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Die ersten glaubwürdigen Nachrichten über die Schlacht bei Naseby erhielten wir durch Dr. Antonius. Ich sah ihn eilig von Schloß Davenant her durch die Felder schreiten.
Es war ganz früh am Morgen. Beunruhigende Gerüchte waren am vorigen Nachmittage im Dorfe verbreitet worden und ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich beobachtete das Licht in Lady Lucia's Betzimmer und dachte daran, wie sie in jener furchtbaren Nacht mit Lätitia dort gewacht und für Roger gebetet hatte, und wie Lätitia den folgenden Morgen auf ihrem weißen Zelter herangesprengt kam, mit der frohen Botschaft, daß Sir Launcelot genesen werde. Und wie weit waren wir jetzt von einander getrennt! Welch ein Meer lag zwischen uns! Zwei Laufgräben (das Mondlicht beschien eben den unsrigen gerade unter meinem Fenster), Zugbrücken und Festungswerke! Allein tiefer und stärker als alle Gräben und Mauern in der Welt lagerte sich zwischen uns das Andenken an diese herben Kriegsjahre und die sich immer noch erweiternden Mißverständnisse und Spaltungen. Doch war ich fest überzeugt, daß Lätitia uns noch immer liebte.
Während ich so gedankenvoll hinausschaute, erblickte ich Dr. Antonius, welcher eilig des Weges von dem Drehling herkam, der über die Felder nach Schloß Davenant führte, wo ich mich in jener Nacht von Harry Davenant getrennt, als er die Nachricht von Lord Straffords Hinrichtung gebracht hatte und nicht hereinkommen wollte.
Zuerst stand ich auf dem Punkte hinabzurennen und die Thüre zu öffnen. Aber bald fühlte ich mich zurückgehalten, theils durch eine Ahnung, daß die Neuigkeiten, welche er hatte, vielleicht nicht so angenehm sein möchten, um so sehr zu eilen, sie desto eher zu erfahren; theils auch durch eine unbehagliche Erinnerung an Hiob Forsters Brief und jene Unterredung, in welcher ich so gar nichts Passendes gesagt hatte.
Ich ging daher, um Tante Dorothea als das Haupt des Hauses zu rufen. Sie hatte aber so viele Vorbereitungen zu machen, daß der Doktor schon die Hand nach der großen Hausschelle ausstreckte, als sie noch lange nicht fertig war. Nichts sei so langsam wie die Eile, sagte sie, und beweise überdies nur die Ungeduld des Fleisches. Ja, sie ließ es sich nicht nehmen, die Kleidungsstücke, die sie ausgezogen, sorglich zu falten, dem Grundsatze getreu, daß man Alles so verlassen müsse, als ob man vielleicht nicht mehr zurückkehren werde.
Es schellte von Neuem.
Nun ging ich um nachzusehen, ob Tante Gretchen nicht zu größerer Eile angetrieben werden könnte. Die gute Seele war äußerst theilnehmend, und ihre Aufregung übertraf meine kühnsten Wünsche; denn sie war unfähig etwas von dem zu finden, was sie brauchte. Ich mußte daher wieder zu Tante Dorothea zurückkehren, die endlich bereit war. Als sie fühlte, wie kalt und zitternd meine Hand war, die sie ergriffen, um mit mir die Treppe hinabzugehen, legte sie ihre andere mit ungewohnter Zärtlichkeit darauf und sagte:
»Kind, wir können die Schritte des Herrn weder beschleunigen noch aufhalten. Aber Er wird Alles recht machen.« Ihre Worte hatten Kraft, aber für mich lag fast noch mehr in ihrer bebenden Stimme und in der Berührung ihrer kalten Hand, welche bewies, daß ihr Herzblut ebenso still stand wie das meinige.
Wir kamen gerade zu rechter Zeit hinab, um Dr. Antonius zu empfangen, als er in die Wohnstube trat.
Mein Vater war verwundet; zwar nicht gefährlich, doch so um ihn zu fernerem Kriegsdienste untauglich zu machen, wenigstens für die nächste Zeit. Er hatte den rechten Arm gebrochen. Roger geleitete ihn nach Hause.
Ich war verwundert, daß Dr. Antonius so niedergeschlagen schien, Nachrichten zu überbringen, welche mein Herz mit dankbarer Freude erfüllten. Was konnte uns Glücklicheres widerfahren, als daß Roger unversehrt geblieben und mein Vater nur leicht verwundet war, gerade hinreichend um ihn bei uns zurückzuhalten.
Da fiel mir plötzlich ein, von welcher Richtung ich ihn hatte kommen sehen.
»Dr. Antonius!« sagte ich. »Die Davenants hat ein Unglück betroffen!« Und nun erzählte er uns, daß Harry Davenant gefallen sei.
Wir hatten wenig Zeit ihn zu beklagen; denn das Hausgesinde mußte geweckt, und ein Bett und Erfrischungen für meinen Vater bereitet werden.
Kaum hatte ich Roger je so niedergeschlagen gesehen, wie nun über Harry Davenants Tod. Einer der edelsten Cavaliere, die der König auf seiner Seite hatte, dachte er, so rein, so wahr und tapfer. Wenn Alle so gewesen wären wie er, hätte es keinen Krieg gegeben, und wäre auch keiner nöthig gewesen. Und ich hatte stets gehofft, sagte Roger, daß noch ein Tag kommen sollte, wo Harry Davenant uns verstehen würde. Denn wir fochten für dasselbe Ziel, obgleich auf entgegengesetzten Seiten – für England und seine alten Rechte und Freiheiten; für ein gerechtes Königthum. Und ich hoffte immer, er werde eines Tages einsehen, wo dies zu finden sei und wo nicht.
Roger ließ sich nicht lange bei uns zurückhalten. Allein ehe er uns verließ, wurde Harry Davenant in aller Stille in dem alten Grabgewölbe der Davenants in der Kirche von Netherby beigesetzt.
Es war Nacht; denn die Liturgie war schon seit sechs Monaten abgeschafft und ungesetzlich, und der Unterpfarrer lief einige Gefahr, indem er es duldete, daß sie – selbst von Lady Lucia's eigenem Kaplan – gelesen wurde. Und wir achteten ihn und Placidia wegen dieses Wagnisses. Roger hatte um die Erlaubniß gebeten, einer der Träger zu sein.
Tante Gretchen, Rahel Forster und ich erwarteten sie an der Kirchthüre. Langsam näherten sich in der stillen Sommernacht die schweren Tritte der Träger, bis sie endlich still standen und ihre Bürde unter dem alten Lychthore absetzten. Während sie hierauf durch den Kirchhof heranschritten, schlichen wir leise in die Kirche zurück, welche ganz dunkel war, außer wo die Leichenfackeln einen kleinen Raum um das offene Gewölbe erleuchteten, und seltsam flackernde Schatten auf die ruhenden Gestalten der Todten aus Harry Davenants Geschlecht warfen, auf Ritter und Damen, auf Priester und Kreuzfahrer, so daß sie aussahen, als bewegten sie sich, um ihm entgegen zu gehen; denn von den lebenden Männern seines Hauses war keiner da, ihn zu beklagen, obgleich von diesen Todten allen keiner in muthigerem Kampfe gefallen war.
