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Das Floß.

Wie wir den Rest dieses ersten Tages verlebten, weiß ich heute nicht mehr; nur ein Eindruck ist mir aus jenen Stunden geblieben:

Die qualvolle Arbeit an den Pumpen! Das dumpfe Quälen – das Ankämpfen gegen eine Unmöglichkeit!

Denn das Wasser stieg beständig, unaufhaltsam. Es hätte der unausgesetzten Tätigkeit beider Pumpen bedurft, um ein weiteres Steigen des Wassers zu verhindern, und dazu gehörte eine Schar kräftiger Männer, die einander regelmäßig ablösen konnten ...

Der Kranke schlief bis tief in den Nachmittag hinein, schien sich aber nicht erholt zu haben, denn er bestürmte mich, als ich die Kabine betrat, wieder in so fieberhaft aufgeregtem Tone mit Fragen, daß Helga, die neben dem Bette ihres Vaters eingeschlummert war, erschreckt in die Höhe fuhr. Natürlich konnten wir dem Kranken die Gefahr, in der wir schwebten, auf die Dauer nicht verhehlen, und nachdem seine Verzweiflung sich in lauten Klagen erschöpft hatte, lehnte er, dumpf vor sich hin brütend, in den Kissen, wie ein Mensch, der alle Hoffnung aufgegeben hat.

Mit Grauen sahen wir der Nacht entgegen, die mit ihrem undurchdringlichen Dunkel den geringen Rest von Lebensmut in uns völlig zu ersticken drohte. Schon lange vor acht Uhr mußten wir die Kompaß- und Kajütenlampe anzünden, und nachdem wir uns durch ein paar Bissen gestärkt hatten, gab ich Helgas dringenden Bitten nach und streckte mich auf der Polsterbank in der Kajüte noch ein wenig zum Schlafen aus. Um neun Uhr sollte Helga mich wecken. Dann wollten wir zunächst nochmals unser Heil an den Pumpen versuchen; hierauf beabsichtigte ich bis elf Uhr zu wachen, wonach Helga mich wieder ablösen sollte – und so fort die ganze Nacht hindurch.

Kurz vor neun Uhr trat Helga raschen Schrittes an meine Lagerstätte, ergriff meine Hand und rief mit freudiger Stimme:

Mr. Tregarthen, der Sturm scheint nachgelassen zu haben; ich sehe ein paar Sterne am Himmel blinken!

Nur wer einmal etwas Ähnliches durchgemacht hat wie wir, kann sich vorstellen, mit welch neuer Spannkraft Helgas frohe Botschaft mich erfüllte.

Gott sei Lob und Dank! rief ich aus tiefster Seele und eilte mit ihr an Deck.

Das Wetter hatte sich wirklich überraschend aufgeklärt. Zwar bedeckten noch immer schwere Wolkenmassen den Himmel, doch schimmerten durch zahllose Risse und Spalten die Sterne in hellem Glanze, der die wogende See bis zum fernen Horizonte deutlich erkennen ließ; von einem Abnehmen des Sturmes war freilich noch immer nichts zu merken.

Wie Helga und ich verabredet hatten, arbeiteten wir eine Weile tüchtig an den Pumpen, dann legte das junge Mädchen sich nieder, während ich bis zur vereinbarten Frist die Wache übernahm; so verstrichen die Stunden bis vier Uhr morgens. Um diese Zeit trat eine derartige Verminderung der Windstärke ein, daß wir mit genügenden Hilfskräften das Schiff hätten unter Segel setzen können. Allein wir waren nur zwei – – –

Seufzend begab ich mich wieder an die Pumpe, um den Wasserstand zu prüfen. Das Ergebnis meiner Untersuchung ließ mir das Blut in den Adern erstarren.

Wenn das Wasser fortfuhr, derartig schnell zu steigen, so waren wir dem Untergange geweiht. Rasch suchte ich das Deckhaus auf, wo Helga in unruhigem Schlummer auf der Polsterbank lag. Meine lauten Schritte mußten sie geweckt haben, denn sie schlug die Augen auf, richtete sich empor und rief, als sie den blassen Sonnenstrahl bemerkte, der in diesem Moment das kleine Fenster streifte, froh aus:

Endlich wieder gutes Wetter!

