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Den 14. Juni 1645. – Schloß Davenant, drei Uhr Morgens. – Wir kamen gestern heim, und ich kann mich nicht entschließen, die ersten Stunden in der lieben alten Heimath zu verschlafen. Zu ungewöhnlich früher Stunde aufstehen ist wie eine Reise in ein wunderbares, fremdes Land. Der Himmel scheint weit höher, ehe das Dach des Tageslichts sich ganz darüber gewölbt hat. Denn das Tageslicht ist am Ende doch ein Dach, das uns in unsere grüne sonnige Erdenheimath einschließt. Und das ist's wohl zum Theil, was die Nacht so hehr macht. In der Nacht stehen wir unbedeckt unter all den andern Welten, nirgends ist eine Mauer oder Grenze rings umher. Und bei der Morgendämmerung ist noch etwas von der Unbegrenztheit und Erhabenheit zurückgeblieben. Mit langsamer, majestätischer Pracht zieht der Morgen über einen Stern nach dem andern den Schleier des Tageslichts, welcher in langen feierlichen, purpurglühenden Falten den Rand unserer Erde berührend, herabfällt, bis die unermeßlichen Räume der oberen Welten alle ausgeschlossen sind, und wir mit unserer eigenen freundlichen Sonne, unsern eigenen bunten, schwebenden Wolken und unserer grünen Erde eingeschlossen sind.
Dann gewinnt die Dämmerung ein anderes Ansehen. Erhabenheit und Stille bezeichnen ihre ersten Bewegungen und Schritte. Allein sind wir einmal nach Ausschluß der hehren jenseitigen Unendlichkeit mit ihr allein, gleichsam von Angesicht zu Angesicht, dann geht eine vollkommene Veränderung mit ihr vor.
Schweigend verschwinden die Sterne. Aber der Tag erwacht mit tausenderlei fröhlichen Lauten. Die feierlichen, purpurnen Paniere der Wolken mit ihren großartigen, kriegerischen oder heiligen Prozessionen verwandeln sich in königliche oder bräutliche Draperien. Sie bekränzen die Erde mit Rosen, sie streuen Perlen und Diamanten aus; sie bedecken den Pfad der neugekrönten Sonne mit goldenem Teppich. Die ganze Welt, Erde und Himmel, scheint in Farben zu erblühen, wie eine aus der Knospe sich erschließende Blume. Jedes Blatt der Linden vor meinem Fenster, jede Knospe der wilden Kastanien scheint mit Entzücken zu erwachen.
Es ist, als ob die Unendlichkeit in anderer Weise zurückkehrte. Statt der unermeßlichen Räume der Nacht stehen nun die unzählbaren Gegenstände vor uns, die der Tag ins Licht setzt. Anstatt der schweren Laubmassen, die vor ein Paar Stunden sich im Halbdunkel undeutlich in der Luft hin und her wiegten, flattert nun eine zahllose Menge von Blättern im Sonnenlicht, zahllose Vögel singen, zirpen und zwitschern auf den Zweigen, ein zahlloser Schwarm von Insekten schwebt und schießt und dreht sich hin und her zwischen den Blättern; an jedem Grashalme, jeder Blüthe, jedem Insektenflügel erblicken wir eine unendliche Mannigfaltigkeit der Farben.
Welche Freude wieder hier zu sein! Es ist als hieße mich jedes Geschöpf willkommen. Es zieht mich, mit einem Jeden zu reden und ihr Glück noch um einen Tropfen Freude zu vermehren. Ich möchte Alle, wie kleine Kinder gleichsam, an mein Herz drücken und küssen.
Olivia sagte, dieses Gefühl sei die Sehnsucht nach dem Herzen, das der Urquell aller Liebe und uns näher ist als alle Geschöpfe.
» Er fiel ihm um den Hals und küßte ihn.«
Sie meinte, es bedeute etwas dergleichen.