Hinter dem Sarge gingen vier dicht verschleierte Frauen. Die erste erkannte ich an der hohen Gestalt und dem Adel der Bewegungen als seine Mutter, und an ihrer Seite kniete, während die heiligen Worte gelesen wurden, Lätitia. Es kommt mir vor, es liege in Zeiten überwältigenden Glückes oder Kummers, wenn keine Worte die Tiefen des Herzens zu ergründen vermöchten, wenn fast jede menschliche Stimme ungehört verhallen oder die Seele rauh berühren würde, ein wunderbarer Trost in der sanften Ruhe jener alten, unveränderlichen Liturgieen. Sie sind ein von den Freuden und Schmerzen der Jahrhunderte tief ausgegrabener Kanal. Ihre Unveränderlichkeit verknüpft sie mit der Ewigkeit, und es ist als ob sie dadurch dem Schmerz, der die engen Schranken des Gedankens und der Zeit überfluthet, Raum machten.
»Befreit von der Last des Fleisches,« »sind sie in Freude und Freiheit;« »wir sind nicht traurig, wie die, welche keine Hoffnung haben, um solche, die in dem Herrn entschlafen sind;« »damit wenn wir von diesem Leben scheiden, wir in Ihm ruhen, wie wir hoffen, daß es bei diesem unserm Bruder der Fall ist.« Wie sanft drangen diese einfachen Worte in die innerste Tiefe des Herzens!
Noch köstlicher und heiliger, ohne Zweifel, durch die zarte Heiligkeit, welche eine verbotene Religion je und je umgibt!
Nicht als ob es unserer puritanischen Religion ganz an Liturgieen mangelte. Besitzt sie doch jene Liturgieen die älter sind als England, ja selbst als das Christenthum, wie sie dem brennenden Herzen des königlichen Sängers, des Kriegers, des Patrioten, des Verbannten, des Siegers und des Büßenden entströmten. Aber es ist eine gewagte Sache, vorgeschriebene Gebete, wie die der englischen Kirche, die ohnehin jedem gläubigen Herzen, das sie von Kindheit auf gebraucht hat, theuer genug sind, durch Gefahren, denen ihr Gebrauch ausgesetzt wird, noch theurer zu machen. Erst als wir sie verloren hatten, erkannte ich, wie lieb sie mir gewesen.
Und als in jener Nacht die heiligen, einfachen, altehrwürdigen Worte wie himmlische Musik zwischen den Schatten der alten, düstern Kirche erklangen, da war mir, als ob das Decret, welches sie verbot, und das Grab des bei Naseby erschlagenen Bruders langsam einen Abgrund öffneten zwischen den Draytons und den Davenants, der nie mehr zu überschreiten sei.
Wehe der Wahrheit! oder wenigstens wehe uns, die wir sie stets verkennen und ihr treu sein möchten, selbst wenn sie mit dem Irrthum das Gewand wechselt; wenn sie die Dornenkrone ihren Feinden auf die Stirne drückt, wenn die Märtyrer auf der unrechten Seite stehen. Allein solche Verwandlungen haben bisher nie lange gewährt, und die Dornenkrone kann selbst denen, die sie irrthümlich tragen, ihre Lehren aufdrücken.
Kein Laut der Klage wurde hörbar. Als aber Lady Lucia zum letzten Male, ehe der Sarg versenkt wurde, an seiner Seite niederkniete, ihn zu umfangen, erhob sie sich nicht wieder, bis Lätitia leise sich ihr nahte, sie hinwegzuführen, und fand, daß sie ohnmächtig geworden war und heimgetragen werden mußte. Ohne diesen Zwischenfall hätte Lätitia vielleicht gar nicht erfahren, daß wir zugegen waren. Auf Rogers Geheiß trat ich näher, um zu sehen, ob ich vielleicht Hülfe leisten könne. Da schlug Lätitia einen Augenblick den Schleier zurück, der ihr Gesicht verhüllte, und flüsterte mit unterdrücktem Schluchzen, meine Hände in den ihrigen haltend:
»Gott sei Dank, Olivia! Ich wußte, daß Ihr alle mit uns trauern werdet. Bete für sie und mich, Olivia! Wir haben keinen mehr wie ihn.«
Dann gab sie mir einen Kuß und eilte den Uebrigen nach, welche schweigend statt des todten Sohnes die fast leblose Gestalt der Mutter durch die Felder nach Hause trugen.
Roger verließ uns den folgenden Tag, um zu der Armee zurückzukehren. Ich erzählte ihm, was Lätitia gesagt hatte. Und er schien bessere Hoffnung zu hegen, daß sie uns nicht mißverstehen oder vergessen werde, als er lange Zeit gehabt.
»Wir wollen ihr nicht wieder mißtrauen, Olivia,« sagte er. » Sie hat uns unbedingt vertraut.«
Ich fand es seltsam, daß er mich so ermahnte; denn Roger allein hatte daran gezweifelt, daß sie uns noch immer gut sei. Allein solche kleine Vergeßlichkeiten sind das gewöhnliche Loos von Schwestern in meiner Lage, und ich war mit diesem Schlusse zu wohl zufrieden, um über den Weg, wie er darauf gekommen war, zu streiten.
Indeß vergingen viele Wochen nach seiner Abreise, ohne daß wir das Geringste von den Davenants hörten.
Anfangs Juli kam Sir Launcelot Trevor nach dem Schlosse und brachte einige Tage bei ihnen zu; nun quälte mich abermals die Besorgniß, er könnte uns ihre Herzen durch giftige Verleumdungen abwendig gemacht haben. Und oft freute ich mich, während ich an meines Vaters Bette saß, daß Roger nicht da war und ihm so meine Befürchtungen erspart blieben.
Es fügte sich, daß mir fast die ganze Krankenpflege zufiel, wofür ich sehr dankbar war. Tante Dorothea hatte die ganze Leitung der äußern Angelegenheiten übernommen, während Tante Gretchen vorzüglich für die Küche sorgte und kühlende Getränke bereitete. Dr. Antonius sagte, mein Schritt sei ganz für das Krankenzimmer gemacht, ruhig und schnell, aber nicht hastig. Auch meine Stimme fand er ganz besonders dazu geeignet; heiter, wie Vogelgesang, sagte er, und doch sanft und leise.
Wie dem nun auch sei, mein Vater hatte natürlich mich am liebsten um sich; mich und Rahel Forster, in deren Nähe er die Ruhe fand, welche sie rings um sich her zu verbreiten schien. Wie eine Henne ihre Küchlein, schien sie Alles in ihrer Nähe mit unsichtbaren, warmen Flügeln zu beschirmen. Von allen Frauen, die ich je gekannt, besaßen Rahel Forster und Lady Lucia diese Mütterlichkeit am meisten. Und mein Vater fühlte es.
