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Einleitung in die Glückseligkeitslehre

 

I.

Unter dem Titel: Einleitung zur gemeinnützigeren Moralphilosophie, gab J.M. Sailer zunächst für seine Schüler, dann aber »auch für jeden denkenden Tugendfreund« in den Herbstferien des Jahres 1786 bei seinem Verleger Lentner in München eine Abhandlung heraus, die die Grundsätze entwickelt, aus denen seine bekannte » Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit steter Hinsicht auf die Urkunden des Christentums oder christliche Moralphilosophie« hervorging, die im folgenden Jahre in zwei Bänden beim gleichen Verleger erschien. Sie trägt das Motto:

»Sei aufmerksam
und mein's redlich mit Dir

 

und

was wahrhaft gut macht,
das ist die beste Wahrheit!«

Schon in diesen wenigen Worten kommt klar zum Ausdruck, was Sailer unter Moralphilosophie versteht.

 

Er geht aus von der Wortbedeutung der Philosophie. »Liebe zur Weisheit, Weisheitsliebe (vertraut sein mit der Weisheit) das ist Philosophie.« »Weisheitsfreund, Liebhaber der Weisheit, der ist Philosoph ([?]), der verdient den mißbrauchten Namen eines Philosophen.« Den Begriff der Weisheit sucht er aus dem » Grundgesetz« aller Weisheit näher zu bestimmen, das nach ihm dieses ist:

»Alle Menschenkräfte sollen streben:

  1. nach Erkenntnis der Zwecke, wozu wir und die Dinge um uns da sind;
  2. nach Erkenntnis der Mittel, die uns den Zweck unseres Hierseins erreichen helfen, und
  3. nach treuer Anwendung der erkannten hinlänglichen Mittel zum großen Zwecke unseres Hierseins.

»Es geberden sich viele Wißlinge«, fährt er fort, »als wenn sie weise wären, aber wissen und weise sein, wähnen es zu sein und weise sein, sind doch nicht einerlei. Weisheit scheint mir durchaus praktische Weisheit, nicht bloß die Geschicklichkeit des Verstandes, würdige Zwecke und taugliche Mittel vorzuschlagen, sondern auch die Geschicklichkeit des Willens, die erkannten Mittel zur Erreichung würdiger Zwecke anzuwenden«. Er weist auf das Willenselement hin, die Liebe (Güte nennt er es auch wohl), die das Wort »Philosophie« entstehungsgemäß in sich schließt. »Philosophie ist tätige Liebe alles dessen, was immer unser Erkennen von Mittel und Zweck richtiger, reicher, brauchbarer, und unser Streben, unser Tun diesem unserem Erkennen angemessener machen kann.«

Von dieser eigentlichen Philosophie oder Weisheitsliebe will er wohl zu unterscheiden wissen den Unterricht in der Philosophie oder die Lehre von der Weisheitsliebe. »Denn die eigentliche Philosophie, insofern sie nur Liebe zur Weisheit ist, kann nirgends als im Verstande und Herzen der Weisheitsfreunde zu Hause sein. Sie kann nicht auf den Kathedern gelehrt, nicht mit Schall und Lettern gegeben werden. Was immer man in Schulen und Schriften unter dem Namen ›Philosophie‹ lehrt und lehren kann, das kann nur ein Wink, nur eine Handleitung (manuductio) zur eigentlichen Philosophie sein. Darum könnte man die wahre Philosophie, die eine Verstandes- und Herzenssache ist, kurz Weisheitsliebe, und den Unterricht darüber Weisheitslehre nennen.«

Aus dieser Auffassung der Philosophie als Weisheitsliebe entwickelt dann S. als Ziel und Gegenstand der wahren Philosophie die Glückseligkeit des Menschen. Denn »wahre Weisheit beschäftigt sich nur mit würdigen Zwecken und den dazu brauchbaren Mitteln. Nun ist aber der würdigste, erste und letzte Zweck alles menschlichen Erkennens, Strebens und Tuns die wahre Glückseligkeit der Menschen, das Wohl der Menschheit, die Vollkommenheit unserer Natur. Also beschäftigt sich die Weisheit hauptsächlich mit der wahren Glückseligkeit der Menschen. Darum kann sich aber auch nun die Weisheits lehre (das, was man gewöhnlich Philosophie nennt) nur mit der Glückseligkeit des Menschen beschäftigen. Jeder Unterricht in der Philosophie ist also entweder Glückseligkeitslehre, oder dieses Namens unwert«.

An diese Entwicklung der Wortbedeutung und der Aufgabe der Philosophie knüpft S. folgende Schlußbemerkung:

  1. »zur Weisheitsliebe und Weisheitslehre gehört alles Wahre und Gute, wessen Herkommens es immer ist, wenn es nur erkennbar ist und das Menschengeschlecht besser, weiser, glücklicher machen kann: es mag durch Erfahrung oder Zeugnis, gesunden Menschen-Verstand oder scharf entwickelte Vernunft, durch natürliche Kräfte oder höhere Offenbarung, durch Nachdenken oder Tun erkannt worden sein;
  2. kein Philosoph kann im ältesten und reinsten Sinne des Wortes Weisheitsfreund heißen, der gleichgültig ist gegen irgend eine alt- oder neueröffnete Weisheitsquelle. Hingegen ist
  3. der größte Philosoph, wer alle Weisheitsquellen auf das beste benutzt, d. h. für Verstand und Herz daraus schöpft; redlich mitteilt, was er weiß; und nach dem, was er weiß oder ahnt, lebt.
  4. Wie ganz anders erscheinen uns die Dinge, wenn wir uns überwinden können, alle die Vorstellungsarten, die die Schulen nach und nach in Umlauf gebracht haben, zu vergessen (als wenn sie nicht einmal existierten) und unsere Begriffe auf die ursprüngliche Bedeutung der Worte zurückzuführen. Dadurch lernen wir je länger, je richtiger einsehen, daß es mit der sog. systematischen Philosophie nichts so Unwandelbares sei, als einige ihrer Schriftsteller gern daraus machten, indem schon der Begriff dieser Art Philosophie nicht nur äußerst willkürlich ist, sondern sogar außer dem Gebiete der Bedeutungskraft des Wortes liegt. Wir werden aufmerksam auf die Losreißung der Erkenntniszweige von einem gemeinschaftlichen Stamm und lernen das Willkürliche dieser Trennung von der Einheit der Erkenntnis sorgsam unterscheiden. Dadurch werden wir von dem verwüstenden Stolze der einseitigen Gelehrsamkeit frühzeitig bewahrt, durch welche die sogenannten Philosophen die sogenannten Theologen, und die sogenannten Historiker die sogenannten Spekulanten von jeher verachtet haben und umgekehrt. Diese kalte Selbstgenügsamkeit der gelehrten Zünfte erscheint in ihrer ganzen Dürftigkeit jedem, der den ältesten Begriff der Philosophie rein auffaßt und sich davon überzeugt hat, daß Erfahrungs-, Geschichts-, Vernunft- und Tat-Weisheit im Grunde den nämlichen Anspruch auf Philosophie machen können.
  5. Wir werden so daran gewöhnt, das zerstreute Gute und Wahre, das unter allerlei Gestalten, in allerlei Fächern, in allerlei Zuschnitten vorkommt, mit festem Blicke anzuschauen und unserem Erkennen einzuverleiben.«

 

II

Was Sailer von der Philosophie überhaupt lehrt, gilt nach ihm von der Moralphilosophie im Besonderen. Sie ist die Glückseligkeitslehre in engerem Sinne. Daß sie Glückseligkeitslehre ist, teilt sie mit den anderen Zweigen der Philosophie, die alle nach ihm, mögen sie nun etwa als Vernunftlehre sich mit dem Kennzeichen der Wahrheit oder als Naturlehre mit den Gesetzen der Körperwelt befassen, mit der Glückseligkeit in einiger Verbindung stehen und darum als Glückseligkeitslehre im weiteren Sinne zu bezeichnen sind. Die Moralphilosophie hingegen hat die Untersuchungen über die Glückseligkeit des Menschen zum unmittelbaren Zweck und heißt deshalb Glückseligkeitslehre im engeren Sinne. Man heißt sie Moralphilosophie, »weil die Sitte, das sittliche Betragen, die Freitätigkeit des Menschen (mores) in engster Verbindung mit der Glückseligkeit stehen«.

Zu einer solchen »Glückseligkeitslehre« im engsten Sinne wollte S. Anleitung geben.

 

III

Ueber einige Versuche, die vor dem seinigen liegen, eine Anleitung zur Moralphilosophie zu geben, äußert sich S. wie folgt:

»Die Anleitung zur Moralphilosophie hat bereits gar eigne Schicksale erfahren. Ich will nur von zweien reden.

1. Man wollte die Moral für Nichtchristen brauchbar machen, und sonderte also die sogenannte rein-philosophische Moral von der christlichen. Wäre man strenge bei dem Gedanken: Nur Vernunftmoral, geblieben: so würde aus dem hellen Mittage ein Lämpchen mit schwachem Scheine geworden sein. Aber man blieb nicht dabei. Man nahm das Licht verstohlener Weise, ohne es selbst zu wissen, aus dem Evangelium, und schrieb der Vernunft die Helle zu, die man dem Evangelium abgeborgt hatte. Und so ward aus dem dürren Gerippe von Sittenregeln ein gesunder Körper von Vernunftmoral, mit dem einzigen Fehler, daß es statt Vernunftmoral hätte heißen sollen: »Moral des Christentums mit philosophischen Ideen verwebt, und der Vernunft als Erfinderin zugeschrieben.«

2. Man ging noch weiter, und wollte die Moral auch für Atheisten brauchbar machen. Also ward die Natur Gesetzgeberin, weil man die Idee von Gottes Gesetzgebung nicht mehr brauchen durfte. Die Folgen der Tugend und des Lasters wurden nur in die kurze Spanne von der Wiege bis zum Grabe eingeschränkt, und von dem Gedanken an eine gesetzgebende Macht, die diese Folgen als Strafen und Belohnungen in den Lauf der Dinge eingeflochten, losgelöst. Da verlor die Moral alle Sehnen und Muskeln. Sie ward zum Uhrzeiger, der die Stunden zeigen sollte – aber die schwersten Gewichte, die das Uhrwerk treiben sollten, waren ausgehängt.

3. Ich will über beide Versuche meine Betrachtungen hersetzen. Was das erste betrifft, die Trennung der bloß philosophischen von der christlichen Moral, so ist es nicht zu leugnen, daß, seitdem das Christentum dem menschlichen Verstande neue Antriebe zum Nachdenken gegeben hat, und als ein Sauerteig der Masse menschlicher Vorstellungsarten beigemischt worden, es unendlich schwerer geworden ist, auszumachen, das hat die menschliche Vernunft erfunden – das hat sie nicht erfunden. – So wie es im Falle, daß einer sehr viele und zusammengesetzte Arzneien zu sich genommen hätte, und endlich nach vielen Monaten dadurch genesen wäre, schwer zu bestimmen sein dürfte: was und wieviel jede einzelne zur Genesung beigetragen. –

Sodann scheint es mir äußerst unnatürlich zu sein, daß ein öffentlicher Lehrer oder Schriftsteller, der zur philosophischen Moral anleitet, in seinen Vorträgen über die Glückseligkeit des Menschen sich so geberdet, als wenn kein Christentum in der Welt existierte und man vor dem Strahle des Evangeliums den philosophischen Hörsaal nicht sorgsam genug verbalken könnte. Ich halte es für eine unumgängliche Pflicht eines jeden Schriftstellers und Lehrers, daß er das Beste mitteilt. Aus diesem Grunde halte ich mich denn auch verpflichtet, in der Darlegung der sog. philosophischen Moral Rücksicht auf das Christentum zu nehmen. Dessen ungeachtet bin ich weit davon entfernt, jemanden zu tadeln, der vom Gegenteile überzeugt, das Bächlein seiner Vernunftmoral immer gern rein und unvermischt fortleitet und ein waches Auge darob hält, daß es nirgends einen geheimen Zufluß vom Strome der christlichen Moral bekommt, mit demselben vermischt wird, und in demselben sich verliert. Ich ehre die vortrefflichen Männer, die dieser Meinung sind, obgleich ich anderer bin.