Während ich mich zum Fenster hinauslege und über den weiten Moorgrund hinschaue, der sich wie ein Meer vor uns ausdehnt, gewahre ich hinter den bewaldeten Anhöhen die Giebel von Netherby.
Dort schläft Olivia.
Olivia und Fräulein Dorothea und Fräulein Gretchen.
Und ich bin hier mit meiner Mutter.
Unsere Väter und Brüder sind alle im Kriege. In Sicht – und doch leider wie unerreichbar! Dieser schreckliche Krieg scheint kein Ende nehmen zu wollen. Wir haben neuerdings kein sonderliches Glück gehabt, obgleich im Norden noch manche feste Plätze treu geblieben, und der ganze Westen und ein großer Theil von Wales unser sind. Die Berathungen der Rebellen scheinen von neuer Kraft beseelt. Man sagt, Oliver Cromwell sei die Seele von Allem, und er und seine Freunde haben eine neue Ordnung eingeführt, die sie mit einem ihrer unangenehmen parlamentarischen Namen benennen. Sie heißen Alles einen Bund oder eine Satzung, als ob Alles aus der Bibel genommen wäre. Diese letzte Verordnung nennen sie die Selbstverläugnungs-Ordnung, und der Sinn davon scheint zu sein, daß alle sich selbst verläugnen und Herrn Cromwell den Oberbefehl überlassen sollen. So wenigstens versteht es Harry. Er sieht unsere Angelegenheit in düsterem Lichte. Er war vor uns hier, um Alles für uns herrichten zu lassen. Und erst gestern morgen verließ er das Schloß, um zum Heere des Königs zu stoßen, das in Leicestershire steht.
Dies ist nicht sehr weit von hier.
Ob wir wohl etwas davon hören würden, wenn es zu einer Schlacht käme?
Vor wenigen Tagen erstürmten die Truppen die Stadt Leicester und plünderten sie aus. Harry mochte uns nichts davon erzählen. Er sagte, es sei nur zu sehr wie bei jenen schrecklichen deutschen Religionskriegen hergegangen, deren Nachahmung unsere Leute von Prinz Ruprecht nur zu gut gelernt haben.
Arme, unglückliche Stadt! Wir konnten nichts davon vernehmen. Stöhnen und Jammergeschrei reichen nicht weit, wenigstens nicht auf Erden. Allein ich glaube, nichts dringt schneller zum Himmel.
Wenn mir nur der Gedanke nicht in den Sinn gekommen wäre, ob wir wohl das Getöse der Schlacht aus der Ferne vernehmen könnten, falls eine geliefert würde. Seitdem kann ich mich nicht erwehren, bei all den süßen, ländlichen Tönen, wie das Zwitschern der Schwalben unter den Dachrinnen, den sanften Trillern der Drosseln und dem Flüstern des Grases, dennoch auf Etwas in der Ferne zu lauschen.
Wenn wir etwas hören sollten, so wäre es sehr, sehr weit entfernt, schwächer als das Rauschen der Blätter wie das leise Grollen des Donners in der Ferne.
An Sommertagen vernimmt man häufig aus weiter Entfernung geheimnißvolle Laute, die man sich nicht zu erklären vermag. Und jetzt kann ich nichts thun, als darauf lauschen.
Denn fast das letzte Wort, das Harry sagte, als er wegritt, war, daß vermuthlich bald eine Schlacht geliefert werde, und diese werde wahrscheinlich nicht unbedeutend sein.
Die Streitkräfte ziehen sich zusammen und nähern sich einander.