Eines Tages erhielt Rahel Forster einen Brief von Hiob, welchen dieser wenige Tage nach der Schlacht bei Naseby geschrieben hatte. Er lautete:
»Den 14. Juni um drei Uhr Morgens setzten wir uns in Marsch. Wir, die Eisenseiten, waren den Tag zuvor mit General Cromwell aus den östlichen Grafschaften zu unserer Armee gestoßen. Sie hatten sich um ihn versammelt wie Abi-Eser um Gideon. Die Reiterei, welche schon dort war, stieß ein lautes Freudengeschrei aus, daß er zu ihnen kam. Um fünf waren wir zu Naseby und sahen die Köpfe der Feinde, die über den Hügel herkamen, nämlich was man dort einen Hügel nennt, weiter nichts als ein wellenförmiger Moorgrund. Wir fochten auf einem eine Meile breiten Brachfelde, nahe am obersten Ende vom frühen Morgen bis zum Nachmittag. Die Schlacht begann ungefähr wie die von Marston-Moor. Der Feind kam den Hügel herauf. Prinz Ruprecht und seine Plünderer standen unserer Linken gegenüber, sie griffen schnell an mit dem Rufe ›Für Gott und die Königin Maria‹. ›Gott unsere Stärke‹ riefen wir dagegen. Sie durchbrachen unsere Linke, aber dies erfuhren wir erst später. Unsere Rechte, das heißt General Cromwells Reiterei, warf sich auf ihre Linke und trieb sie den Hügel hinab durch Stechginsterbüsche und Kaninchengehäge. Die Hauptmacht focht wacker, Reiterei sowohl als Fußvolk, öfters durchbrochen und sich wieder sammelnd, wie das Meer bei Lizard, wenn die Fluth eintritt. Dieses Vor- und Rückwärtsdrängen dauerte, bis die Reiterei des Prinzen und die unsrige von ihrer Jagd zurückkehrten.
»Am Ende zeigt sich's, was es für ein Unterschied ist, ob man die Zehn Gebote hält, oder sie übertritt. Durch Plündern, Einäschern von Dörfern und Morden der Unschuld schrumpft am Ende der Muth ein. Die Leute des Prinzen Ruprecht konnten zwar bis zuletzt angreifen wie Teufel, aber sie konnten sich nicht wieder sammeln wie die unsrigen. Weder der Befehl des Prinzen noch der des Königs vermochte ihre Soldaten zusammen zu halten, um einem zweiten Angriff zu begegnen, wie Olivers Wort die Eisenseiten wieder zu sammeln vermochte. Dies entschied die Schlacht, der Unterschied, ob man die Zehn Gebote hält, oder sie übertritt. Der König ritt bis zuletzt umher, furchtlos wie ein Löwe. ›Noch ein Angriff,‹ sagte er, ›und der Sieg ist wieder gewonnen.‹ Aber sein Wort besaß keine Macht, die Leute zu halten, und noch stand die Sonne hoch am Himmel, als er und seine Leute über Kopf und Hals nach Leicester flohen, und wir hinter ihnen her.
»Aber auch dort kämpften die Zehn Gebote gegen sie. ›Die Sterne in ihren Bahnen stritten wider Sissera.‹ Der König fand keine Nachtruhe in den Häusern, die wenige Tage zuvor vor seinen Augen geplündert und geschändet worden waren, ohne daß er auch nur mit einem Worte den Grausamkeiten Einhalt geboten hätte. Immer weiter mußte er fliehen nach Ashby de la Zouch, Wales, und wer weiß wohin noch weiter? Die in Leicester gemachte Beute lag mit sechshundert gefallenen Plünderern auf dem Brachfelde bei Naseby umhergestreut, wo wir die Nacht über campirten. Doch Gott verhüte, daß ich den Todten Uebles nachsagen sollte! Sie fochten als ächte Männer. Und der tapfere Junker, Harry Davenant, war unter ihnen. Wohl möglich, daß gerade die wackersten Männer fielen, während die Plünderer sicher entkamen, wie solches Geschmeiß zu thun pflegt, bis der Herr und die Zehn Gebote sie unter die Hände nehmen und zur Rechenschaft ziehen, sei es noch im Leibe oder außer dem Leibe.
»Hundert papistische Weiber aus Irland, mit langen Messern bewaffnet, die keine christliche Sprache reden konnten, fand man auf dem Schlachtfelde herumstreifend. Arme umnachtete Wilde! Ein seltsamer Gedanke, daß solche Geschöpfe Gatten und Kinder, Herzen und Seelen haben! Allein vermuthlich hatten die Kananiter auch solche. Dies sind mir dunkle Dinge. Ich habe schwer darüber gekämpft, aber es will mir kein Licht darüber aufgehen.
»Zwei Tage nach der Schlacht kam ein junger Edelmann, ein Prediger von ungefähr dreißig Jahren, zu dem Heere heraus. Sein Name war Richard Baxter, ein kleines schwächliches, blatternarbiges Männchen, das schon so gebeugt und abgelebt aussah wie ein Greis. Aber das Männchen hatte einen kühnen Muth. Der Muth der Seele flammte aus seinen dunkeln Augen. In der That mußte er seine eigene Art Muth haben! Denn er kam zu unsern Leuten, die noch erhitzt und gestärkt von dem errungenen Siege waren, und schalt uns, als ob wir eine Bande unartiger Schulknaben wären. Er nannte uns Eisenseiten, sammt den Reiterregimentern von Whalley und Rue ›heißköpfige, eingebildete Sectirer‹. Auch schimpfte er uns Anabaptisten und Antinomisten und was weiß ich sonst noch; uns, die wir seit zwei Jahren für den Herrn und seines Gleichen fechten! Er nahm unsere soldatischen Scherze übel auf, nannte uns Gotteslästerer; uns, die wir, seit wir beisammen sind, für jeden leichtsinnigen Fluch zwölf Pence Strafe bezahlt haben. Er schalt uns treulos, als ob Unterthanen ihrem König gehorchen könnten, so lange sie ihn bekriegen; oder als ob sie Krieg gegen ihn führen könnten, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu tödten; oder als ob sie mit ihm Krieg führen wollten, ohne die feste Absicht, ihn zu überwinden und auf die eine oder andere Weise zu hindern, ihnen je wieder Unrecht zu thun, oder sie zu unterdrücken. Er stritt mit uns und theilte seine Rede in so viele Punkte als der Leviathan Köpfe hat und gebrauchte Worte aus jeder heidnischen Zunge unter der Sonne. Gleichmacher und Feuerbrände waren die mildesten Namen, die er uns gab. Wenn wir bei seinem Redestrom still blieben, dachte er, wir fühlten uns geschlagen, als ob der Stärkste im Reden die Schlacht gewinnen müsse! Als ob ein Engländer seine Ansicht änderte, weil er nicht gleich im Augenblick sich in den presbyterianischen Räthseln Herrn Baxters zurecht finden kann! Es war eigentlich nicht sehr dankbar von ihm, da unsere Leute ihn einmal gebeten hatten, ihr Kaplan zu werden. Einige von uns erinnerten ihn daran, da sagte er, er bereue, daß er es abgelehnt habe, da er sonst nicht so weit mit uns gekommen wäre. So schalt er uns gar hart und gab uns – freilich in höflicher Weise – lateinische und griechische Namen, als ob wir – Herrn Cromwells eigenes Regiment – Plünderer und Uebelgesinnte wären! Nach diesem kann, dächt' ich, an seinem Muthe nicht gezweifelt werden, so wenig als an unserer Langmuth. Nachher ging er nach Coventry zurück und streute Verleumdungen aus über den ›schlimmen Zustand‹ des Heeres!