4. Was die Idee einer Moral betrifft, die auch für Gottesleugner brauchbar wäre, so heißt dies etwa soviel wie: weil unter den Menschen einige Blinde sind: so wollen wir nie ein Wort von den Wohltaten sagen, die den Sehenden durch das Auge werden, so darf in der Physik keine Silbe vom Lichte, von den Farben, von dem Regenbogen, von Ferngläsern, gesagt werden – »denn die Vorlesungen aus der Naturlehre müssen auch für Blinde brauchbar sein.« Oder: weil unter den Menschen einige ohne Füße sind, und sich mit Krücken behelfen müssen, so wollen wir kein Wort von der Wohltat der gesunden Beine sagen, – »denn die Vorlesungen von dem menschlichen Körper müssen auch für Lahme unterhaltend sein.«

Im Grunde betrachtet, ist aber das Menschenherz ohne Glauben an Gott ungleich übler daran, als ein Mensch ohne Auge oder ohne gesunde Beine. So wenig man darum in einer Familie, um eines kranken Dienstboten willen, der keine Speise genießen kann, alle übrigen Hunger leiden läßt, so wenig darf eine Moral, bestimmt zur Erweckung und Unterstützung tugendhafter Gesinnung unter den Menschen, arm an Nahrung für den Gottgläubigen werden, um auch für den Atheisten, der diese Speise nicht genießen kann, brauchbar zu sein.

 

IV

Treu seinem eben ausgesprochenen Grundsatze, seinen Schülern nur das Beste zu bieten, entschied sich S. für eine gemeinnützige Anleitung zur Moralphilosophie oder Glückseligkeitslehre im engeren Sinne, die auf den Glauben an Gott, die Offenbarungsurkunde des Christentums, die Erfahrung, die Geschichte und die Vernunft aufbaut.

» Wahrheiten, die die Glückseligkeitslehre zu Grunde legt und deren ausführlichen Beweis sie voraussetzt, sind somit nach Sailer:

  1. Es ist ein Gott.
  2. Es ist Ein Gott.
  3. Der Geist, der den Menschenkörper beseelt, und deshalb Menschenseele heißt, ist frei-tätig,
  4. Und unsterblich, ewiglebend.
  5. Alle Dinge stehen unter Aufsicht, Ordnung und Leitung einer höchstweisen und allmächtigen Güte.
  6. Es gibt jenseits des Grabes einen vollkommenen Allvergeltungszustand.«

Aus der Begründung, die S. diesen Wahrheiten im einzelnen gibt, sei folgendes mitgeteilt.

 

1

 

Vom Dasein Gottes

Gründe, die das Dasein Gottes glaubwürdig machen

A. Die populärste Beweisart aus der Analogie

Inhalt des Beweises

Das Gefühl der Analogie lehrt mich, jedes Ganze, dessen mannigfaltige Teile in einer zweckmäßigen Ordnung bei einander sind, oder auf einander folgen, für ein Werk der Absicht zu halten: so ist ein Konzert, ein Gemälde, eine Bildsäule ein Werk der Absicht. Erfahrung und Nachdenken sagen, daß in der Welt höchste Einheit, Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einerlei Zwecken ist. Also legt mir das Gefühl der Analogie, von Erfahrung und Nachdenken unterstützt, den Schluß nahe: daß die Welt ein höchst weises, höchst mächtiges Wesen zum Urheber hat.

Die Momente dieses Beweises

1. In der Welt finden sich unverkennbare Spuren einer Absicht in Anordnung, einer Weisheit in der Art der Ausführung, einer Macht in Bewirkung der Dinge.

2. In der Welt finden sich unverkennbare Spuren der wohltätigen Absicht, der höchsten Weisheit, der größten Macht, wenn man

die Mannigfaltigkeit des Inhaltes,

die unbegrenzte Größe des Umfanges,

die Einheit der Zusammenstimmung,

die Fortdauer der Mannigfaltigkeit, der Größe, der Einheit überdenkt.

3. Den Dingen dieser Welt ist zweckmäßige Anordnung ganz fremd, hängt ihnen zufällig an: d.h. die Natur der Dinge könnte von selbst durch vielerlei sich vereinigende Mittel zur bestimmten Endabsicht nicht zusammenstimmen, wenn sie nicht von einem ordnenden Prinzip wären gewählt und angelegt worden.

B. Resultat des sog. kosmologischen und ontologischen Beweises

Es ist höchstes Interesse der menschlichen Vernunft und des menschlichen Herzens, einerseits in der geordneten Reihe von veränderlichen Folgen und Ursachen eine ewige, selbständige, mit Absicht und aus Einsicht allwirkende Ursache außer dieser Reihe anzunehmen, andererseits diesem selbstständigen, ewigen, mit Absicht und aus Einsicht allwirkenden Urwesen der Welt alle erdenklichen Vollkommenheiten, und jede im reinsten Sinne, beizulegen. Denn ohne das erste habe ich eine Kette von unzähligen Gliedern, die hängen, und keinen Haltpunkt haben; ohne das zweite keinen Haltpunkt, dessen Eigenschaften meinen Verstand und mein Herz beruhigen können.

