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Kapitän Nielsen.

Jetzt, im kalten Dämmerlicht des grauenden Morgens, sah Kapitän Nielsen womöglich noch leichenähnlicher aus als am Abend vorher; in seinem abgezehrten, wachsbleichen Gesicht schienen nur noch die fieberglänzenden Augen zu leben.

Trotz seiner Schwäche aber beherrschte den Kranken eine verzehrende Ungeduld; kaum ließ er sich Zeit, uns einen flüchtigen Gruß zuzunicken, und in hastig sich überstürzenden Worten fragte er Helga nach dem Zustande des Schiffes aus. Kopfschüttelnd hörte er unseren Bericht von der Beschädigung der Masten an und geriet in die heftigste Aufregung, als wir ihm von dem Steigen des Wasserstandes im Schiffsraum erzählten.

Die »Anina« muß ein Leck haben! schrie er. Die Pumpen dürften jetzt keinen Augenblick still stehen – und ihr seid nur zwei!

Allerdings, bestätigte ich ernst, und wenn Sie nicht darauf bestehen, daß Ihr Fräulein Tochter sich sofort niederlegt, dann werde ich bald allein übrig bleiben, denn diese furchtbare Überanstrengung kann sie keine Stunde länger aushalten.

Helga! rief Kapitän Nielsen erschrocken. Geh sofort nach unten in deine Kabine und ruhe dich aus; Mr. Tregarthen bleibt unterdessen bei mir.

Ja, Vater, nickte das junge Mädchen matt, aber erst wollen wir, so gut es geht, frühstücken.

Damit verließ sie die Kabine, um gleich darauf mit den Resten der gestrigen Abendmahlzeit und einer Flasche Rotwein zurückzukehren. Ihr Vater trank einen Schluck Wein und aß ein paar Biskuits, doch schien er jeden Bissen nur mit Widerwillen hinunterzuwürgen.

Finden Sie nicht, daß er heute sehr schlecht aussieht? flüsterte sie mir zu.

Bei den unaufhörlichen Schmerzen und der heftigen Aufregung von gestern ist das doch kein Wunder, gab ich leise zurück: wir müssen ihn so bald wie möglich an Land zu bringen suchen, damit er in ärztliche Behandlung kommt und gepflegt werden kann.

In Wahrheit aber war ich fest überzeugt, daß Kapitän Nielsen das Land nicht mehr wiedersehen würde!

Nachdem unser einfaches Mahl beendet war, erhob Helga sich, um ihre Kabine aufzusuchen. Vorher aber schärfte sie mir noch genau ein, wie oft der Vater seine Medizin bekommen müsse, bat mich inständig, ihn soviel ich könnte aufzuheitern und verließ uns schließlich mit einem Blick schmerzlichster Besorgnis auf den fiebernden Kranken.

Sehen Sie doch einmal nach dem Barometer, verlangte Kapitän Nielsen, als die Tür sich hinter Helga geschlossen hatte; nicht wahr, es ist gestiegen?

Ich mochte ihm nicht sagen, daß an ein Steigen des Quecksilbers gar nicht zu denken sei, und versuchte mit tröstenden Redensarten darüber hinwegzugleiten.

Gestrenge Herren regieren nicht lange! rief ich mit erzwungener Heiterkeit: wir können jeden Augenblick auf einen Witterungsumschlag gefaßt sein.

Hoffentlich wird uns dann auch bald Hilfe zu teil, seufzte der Kapitän, denn ich fürchte, es geht sonst mit mir zu Ende. Und ich will doch noch nicht sterben! Was soll aus meinem armen Kinde werden, wenn ich die Augen schließe! Mein Herr, fuhr er in beschwörendem Tone fort, erbarmen Sie sich meiner Helga, wenn ich nicht mehr bin und Sie beide gerettet werden sollten. Bringen Sie das arme Kind sicher nach Kolding zu meinen Verwandten – wollen Sie mir das versprechen und mir die Sterbestunde erleichtern?

Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, darauf können Sie sich verlassen! antwortete ich bewegt. Aber Sie müssen wieder gesund werden, Kapitän Nielsen. Ein Schiff wird uns aufnehmen und ärztliche Pflege – –

In Kolding wohnt mein alter Freund, der Pastor Blicker, fiel der Kranke mir ins Wort. Auch Pastor Jensen in Skandrup würde sich Helgas annehmen und ihr helfen, ihre Vermögensangelegenheiten zu ordnen, wenn von Vermögen überhaupt noch die Rede sein kann. Denn geht die »Anina« verloren, so bin ich ein Bettler. Oder Helga vielmehr, denn ich werde bald tot sein.