»Wahrlich ein schlimmer Zustand der Armee, wo jeder Bissen, den wir zum Munde führen, bezahlt ist, wo jedes anständige Mädchen, und wäre sie so schön wie Sara, wenn es Noth thut, so sicher umherlaufen kann, als vor ihres Vaters Hause! Ein Heer, das eben in der Kraft des Herrn und der Zehn Gebote die Schlacht bei Naseby gewonnen hat – bei dem kein Fluch gehört wird, aus dem Tag und Nacht, wie einst aus dem Tempel, Gebete und Psalmen aufsteigen – bei dem ein junger Edelmann, wie Herr Richard Baxter, kommen und gehen, und die Soldaten schimpfen konnte, wie er wollte, ohne daß ihm ein Haar gekrümmt wurde! Denn wir Alle halten ihn für einen gottseligen jungen Herrn und einen Gelehrten und ehren ihn von Herzen als einen solchen, sowie wegen der züchtigenden Hand des Herrn, die auf seinem armen, leidenden, kleinen, tapfern Körper liegt. Zum Beweis hievon hat Whalley's Regiment ihn zu seinem Kaplan erwählt, ein Ruf, den er wahrscheinlich annehmen wird. Und doch ist er und seines Gleichen mir ein dunkleres Räthsel, das mich schwereren Kampf kostet als selbst die papistischen Irländerinnen mit ihren Messern.«
Wo General Cromwell sich befand, da folgte, den ganzen Sommer hindurch, ein Sieg dem andern. Hiobs und Rogers Briefe waren lauter Berichte von erstürmten oder überlieferten Schlössern, von aufgehobenen Belagerungen und zersprengten Truppen von Salisbury an bis nach Bovey Tracey in Devonshire.
Am 14. August schrieb Roger von der Zerstreuung der armen, irregeleiteten Clubleute; eine neue Bauernschaar, die sich, bei Zweitausend an der Zahl, auf dem Hambledon-Hügel in Surrey versammelt hatten, blind, sagte Vater, wie Bauernheere meistens sind. Tante Gretchen erblaßte, als sie davon hörte, und sprach von schrecklichen Bauernkriegen in Sachsen zu Luthers Zeiten; Luther, meinte sie, der sie herzlich liebte und für sie kämpfte, jedoch auf seine Weise, nicht die ihrige, habe sich ihnen nicht verständlich machen können, wie Oliver Cromwell den Clubleuten.
Diese armen Burschen hatten sich, wie tapfere Männer, im Westen versammelt, um ihre Heimath gegen die Banden Lord Gorings, gegen »die Kinderfresser« wie man sie nannte, die zügellosesten und grausamsten unter den königlichen Truppen, zu vertheidigen, welche selbst die Plünderer des Prinzen Ruprecht noch an Rohheit übertrafen, und später von Einem der Ihrigen »schrecklich im Plündern, und entschlossen im Davonlaufen« genannt wurden.
»Wenn ihr plündert und nehmt unser Vieh,
»So klopfen wir euch, das fehlt gar nie.«
Dies war der Wahlspruch der Clubmänner, und in der That gar kein so übler. Allein sie verwickelten sich mit der Zeit in politische Anschläge, von welchen sie nichts verstanden; verlangten die Küstenstädte zu besetzen; nahmen friedliche Postboten gefangen und tödteten sie; schossen auf Friedensboten des General Cromwell, der großes Mitleid mit ihnen fühlte, und mußten endlich angegriffen und aus dem Felde geschlagen werden. »Ich glaube, nicht zwölf von ihnen wurden getödtet,« schrieb Cromwell an Sir Thomas Fairfax, »aber viele sind verwundet und dreihundert gefangen – arme thörichte Burschen, die das Versprechen geben in Zukunft sich gut aufzuführen, wenn Sie mir erlauben, dieselben heimzuschicken, und die sich eher hängen lassen, als noch einmal Aufruhr anzufangen.«
So wurde ihr kleines Heer zerstreut, nachdem die Anführer gefangen waren; die Clubmänner standen von da an nicht wieder auf, und das Land rings umher hatte Ruhe.
Allein, wie Hiob Forster sagte, die Zehn Gebote stritten am besten für uns.
Das Schreibpult des Königs, das man in Naseby fand, mit all den falschen, verrätherischen Briefen, die von seiner eigenen Hand geschrieben waren, untergrub seine Macht mehr als hundert Schlachten. Denn es war deutlich daraus zu ersehen, daß er, während er feierlich versprach, keine Verträge mit Papisten zu machen, und zu Uxbridge Worte des Friedens redete, aus Irland sechstausend und von dem Festlande mehr als zehntausend papistische Soldaten kommen lassen wollte; daß er nur eingewilligt hatte, in dem Vertrag das Parlament Parlament zu nennen, »in dem Sinne, daß es etwas Anderes sei, es so zu nennen, und etwas Anderes es anzuerkennen.« Ueberdies sprach er von den Herrn, welche sich zu Oxford in aller Loyalität um ihn versammelten, als von dem »Meerkatzen-Parlament.« Hiedurch wurden viele seiner früheren Freunde sehr betrübt, und manche, die neutral geblieben, begannen einzusehen, daß wo keine Wahrheit ist, auch keine Treue bestehen kann, mag ein Mann auch einen Titel führen, welchen er will.
Im Norden ging es unserer Sache weniger glücklich, obgleich auch hier sorglose Verwüstung sich mit der Zeit selbst bestrafte. Sechs Wochen lang verheerte Montrose mit seinen Irländern und Hochschotten und einigen englischen Abenteurern die Grafschaft Argyle, tödtete Jeden, der Waffen tragen konnte, plünderte und verbrannte jede Hütte. Es war nicht wie mit dem Krieg in England, ausgenommen wo Prinz Ruprecht und Lord Goring die unmenschlichen Gebräuche fremder Kriegführung mitgebracht hatten. Es war ein Clankrieg, in dem Einer den Andern wie eben so viele wilde Thiere vernichten wollte, ein Krieg von Räubern, denen es hauptsächlich darum zu thun war, so viel Beute als möglich aus den Städten des Unterlandes mit hinweg zu führen und dabei so viel Elend zu verursachen als möglich, um für die Zukunft eine heilsame Furcht einzuflößen. Perth wurde von ihnen ausgeplündert, so wie Aberdeen und Dundee.