Die Kraft dieser Gründe offenbart sich unserem Verstande und unserem Herzen umsomehr, wenn wir uns in die licht- und freudlose Lage eines Atheisten hineindenken. Wer nicht ein höchstes, verständiges, weises, allordnendes Urwesen der Welt annehmen will, ist genötigt, die blinde Notwendigkeit, oder das noch blindere Ungefähr, anzunehmen. Beides aber ist äußerst grundlos, nichts erklärend und alle gesunde Vernunft gegen sich empörend.

C. Der Völkerglaube, auch ein Grund, der das Dasein Gottes glaubwürdig macht

Wenn die ungeübtesten und die geübtesten unter den besseren Menschen zu allen Zeiten sich im Glauben oder wenigstens in der Ahnung eines höheren Wesens vereinigt hätten: so müßte man dieses einstimmige Urteil offenbar für einen Anspruch des gesunden Menschenverstandes halten; denn eine Idee, die das Forschen der geübtesten Köpfe festgehalten, und den ungeübtesten eingeleuchtet hätte, die ungeachtet des Unterschiedes an Scharfsinn, Uebung, Alter, Geschlecht, Jahrhundert, Klima, Erziehung so allgemein für wahr gehalten worden wäre, müßte innere, notwendige, ewige Wahrheitsgründe für sich haben. Nun aber dieser allgemeine Völkerglaube wird mir durch die Völkergeschichte (die Skeptiker, die Wilden, die Wildenähnliche, die Tiefversunkenen abgerechnet) wenigstens äußerst wahrscheinlich.

 

2

 

Von der Einheit und Einzigkeit Gottes

Alle Gründe, die mir das Dasein einer höchst weisen und höchst liebevollen Intelligenz äußerst glaubwürdig machen, machen mir auch das Dasein einer Einzigen solchen Intelligenz glaubwürdig.

1. Das Gefühl der Analogie sagt in mir: Einheit im Mannigfaltigen: also Ein Baumeister, Ein Künstler, Eine Welt: also Ein Gott. Der den Erkenntnistrieb in die Seele gelegt, der schuf auch das Auge, wodurch Erkenntnis in die Seele kommt. Der das Auge schuf, hat auch das Licht geschaffen, das die Gegenstände sichtbar macht. Der das Licht erschuf, der hat auch die Sonne geschaffen, von der das Licht kommt u.s.f.

2. Es ist das nämliche Interesse der Vernunft und des Herzens, Ein Urwesen, Ein höchstes, allvollkommenstes Wesen anzunehmen, wie jenes, das mich drängt, überhaupt ein Urwesen, ein allvollkommenstes Wesen anzunehmen.

3. Der Völkerglaube aller Zeiten verliert hier etwas von seinem Gewichte... denn obschon viele unter der Menge der Götter Ein höchstes Wesen geahnt haben, so kann dieses doch nicht von allen erwiesen werden.

4. Die für die Einheit Gottes gewöhnlich angeführten Beweise beweisen wenigstens so viel:

Wir haben keinen Grund, mehr als Einen Gott, wir haben alle Gründe, nur Einen Gott anzunehmen.

 

3

 

Von der Freiheit des Menschen

A. Der Mensch ist ein Wesen von zwei entgegengesetzten Kräften: eine Kraft nenne ich Sinnlichkeit, die andere Vernunft.

1. Die Sinnlichkeit hat folgende Naturgesetze: Sie entwickelt sich vor der Vernunft. Sie strebt nach angenehmen, und sträubt sich vor unangenehmen Empfindungen. Sie folgt dem Scheine, den ersten Eindrücken, und bleibt gerne bei der Gegenwart stehen. Sie wird durch Befriedigung des Strebens immer unabhängiger. Ihr Trieb ist kein anderer als: den bevorstehenden Genuß wirklich, den wirklichen dauerhaft, den alltäglichen neu zu machen; die gegenwärtige Empfindung des Schmerzes zu mildern, zu tilgen, die bevorstehende zu hindern, zu entfremden.

Die sinnlich angenehmen, oder sinnlich unangenehmen Empfindungen, die irgend eine menschliche Handlung erwecken oder erhalten, verhindern oder tilgen kann, machen die sinnlichen Triebe zu handeln, den Zug der Sinnlichkeit aus.

2. Die Vernunft hat auch ihre Naturgesetze: Sie entwickelt sich wie die Sprachfähigkeit, spät und langsam. Sie kann durch Beobachtung, Belehrung, Uebung im Nachdenken, Befolgung der Gewissenslehren u.s.f. endlich doch zu einiger Reife gebracht werden. Die entwickelte Vernunft dringt in das Wesen, forscht nach Ursachen, betrachtet die Folgen, schaut in die Zukunft hinaus, sinnt nach über innere Güte, wahre Schönheit, Pflicht u. s. f. Der wahre innere Wert, die innere wesentliche Güte, die Gemeinnützigkeit, die Folgen der menschlichen Handlungen, die Verbindlichkeit u. s. f. machen die Vernunftgründe zu handeln aus.

B. Die sinnlichen Triebe zu handeln, und die Vernunftgründe zu handeln, sind gar oft einander entgegengesetzt.

Es entsteht nun die Frage:

I. Können wir dem Zuge der Sinnlichkeit durch Vernunftgründe entgegenarbeiten?

II. Müssen wir dem Zuge der Sinnlichkeit durch Vernunftgründe notwendig entgegenarbeiten? Etwa so wie durch die Naturgesetze das Fallen des unaufgehaltenen Steines auf die Erde bestimmt ist?

Antwort auf die Frage:

I. Der Mensch kann dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenarbeiten. Der Mensch! Warum der Mensch? Und welcher Mensch?