Leider immer noch zu schlecht für uns!

Warum? fragte sie. Weht der Wind noch vom Lande her?

Jawohl, und außerdem hat er wieder aufgefrischt.

Jetzt erst bemerkte Helga mein Verstörtsein: ängstlich forschte sie nach der Ursache und sprang entsetzt auf, als ich ihr die Höhe des Wasserstandes nannte.

Fräulein Nielsen, sagte ich, mich gewaltsam zusammenraffend, wir können die »Anina« nicht mehr halten und müssen auf ein anderes Mittel sinnen, uns zu retten. Wir müssen ein Floß bauen und fertig ausrüsten, so daß es jeden Augenblick über Bord gelassen werden kann. Es ist unsere einzige Rettungsmöglichkeit, wenn wir vorher nicht von einem vorbeifahrenden Schiffe ausgenommen werden.

Aber was wird aus meinem Vater?

Den nehmen wir natürlich mit.

Wie wollen Sie das anfangen? Er kann sich ja gar nicht bewegen.

Wir tragen ihn, so wie er jetzt liegt, an Deck und lassen ihn mit seiner Bettstatt an Tauen auf das Floß hinunter.

Ja, so wird's gehen, sagte Helga mit tiefem Aufatmen. So muß es gehen. Wie lange mag die »Anina« wohl noch flott bleiben, wenn wir die Pumpen nicht mehr anrühren?

Das wird Ihr Vater am besten wissen; kommen Sie, wir wollen ihn fragen.

Als wir die Kabine betraten, fanden wir Kapitän Nielsen aufrecht in seinen Kissen sitzend und an einem Biskuit knabbernd.

Endlich scheint das Wetter sich zu ändern, rief er uns entgegen. Eben sah ich einen Sonnenstrahl dort über die Tür huschen. Was sagt das Barometer, Mr. Tregarthen?

Mit zusammengezogenen Brauen blickte er dann zu seiner Tochter hinüber und forschte argwöhnisch:

Wie siehst du denn aus, Helga? Was ist passiert?

Vater, erwiderte das junge Mädchen mit niedergeschlagenen Augen, es unterliegt jetzt keinem Zweifel mehr, daß die »Anina« langsam sinkt, und daß wir alle Anstalten treffen müssen, sie schleunigst verlassen zu können.

Was? schrie der Kranke gellend auf und umklammerte mit seiner abgezehrten Hand krampfhaft den Bettpfosten. Die »Anina« sinkt? Wir müssen sie verlassen? Ja, habt ihr denn die Pumpen vernachlässigt?

Nein, Kapitän, entgegnete ich, wir haben uns nichts vorzuwerfen. Ihre Tochter hat sogar über ihre Kraft gearbeitet. Sehen Sie sie doch an! Sagt Ihnen denn Ihre Vernunft nicht, daß sie eine derartige Überanstrengung nicht länger aushält?

Die Pumpe muß bemannt werden! schrie der Kranke. Die »Anina« darf nicht sinken! Sie ist meine einzige Habe; ohne sie muß mein Kind darben! Helga ist stark genug, Sie kennen sie nur nicht. Es muß gepumpt werden.

Kapitän Nielsen, entgegnete ich in festem Tone, wenn wir ein Dutzend kräftiger Leute hätten, wäre vielleicht Aussicht vorhanden, das Schiff zu halten, bis Hilfe kommt. Die »Anina« zu retten, brächten jetzt auch keine fünfzig Mann mehr zuwege, denn der Sturm hat das Schiff durchlöchert wie ein Sieb. Es bleibt nichts anderes übrig, als uns auf ein Floß zu flüchten.

Der Kapitän stöhnte verzweifelt.

Wäre ich nur ein paar Stunden Herr meiner Glieder! jammerte er. Ich würde euch beiden schon zeigen, was der Wille über das Fleisch vermag. Warum muß ich hier so elend liegen! Und mit lautem Ächzen sank er zurück.