Bei Kilsyth in der Nähe von Stirling tödtete Montrose mit seinen Leuten zehnmal mehr Menschen von der Armee der Covenanter, als Cavaliere bei Naseby gefallen waren. Sechshundert lagen bei Naseby auf der Wahlstatt, bei Kilsyth sechstausend.
Und der König nannte diesen Räuberhäuptling den Wiederhersteller seines Königreichs und die Stütze seines Thrones; dabei fiel ihm nicht ein, auch nur mit einem Worte um Schonung für seine Landsleute und Unterthanen zu bitten.
Ist es ein Wunder, daß die Schafe, die er von so vielen Miethlingen scheeren, von Räubern ausplündern und von Wölfen zerreißen ließ, ihm nicht folgen wollten?
Freilich verfolgte Seine Majestät selbst in jenem Sommer von 1645 eine Art von Kriegführung, welche der von Wallenstein und Montrose nur zu ähnlich war. Im August dieses Jahres, kaum zwei Monate nach der Schlacht bei Naseby, kam die Kriegswoge unserem Netherby näher als je.
Der König war von Naseby nach Schloß Ragland geflohen, dem Sitze des Grafen von Worcester, eines äußerst klugen Edelmannes, der sein Einkommen auf Erfindungen, die er zu machen suchte, verwandte. Dort hielt Seine Majestät viele Wochen lang Hof, in den Hallen des großen alten Schlosses mit fürstlichem Glanze bewirthet, und jagte fröhlich das Wild durch die Wälder an den Ufern des Wye; so fröhlich als ob seine Unterthanen nicht seinetwegen in jedem Winkel seines Reiches einander zu Tode hetzten.
Während er dort war, kam die Nachricht von den glücklichen Erfolgen von Montrose, und nun versuchte er, sich nach Norden zu wenden, um sich in Schottland mit ihm zu vereinen. Jedoch mußte er sich von Doncaster wieder nach Newark zurückziehen, da ihn das Bundesheer unter Sir David Leslie von Norden her bedrohte. Und nun wendete er sich nach unserem Marschlande und den Verbündeten Grafschaften, welche General Cromwells Fürsorge und ihre eigene treue Anhänglichkeit an das Parlament bis dahin, wenige fouragirende Streifzüge ausgenommen, unversehrt und außer dem Bereich des Krieges erhalten hatte. Allein im August 1645 sollten wir, Dank Seiner Majestät, erfahren, was ein Bürgerkrieg bedeutet. Die östlichen Grafschaften lagen dem Angriffe ausgesetzt, da sie ihre erprobten Männer mit Cromwell und Fairfax nach Westen gesandt hatten, so daß keine andern Vertheidiger da waren, als unser eigenes neu ausgehobenes Fußvolk.
Der König wälzte sich von Stamford durch Huntingdonshire und Cambridgeshire, indem er das ganze Land verheerte, durch welches er zog, und fliegende Schwadronen aussandte, um Bedfordshire und Hertfordshire bis nach St. Albans auszuplündern. Mehrmals bedrohte er selbst Cambridge.
Am 24. August erstürmte er Huntingdon und war vier Tage später schon wieder innerhalb der Verschanzungslinie von Oxford, mit einem großen Vorrath von Beute, die der eigentlichen Wiege und der Festung des Parlamentsheeres entrissen war.
Die Cavaliere mochten wohl in Oxford triumphiren und sich gütlich thun über dem Raube. Aber wir, umringt von den leeren Kornböden und dachlosen Wohnstätten, von den zerstörten und eingeäscherten Dörfern, aus welchen diese Beute kam, zogen daraus keine Lehre der Unterwerfung oder des Schreckens, sondern noch entschlosseneren Widerstandes als je zuvor. Diese Lehre hatte Prinz Ruprecht schon seit drei Jahren in jedem Winkel des Königreichs gepredigt. Uns unterwies Seine Majestät in höchsteigener Person darin. Nicht ein verzweifelnder, nein ein hoffnungsvoller Widerstand; denn wir konnten nicht umhin zu denken, daß ein König, welcher ganze Provinzen seines Reiches schonungslos verwüsten mochte, dieselben schon als für seine Krone verloren betrachten mußte.
Es mochte wohl dem Parlament und seinem Heere manches Unrecht vorzuwerfen sein; aber der zwei Sünden, die in Bürgerkriegen leider nur zu häufig sind – schonungsloser Plünderung und heimlichen Mordes – machten sie sich niemals schuldig. Die Verwüstung und Entweihung von Kirchen und Kathedralen wird uns noch vor mancher künftigen Generation anklagen. Die Verheerungen, welche die Reiter des Prinzen Ruprecht in den Hütten der Armen anrichteten, sind längst wieder gut gemacht. Aber sie entweihten und verwüsteten Tempel, nicht mit Händen gemacht, die nie wieder hergestellt werden konnten; und ihre Thaten sind auf heiligen, unauslöschlichen Tafeln verzeichnet, dauerhafter als Stein, obgleich nicht auf Erden lesbar, wenigstens jetzt noch nicht.
Das Dorf Netherby lag noch eben außerhalb der Grenze der königlichen Verwüstungen. Allein alles Vieh rings umher war geraubt, sowie alles Korn der letzten Ernte. Und des Nachts war der ganze Himmel von den Flammen brennender Häuser und Korn- und Heuschober geröthet. Unsere eigenen Scheunen waren unversehrt; allein mein Vater gab den Befehl, sogleich mit unsern Vorräthen zu sparen, indem wir unsere tägliche Kost vereinfachten, weil er das, was uns geblieben war, als die Kornkammer für die ganze, aller Mittel entblößte Nachbarschaft den kommenden Winter hindurch und als Vorrath für die Aussaat im Frühling betrachtete. Zu gleicher Zeit wurden unsere Schuppen und Nebengebäude zur Aufnahme derer eingerichtet, die aus ihrer Heimath vertrieben waren. Jede Hütte in Netherby beherbergte irgend einen obdachlosen Nachbar. Rahel Forsters Hütte wurde zum Waisenhaus. Doch am tiefsten prägte sich meinem Gedächtnisse die besondere Lehre ein, welche die Streifzüge Seiner Majestät meiner eigenen Familie einschärften.
