daß gar kein wirklicher Mut in ihnen ist. So wie diese Leute reden, mit solch einem Ton, mag vielleicht ein Mensch sprechen, der sich eine opulente Mahlzeit bestellt und der dabei weiß, daß er kein Geld bei sich hat, sie zu bezahlen. Man soll diesen Herrschaften alles servieren, was gut und teuer ist, man soll die Rechnung für sie begleichen, aber essen, das möchten sie; das würden sie treffen.

Der Bittsteller sagte: »... wer es heutzutage zu etwas bringen will, der darf vor gewissen Dingen nicht zurückschrecken ...« Er sagte es mit einer Stimme, in der ein winziges Restchen Courage verlöschen wollte.

Der Minister dachte: Ich habe es ja gleich gewußt, er wird lauter Dinge sagen, mit denen er sich schadet. Die Erfolglosen reden hinter jedem, der Erfolg hat, drein, daß er ein Streber sei. Ich habe viele Streber gesehen, seit ich auf der Welt bin; ich habe viele von ihnen genauer betrachtet, und ich muß sagen, in den meisten von ihnen war doch irgendein starker Wille lebendig. Der Wille zu einer Idee, zu einer Tat, zu einer Arbeit. Freilich oft nur der Wille zu sich selbst. Aber, wenn dieser Wille stark genug ist, um sich durchzusetzen; wenn er eisern genug ist, auszuhalten, anzudauern ...? Einen großen Erfolg, der gänzlich unverdient ist, kenne ich nicht. Auf keinem Gebiet. Es mag verwerfliche Erfolge geben, verwerfliche Eigenschaften. Man muß jedoch hinzufügen, daß beinahe jede Sache von irgendeinem Standpunkt aus verwerflich ist. Die Geschichte verwirft den Kanzler Metternich. Trotzdem leugnet sie seine Gaben nicht, weil das unmöglich wäre. Das hat schon seine Gründe, wenn einer Karriere macht. Andere Gründe als Protektion und Glück.

Wie geschieht es denn gewöhnlich, daß einer Karriere macht? Doch nicht, indem er sich herstellt und auf eine gute Gelegenheit wartet, auf einen günstigen Zufall, auf irgendeine Bekanntschaft oder gar auf irgendeine Vakanz. Es gibt gar keine Vakanzen im Leben. Alle Stellen sind zehnfach besetzt im Leben. Die kleinste Stelle hat ihre Bewerber, ihre Anwärter, ihre Reservisten. Zehnfach? Hundertfach! Karriere machen gewöhnlich die Leute, die von Anfang an dazu entschlossen sind, die aufs Leben losgehen, wie man auf eine Schanze losgeht, die man erstürmen will. Mich bezaubert dieser Sturmschritt, mich entzückt diese Entschlossenheit von jeher! Sie mag bewußt sein oder instinktiv, es liegt doch die Empfindung darin, daß man sein Leben nur einmal hat, und daß man es zu etwas Rechtem machen muß, wenn's überhaupt dafür stehen soll.

Der Bittsteller schwieg. Es entstand eine Pause.

Der Minister dachte: Warum schweigt er denn? Das sollte er nicht. Er hat mir noch gar nicht genau erklärt, was er eigentlich haben will. Es ist entsetzlich, wie ungeschickt dieser Mensch ist.

Weil aber der Minister nichts in der Welt so wenig vertragen konnte als Ungeschicklichkeit, wandelte ihn die Lust an, jetzt an der Stelle des Bittenden zu sein, es besser zu machen als dieser; es überhaupt so zu machen, wie es gemacht werden müßte. Er dachte sich aus, wie er sprechen würde, wie er sitzen und sich benehmen würde, und wie er sich schnell einen günstigen Bescheid erobern könnte. Aus Ordnungsliebe, aus Lust am Sachlichen dachte er sich das aus.

Dann dachte er: Dieser Mensch wird mir gleich erzählen, daß er zu feinfühlig und zu vornehm ist, um heutzutage etwas zu erreichen. Natürlich ... und wenn diese Herren dann auch wirklich nichts geworden sind, dann sitzen sie zu Hause bei ihren Frauen und explizieren ihnen: »ich bin eben zu gut ... ich bin eben zu anständig ...« Und von den anderen, die immer höher und höher steigen, sagen sie dann: »ja, die gehen eben über Leichen.«

Der Minister blinzelte wieder zu dem Bittsteller hinüber: Als ob dieser Mensch da nicht ebenfalls bereit wäre, über Leichen zu gehen. Ein Wunsch, der ihm erfüllt wird, muß eben zehn anderen verweigert werden. Aber das geniert ihn nicht.

Dilettant! dachte der Minister. Die meisten Menschen sind Dilettanten. In ihrem Berufe, in ihrem Leben, in ihrem Vergnügen, in ihrer Liebe. Ueberall. Wenn sie nichts erreichen, wundern sie sich. Das ist dilettantisch. Und wenn sie keinen Erfolg haben, geben sie aller Welt die Schuld, klagen alle Welt an, nur nicht sich selbst. Das ist erst recht dilettantisch.

»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann ...« sagte er gleichgültig und stand auf.

Der Bittsteller verbeugte sich und schlich hinaus.

Der Minister schaute ihm nach: Nichts kann ich für dich tun, mein Bester; nicht das geringste. Einem Menschen, der für sich selber nichts tun kann, dem helfe ich nicht. Solche Leute darf man bemitleiden, meinetwegen, nur darf man nicht versuchen, sie zu fördern. Das ist unmöglich. Denn jeder macht die Karriere, die er verdient!

Also dachte der Minister. Aber vielleicht dachte er nur so, weil er schon Minister war.


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