Vater, schluchzte Helga, glaube uns doch! Schon gestern abend fürchtete ich das schlimmste, und heute ist auch nicht mehr im geringsten daran zu zweifeln, daß Mr. Tregarthen recht hat. Wir dürfen jetzt nicht länger an das Schiff denken, sondern nur an uns und an dich, mein armer, lieber Vater!

Ich wartete, bis der Kranke sich ein wenig erholt hatte, und begann dann, ihm meinen Plan auseinanderzusetzen. Er hörte mich anscheinend ruhig an, doch verrieten das heftige Vibrieren der Nasenflügel und das stürmische Heben und Senken der Brust deutlich genug seine Erregung. Helga war hinausgegangen, um den vom Peilen noch feuchten Peilstock zu holen.

Sieh selbst, Vater, sagte sie, auf die Wassermarke deutend.

Der Kapitän warf einen Blick auf das Instrument und rang die Hände.

Wir verschwenden kostbare Minuten, drängte ich. Bei welchem Wasserstand muß das Schiff sinken?

Der Kranke gab keine Antwort, sondern starrte auf den Peilstock, als ob er den Verstand verloren hätte.

Kommen Sie! rief ich Helga zu, jetzt weiß ich, daß es die höchste Zeit ist, an unsere Rettung zu denken.

Wenn ihr das Schiff nicht retten könnt, wie wollt ihr euch denn selber retten? rief der Kapitän uns nach.

Wir müssen ein Floß bauen!

Ein Floß! In dieser See! lachte der Kranke höhnisch.

Ärgerlich drehte ich ihm den Rücken und verließ die Kabine: mochte er dort allein das Schicksal seines Schiffes bejammern, das ihm mehr am Herzen zu liegen schien als das Leben seines Kindes. Nach wenigen Minuten folgte Helga mir an Deck.

Die Krankheit hat sein gesundes Urteil getrübt, sagte sie entschuldigend.

Um so mehr müssen wir beide auf seine und unsere Rettung bedacht sein, sagte ich. Lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren: sehen Sie, der Wind hat abgeflaut, und die See geht lange nicht mehr so hoch wie vorhin.

Es würde zu umständlich sein, hier das allmähliche Entstehen des Floßes, das Herbeischleppen des Materials, das Zusammenfügen der Spieren und Bohlen zu schildern. So anstrengend diese Arbeit war – sie erschöpfte uns lange nicht so, wie zehn Minuten an den Pumpen. Als wir kurz nach neun Uhr eine kleine Pause machten, um uns zu stärken und nach dem Kranken zu sehen, zeigte uns der Peilstock von neuem, daß jede Hoffnung auf Erhaltung des Schiffes ausgeschlossen war. Das Wasser stieg so schnell, daß nach meiner Überzeugung – der ich jedoch keinen Ausdruck zu geben wagte – die »Anina« höchstens noch bis fünf Uhr nachmittags flott bleiben konnte.

Da ich in Tintrenale so manche müßige Stunde auf der kleinen Bootswerft zugebracht, mich dort fleißig umgeschaut und hier und da wohl auch einmal mit Hand angelegt hatte, so besaß ich einige Kenntnisse vom Bootsbau, die mir jetzt, bei der Konstruktion des Floßes, gut zu statten kamen.

Aus vier starken Leesegelspieren bauten wir einen Rahmen, an den wir sorgfältig vier leere Fässer banden. Dieses Gestell wurde mit einer Lage Querhölzer, dann mit einer Schicht Bohlen, Planken, Lukenkappen und was sich sonst noch an brauchbarem Material auf dem Schiffe vorfand, gedeckt. Nachdem alles mit Tauen und Seilen verschnürt und gesichert war, errichtete ich in der Mitte des Fahrzeuges eine Spiere als Mast, an dem später eine Flagge befestigt werden sollte. An den Seiten des Floßes brachten wir mit Hilfe von Tauwerk eine Art Reeling an, um bei hohem Seegang einen gewissen Halt zu haben. Die zahlreichen Lücken, die sich bei dem primitiven Baumaterial unseres Fahrzeuges nicht vermeiden ließen, wollten wir zur Unterbringung des Proviants und Trinkwassers ausnutzen.