Base Placidia hatte den ganzen Sommer hindurch Tante Dorothea viel geärgert und betrübt. Die glücklichen Erfolge von Lord Montrose in Schottland und die darauf folgenden Plündereien der königlichen Truppen in unseren Gegenden hatten sie vielfach »geübt« und schwankend gemacht, welches auch wohl die rechte Seite sein möchte. Im Februar hatte Herr Nicholls, nach der Hinrichtung des Erzbischofs Laud, statt des allgemeinen Kirchengebets gehorsamst die Anleitung des Gottesdienstes angenommen; eine schwere Prüfung für Tante Dorotheens Vorliebe für ungeschriebene oder vielmehr ungedruckte Gebete; da Herrn Nicholls Bitten nach ihrer Ansicht weder Salbung noch Feuer hatten und in der That nichts Anderes waren, wie sie sagte, als die zerbröckelte Liturgie ohne Saft und Kraft. Ihr einziger Trost war, daß Tage der Sichtung bevorständen. (Die Sichter waren noch nicht ernannt.) Was jedoch Tante Dorotheens Seele sogar noch tiefer betrübte als dieser geistliche »Aufputz« war, daß Placidia's Herz durch den Rost aufgespeicherten Reichthums allmälig ganz aufgezehrt wurde. Meine Base hatte gerade damals noch einen weitern Grund, die größte Einschränkung und Sparsamkeit zu rechtfertigen: sie sah nämlich der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Diese Aussicht eröffnete ein neues Feld für ihre Ersparnisse und für Tante Dorotheens Befürchtungen. Selbst die allgemeine Verwüstung des Landes, welche den Leidenden jedes Herz und jede Thüre weit öffnete, veranlaßte Placidia kaum, etwas Weniges von ihren Vorräthen mitzutheilen. Ihr Gesundheitszustand, pflegte sie zu sagen, verbiete ihr offenbar, Fremde in's Haus aufzunehmen, und ein armer Pfarrer, der für eine Familie zu sorgen und nichts als seinen Gehalt habe und im nächsten Sommer fast keinen Zehnten erwarten dürfe, könne in der That nicht viel entbehren. Was sie habe, gebe sie mit Freuden. Dies sei ein Schober Heu, das durch Feuchtigkeit nur ein ganz klein wenig angegangen, und ein Rest geräuchertes Fleisch, welches vielleicht durch das Aufbewahren ein bischen scharf geworden, aber mit ein wenig Zusatz von Salz noch ganz gesund und wohlschmeckend sei. Von Herzen gern überlasse sie diese Dinge den Armen. Tante Dorothea, in Verzweiflung, versuchte noch eine feierliche Aufforderung.
»Placidia«, sagte sie, »ein Kind wird Dein Herz noch mehr verschließen und Dir zum Fluche werden, wenn Du seinetwegen den Armen Deine Thüre zuschließest, bis endlich wer weiß welche Thüre vor Dir geschlossen wird!«
Allein Placidia war unerschütterlich.
»Tante Dorothea,« versetzte sie mit dem ihr eigenen, ruhigen Gleichmuth, »Alles kann zu einem Fluch oder Segen gemacht werden. Aber für diejenigen, welche in dem Covenant sind, ist Alles ein Segen.«
»Schwester Gretchen,« sagte Tante Dorothea nachher, »ich sehe keine Rettung für sie. Die Gaben der göttlichen Vorsehung und die Lehren Seiner Gnade gefrieren auf dem Herzen dieser armen Frau, bis das Eis so dick wird, daß selbst der Sonnenschein kaum noch die Oberfläche aufzuthauen vermag und das Eis nur jeden Tag glätter und härter macht.«
Tante Gretchen blickte auf.
»Gieb nie die Hoffnung auf, Schwester,« sagte sie. »Unser guter Gott hat mehr Waffen, als wir uns vorstellen, und mehr Gnadenmittel, als in all unsern Katechismen und Glaubensbekenntnissen aufgezählt sind. Zuweilen kann er das kälteste Herz durch ein bischen Wärme einer neuen irdischen Liebe erwärmen, bis alles Eis von innen heraus schmilzt. Und ein kleines Kinderhändchen hat schon manche Thüre geöffnet, durch welche der Herr nachher eingetreten ist und sich niedergesetzt und das Abendmahl gehalten hat. Als der Heiland die Pharisäer belehren wollte, stellte er ein kleines Kind in ihre Mitte.«
Tante Dorothea schüttelte mit dem Kopfe.
»Kinder haben schon manchen frommen Mann wieder nach Egypten zurückgezogen,« erwiderte sie. »Manches Seil, das fromme Menschen an den Mammonswagen festgekettet, ist von kleinen Händchen gedreht.«
Und da diese Behauptung unwiderleglich war, hörte der Streit auf.
Wenige Nächte darauf sahen wir zu unserm Schrecken einen verdächtigen Schein in der Richtung des Pfarrhauses und machten uns früh am nächsten Morgen auf den Weg, uns zu erkundigen, was vorgefallen sei.
Als wir in's Dorf kamen, hörten wir die Nachricht schnell genug.
Eine Abtheilung der königlichen Reiterei war am vorigen Abend, als es eben dunkel geworden, vor dem Thore des Pfarrhauses erschienen. Das Haus stand einzeln, etwas entfernt vom Dorfe, am äußersten Ende der Kirchenländereien. Der Hauptmann der kleinen Schaar sagte, sie befänden sich auf dem Wege nach Oxford zu Seiner Majestät; aber ein Licht, das sie im Hause bemerkt, habe sie in Versuchung geführt, die Gastfreundschaft der Frau Pfarrerin, von welcher sie in der Nachbarschaft viel gehört hätten, in Anspruch zu nehmen.
Wenig halfen der armen Placidia alle Betheurungen der Mittellosigkeit bei solchen Gästen. Sie versicherten höflich, daß sie an rauhe Kost gewohnt seien und ihr gerne bei den Vorbereitungen zu dem Mahle beistehen würden. Hierauf führten sie ihre Pferde in die Ställe und versorgten sie reichlich mit Korn aus den Speichern, fingen das fetteste Geflügel und brieten die in Eile gerupften Thiere in dem Küchenfeuer, welchem sie mit allen hölzernen Geräthen, die ihnen in die Hände fielen, Stühle und Kisten nicht ausgenommen, einen ungeheuern Umfang gaben. Den Inhalt der Kisten, besonders das Kostbarste, was sie an Silbergeräth, Leinen- oder Seidenzeug enthielten, warfen sie bei Seite auf einen Haufen »für den Dienst des Königs.«
Als das Abendessen bereit war, bestanden sie darauf, daß ihr Wirth mit ihnen von dem auserlesensten Wein in seinem Keller auf die Gesundheit des Königs trinken sollte. Der Hauptmann habe erfahren, sagte er, daß Herr Nicholls vermocht worden sei (natürlich ganz gegen seinen Willen, wie man aus seinen feurigen Betheuerungen der Loyalität ersehen könne) den Gebrauch der Liturgie aufzugeben und sogar von seinem Vermögen die Sache der Rebellen zu unterstützen. Es freue ihn daher, dem Herrn Pfarrer eine Gelegenheit geben zu können, seine ungerechter Weise verdächtigte Treue zu beweisen und zu gleicher Zeit von seinem Vermögen etwas zum Dienste Seiner Majestät beizutragen, indem sie einen Theil seiner Habe den nächsten Morgen mit in das Hauptquartier Seiner Majestät nach Oxford brächten, und so verhinderten, daß dieselbe in dieser übelgesinnten Gegend nicht zu Zwecken mißbraucht werde, welche das loyale Herz des Herrn Nicholls verabscheuen müsse. Dies erfuhren wir von einer Dienstmagd, welche gegen Morgen entflohen war und die Nachricht im Dorfe verbreitet hatte.