Er nahm heitern Abschied von Mutter und mir. Allein zehn Minuten später kam er wieder zurück galoppirt an die Stelle im äußern Felde, wo ich allein da stand und ihm nachschaute; denn Mutter hatte sich in ihr einsames Zimmer zurückgezogen, wie sie stets zu thun pflegt, wenn Harry uns verläßt. – Von seinem Gesicht war alle Heiterkeit verschwunden, indem er sagte:
»Lätitia, wenn es mit der Sache des Königs nicht gut gehen sollte, und die Rebellen unser Schloß anzugreifen drohten, so glaube ich, es wäre besser, keine Belagerung auszuhalten. Das Haus ist zu ausgedehnt um sich vertheidigen zu lassen, ausgenommen mit einer weit größern Besatzung als Ihr aufbringen könntet. Und das Land ist gegen uns. Wenn es zum Schlimmsten käme, so ist Herr Drayton ein großmüthiger Feind und ein Edelmann, der Euch gerne eine Zuflucht in seinem Hause geben wird. Wenn auf ihrer und unserer Seite Alle ihnen geglichen hätten, so wäre kein Krieg nöthig gewesen. Du darfst ihnen mittheilen, daß ich dies gesagt habe, wenn es je dazu kommt.«
»Wenn es wozu kommt, Harry?« fragte ich schaudernd.
Er zwang sich zu lächeln. Allein bald nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an, und er sagte:
»Man muß an alle möglichen Fälle denken, Lätitia. Du bist noch jung und Mutter ist gewohnt, sich auf Andere zu stützen.«
»Nur auf Dich, Harry,« erwiderte ich.
»Ja,« versetzte er eilig, »vielleicht nur zu sehr. Aber vertraue den Draytons, Lätitia. Nie werden sie ungerecht oder unedel handeln. Wenn Du sie um Rath fragst, so werden sie Dir das Beste rathen, und wenn es ihnen den Hals kosten oder das Herz brechen sollte.«
Dann setzte er nach einer kurzen Pause noch hinzu:
»Es hilft nichts Lebewohl zu sagen, Lätitia. Und wenn man Jahre dazu brauchte, so bliebe zuletzt doch immer etwas vergessen. Trennungen sind immer plötzlich, ob man wie durch Piraten im Dunkel der Nacht von einander gerissen wird, oder dem Segel nachschaut, wie es immer kleiner wird, bis es nur als ein kleiner Fleck am Horizonte verschwindet. Der letzte Schritt ist stets ein Sprung in einen Abgrund. Aber Lätitia,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »der Tod ist eigentlich kein Abgrund; er scheint nur so für diejenigen, welche an seinem diesseitigen Rande stehen. Sage unserer Mutter nicht, daß ich zurückkam. Wenn sie Dich darüber befragt, so versichere sie, daß ich nie mit leichterem Herzen fortgegangen sei. Denn ich kann immer weniger sehen, wie noch Alles enden, oder was ich wünschen soll; und ich begnüge mich immer mehr damit, den Tagesmarsch zu vollbringen und die Leitung des Feldzuges Gott zu überlassen.«
So ritt er mit dem Anstand eines Fürsten fort und ich schaute ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwand. Noch einmal wandte er sich nach mir um, schwenkte seinen Federhut, gab dann dem Pferde die Sporen und war in einem Augenblick mir aus dem Gesichte verschwunden.
Um von meiner Mutter nicht bemerkt zu werden, schlich ich durch eine Seitenthüre in der Nähe des Stalles zurück, und Cäsar, der Hund meines Bruders, winselte so kläglich und schmeichelte mir so beweglich, daß es mir durchs Herz schnitt, ihm seinen Wunsch, den er in seiner stummen Sprache deutlich genug ausdrückte, nicht gewähren und ihm die Freiheit geben zu können, meinem Bruder Harry zu folgen.
Den 14. Juni. Zehn Uhr Nachts. Einige Männer, welche diesen Abend von Norden herkamen, sagten, gegen Nordwesten, irgendwo an der Grenze von Northamptonshire und Leicestershire sei ein Gefecht vorgefallen. Der Kanonendonner begann am frühen Morgen, dann folgte scharfes, unterbrochenes Gewehrfeuer bis am Nachmittag, wo es allmälig aufzuhören schien.