1. Das Tier kann dem Zuge der Sinnlichkeit nie entgegenarbeiten, weil es Tier ist, ganz Sinnlichkeit, ganz Instinkt.

2. Das Kind, in dem der Vernunftkeim noch schläft, kann dem Zuge der Sinnlichkeit noch nicht entgegenarbeiten, weil es in diesem Zustande so viel als nur Sinnlichkeit ist.

3. Der Wahnsinnige kann dem Zuge der Sinnlichkeit mit klarem Bewußtsein nicht entgegenarbeiten, weil der Zustand des klaren Selbstbewußtseins nicht in ihm ist.

4. Der von der Leidenschaft ganz ohne alles Vorhersehen Ueberraschte und Hingerissene kann jetzt, in diesem Momente, den Zuge der Sinnlichkeit nicht entgegenarbeiten, – eben darum, weil die Sinnlichkeit allen Winken der Vernunft vorgesprungen ist.

5. Wenn die Handlung der Sinnlichkeit angenehm, und zugleich der Vernunft gemäß erkannt wird; jetzt in diesem Momente kann der Mensch dem Zuge der Sinnlichkeit nicht widerstehen, – eben deswegen, weil die Vernunftgründe mit den sinnlichen Trieben eins sind, nach einer Richtung arbeiten.

6. Von den Menschen, die sich in den Zuständen der Ohnmacht, oder des Schlafes, oder der vollkommenen Reizlosigkeit, oder der gespanntesten Aufmerksamkeit, oder der schlafähnlichen Gedankenlosigkeit befinden, kann man auch nicht sagen, daß sie jetzt in diesen Zuständen, der Sinnlichkeit entgegenarbeiten können.

Wenn ich also sage: der Mensch kann dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenarbeiten, so heißt dieses so viel:

Alle Menschen, die nicht unter die Klassen der Unmündigen, der Wahnsinnigen, der Wilden gehören, alle Menschen, die sich nicht im Augenblicke einer vollkommenen Ueberraschung, nicht in dem Zustande des Schlafes, der Ohnmacht, der Gedankenlosigkeit usw. befinden, können dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenarbeiten.

Das läßt sich beweisen

1. Aus dem Selbstbewußtsein. So oft ich mich in dergleichen Umständen befunden habe, in denen die Sinnlichkeit ohne überrascht zu werden, zum erkannten Unrecht gereizt wurde, regte sich eine Stimme des Gewissens in mir, die da sagte: tue das nicht.

Je aufmerksamer ich auf diese Stimme des Gewissens war, je schneller ich den Blick auf die Vernunftgründe hinheftete, je genauer ich sie überdachte: desto lichter ward's mir, den Vernunftgründen zu folgen und der Sinnlichkeit Widerstand zu tun.

Je mehr ich bei kaltem Blute die Gründe zum Rechttun überdachte, je öfter und entschlossener ich mir Gewalt antat, die Beschwernisse recht zu handeln, zu überwinden; je mehr ich mich auf die Gelegenheit recht zu tun vorbereitete: desto öfter, desto leichter ist's mir gelungen, die Triebe der Sinnlichkeit zu bändigen, oder wenigstens zu schwächen.

Je untätiger ich war, mich vor Uebereilungen und Verblendungen des inneren Sinnes zu hüten; je mehr ich die Neigung zum Bösen in mir Wurzel fassen ließ; je nachgiebiger gegen mein Herz, je nachsichtvoller ich gegen meine Fehltritte war; je unüberlegter ich den Gelegenheiten zum Unrechten in die Hände lief; je mächtiger ich die Reize des Bösen auf mich wirken lies; je seltener, je träger, je lebloser die Betrachtung der Vernunftgründe war: desto öfter, desto schneller ist mir die Kraft, dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenzuarbeiten, geschwunden.

2. Aus dem unwiderleglichen Begriffe des Menschen, den alle gesunddenkenden Menschen haben. Denn wenn der Mensch durchaus nie dem Zuge der Sinnlichkeit widerstehen kann, so ist er ein bloßes Tier, ohne alle Vernunft.

3. Aus der Einrichtung der menschlichen Gesellschaft. Alle Gesetze und Verordnungen, alle Strafen und Belohnungen, alles Loben und Tadeln, alles Ermahnen und Bitten besserer Menschen setzen die Wahrheit voraus: daß der Mensch dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenarbeiten kann.

II. Der Mensch muß nicht notwendig dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenarbeiten. Das zeigt

1. Die Natur der Dinge. Ungeachtet aller Vernunftgründe, die für die Tugend und wider das Unrecht streiten, bleibt es immer noch wahr, daß die Tugend viel Unangenehmes, das Unrecht viel Angenehmes hat. Also ist immer noch Grund vorhanden zum Nichtentgegenarbeiten. Ich habe zwar Kraft, den Stein von der Erde aufzuheben, aber wenn der Stein sehr schwer ist, und ich ein Freund der Bequemlichkeit bin, so kann ich den Stein auch liegen lassen.

2. Die Erfahrung der besten und edelsten Menschen. Bei allem Lichte der Vernunftsgründe, bei allen Vorsätzen, dem Zuge der Sinnlichkeit entgegenzuarbeiten, bei aller Ueberzeugung von Pflicht und Tugendschönheit, läßt sich auch der weise und gute Mann manche Schwachheiten zu Schulden kommen. Also ist es kein Naturgesetz, notwendig der Sinnlichkeit entgegenzuarbeiten.

3. Die Handlungsart aller Menschen, und die Einrichtung aller Sprachen. Alle kultivierten Menschen unterscheiden zwischen Tugend und Glück, zwischen Willensfehlern und Unglücksfällen. Diese bereuen, jene beweinen sie. In allen gebildeten Sprachen sind Tugend und Glück, Reue über eigene, und Kummer über fremde Fehltritte, Schuld und Unschuld zweierlei. Und dies beweist, daß aller Menschensinn sich gegen die Notwendigkeit, den Vernunftsgründen (oder der Sinnlichkeit) durchaus folgen zu müssen, empört.