Warum sprechen Sie so viel vom Sterben, Kapitän Nielsen? begann ich noch einmal. Rheumatismus ist doch nicht lebensgefährlich.

Ich bin aber früher in Indien schwer fieberkrank gewesen und habe seit der Zeit einen organischen Fehler zurückbehalten, der mir jetzt wohl verhängnisvoll werden wird. Was war das?

Angestrengt lauschend bog er sich vor, während seine abgezehrten Finger nervös auf der Bettdecke umhertasteten.

Ich hörte nichts, sagte ich.

Doch. Es klang wie ein Schlag. Sehen Sie nach, was passiert ist.

Lächelnd über den befehlenden Ton, den der Kapitän unbewußt auch mir gegenüber angeschlagen hatte, willfahrte ich seinem Wunsch und ging an Deck.

Meer und Himmel boten noch immer dasselbe Bild. Hoch über mir im Takelwerk aber hörte ich außer dem gewohnten Pfeifen des Sturmes ein scharfes Rasseln, das meinen Blick nach oben zwang. Das Oberbramsegel hatte sich gelöst und schlug klatschend gegen den Mast, bis ein starker Wind es packte und in Fetzen entführte. Außerdem brach noch die Bramstenge ab und verfing sich im Tauwerk und pendelte nun heftig hin und her. Die Flagge, die Helga und ich vorher gehißt hatten, war spurlos verschwunden.

Während ich mich noch nach weiteren Beschädigungen umsah, bemerkte ich bei einem zufälligen Blicke über die See eine am Horizonte aufsteigende Rauchwolke, und bald tauchten die massigen Umrisse einer großen Dampffregatte immer deutlicher aus dem Nebeldunst empor.

Ihr Kurs führte sie hinter uns vorüber, doch schon nach wenigen Minuten begann sie meinen Blicken wieder zu entschwinden, und ich hatte kein Mittel, die Aufmerksamkeit ihrer Besatzung auf unser Schiff zu lenken.

Da ich mir aber sagte, daß bei der hochgehenden See eine wirksame Hilfeleistung ohnehin unmöglich gewesen wäre, so fühlte ich mich durch das Verschwinden des fremden Dampfers keineswegs niedergeschlagen, sondern empfand vielmehr in dem Gedanken, wie belebt dieser Teil des Atlantischen Ozeans sei, eine große Ermutigung. Fortwährend mußten ja Schiffe uns begegnen!

Dann kehrte ich in die Kajüte zurück und erstattete dem Kapitän, der mich mit Fragen bestürmte, einen ganz ungeschminkten Bericht über die Beschädigungen, fügte aber hinzu, daß sonst nichts passiert sei und daß die »Anina« sich trotz der gefährlichen Sturzseen noch immer gegen die Wogen behaupte.

Kapitän Nielsen nickte trübe vor sich hin und rief: Ja, ja, so geht eine Spiere nach der andern, bis wir schließlich ganz und gar zerschellen.

Der Gedanke an sein Schiff beherrschte ihn so ausschließlich, daß er gar nicht hinhörte, als ich ihm von der Dampffregatte erzählte. Denn als einzige Antwort darauf erkundigte er sich in kindisch weinerlichem Tone, wie lange Helga denn eigentlich schon unten sei.

Noch nicht lange genug, um sich ordentlich ausgeruht zu haben, sagte ich ernst.

Aber das Schiff muß ausgepumpt werden, wandte der Kranke eigensinnig ein.

Ihre Tochter wird nachher um so leistungsfähiger sein, beruhigte ich ihn, reichte ihm nach einem Blick auf die Uhr seine Medizin und versuchte ihn dann durch leichtes Geplauder von seinen trüben Gedanken abzulenken. Aber bald packte ihn wieder die Angst um sein Schiff und er brach in laute Klagen aus, daß er Helga als bettelarme Waise zurücklassen müsse, wenn die »Anina« zu Grunde gehe.

Ist das Schiff denn nicht versichert? fragte ich.

Freilich seufzte er, doch nicht von mir. Ich war gezwungen, Geld auf die »Anina« aufzunehmen und mein Gläubiger hat das Schiff versichert.

Sie haben aber Anteil an der Ladung, Kapitän Nielsen?

Allerdings, und der ist auch versichert, aber was kann diese geringfügige Summe meiner armen Helga nützen! Und er brütete dumpf vor sich hin.