Den ganzen Tag ist es so fortgegangen, diesen ganzen, ruhigen Sommertag hindurch. Vielleicht war mein Vater dabei, Harry sicherlich. Und vor morgen keine Nachricht zu erlangen!
Meine Mutter will heute Nacht keine Ruhe suchen. Ich sehe die Lampe durch das Fenster ihres Betzimmers und in der Ferne über den Feldern drüben ist ein Licht in dem Giebel des alten Herrenhauses von Netherby, wo Olivia Drayton zu schlafen pflegte. Es ist ein Trost, zu denken, daß wir gemeinsam wachen. Olivia ist so fromm und sie wird sicher unser gedenken.
Den 20. Juni. – Wir erhielten eher Nachricht als wir gedacht. Als der Morgen zu dämmern begann, kam ein Reiter in großer Eile an das Thor gesprengt. Ich war in dem Zimmer meiner Mutter; wir waren beide angekleidet. Keine von uns hatte ein Auge geschlossen. Ich sah hinaus. Es war Roger Drayton. Meine Mutter saß auf dem Bett, wo ich sie überredet hatte, ein wenig auszuruhen.
»Ich will hinabgehen und fragen,« sagte ich.
»Wir wollen mit einander gehen, Lätitia,« erwiderte sie.
Jetzt drang ein Schrei von einer unserer Dienerinnen zu unsern Ohren.
»Vielleicht ist es die arme Margaretha,« sagte ich.
Mutter schüttelte den Kopf.
Sie kniete einen Augenblick an dem Bette nieder und zog mich neben sich, Herz an Herz. So murmelte sie:
»Dein Wille, nicht der meinige! O hilf uns so zu sprechen, um dessetwillen, der zuerst so gesagt hat.«
Dann erhob sie sich und ging festen Schrittes mit mir in die Halle hinab.
Als sie Roger erblickte, hielt sie ihm ihre Hand entgegen.
Sein Gesicht verkündete nur zu deutlich die schlimme Botschaft.
»Eine Schlacht ist geliefert worden,« sagte sie.
»Bei Naseby, Lady Lucia,« erwiderte er.
»Hat der König gesiegt oder nicht?« fragte sie, unfähig dem Gedanken, der ihr und mir zunächst am Herzen lag, Worte zu geben.
»Es ist auf beiden Seiten tapfer gekämpft worden,« versetzte er. »Der König und Prinz Ruprecht sind nach Westen gegen Wales hingezogen.«
Ich hörte, wie seine Stimme bebte.
»Dann hat der König die Schlacht verloren,« sagte sie. »Aber Sie kamen nicht, um uns dieses zu melden. Wer ist verwundet?«
Er zögerte einen Augenblick.
»Es ist Harry,« rief sie aus. »Sie kommen, uns zu ihm zu rufen. Ist die Wunde gefährlich? Ist noch Hoffnung? Können wir gleich zu ihm gehen?«
Wieder eine Pause, und eine schreckliche Stille zwischen jeder ihrer Fragen. Er beantwortete nur die letzte:
»Er wird Ihnen gebracht werden, Lady Lucia. In diesem Augenblicke bringt man ihn schon!«
Da öffnete sich plötzlich die ganze Tiefe ihres Kummers vor ihrer Seele. Es war keine Sekunde zu früh. Denn kaum waren die Worte über Rogers Lippen, als der schwerfällige, regelmäßige Tritt eine schwere Bürde tragender Männer die tiefe Stille draußen unterbrach und vor dem Thore hielt.
Mutter nahm mich bei der Hand und führte mich ihnen entgegen.
»Er soll nicht ohne liebevollen Empfang heimkehren,« sagte sie.
Einen Augenblick besorgte ich, sie habe Rogers Worte noch nicht gefaßt. Denn die traurige Last, welche sie trugen, war nicht Harry, wie ich nur zu wohl errieth. Er konnte kein Willkommen mehr vernehmen. Allein ich hatte weder ihren Schmerz noch ihre Kraft ergründet.