An dem immer schwächer werdenden Flattern unserer Notflagge war das allmähliche Einschlafen des Windes zu erkennen, der gegen ein Uhr mittags schließlich zu einer leichten Nordostbrise abflaute. Auch die See war viel ruhiger geworden und rollte in breiter, gleichmäßiger Dünung südwestwärts. Dazu schienen der blaue, nur von langsam dahinsegelnden Wolkenschäfchen bedeckte Himmel und der strahlende Sonnenschein unserem Vorhaben das beste Gelingen zu versprechen.

Ich hätte das schwierige Werk freilich nicht vollenden können, wäre Helgas Gegenwart und Hilfe nicht ein starker Ansporn für mich gewesen. Ihr Mut, ihre Ausdauer, ihr scharfer Verstand, der jede Andeutung sofort auffaßte, ihre zähe Widerstandskraft machten mir ihren Beistand unendlich wertvoll.

Unser einziges Hilfsmittel, das Floß über Bord zu schaffen, war die Ankerwinde und ein über die Großraae geführtes Tau. Helga erbot sich, das Seil oben anzubringen, was ich jedoch mit einem lächelnden Blick auf ihr schmächtiges Figürchen ablehnte. Mochte sie mir auch in jeder seemännischen Fertigkeit überlegen sein, einen Block an einer Raae zu befestigen, traute ich mir denn doch noch zu. Rasch enterte ich die Wanten auf, entledigte mich meiner Aufgabe und warf dann noch einen suchenden Rundblick über das Meer. In majestätischer Größe dehnte es sich von Horizont zu Horizont, und ein Schauer überlief mich, wenn ich das winzige Floß mit der Ausdehnung der gewaltigen Wasserwüste verglich, in der selbst das sinkende Schiff unter unseren Füßen nur wie ein verlorenes Pünktchen aussah.

Das Floß ließ sich leichter über Bord schaffen, als wir gefürchtet hatten, denn die Winde tat so gut ihre Schuldigkeit, daß unsere vereinten Kräfte dem schweren Werk gewachsen waren. Bald schwebte es in gleicher Höhe mit der Schanzkleidung, dann senkte es sich langsam am Schiffsrumpf hinab, und jetzt tanzte und hüpfte es, von den leeren Fässern getragen, lustig auf den schwellenden Wogen.

Nun müssen wir uns verproviantieren, sagte ich zu dem jungen Mädchen. Kommen Sie, Fräulein Nielsen!

Bitte, nennen Sie mich Helga, unterbrach sie mich. Was sollen leere Förmlichkeiten in solchen Augenblicken!

Also vorwärts, Helga! sagte ich, während in meinem Herzen ein warmes Gefühl für das tapfere, junge Geschöpf an meiner Seite emporquoll.

In ungefähr zwanzig Minuten hatten wir soviel Proviant an Deck geschafft, daß drei Personen bequem einen Monat davon leben konnten; Büchsen mit Fleisch, ein paar Schinken, mehrere Kisten Schiffszwieback, Käse und einige Tönnchen mit Süßwasser. Während Helga und ich beschäftigt waren, die Trinkwasserbehälter zu füllen, machte ich das junge Mädchen auf ein Geräusch aufmerksam, das aus dem Innern des Schiffes zu uns heraufdrang.

Ich höre, nickte sie; es ist das Wasser im Schiffsraum.

Schauerlich klang das Glucksen und Gurgeln der eingedrungenen Wassermassen, die mit den Kisten und Ballen der Ladung spielten, und mahnte uns, daß wir keine Zeit zu verlieren hatten. Rasch schob ich das letzte Wasserfäßchen an Deck und schwang mich dann empor, um die Luke zu schließen, als sich plötzlich etwas in meinen Rücken krallte und ich eine gewaltige schwarze Ratte über meine Schulter hinweg auf die Deckplanken springen sah.

