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Der Schutzengel des Königs

Noch eine Geschichte aus der Bastille

Als am 14. Juli 1789 (ein Tag mit wolkenlosem Himmel und strahlender Sonne war's) in Paris das unglaublichste Wunder geschah und die ungeheuren Mauern und Türme der Bastille dem anstürmenden Volkshaufen zum Opfer fielen, beherbergte diese symbolische Zwingburg des königlichen Absolutismus kaum noch ein halbes Dutzend Gefangene (darunter den Grafen Delorges, dessen Kerkerhaft gerade 40 Jahre gedauert hatte); denn wie das Königtum erst, nachdem es schwach und wankend geworden, gestürzt werden konnte, so fiel auch die Bastille zu einer Zeit, da sie längst schon kaum noch benutzt wurde.

Und wie einige Wochen darauf, am Geburtstag der vielbeschrienen Menschenrechte, die hohe Aristokratie die besten Köpfe einer Bewegung zur Verfügung stellte, in deren Verlauf unzählige Aristokratenköpfe, gute und schlechte, mit grauenhafter Hast abgeschnitten wurden: so hat an diesem 14. Juli das gemeine Volk, ohne viel zu denken, seinen Arm der Sache des verhaßten Adels geliehen; denn in die Bastille eingekerkert zu werden, gehörte ja eben zu den Privilegien der Aristokratie, die des Geistes mit eingerechnet. Der gemeine Mann verirrte sich in dieses Gefängnis der Mächtigen und Bevorzugten nur selten einmal; nur in außerordentlichen Fällen, wie der einer war, wovon diese Geschichte zu berichten hat.

Kaum ein halbes Dutzend Gefangene, wurde gesagt, fanden die jubelnden Erstürmer in den dreimal vermauerten Gelassen der erschrecklichen Türme. Sie begnügten sich damit, die furchtbaren Riegel und Schlösser zu erbrechen; im übrigen hatte niemand Zeit und Muße, sich um die Befreiten weiter zu kümmern. Ein interessanterer Gegenstand war dem Volk, das sich vom ersten Rausch der aufdämmernden Freiheit auch gleich bis zur sinnlosen Tollheit fortreißen ließ, der unbeugsam strenge Graf von Launay, der Gouverneur und Verteidiger der Festung, den die rasende Menge, einer wilden Bestie gleich, trotz zugestandenem freien Abzug, auf der Stelle zu zerfleischen drohte.

Den militärischen Anführern des Unternehmens, zwei braven Soldaten der Gardes Françaises (Hulin hieß der eine, der andere Hélie) gelang es nur mit Gefahr des eigenen Lebens, den Unglücklichen eine Strecke weit durch den tobenden Pöbel hindurchzubringen, bis er ihnen auf dem Greveplatz entrissen und in schauerlicher Weise hingeschlachtet wurde. Ein Schlächtermeister, namens Bourtas, spießte den zerhackten gräflichen Kopf auf die Bajonettspitze eines geraubten Gewehrs, gleich einer Trophäe, und hinter ihm wälzte sich die Hefe der Pariser Bevölkerung, die Fischweiber der Markthallen voran, in grauenhaftem Jubel durch die Straßen der inneren Stadt. Andere Haufen, nicht so sehr lüstern nach Blut als nach weniger symbolischen Dingen, waren in der erstürmten Bastille zurückgeblieben, um zu rauben und zu plündern. Einige schienen es besonders auf das Archiv abgesehen zu haben, was beweist, daß es auch in den aufgeregtesten Momenten Leute gibt, die für weit hinaus den Wert und Nutzen der Dinge zu berechnen wissen.

Inzwischen hatten sich die Gefangenen längst unbeachtet verloren. Nur ein zitternder Greis in schwarzem Tuchrock, mit ergrautem Haar und wirrem Bart, saß noch auf einem Prellstein des inneren Tores und rührte sich nicht von der Stelle. Um ihn versammelte sich bald ein Häufchen Neugieriger von der gemütlicheren Sorte; doch blieben all ihre Fragen nach Namen und Herkommen vergeblich. Der Alte stierte die Umstehenden verständnislos an und legte nur manchmal geheimnisvoll den Finger auf die Lippen. Zwei- oder dreimal murmelte er etwas in den Bart und blickte dabei ängstlich und scheu um sich her. »Was sagt er?« fragten die Hintersten und drängten sich näher. Er sagt: »Der König ist in Gefahr«, erklärte ein hübsches junges Weib. Darüber brachen einige in rohes Lachen aus; und man gewann allmählich die Gewißheit, daß man es mit einem Verrückten oder wenigstens ganz in Stumpfsinn Versunkenen zu tun habe. »Kinder und Narren sagen die Wahrheit,« meinte ein buckliger Schneider; »der gute Trottel scheint mir kein schlechter Prophet.«

Dennoch handelte es sich nicht um eine Prophezeiung, sondern um eine Erinnerung. Dieser Unglückliche, der in der Bastille blödsinnig wurde, war einst ein wohlhabender Lyoner Kaufmann mit Namen Marcel Larousse. Im Winter 1756, kurz vor Neujahr, ging Herr Larousse, mit Zurücklassung einer hübschen Frau und zweier Töchterchen von sieben und neun Jahren, in Geschäften nach Paris, wo gerade der Streit zwischen König und Parlament eine Verschärfung erfahren hatte, die ernstliche Konflikte befürchten ließ.