Sie empfing die Träger an dem Thore. Unbedeckten Hauptes standen sie vor ihr, nachdem sie ihre Bürde auf die Steinbank unter dem Portal niedergesetzt hatten. Es waren meistens Diener, die im Dienste unserer Familie ergraut waren.
»Ich danke Euch, Freunde,« sagte sie. »Ihr habt Alles gethan, was Ihr konntet. Aber nicht dorthin. Auf den Ehrenplatz. Er war würdig.«
Dabei zeigte sie auf den Thronsessel am obern Ende des Saales, wo die Häupter unseres Hauses sich von ihren Anhängern huldigen zu lassen pflegen.
Schweigend trugen sie ihn dahin und legten dort sanft ihre heilige Bürde nieder. Abermals dankte sie ihnen für ihren Liebesdienst. Dann zogen sie sich wieder eben so still zurück. Ich sah, wie manche rauhe Hand sich Thränen aus dem Auge wischte. Doch sie weinte nicht. Regungslos, mit gefalteten Händen stand sie neben der Bahre und wiederholte mehrmals leise vor sich hin murmelnd:
»Er war würdig!«
Dann sich mit der ihr eigenen süßen unvergeßlichen Höflichkeit an Roger wendend, sagte sie, indem sie ihm nochmals die Hand entgegenstreckte:
»Es war recht freundlich von Ihnen, zu kommen und es uns zu sagen. Er hat Sie stets hochgeachtet!«
Er hielt ihre Hand in der seinen und sagte rasch, als ob er der Festigkeit seiner Stimme nicht traute:
»Ich war zuletzt bei ihm, und er nahm mir das Versprechen ab, Sie zu besuchen, sonst hätte ich nicht gewagt zu kommen.«
Sie schaute mit zitternden, halb geöffneten Lippen auf, um noch mehr zu hören.
»Ich mußte ihm versprechen, Ihnen zu sagen, daß er wenig Schmerz und keine Furcht habe,« sagte Roger leise. »Und er gab mir dies für Sie, und sprach: ›Sagen Sie meiner Mutter, während aller schlimmen Zeiten hätten diese Worte von ihr meinen Glauben, daß Gott noch immer lebt und regiert, aufrecht erhalten. Aber sagen Sie ihr auch, daß mehr als durch alle Worte mein Glaube an Gott durch sie selbst vor dem Erlöschen bewahrt blieb.‹«
Sie nahm das Päckchen aus seiner Hand entgegen. Es war ein kleines Buch mit Sprüchen und Gebeten von ihrer eigenen Hand geschrieben, das sie Harry geschenkt hatte, als er noch ein Knabe war. Auf dem rothseidenen Einband, den sie selbst für ihn gestickt hatte, war ein Flecken von noch dunklerem Roth. Als sie das Buch öffnete, fiel ein kleines abgenutztes Blatt heraus, auf welchem ein Kindergebet stand, das sie ihm aufgeschrieben hatte, als er zum ersten Male in die Schule ging.
Bei diesem Anblick verschwand der Gedanke an den für die gute Sache auf dem Schlachtfeld sterbenden Helden und machte der Erinnerung an die kleinen, über ihren Knieen im Gebet gefalteten Händchen Platz.
Ein plötzliches Zittern überlief ihre ganze Gestalt, während sie aus Rogers Hand die ihrige zurückzog, und mich mit ihren Armen umschlingend schluchzte sie:
»Mein Sohn, mein Sohn! Ach Lätitia, es ist Harry, den wir verloren haben! Es ist unser Harry!«
Als ich wieder aufsah, war Roger an der Thüre. Ich glaubte aus seinem Blick zu erkennen, daß er noch etwas zu sagen habe, und ich war alsbald entschlossen, es zu hören, es möchte kosten, was es wollte. Wir führten meine Mutter in das nächste Gemach; dort überließ ich sie den Dienerinnen und kehrte nach der Halle zurück.