Mit lautem Aufschrei wich Helga zurück, als das ekelhafte Geschöpf ihr über die Füße lief und blitzschnell verschwand. Auch ich war erschrocken und glaubte noch lange nachher die borstigen Schnurrhaare des Tieres an meinem Halse zu fühlen.

Sehen Sie, Helga: die Ratten verlassen das Schiff!

Das junge Mädchen schloß schaudernd die Augen; allein wir hatten nicht viel Zeit, uns unseren Empfindungen hinzugeben, denn jetzt hieß es, den herbeigeschafften Proviant so rasch wie möglich auf dem Floß zu verstauen. Ich paßte einen Augenblick ab, als die Wellen es fast zu gleicher Höhe mit dem Deck emporgehoben hatten, und schwang mich hinüber, wobei ich zu meinem nicht geringen Schrecken feststellen mußte, daß es bei jeder Hebung schwer gegen die Bordwand stieß. Wollten wir also die Seetüchtigkeit unseres Rettungsfahrzeuges nicht ernstlich gefährden, so mußten wir die drohende Nähe des sinkenden Schiffes schleunigst fliehen. Während ich die Kisten und Büchsen, die Helga mir zureichte, so gut wie möglich in den Lücken des Floßes verstaute, begann ich bereits zu überlegen, wie wir Kapitän Nielsen am besten über Bord schaffen könnten.

Ist die Bettlade Ihres Vaters an Haken befestigt? fragte ich, nachdem ich mich wieder an Deck geschwungen hatte.

Helga bejahte. Die Geitaue laufen wie bei einer Hängematte in einem Punkte zusammen, sagte sie.

Dann werden wir an jeder Ecke der Bettstatt eine Schlinge mit einem Seil befestigen, das durch die eisernen Ösen an der Decke gezogen wird. Wenn wir dann die Geitaue abschneiden, können wir Ihren Vater allmählich auf den Fußboden herunterlassen, ohne ihm wehe zu tun.

Ich suchte mir die passenden Stricke zusammen und eilte dann mit Helga in die Kabine ihres Vaters.

Was gibt's nun schon wieder? fragte Kapitän Nielsen mit mürrischem Seitenblick auf die Tauenden in meiner Hand.

Wir wollen dich auf das Floß bringen, Vater, antwortete Helga.

Auf das Floß? fuhr er auf, und Zornesröte stieg in seine eingefallenen Wangen. Was habe ich mit eurem Floß zu schaffen? Wenn ihr die arme »Anina« dem Untergange preisgebt, dann laßt auch mich mit ihr zugrunde gehen.

Ein Blick in seine irrflackernden Augen belehrte mich, daß der arme Mann für seine Worte nicht mehr verantwortlich zu machen sei, und daß man ihn zum Nachgeben zwingen müsse.

Helga verstand und nickte mir zu. So begann ich die Seilschlingen an den Bettpfosten zu befestigen. Mit zitternden Händen versuchte der Kranke, mich beiseite zu schieben.

Seien Sie doch vernünftig, Kapitän, redete ich ihm zu. Zeigen Sie sich als der tapfere dänische Seemann, der Sie sind!

Laut aufschluchzend schlug der Kranke die Hände vors Gesicht und verharrte in dieser Stellung, bis wir die Geitaue der Bettlade gelöst und diese glücklich auf das Außendeck geschafft hatten.

Wider Erwarten gut gelang es uns, den hilflosen Kranken über Bord zu befördern, und ein freudiges Gott sei Dank! entrang sich meinen Lippen, als seine Lagerstätte erst glücklich auf dem Floße stand.

Kommen Sie jetzt auch, Helga! rief ich. Wir müssen sofort abstoßen; die »Anina« liegt schon so tief, daß sie jeden Augenblick sinken kann.

Einige Minuten wird wohl noch Zeit sein, antwortete Helga. Ich möchte mir gern ein paar Sachen zusammensuchen, die für mich von großem Wert sind.

Dann aber schnell!

Während Helga in der Kajüte verschwand, wandte ich mich dem Kapitän zu, der mit halb erloschenen Augen zu mir aufblickte.

Bleibt Helga auf der Barke zurück? fragte er.