4. Das Selbstbewußtsein. Es hängt wenigstens zum Teil von mir ab, ob die Beweggründe der Vernunft, deren ich bedarf, um der Sinnlichkeit entgegenzuarbeiten, zahlreich, lebhaft, gewichtig, mir stets gegenwärtig, vertraut werden sollen oder nicht. Klima, Erziehung, Verstandeskraft, Umstände, Alter, Geschlecht hängen nicht von mir ab, – aber die Zahl, die Lebhaftigkeit, das Gewicht der Gründe hängen zum Teil von der Anwendung meiner Kräfte, und diese von mir ab.

Es ist wahr, durch Uebung kann mir die Tugend leicht, süß, zur Natur werden. Aber selbst dies, daß einst meine Liebe zur Tugend nahe an innere Nötigung grenzt, ist eine Frucht der Freiheit – kann also nichts wider die Freiheit beweisen.

Es ist wahr, ich kann nichts wollen ohne Eindrücke von außen. Aber dies sagt nur, daß mein Wille nicht ganz unabhängig ist von Eindrücken, Sinnen, Körpern; erweist aber nichts gegen seine Freiheit. Und eben diese Teilabhängigkeit der Handlung von mir ist die Hauptsache, ist Freiheitsübung und Freiheitsprobe. So gewiß es also Torheit wäre, wenn ich die Abhängigkeit des Menschengeistes von den Eindrücken der Körperwelt leugnen, und eine selbständige, absolute Unabhängigkeit des Willens behaupten wollte, die gleiche Torheit ist's, den ganzen Grund der Handlung außer mir und gar keinen in mir zu suchen.

Folgerungen:

1. Es ist also kein Naturgesetz, daß der Mensch notwendig dem Zuge der Sinnlichkeit oder dem Zuge der Vernunft folge, wie der Stein dem Zuge der Erde, die Flamme dem Triebe in die Höhe folgt.

2. Also ist der Mensch frei, d. h. er muß nicht notwendig alles tun was die Sinnlichkeit, und nicht notwendig, was die Vernunft verlangt. Somit ist Freiheit die Kraft, der Sinnlichkeit durch Vernunftgründe entgegenzuarbeiten.

3. Alle theoretischen Zweifel gegen die Freiheit, die nicht vom Herzen ihren Ursprung haben, entstehen daher, daß man sich durch das rätselhafte Wie auch das unrätselhafte Daß rätselhaft machen läßt. Wenn ich also gleich die Zweifel gegen die Erklärungsart der Freiheit nicht auflösen kann, so will ich mir dennoch das Dasein der Freiheit dadurch nicht zweifelhaft machen lassen. Denn die Fehler des Spiegels sind nicht die Fehler der Person, die der Spiegel fehlerhaft darstellt. 4. Wenn ich sage, daß der Mensch der Sinnlichkeit durch die Vernunft entgegenarbeiten kann, so sage ich nicht: daß diese Kraft ohne höhere Beihilfe vollendet werden kann. Ich sage dies um so weniger, da mich das Christentum lehrt, daß ohne höhere Kräfte kein Sterblicher die Sinnlichkeit vollkommen der Vernunft unterwürfig machen kann.

5. Die wichtigste und ungekannteste Wahrheit über die Freiheit dürfte wohl diese sein: der Mensch kann durch guten Gebrauch seine Freiheit stärken, und durch schlimmen Gebrauch sie schwächen.

 

4

 

Von der Unsterblichkeit des Menschen

I. Das ganze Universum finden wir in allem planvoll, harmonisch, rätsellos, zweckmäßig, wenn wir den Menschengeist als unsterblich annehmen. Und zwar zunächst

1. Das Menschenleben.

Unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit ist das Menschenleben zweckmäßig, denn dann ist es Erziehung zu einem besseren Leben und als solche so vollkommen wie möglich. – Zweckmäßig ist die Kürze des Lebens; denn es ist nur Erziehungsepoche, Schul- und Vorbereitungszeit. – Zweckmäßig sind die Plagen dieses Lebens; denn es sind Veranlassungen und Beförderungsmittel des höheren Gutes im zukünftigen Leben. – Zweckmäßig sind alle Bitterkeiten der Tugend, und alle Annehmlichkeiten des Lasters; denn die Bitterkeit der Tugend und die Reize des Lasters bestimmen den Wert des Kampfes, und der Wert des Kampfes die Herrlichkeit des Sieges.

2. Alles in der Menschennatur.

a) Die Freiheit; eben weil der gute Gebrauch derselben das unersetzlichste und unentbehrlichste Mittel ist zur vollkommensten Entwicklung und Beseligung des Menschengeistes jenseits des Grabes.

b) Die Möglichkeit der Vervollkommnung. Daß die Erkenntnis und Güte des Menschengeistes, seine Weisheit und Tugend von Stufe zu Stufe immerfort aufsteigen kann, schickt sich zur ewigen Fortdauer seiner Existenz. Wer fähig ist, immer besser und edler zu werden, ist dazu bestimmt, ewig zu sein.

c) Das Selbstbewußtsein, die Idee der Persönlichkeit, die Erfindungs- und Forschungsgabe, der grenzenlose Erkenntnis- und Hoffnungstrieb, die Unersättlichkeit des menschlichen Herzens, die Wünsche nach endlosen Vergnügungen als ebenso viele Unterpfänder für eine immerwährende Existenz.