Kap Landsend kann doch nicht fern sein? fragte er nach einer Weile.

Nein, erwiderte ich, das heißt, wenn der Sturm sich heute noch legt; stürmt es aber so fort, dann haben wir Landsend bald weit hinter uns gelassen.

Nielsen erkundigte sich nun nach der ungefähren Geschwindigkeit, mit der wir vorwärts trieben, berechnete dann, daß die englische Küste etwa sechzig Meilen nach Ost-Nord-Ost liegen müsse, und setzte, während ein matter Hoffnungsschimmer in seinen eingesunkenen Augen aufloderte, hinzu:

Wenn der Wind sich jetzt dreht, können Sie und Helga das Schiff schon um Mitternacht im Kanal haben.

So plauderten wir noch eine Zeitlang weiter, bis der Kranke die Unterhaltung plötzlich abbrach und ungeduldig fragte, wie spät es wäre.

Beinahe elf Uhr.

Um Gottes willen, rief Kapitän Nielsen erschrocken. Während wir hier schwatzen, versinkt uns das Schiff unter den Füßen. Es muß auf der Stelle gepeilt werden. Bitte, rufen Sie sofort Helga, setzte er aufgeregt hinzu, während seine abgezehrten Finger nervös auf der Bettkante trommelten. Daß ich hier so untätig liegen muß!

Ich will sogleich peilen, beruhigte ich ihn, und sollte der Wasserstand gestiegen sein, so werde ich auch Ihre Tochter wecken.

Gehen Sie! Gehen Sie! drängte er. Mir scheint, die Bark hebt und senkt sich nicht mehr wie sonst.

Obwohl ich diese Beobachtung für eine Ausgeburt seiner krankhaft erregten Phantasie hielt, erschreckte der Gedanke an eine solche Möglichkeit mich doch so, daß ich schleunigst auf meinen Posten eilte.

Ich trocknete den Peilstock und versah ihn mit einem Kreidestrich, senkte ihn hinab und fand zu meinem Schrecken den Wasserstand um fünf Zoll gestiegen. Um ganz sicher zu gehen, wiederholte ich den Versuch, aber auch diesmal blieb das Resultat dasselbe, und bestürzt teilte ich dem Kapitän meine Wahrnehmungen mit.

Ich wußte – ich ahnte es! jammerte er in hilfloser Angst. Rufen Sie Helga! Verlieren Sie keinen Augenblick!

Wo ist die Kabine Ihrer Tochter?

Da – durch die Luke im Deckshaus! schrie der Kapitän in fieberhafter Aufregung. Es sind vier Kabinen unten; die hinterste auf der Steuerbordseite gehört meiner Tochter. Eilen Sie! Eilen Sie! Wenn Sie nicht sofort antwortet, so gehen Sie hinein und wecken Sie sie auf!

So schnell ich konnte, eilte ich hinaus und hastete die Stiege hinab, die auf das stockdunkle untere Deck führte. So finster war es, daß ich mich erst nach einer ganzen Weile notdürftig zurechtfinden konnte.

Mit vorgestreckten Händen tastete ich mich bis zu der vierten Tür und pochte an. Drinnen rührte sich nichts. Auch auf wiederholtes und lauteres Klopfen erhielt ich keine Antwort – das Mädchen hätte freilich auch eine Stimme wie eine Bootsmannspfeife haben müssen, um den Aufruhr der Elemente zu übertönen. So blieb mir nichts anderes übrig als einzutreten, und zögernd öffnete ich die Tür der Kabine.

Helga lag angekleidet in einer Oberkoje, durch deren Bullauge das Tageslicht über ihr Gesicht huschte, sobald das Schiff sich aus dem salzigen Schaum emporhob. Das Köpfchen mit dem mattschimmernden Haar ruhte auf ihrem Arm, ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen umspielte ein glückliches Lächeln.

Ich hatte das Gefühl, als begehe ich ein schweres Unrecht, das junge Mädchen diesem tiefen, erquickenden Schlummer zu entreißen, dessen sie so sehr bedurfte. Aber es mußte sein! Ich allein konnte die Pumpe nicht handhaben. So faßte ich mit leisem Druck Helgas Hand. Das junge Mädchen holte tief Atem, schlug die Augen auf und sah mich erstaunt und verwirrt an.

Ihr Vater bat mich, Sie zu wecken, entschuldigte ich mein Eindringen in ihre Kabine, und durch bloßes Klopfen konnte ich mich Ihnen nicht bemerkbar machen. Ich habe vor kurzem gepeilt und den Wasserstand fünf Zoll höher gefunden.