Um Gotteswillen! rief ich entsetzt; in ein oder zwei Minuten ist sie bei uns.

So wird die arme »Anina« also wirklich ihrem Schicksal überlassen? jammerte der Kranke.

Achselzuckend wandte ich mich ab – mit ihm war nicht zu rechten. Mir war überdies noch etwas eingefallen, woran wir vorhin nicht gedacht hatten. Die Weste und der leichte Rock – augenblicklich Kapitän Nielsens einzige Kleidungsstücke – schützten ihn nur unzureichend gegen die Unbilden der Witterung. Sein Kopf war unbedeckt und der Unterkörper nur von den Bettüchern eingehüllt. Da ich mich erinnerte, in der Kajüte einen Südwester und einen Mantel gesehen zu haben, sprang ich nochmals rasch an Bord, um das Vergessene zu holen. Von Helga war noch immer keine Spur zu sehen, und beunruhigt kehrte ich auf das Floß zurück, um dem Kapitän den Hut aufzusetzen und den warmen Mantel über ihn zu breiten.

Nach zehn Minuten endlich erschien Helga oben an der Reeling, doch hätte ich sie beinahe nicht erkannt, denn sie hatte den Knabenanzug mit weiblicher Kleidung vertauscht, die sie um einen Kopf größer erscheinen ließ. Ein blaues Sergekleid mit gleichfarbiger, pelzverbrämter Tuchjacke umschloß ihren schlanken Körper und auf dem goldig schimmernden Haar saß ein turbanähnlicher Pelzhut. In der Hand hielt sie ein Paket, das sie mir bei der nächsten Hebung des Floßes zureichte.

Sie werden so hoch nicht springen können, rief ich ihr zu. Klettern Sie an der Ankerkette herunter; ich will versuchen, Ihnen das Floß so nahe wie möglich zu bringen.

Doch lächelnd raffte sie ihr Kleid zusammen und sprang, als die nächste Woge unser Fahrzeug hoch emporhob, zu uns herunter und ließ sich sanft in die Knie sinken, um nicht zu fallen.

Es war höchste Zeit geworden, vom Wrack abzustoßen, da uns bei noch längerem Zögern die Gefahr drohte, von dem Strudel der sinkenden »Anina« mit in die Tiefe gezogen zu werden. Ich ließ das Tau los, das uns noch mit dem Wrack verband, und stemmte mit Helgas Hilfe die Leesegelspiere, die uns später als Signalmast dienen sollte, kräftig gegen den Schiffsrumpf.

Es war kurz vor Sonnenuntergang, als wir uns der starken, aber regelmäßig rollenden Dünung anvertrauten, die uns rasch vorwärts trug. Da sich unter unseren Vorräten auch eine Laterne, eine Kanne mit Oel, ein Paket Dochte und einige Schachteln Zündhölzer befanden, so konnten wir uns auch während der Nacht bemerkbar machen. Ich bat daher das junge Mädchen, mir beim Aufrichten des Mastes behilflich zu sein.

Nachdem wir den Mast aufgerichtet und die Laterne emporgehißt hatten, kauerten wir uns schweigend auf den Boden des Floßes und starrten zu dem Wrack hinüber, das sich noch immer in scharfen Umrissen von dem rasch verglimmenden Abendröte abhob. Kapitän Nielsens Blicke hingen unausgesetzt an ihm.

Da ich an Bord der »Anina« mein Ölzeug keinen Augenblick abgelegt hatte, trug ich noch dieselbe Kleidung, in der ich am vorigen Abend mein Heim in Tintrenale verlassen hatte. Auch jetzt hielt ich es für besser, den Ölrock anzubehalten, da mir als rüstigem Schwimmer bei einer Katastrophe die leichte Kleidung den Todeskampf nur unnötig verlängert hätte, während das schwere Oelzeug mich rasch in die Tiefe ziehen mußte.