Roger wartete noch unter dem Eingang.
Er ging mir entgegen, als er mich erblickte.
»Hat er sonst noch etwas gesagt?« fragte ich.
Er zögerte einen Augenblick.
»Er sagte, die Draytons und die Davenants könnten in diesen schlimmen Zeiten gegen einander kämpfen müssen, aber nie sollten wir einander mißtrauen, und nie habe er Einem von uns mißtraut.«
»Das waren seine letzten Worte zu mir, ehe er uns verließ,« erwiderte ich. »War das Alles?«
»Die Schlacht wüthete fort; ich mußte wieder aufsitzen,« sagte er, »denn ich konnte meine Leute nicht verlassen.«
»Sie sahen ihn nicht mehr,« sagte ich. »Sie konnten nicht so lange bleiben, um seinen letzten Athemzug zu hören.«
Sobald ich diese Worte ausgesprochen, fühlte ich den Vorwurf, der darin lag, und hätte sie gerne zurückgenommen, wenn es möglich gewesen wäre.
»Ich sah ihn nicht mehr, bis der Kampf vorüber war,« sagte er. »Dann kehrte ich zurück, fand ihn und brachte ihn heim. Dies war Alles, was wir zu thun vermochten, und es war freilich sehr wenig.«
»Ich bin überzeugt, daß Sie Alles gethan haben, was Sie konnten, Roger,« sagte ich; denn ich besorgte, ihm wehe gethan zu haben. »Ich werde die Ueberzeugung hegen, daß Sie Alles für uns thun würden, was Sie vermöchten.«
»Wollen Sie das wirklich?« sagte er. »Gott weiß, ich würde es thun.«
Und das Beben und der Ausdruck freudiger Ueberraschung in seiner Stimme fiel mir auf, so daß ich nicht aufsehen konnte.
»Wollte Gott, ich vermöchte etwas zu Lady Lucia's oder Ihrem Troste beizutragen!« sagte er.
»Niemand vermag sie zu trösten, Roger,« sagte ich, und die Thränen, welche ich gewaltsam zurückzuhalten strebte, erstickten meine Stimme. »Harry war ihr Alles. Er war es für uns Alle. Niemand wird sie je zu trösten vermögen.«
»Sie werden Ihre Mutter trösten, Lätitia,« sagte er mit jener ruhig gebietenden Miene, die ihm zuweilen eigen ist. »Gott legt es Ihnen auf und wird Ihnen helfen, es zu vollbringen.«
Und als er ausgeredet hatte und ich zu meiner Mutter zurückkehrte, hatte ich ein Gefühl, als ob es wirklich eine Kraft gäbe, durch die ich in der That Alles vollbringen könnte, was mir auferlegt würde.
Den 1. Juli. – Sir Launcelot Trevor hat uns Nachricht von meinem Vater und meinen Brüdern gebracht.
Sie sind im Westen, ausgenommen die beiden jüngsten, welche nach der Schlacht bei Marston-Moor über die Grenze gingen und zu Montrose in dem schottischen Hochlande gestoßen sind, da sie hoffen, daß von dort aus der Sache des Königs am besten zu helfen sei.
Mit der guten Sache steht es übrigens schlecht, schlechter als je zuvor. Bald nach dem unseligen Tag bei Naseby ergab sich die Stadt Bridgewater dem General Fairfax.
Prinz Ruprecht mit einem Muthe, wie er von dem Anführer einer Rotte Plünderer zu erwarten war, rieth hierauf dem Könige, Frieden zu schließen. Aber Seine Majestät, die nie erhabener ist, als im Unglück, sagte, wenn er auch als Soldat und Staatsmann nichts als Verderben voraussehe, so wisse er doch als Christ, daß Gott seine Sache nicht verlassen und nie zugeben werde, daß es den Rebellen gut gehe; er wisse, daß Ehre und Gewissen es ihm zur Pflicht machten, weder die Sache Gottes aufzugeben und seinen Nachfolgern Nachtheil zu bereiten, noch seine Freunde zu verlassen. Nichts destoweniger erwarte er für sich selbst nichts als ehrenvoll mit gutem Gewissen zu sterben, und seinen Freunden habe er keine andere Aussichten zu eröffnen, als die, sich für eine gute Sache zu opfern, oder, was noch schlimmer, ein Leben zu fristen, das die Gewaltthätigkeit frecher Rebellen so elend machen werde, als ihnen möglich sei.