3. Das Verhältnis Gottes zum Menschengeschlechte.

a) Die höchste Weisheit und Güte fordern auf einer Seite durch den Gewissenstrieb reinste Tugend und die vollkommenste Selbstaufforderung, um sie zu erreichen – geben aber auch auf der anderen Seite Motive dazu, und Belohnungen dafür, die alle Reize der Sinnlichkeit überwiegen, und allen Kampf übervergelten.

b) Die höchste Weisheit und Güte haben den Lauf der Dinge so eingerichtet, daß der Tugend hienieden keine vollkommene Vergeltung wird, und wohl auch keine werden darf und kann. Es stimmt also mit der Beschaffenheit dieses Lebens überein, daß kein Vergeltungs- sondern ein eigentliches Tugendleben sein soll, wenn Gott ein künftiges zum Vergeltungsleben macht.

II. Nehmen wir aber im Gegenteil den Menschengeist als sterblich an, so ist das ganze Universum ein lauteres Rätsel, eine lautere Planlosigkeit, Zwecklosigkeit und Disharmonie.

Zwecklos und disharmonisch ist dann

1. Das Menschenleben, da es dann die ganze Epoche des Menschengeistes ausmacht, und als solches so unvollkommen wie möglich ist.

2. Die Menschennatur.

a) Die Freiheit. Wenn der ganze Mensch im Grabe modert: so ist die Maschine, der es an Selbsttätigkeit fehlt, und das Tier, das keine Freitätigkeit hat, ungleich besser daran, als der Mensch, der recht dazu gemacht ist, »nach Sättigung zu streben, die ihm nie werden kann.«

b) Die Fähigkeit zur Vervollkommnung. Wozu die Empfänglichkeit des Menschen zu immer höhern Erkenntnissen, Tugenden, Seligkeiten, wenn der Tod den Faden abschneidet, und niemand ist, der ihn wieder anknüpft?

c) Die Anlage zur Fortdauer – ohne Fortdauer, welcher Widerspruch! Ein Durst, ein Wunsch ewig zu sein – und ein traurig Verschmachten nach einem schwülen Sommertage, welche Disharmonie! Die herrlichsten Anlagen – und vernichtet im Keime, der Mensch das vollendungsfähigste – und unvollkommenste Wesen, welcher Widerspruch!

3. Das Verhältnis Gottes zum Menschengeschlechte.

a) Die höchste Weisheit und Güte fordern reinste Tugend, und haben keine entsprechende Belohnung dafür, und geben kein allseits hinlängliches Motiv dazu.

b) Die höchste Güte und Weisheit ordnet einerseits den Lauf der Dinge so, daß das gegenwärtige Leben keine Vergeltungs- sondern nur eine Erziehungsepoche sein kann, und auf der anderen läßt sie die Vergeltungsepoche auf den Zustand, wo man die Früchte der Erziehung ungestört genießen könnte – ausbleiben.

 

5

 

Von der göttlichen Vorsehung

Begriff der Vorsehung

Wenn ich an eine Vorsehung glaube, so glaube ich, daß keine Wirkung in der Welt sei, die Gott nicht weiß, nicht ewig vorhersah, nicht in die Kette von Ursachen und Wirkungen einflocht, und die er nicht aus Absicht zum Besten seiner vernünftigen Geschöpfe ordnet und leitet.

Das Allwissen, das Allvorhersehen, das Allbestimmen, Allordnen und Alldenken aller Dinge zum Besten der Geschöpfe heißt: Vorsehung (Providentia).

Wer also Gottes Allwissenheit, Vorhersehen, Gottes Alleinfluß in alle Begebenheiten, Gottes Allbestimmung und Gottes Allordnung und Lenkung zum Besten der Geschöpfe leugnet, kann nicht an die Vorsehung glauben.

Wer aber an eine höchste Weisheit, Liebe und Macht glaubt, der glaubt eben darum an die Vorsehung.

Was hat die Vernunft nun für Gründe, den Glauben an die Vorsehung zu empfehlen?

So gewiß es höchstes Interesse der Menschenvernunft und des Menschenherzens ist, einen Gott anzunehmen, eben so gewiß ist es höchstes Interesse, in diesem Gott höchste Weisheit, Liebe und Macht zu denken. Denn ein Gott ohne höchste Weisheit, Liebe und Macht ist für mich so viel als kein Gott; ein Gott ohne höchste Weisheit, Liebe und Macht ist kein Gott für mein Herz.

Wenn ich nicht glauben kann, daß Gott höchste Weisheit, Liebe und Macht sei, so kann ich nicht fest glauben, daß Er auch um mich weiß, meinen Jammer, das Sehnen meines Herzens kennt, daß Er auch mir Gutes will, daß Er auch mir diesen Schmerz zum Besten lenken kann, daß Er auch mir, alle Selbstbekämpfung um der Tugend willen vergüten kann und will. Und wenn ich dieses nicht fest glauben kann: so kann ich nie ruhig, heiter, zufrieden – nie glückselig sein.

Also kein Gott, oder eine Vorsehung, also kein Gott, oder allerindividuellste Vorsehung, denn

1. Es ist unmöglich, das Allgemeine aufs vollkommenste zu bestimmen, ohne das Einzelne zu kennen, da das Allgemeine nur das ist, was alle einzelnen Dinge gemeinsam haben.

2. Es ist unmöglich, daß sich die Allwissenheit des Erkennens irgend eines Dinges entschlagen sollte. Ich kann bei einer Sache wenig oder viel denken: aber der Allsehende muß alles sehen, der allgegenwärtige Geist kann seine Gegenwart nirgends entziehen.

3. Es ist unmöglich, daß durch allgemeine Gesetze, nach denen die Kräfte wirken, die Welt allein geordnet und erhalten werden kann. Denn die Vollkommenheit der Welt besteht in der vollkommensten Verbindung nicht nur der Kräfte, sondern aller Wirkungen unter einander und mit ihren Ursachen. Nun sind nach dem Plane der Schöpfung (ungeachtet aller allgemeinen Gesetze), die mannigfaltigsten Verbindungen der Teile und unbegreiflich viele Grade der Vollkommenheit in diesen Verbindungen möglich, und nur jene Verbindung ist die vollkommenste, wo die Vollkommenheit aller einzelnen Teile in Absicht auf das Ganze die höchste ist. In der Welt ist kein Zufall, und das Größte hängt gar oft von dem Kleinsten ab. Also ist die individuellste Kenntnis und Lenkung der einzelnen Teile notwendig, um der Welt jene Vollkommenheit zu geben, der sie fähig ist.