Am westlichen Horizont war der letzte rote Schimmer erloschen, und nur das matte Licht der Sterne erhellte notdürftig die schwarze Wasserfläche, auf der das Wrack der »Anina« noch immer schwerfällig dahinschwankte. Das Schiff schien mehr Widerstandskraft zu besitzen, als ich ihm zugetraut hatte. In trübes Sinnen verloren, starrte ich zu den matt leuchtenden Segelfetzen hinüber, die noch an seinen Raaen hingen. Endlich aber entriß ich mich diesem lähmenden Brüten und richtete mich am Mast empor, um nach allen Seiten über die See hin nach den Lichtern eines Dampfers zu spähen, denn auf die Annäherung eines Segelschiffes war bei der herrschenden Windstille nicht zu rechnen.

Plötzlich ertönte hinter mir ein gellender Schrei.

Wie das Heulen eines tödlich verwundeten Tieres klang es, und doch lag wieder etwas erschütternd Menschliches in diesem Ton. Ich wandte mich um. Kapitän Nielsen saß aufrecht in seinen Kissen, starr wie ein Stück Holz, und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Meer hinaus. Die dunkle Masse des Wracks war verschwunden! Nur noch ein undeutliches Durcheinander von Tauwerk und Spieren zeigte sich über der Wasserfläche, und nach einem explosionsähnlichen Knall, der von den berstenden Deckplanken herrührte, hatte die Flut auch die letzte Spur der »Anina« verschlungen.

Zu Hilfe! rief Helga, mein Vater stirbt!

Mit einem Sprung war ich bei der Lagerstätte des Kapitäns und beugte mich über den Leblosen, dessen Gesicht leichenblaß zu mir emporschimmerte. Nachdem ich die Laterne heruntergelassen, um bei ihrem Schein ein wenig Whisky aus unserem Vorrat in einen Zinnbecher zu gießen, näherte ich die belebende Flüssigkeit den Lippen des Kranken, der jedoch die Zähne fest zusammengebissen hatte.

Ihr Vater ist nur ohnmächtig, Helga!

Da augenblicklich mit dem Kranken nichts anzufangen war, zog ich die Laterne wieder in die Höhe und kauerte mich dann neben dem Lager nieder, um Helga sofort Hilfe leisten zu können. Dem tiefen Schmerz des armen Mädchens gegenüber versagten meine Trostworte und lange Zeit blieben die pfeifenden Atemzüge des Kapitäns und Helgas leises Schluchzen die einzigen menschlichen Laute in der fürchterlichen Einöde.

So schwach der Wind war, der über den Ozean wehte, so brachte er doch die ganze Kühle einer Oktobernacht mit sich. Ich zog meinen Ölrock aus und nötigte ihn dem jungen Mädchen auf, dessen leichte Tuchjacke nur wenig Schutz gegen die schneidende Kälte bot. Vergebens aber drang ich in sie, doch ein paar Bissen zu genießen; mit Mühe und Not nur vermochte ich sie zu überreden, einen Schluck Whisky zu trinken. Ich füllte den Becher noch einmal für mich, aß einen Schiffszwieback und ein Stückchen Käse und streckte mich dann mit aufgestützten Ellbogen der Länge nach neben der Lagerstätte des Kapitäns aus.

Als nach einer Weile die Atemzüge des Kranken leiser wurden, bat Helga mich, die Laterne wieder herunterzulassen, damit sie besser nach ihrem Vater sehen könne. Der Kapitän hatte jetzt nicht mehr die Zähne zusammengebissen, auch waren seine Augäpfel nicht so krampfhaft verdreht wie vorhin, doch starrten seine Augen mit leerem Ausdruck und völlig ungeblendet in das Licht, das ich ihm dicht vors Gesicht hielt. Wir richteten ihn auf, und Helga versuchte, ihm einige Tropfen Whisky einzuflößen, allein vergeblich, die Flüssigkeit rann wieder an den Mundwinkeln herab.

Sanft ließ ich den Kranken in die Kissen zurückgleiten und bat das junge Mädchen, ihn nicht unnötig zu quälen.

Er wird die Nacht nicht überleben, flüsterte Helga mit tränenerstickter Stimme.

Darauf müssen Sie vorbereitet sein, nickte ich ernst.