Mit einem Satz stand Helga auf den Füßen. Rasch setzte sie ihren Südwester auf, schlang ein Tuch um den Hals und eilte mir voran die steile Stiege hinauf. Beim Betreten des Decks sah ich sofort, daß die Beschädigungen der Takelage zugenommen hatten, denn auch von dem Vormarssegel flatterten jetzt nur noch abgerissene Fetzen an den Raaen. Auch Helga bemerkte auf den ersten Blick die Havarie an der Groß-Bramstenge, doch sagte sie nichts, und schweigend machten wir uns an unsere Arbeit.

Als wir nach einer Weile erschöpft den Pumpenschwengel sinken ließen, war es uns noch nicht gelungen, den Wasserstand auf seine frühere Höhe zurückzuführen: allein wir konnten es beide nicht mehr länger an Deck aushalten, da nicht nur die wütenden Sturzseen und die heftigen Schwankungen des Schiffskörpers uns gefährlich wurden, sondern in noch viel höherem Maße der beschädigte Mast, der, nur von dünnen Tauen gehalten, die jeden Augenblick reißen konnten, über unseren Köpfen drohend hin und her baumelte. Wir suchten also wieder das Deckhaus auf, um dort zu beraten.

Das Schiff macht immer mehr Wasser, Mr. Tregarthen, seufzte Helga.

Das fürchte ich auch, gab ich ernst zurück.

Was sollen wir aber tun, wenn wir es nicht mehr auspumpen können? Boote haben wir doch nicht.

Nichts können wir tun! rief ich verzweifelt. Das einzige Mittel wäre noch, aus allem verfügbaren Holz ein Floß zu bauen ...

Bei solch einer See? fiel Helga mir ins Wort.

Ich antwortete nicht, denn auch mir war das Wahnwitzige eines derartigen Planes nur allzuklar.

Und was soll aus meinem Vater werden? Ich möchte mein Leben hingeben, wenn ich ihn dadurch retten könnte. Was fangen wir bei diesem Sturm mit einem Kranken an, der nicht einmal im stande ist, sich ohne Hilfe zu bewegen?

Seine Erfahrung wird uns von großem Nutzen sein, erwiderte ich; kommen Sie, wir wollen ihn aufsuchen.

Helga öffnete die Tür der Kabine, wandte sich aber sofort, den Finger auf die Lippen drückend, wieder zu mir zurück. Der Kapitän lag regungslos in den Kissen, und hätte seine Brust sich nicht leise gehoben und gesenkt, so hätte man ihn für eine Leiche halten können. Mit zärtlicher Liebe, aber auch mit tiefer Trauer, blickte Helga lange Zeit auf ihren schlummernden Vater, dann setzte sie sich neben mich und flüsterte:

Ich werde ihn nicht lange mehr behalten.

Diesem Schmerz gegenüber war jedes Trösten vergeblich. Nur durch den Hinweis auf die vor kurzem gesichtete Dampffregatte und die Notwendigkeit, das Schiff so lange flott zu erhalten, bis irgendein vorübersegelndes Fahrzeug uns Hilfe brächte, versuchte ich Helgas gesunkenen Mut zu beleben.

Langsam verstrich die Zeit. Gegen ein Uhr mittags ging ich wieder an Deck, prüfte das Steuerruder, sah nach dem Wetter und untersuchte den Wasserstand. Ich konnte keine wesentliche Steigung wahrnehmen. Freilich gestattete das schwere Rollen der Bark mir auch kein sorgfältiges Peilen. Ehe ich wieder in die Kajüte ging, sah ich mich aber noch an Deck nach brauchbarem Material zu einem Floß um. Auf dem Kombüsendach entdeckte ich eine Anzahl sicher befestigter Spieren, die im Verein mit einem Hühnerstall, einigen Lukenkappen und den kleinen Wasserbehältern, aus denen die Mannschaft ihr Trinkwasser zu holen pflegte, uns vielleicht gute Dienste leisten konnten.

Doch ein Blick auf die See zeigte mir von neuem die Aussichtslosigkeit dieses Planes, und mit geballten Fäusten kauerte ich mich im Schutz der großen Reeling düster brütend zusammen. Gestern noch hatte ich festen und sicheren Boden unter den Füßen – heute weinte meine arme alte Mutter sich um mich die Augen aus, und in der schaumbedeckten Tiefe, in der das hilflose Schiff Zoll um Zoll versank, schliefen meine unglücklichen Kameraden.


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