So wurde die ganze Nacht hindurch geschwelgt und gelärmt; nur mit Mühe gelang es dem Hauptmann, seine Leute aus ihrem Trinkgelage aufzuscheuchen, um ihre Beute vor Tagesanbruch zusammen zu bringen. Den Wein, welchen sie nicht mehr zu trinken vermochten, schütteten sie auf den Boden, steckten, während sie alle Schuppen und Ställe nach Vieh und Pferden durchsuchten, den großen Kornschober in Brand. (ob aus Versehen oder mit Fleiß, war nicht bekannt), bis endlich die Bewohner des Pfarrhauses froh waren, sie gegen Morgen los zu werden, obgleich sie alle Thiere mitnahmen, die sie treiben, und alle Beute, die sie tragen konnten.
Die Theilnahme im Dorfe war nicht sehr lebhaft, und Tante Dorothea und ich gingen schweigend weiter nach dem Pfarrhause, um dort so gut zu helfen und zu trösten als wir konnten. Keines von uns sprach ein Wort, während wir die kleine Anhöhe hinauf eilten.
Die unscheinbaren Trümmer in dem Wirthschaftshofe rührten mich mehr als manche stattliche Ruine. Da standen noch, schwarz und verkohlt, die traurigen Ueberreste des Kornschobers, dessen Flammen uns in der Nacht erschreckt hatten; die Pferde- und Viehställe waren leer, an einer der Thüren hing der treue Hofhund aufgeknüpft. Der Hof war mit zertretenem Korn übersät, welches Sperlinge und Staare in Abwesenheit des privilegirten Geflügels aufpickten; und nur das unruhige Blöcken eines Kalbes, das einen leeren Stall um den andern nach seiner Mutter durchsuchte, unterbrach zuweilen die traurige Stille des verödeten Hofes.
Wir traten in das Haus. Die Küche war voll von Dienstmägden und einigen der naseweisesten und trägsten Weiber des Dorfes, welche sich gegenseitig beklagten und das Unheil mit recht grassen Farben, malten. Auf dem geschwärzten Herde befand sich die Asche des ungeheuern Feuers, das in der vergangenen Nacht hier gebrannt hatte, und auf dem Fußboden lagen Bruchstücke von den Stühlen und Kisten, womit man dasselbe angezündet, sowie Ueberreste der Mahlzeit. In einer Ecke der Bank an dem kalten Herde saß Placidia, wie betäubt, mit gefalteten Händen und starr darauf gehefteten Augen.
Als sie Tante Dorothea erblickte, wandte sie sich ab und sagte:
»Mache mir keine Vorwürfe, Tante Dorothea, ich kann es nicht ertragen.«
»Dachtest Du, ich sei darum hergekommen?« fragte Tante Dorothea. »Doch ich habe es vielleicht um Dich verdient!«
Und mit einer durch die Gefühle, welche sie sich zurückzuhalten bemühte, geschärften Stimme, schickte Tante Dorothea die neugierigen Nachbarinnen fort und sandte die zwei Mägde hinaus, das im Hofe zerstreute Korn aufzulesen, indem sie ihnen vorhielt, daß sogar die Vögel unter dem Himmel solch faule Schlampen, wie sie, beschämten. Dann näherte sie sich Placidia von Neuem, ergriff ihre beiden gefalteten Hände und sagte:
»Kind! ich habe viel gelernt in dieser letzten Stunde. Ich habe Dich gerichtet als einen Pharisäer; und vielleicht bin ich noch ein schlimmerer gewesen. Ich habe manchen Tag über Dir zu Gericht gesessen. Aber nun ist's vorbei. Und der Herr gebe mir Gnade, es nie wieder zu thun. Ich habe oft gewünscht, daß eine schwere Züchtigung über Dich kommen und Dich unterweisen möchte. Und nun, da sie gekommen ist, kann sie Dich nicht härter treffen als mich. Vergib mir, Kind, und laß uns Beide von Neuem anfangen.«
Placidia schaute auf, und als sie den ehrlichen, nicht mit Verachtung, sondern bittend auf sie gehefteten Augen begegnete, schluchzte sie:
»Ich werde nie den Muth haben, von Neuem anzufangen, Tante Dorothea.«
»Was von Neuem anzufangen?« sagte Tante Dorothea.
»Zu sparen und zu erdenken, um Alles zu ersetzen, was ich verloren habe,« versetzte Placidia. »Jahre lang habe ich daran gesammelt; nun ist in einer Nacht Alles dahin!«
Tante Dorothea schien sehr verlegen zwischen ihrem Vorsatz liebevoll und nachsichtig zu sein und ihrem Abscheu über Placidia's Mißverstehen dieser Heimsuchung.
» Dies wieder anfangen, meine Liebe!« sagte sie endlich, »nein, das mußt Du nie wieder anfangen. Es ist nicht gut, so der Vorsehung Trotz zu bieten.«
Placidia nahm einen Augenblick die Hände vom Gesicht; als sie aber die Verwüstung rings umher erblickte, bedeckte sie es von Neuem und schluchzte:
»Gerade jetzt, da ich ein Kind haben soll, für das es der Mühe werth wäre, sich selbst zu verläugnen!«
»Nein,« erwiderte Tante Dorothea; »das ist gerade die Barmherzigkeit. Der Herr will nicht, daß das Kind Dir zum Fluch werde. Es soll ein Segen für Dich sein; Er sagt ja so deutlich wie nur möglich: Ich gebe Dir einen Schatz, nicht damit Du ungern geben, sparen und geizen sollst, sondern damit Du lieber dienen und geben lernest; nicht um Dich arm, sondern um Dich reich zu machen! Und so wird Er fortfahren, Dich zu lehren, bis Du Dein Herz öffnest, auf Ihn hörst, bis Deine Bürde abfällt und Dein Herz aufspringt und Du frei wirst. Ich weiß dies an mir, wie leicht mir das Herz geworden ist, seitdem er mich niedergeworfen hat, weil ich über Dich zu Gericht gesessen war. Nicht als ob ich sicher wäre, es nie wieder zu thun. Man sitzt auf dem Gerichtstuhl, ehe man es selbst weiß, und hat im Augenblick die schwarze Mütze auf. Ich glaube, da ist immer Einer um den Weg, uns hinauf zu heben.«
Und sich von Placidia abwendend, begann sie die Verheerung genauer zu untersuchen. Bald gewann das Ganze unter ihren prüfenden Händen und mit der geringen Hülfe, die ich ihr zu leisten vermochte, wieder einen Anstrich von Ordnung.