Ach, wer ist wohl daraus vorbereitet, ein geliebtes Wesen zu verlieren, schluchzte sie. Wenn er dahin ist, stehe ich ganz allein auf der Welt, und – daß er gerade hier sterben muß!

Ich schwieg. Worte konnten sie nicht trösten.

Wieder mochte eine Stunde vergangen sein, während der ich wahrscheinlich in einen leichten Halbschlummer gefallen war, denn ich fuhr plötzlich erschrocken empor, als ich Helga meinen Namen rufen hörte.

Was gibt's? fragte ich verstört.

Mein Vater verlangt nach Ihnen.

Sofort ermuntert, beugte ich mich über den Kranken und drückte seine mit kaltem Schweiß bedeckte Hand.

Hier bin ich, Kapitän Nielsen.

Wenn Gott Sie errettet, lispelte der Kranke mit schwacher Stimme, werden Sie dann Ihr Wort halten?

Gewiß! Darauf können Sie sich fest verlassen!

Ich danke Ihnen, flüsterte der Kapitän tief aufseufzend, Helga, sagtest du vorhin nicht, du hättest das Bild deiner Mutter mitgenommen?

Ja, Vater.

Ach, könnte ich doch noch einen Blick auf das Bild werfen, zum letztenmal, Helga, zum letztenmal.

Wo ist das Paket? fragte ich.

Hier, dicht neben mir

Öffnen Sie es, Helga. Ich will unterdessen das Licht herunterlassen.

Der Schein der Laterne fiel auf ein kleines Ölgemälde in ovalem Goldrahmen, aus dem ein jugendliches Frauenantlitz mit einer blonden Flechtenkrone über der Stirn lächelte.

Der Kapitän murmelte abgebrochene dänische Laute vor sich hin und versuchte mit der Hand gen Himmel zu weisen, doch kraftlos sank sein Arm zurück. Sanft zog Helga jetzt das Bild fort, und ich befestigte die Laterne wieder an ihrem alten Platz, wo sie in dem milden Lufthauche hin und her schwankte.

Nach einer Weile begann der Kapitän im Fieberwahn wieder unzusammenhängende Worte zu murmeln, Besorgt beugte Helga sich über ihn. Er redet irre, flüsterte sie und fügte dann, wie zu sich selber sprechend, in dänischer Mundart hinzu: Jeg er nu alene! Jeg er nu alene!

Tief ergriffen von dem klagenden Ton dieser Worte, deren Bedeutung ich erriet, faßte ich mit warmem Druck die Hand des jungen Mädchens und rief:

Nein, Helga, solange noch ein Atemzug in mir ist, sind Sie nicht allein!

Mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, begann der Kranke, der bis dahin nur dänische Laute hervorgestoßen hatte, jetzt Englisch zu sprechen:

Siehst du, ich hatte recht. Voriges Frühjahr kamen die Störche nicht wieder, das bedeutet Unglück. Else, meine geliebte Else, hier ist der gute Pastor Madsen, und da steht auch Rektor Grönlund. Ob er uns wohl bemerkt? Nein, er ist zu sehr in sein Buch vertieft. Sieh, Else, ist das nicht die Lateinschule von Dolding? Ach nein, es ist ja Grönlunds Pfarrgarten. Ah, Rektor Grönlund, erinnern Sie sich meiner noch? Das ist die kleine Else, die Ihre gute Frau für das hübscheste Mädchen in Dänemark hielt; und das hier ist Pastor Madsen.

Er hielt inne, murmelte noch ein paar dänische Worte und versank dann wieder in Schweigen.

Um ein Uhr morgens hauchte er seinen letzten Seufzer aus. Laut schluchzend warf Helga sich über den entseelten Körper, und ich ließ sie lange stumm gewähren. Dann ergriff ich leise ihre Hand und tröstete sie mit den liebreichsten Worten und Versprechungen, die mein unbeschreibliches Mitleid mir eingab. Allmählich wurde sie ruhiger und während ich ihr vorstellte, welchen Leiden ihr Vater durch seinen sanften Tod vielleicht entgangen sei, flüsterte sie:

Sein Herz brach, als sein Schiff sank.


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