Welche Versprechungen oder königliche Befehle vermöchten wohl Männer, denen noch ein Herz im Busen schlägt, treuer an ihren Fürsten zu ketten als solche Worte, zumal die, welche wie wir, ihr Liebstes seiner Sache geopfert haben? Mutter sagt, nichts mache uns eine Sache so theuer, als was wir für sie leiden. Auch scheint in der That nichts vermögend meine Mutter einigermaßen für das Leben anzuregen, als was sich auf die heilige Sache bezieht, wofür Harry starb.
Ueberdies erzählt Sir Launcelot, die Rebellen hätten eine so niedrige Gesinnung, daß sie dem gemeinen Volke von London die Privatbriefe Seiner Majestät an die Königin preisgaben, welche in seinem Schreibpult auf dem Schlachtfelde von Naseby gefunden wurden. Diese Briefe hätten Dinge enthalten, welche dem König einige alte, treue Freunde abwendig machten. Jämmerliche Freundschaft oder Loyalität, die sich durch Entdeckungen bestimmen läßt, welche nur durch Verrath und Mißbrauch des Vertrauens gemacht wurden, womit kein wahrer Edelmann selbst sein Leben retten möchte.
Aber von Einem, was Sir Launcelot mir zu verstehen gab, wage ich gegen meine Mutter kein Wörtchen verlauten zu lassen. Er sagte, es sei Grund genug vorhanden, warum Roger in Harry's Nähe war, als er fiel; denn es unterliege keinem Zweifel, daß er von der Hand eines der Eisenseiten den Todesstreich empfangen habe.
Aber nicht durch Rogers Hand! Oder wenn je ein solcher Fluch einen Menschen wie Roger treffen sollte, so mußte es ihm unbewußt sein. Dessen bin ich so gewiß wie meines Lebens.
Sir Launcelot sagte, Rogers Hand sei überhaupt ein wenig zu bereit zum Ausholen. Wie ungroßmüthig von ihm, dies zu sagen, allein nur zu wahr! Langsam zum Zorn; aber einmal aufgebracht, blind für alle Folgen.
Wie bitter würde er es bereuen, wenn diese schreckliche Vermuthung wahr wäre, und er es einmal erführe!
Wie bitter und wie vergeblich!
Allein selbst wenn es möglich wäre, und er es nie erführe, wir aber wüßten es, welch ein Abgrund läge dann auf immer zwischen uns und ihm!
Ich kann gegen meine Mutter kein Wörtchen davon verlauten lassen. Und doch, wenn Sir Launcelots Verdacht Grund hätte, wäre es nicht Verrath, wenn Roger je wieder zu uns käme, sie mit Willkommen die Hand berühren zu lassen, welche den Todesstreich geführt?
Ich weiß nicht, was ich thun soll.
Dies ist die erste Verlegenheit, in der ich nicht meine Zuflucht zu ihr nehmen und sie um Rath und Hülfe bitten kann.
Was ich für ein Kind war!
Was ich für ein Kind bin!
Kann unser Heiland wohl gedacht haben, daß Seine Jünger je so verwirrt und unschlüssig sein würden, wie ich bin, als Er sie kurz vor seinem Leiden »Kindlein« nannte? Hat Er vielleicht damit sagen wollen: »Kommt zu Mir, wie Kindlein zu ihrer Mutter, wenn ihr Weisheit bedürfet, kommt zu Mir!«