4. Der vollkommenste Verstand sieht nichts im allgemeinen, klassenweise. Klassen sind nur Krücken unsers schwachen Erkenntnisvermögens.

5. Es ist höchste Unphilosophie, denken, daß für ein Geschöpf sorgen, für Gott zu klein sei, da es nicht zu klein für ihn war, es zu erschaffen, und die Sorge für das Wohl seiner Geschöpfe keine Arbeit, sondern höchstes Vergnügen seines Wesens ist.

Das Verhältnis der göttlichen Vorsehung zur menschlichen Freiheit

Einwand: »Wenn Gottes Auge alles vorhersieht: und Gottes Allmachtshand alles vorherbestimmt: so ist die Freiheit des Menschen hin.«

Antwort: Das Vorhersehen ändert nichts im Geschehen der Dinge. Wie wenn ich durch einen Spiegel die Leute sehe, die auf der Gasse gehen, mein Blick keine Festlegung des Gehens der Leute ist: so hebt auch das Vorsehen Gottes das freie Tun der Menschen nicht auf.

Die Vorherbestimmung der Dinge flocht eben auch die freien Handlungen der Körperwelt in den großen Plan ein, so daß auch die freien Handlungen, ehe sie geschehen, schon ihre bestimmte Wahrheit haben.

 

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Von der Vergeltung nach dem Tode

Einzelne Gründe hierfür und ihr Gewicht

1. Der Menschengeist lebt nach diesem Leben, und lebt ewig, ist unsterblich. (Vierte Wahrheit.)

2. Gott, der den Menschengeist lebendig erhält, ist höchste Weisheit und höchste Liebe. (Erste Wahrheit.)

3. Also ist die Fortdauer des Menschengeistes nach diesem Leben den Absichten der höchsten Liebe und Weisheit gemäß. (Schlußfolge aus den zwei vorangehenden Sätzen.)

4. Die Absicht der höchsten Liebe und Weisheit bei der Fortdauer des Menschengeistes nach diesem Leben kann wohl keine andere sein, als dem Menschen die mächtigsten Antriebe zur reinsten Tugend, und der reinsten Tugend die höchste Seligkeit zu verschaffen. (Ein Schlußsatz aus dem Begriffe von der menschlichen Freiheit und der göttlichen Vorsehung, d. h. aus der vierten und sechsten Wahrheit, die in der Glückseligkeitslehre zu Grunde gelegt werden.)

5. Nun sind aber gerade die mächtigsten Antriebe zur Tugend dahin, wenn die Folgen der Tugend und des Lasters im Lande der Unsterblichen gleich sind. Im Gegenteil, die Antriebe zur Tugend erhalten neues Leben, wenn die Folgen der Tugend und des Lasters im Lande der Unsterblichen ungleich sind. Die Antriebe zur Tugend erreichen die höchste Kraft, wenn sich die Unsterblichkeit zur Sterblichkeit verhält, wie die Ernte zur Aussaat, das heißt, wenn es jenseits des Grabes einen vollkommenen Vergeltungszustand gibt. (Ein Folgesatz aus den Begriffen von Freiheit und Vergeltung.)

6. Höchste Seligkeit ist für den Menschen jene, die zugleich eine Folge des Wohlverhaltens, eine Frucht der Selbstüberwindungen ist, die die Tugend kostet. (Aus der Analogie der Freude, die der Gedanke gewährt, zum Teil Selbsturheber seines Glückes zu sein.)

7. Also, so gewiß es ist, daß es einen Gott gibt, daß dieser Gott höchste Güte und Weisheit ist, daß die höchste Güte den Menschengeist ewig erhält, daß die Absicht dieser Erhaltung auf höchste Seligkeit des Menschen geht, daß die höchste Seligkeit nur bei der vollkommensten Allvergeltung denkbar ist; eben so gewiß ist es, daß es nach diesem Leben einen vollkommenen Vergeltungszustand gibt.

 

Schlußbemerkungen über die Vernunftgründe für die Unsterblichkeit, Vorsehung und Allvergeltung

1. Sie sind mehr empfehlend, als zwingend.

2. Sie beweisen mehr die Notwendigkeit, an die Unsterblichkeit und Allvergeltung zu glauben, als das Dasein derselben.

3. Sie heben die Dunkelheiten nicht weg, die notwendiger Weise auf diesen Wahrheiten liegen.

4. Sie geben aber auch der Vernunft kein Recht, stolz zu sein, da sie in jedem nüchternen Gemüte ein Verlangen nach dem Lichte einer positiven Offenbarung erregen.

5. Ungleich einfacher, beruhigender, zweifelverscheuchender wäre es, wenn die Gottheit selbst spräche: Gott ist die Liebe – Gott ist kein Gott der Toten, sondern der Lebendigen – Kein Haar fällt ohne Gottes Willen und Wissen vom Haupte, kein Sperling vom Dache. Gott leitet denen, die ihn lieben, alle Dinge zum Besten. Was der Mensch säet, das erntet er.

6. Da nun tatsächlich eine Urkunde in der Welt ist, die bezeugt, daß die Gottheit so gesprochen hat, so haben damit die Menschenvernunft und das Menschenherz ein höchstes Interesse daran, mit ernster Unparteilichkeit zu untersuchen, ob diese Urkunde glaubwürdig sei, um, wenn sie hinlängliche Kennzeichen der Glaubwürdigkeit hat, ihr die Zustimmung zu geben, die sie verdient.


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