Das Feuer wurde angezündet, das Kalb nach Netherby gebracht, um dort ernährt zu werden; verschiedene Bruchstücke von Stühlen und Koffern wurden zu dem Dorfschreiner geschickt, um wieder ausgebessert zu werden, die Ueberreste von Fleisch in zwei Körbe gesammelt.
»Dies ist für die Haushaltung,« sagte Tante Dorothea, »und jenes für die vaterlosen Kinder bei Rahel Forster. Eine der Mägde kann es sogleich hintragen, Placidia, wenn sie das Kalb fortführt.«
Nun erwachte endlich Placidia aus ihrer Betäubung. Sie blickte nach Tante Dorothea, als ob sie mit den Plünderern im Bunde wäre.
»Ich den Waisen bei Rahel Forster Fleisch senden!« sagte sie mit schwacher Stimme; »eine arme ausgeplünderte Frau wie ich!«
»Besser gleich beginnen, meine Liebe,« erwiderte Tante Dorothea ruhig. »Gott ist ganz besonders ein Vater der Waisen. Es ist das Beste, ihnen den Schatz zu geben. Du siehst, unsere Säcke haben Löcher.«
In diesem Augenblick kam Herr Nicholls zurück. Placidia berief sich auf ihn, um wie gewöhnlich ihre Meinung bestätigen zu lassen.
»Liebes Herz,« sagte er traurig, »vielleicht hat Fräulein Dorothea Recht. Es hilft nichts gegen Gott zu kämpfen. Wer weiß, ob es ihn nicht reut und Er umkehrt und uns einen Segen zurückläßt.«
»Nein, Herr Nicholls,« sagte Tante Dorothea, » nicht auf diesem Wege. Es ist vergebens, auf diesem Wege entfliehen zu wollen. Ihr müßt zuerst Alles fahren lassen, sonst wird der Allmächtige Euch nie fassen. Ihr müßt keinen Ersatz erwarten. Wenn Du und Placidia dies den Waisen schicken wollt, so müßt Ihr es thun, weil es Euch geschenkt worden und weil sie es nöthiger brauchen als Ihr. Weil Du auch eine Waise warst, Placidia,« setzte sie liebevoll hinzu, »und Er nicht vergessen hat, für Dich zu sorgen. Habt Acht, daß Ihr nicht Seinen Stab oder Seine Ruthe verachtet. Beide hat er deutlich genug für Dich gebraucht. Ich will das Zeug vertheilen,« sagte sie zuletzt, »und Ihr müßt hernach selbst entscheiden, was damit geschehen soll.«
Indem sie darauf bestand, daß Placidia oben bleiben sollte, unterwarf sie den auf dem Fußboden umhergestreuten Inhalt der Kisten und Kasten derselben Untersuchung und Theilung und verließ noch vor einbrechender Dämmerung das Haus in einem ziemlich geordneten Zustande. Zwei bedeutungsvolle Haufen Kleidungsstücke ließ sie im Schlafzimmer, und zwei bedeutungsvolle Körbe mit Vorräthen in der Küche stehen, um während der Nacht zu Placidia's und Herrn Nicholls Gewissen zu reden.
Allein ehe der Morgen kam, hatten sich noch andere Lehrer eingestellt. Tod und Angst (diese gnädigen Strafen, in die Welt gesandt, nachdem sie aufgehört hatte ein Eden zu sein, damit sie nicht in ein sinnliches, müssiges, selbstsüchtiges, zweckloses Elysium ausarten möchte) suchten in der Nacht das Pfarrhaus heim. Unter Todesschatten kam ein anderes Leben zur Welt. Am Morgen lag Placidia ganz matt, aber froh über das kleine Wesen, wofür beinahe ihr eigenes Leben geopfert worden wäre. Sie freute sich über eine Gabe, die sie so viel gekostet hatte und noch so viel Geduld und Aufopferung, so viel Mühe und schlaflose Nächte kosten sollte, ohne dafür von Jemand Lob erwarten oder sich selbst rühmen zu können. Es war eine Freude, wie sie noch keine je über irgend einen Besitz empfunden hatte, und zwar nicht in Folge einer übernatürlichen Anstrengung eigener Tugend, sondern weil die einfache, natürliche Quelle mütterlicher Liebe sich in ihrem Herzen erschlossen hatte.
Das Erste was sie sprach, waren einige Worte, die sie in besonders sanfter Weise an Rahel richtete, welche die folgende Nacht an ihrem Bette wachte und das Kind auf ihrem Schooße hielt:
»Seltsam, daß mir und nicht Dir eine solche Gabe zu Theil geworden ist!«
»Und ich konnte ihr im Augenblick nicht darauf antworten,« sagte Rahel, als sie mir den Vorgang erzählte; »denn um unser Herz sind noch mächtigere und tiefere Meere, als die draußen vor unseren Dämmen. Und selbst beim ruhigsten Wetter ist es nicht sicher, die kleinste Ritze aufzumachen, die diese Fluthen einlassen könnte. Daher erwiderte ich gar nichts. Einige Augenblicke darauf sprach Frau Nicholls weiter: ›Denn Du bist gut und würdig, Rahel,‹ sagte sie, ›und es wäre kein Wunder, wenn der Herr Dir das Beste gäbe, was Er zu geben hat.‹
»Nun begriff ich, was sie meinte, und mein Herz war so froh, als wenn das Kind mir geschenkt worden wäre. Denn ich dachte, ein Geist sei wiedergeboren aus Gott, demüthig und sanft, wie ein Kindlein. Der Herr hat sie den schwersten Schritt zu sich heran geführt, den ersten Schritt abwärts. Sie sagte nichts weiter. Ich schüttelte ihr die Kissen zurecht, legte das Kind an ihre Seite und beide sanken bald in Schlaf. Aber ich verhielt mich ruhig und weinte still vor Freude. Am nächsten Morgen, als es anfing zu dämmern, öffnete Frau Nicholls die Augen und erblickte die zwei Theile, die Fräulein Dorothea gemacht hatte; dann beugte sie sich über ihren Säugling und murmelte wie zu sich selbst:
»›Die armen, mutterlosen Kleinen! Gott hat Dich mir geschenkt und mich Dir erhalten! Die mutterlosen Kinder sollen die Sachen haben.‹
»Da wandte ich mich ab,« fuhr Rahel fort, »und weinte abermals im Stillen vor Freude und Angst. Denn ich dachte, der Herr werde sie gewiß bald hinweg nehmen, da sie so umgeändert ist, das arme Lämmchen.«
Allein obgleich Tante Dorothea bei dieser Erzählung Rahels theilnehmend die Augen wischte, schüttelte sie doch tröstend mit dem Kopfe und sagte:
»Seid unbesorgt, Nachbarin, seid unbesorgt; noch nicht. Verlaßt Euch darauf, der alte Feind wird den Kampf noch nicht aufgeben. Glaubt mir, sie wird noch ein gutes Stück Arbeit in dieser Welt zu thun haben, ehe sie zu gut dafür ist.«