Herr Larousse kam just an dem Tage in Paris an, da auch der König in seiner lieben und getreuen Stadt erschienen war, um im Justizpalast ein feierliches Lit de justice abzuhalten, das bekanntlich einen recht bedenklichen Ausgang nahm. Der gute Kaufmann aus der Provinz konnte sich vor Erstaunen nicht erholen, als er sah, wie der König, mit besonders pomphaftem Gefolge und in offenem Wagen, an einer kalt gaffenden Menge vorüber den Kai der Goldschmiede und die Sankt Annenstraße entlang, seinen Einzug ins Parlament hielt, ohne daß auch nur der schüchternste Ruf »Es lebe der König« laut wurde. Kein Arm hob sich, kein Hut oder Mütze wurde geschwenkt. In feindseliger eisiger Ruhe und voll Trotz in den Mienen stand die Menge. Nur eine böse Neugierde, ja Schadenfreude hatte sie hergetrieben.

So erkaltet war in diesem Augenblick die Stimmung des Volkes gegen diesen König, den man einst ohne Arg den Vielgeliebten nennen durfte und der nun schon einen Mordanfall brauchte, um die alte Liebe der Pariser für ihn noch einmal auflodern zu sehen. Und dieses Attentat (Könige haben manchmal ein unglaubliches Glück) stellte sich wahrhaftig, wie auf Bestellung, ganz zur rechten Zeit ein.

Als nämlich Herr Larousse, den seine Geschäfte über Neujahr hinaus in der Hauptstadt festgehalten, am 4. Januar von einer Einladung bei seinem Geschäftsfreund in später Nacht nach seiner Herberge bei der Kirche von St. Eustach zurückkam und infolge ungewöhnlichen Weingenusses und seiner lebhaften Gedanken an das freudige Wiedersehen mit Frau und Kindern stundenlang nicht einschlief, er mußte sich immer wieder vorstellen, wie sich seine Frau über den Federnhut und den Spitzenfächer freuen werde, die er am Nachmittag eingekauft hatte: da hörte er plötzlich hart an seinem Ohr deutliches Stimmengeflüster, und als er aufhorchte, verstand er auch bald einige abgerissene Wörter und Sätze, die aber lange ohne Sinn und Zusammenhang für ihn blieben, so daß er sehr ärgerlich wurde, weil er noch weiter an dem nötigen Schlaf gehindert sein sollte. Dennoch konnte er sich nicht enthalten, das Ohr zu spitzen und all seine Aufmerksamkeit anzustrengen.

Er tat noch mehr. Das Kopfende seines Bettes stieß an die Türe zu dem nebenanliegenden Zimmer, er schob die roten Gehänge seines Betthimmels zur Seite und näherte sein Gesicht dem Schlüsselloch der Türe. Und so, mit verhaltenem Atem, wie er manchmal als junger Mensch in fremden Herbergen getan, um ein benachbartes Liebespaar in seinen Ekstasen auszuhorchen, lauschte er mit immer wachsender Aufregung.

»Du wirst im letzten Augenblick den Mut verlieren«, sagte jetzt drüben eine Stimme.

»Das Bild der Allerheiligsten Jungfrau, das ich auf der Brust trage,« antwortete die andere Stimme, »wird mir die Kraft geben.«

»Wie willst du ihm aber so nah kommen?«

»Er besucht jetzt fast täglich spät am Nachmittag seine Tochter, die krank sein soll, und kehrt erst in der Dunkelheit zurück.«

»Bei der jetzigen Kälte wird er gut eingemummt sein und du wirst dein Leben umsonst wagen.«

»Mein Dolch ist lang und scharf, und Panzerhemden zu tragen ist seit Ludwig XIII. nicht mehr Mode.«

»Man wird dich greifen, eh dir der Stoß gelingt.«

»Wenn ich ungeschickt bin.«

»Und hast du bedacht, was dir dann bevorsteht?«

»Wer auf Gott und den heiligen Beistand vertraut, bedenkt nicht!«

»Und wenn er nun auf Wochen hinaus das Trianon nicht verläßt?«

Wie ein greller Blitz schlug das letzte Wort in das Bewußtsein des Kaufmanns. Also ein Mordanschlag auf die geheiligte Person des Königs! Also den Plan zu einem Verbrechen, wie es Frankreich seit Heinrichs IV. Zeit nicht mehr erlebt hat. Der Kaufmann schauderte.

Und ihn also, den Herrn Larousse aus Lyon, hatte Gott dem König zum Schutzengel bestellt. Darum hatte er ihn so lange den Schlaf nicht finden lassen. Nun suchte er ihn schon nicht mehr, obwohl es drüben still geworden war. Die ganze Nacht hindurch überlegte der gute Kaufmann, was er tun könne, um das Komplott unschädlich zu machen.

In Wahrheit war's eine abenteuerliche und fast lächerliche Kombination, die sich der Kaufmann in seiner aufgeregten Phantasie aus den aufgeschnappten Reden zusammenstellte; sie entsprach dennoch für diesmal der nackten Wahrheit.

Die Folgen gaben dem guten Untertanen recht, der mehr als einem Hirngespinst die Ruhe der Nacht opferte. Plan um Plan durchdachte er, und einen nach dem anderen verwarf er als unpraktisch oder gar gefährlich. Erst gegen Morgen kam er zu einem Entschluß, fest überzeugt nun, daß dieser Schritt der sicherste sei. Er hatte beschlossen, sich in aller Frühe zu Herrn von Berryer zu begeben, der als Leutnant des Königs der Pariser Kriminalpolizei vorstand.

Schon kurz nach sieben meldete sich der Kaufmann an der Wohnung des Polizeileutnants am damaligen Königsplatz.

Seine Gnaden, sagte man ihm, sei vor elf Uhr nicht zu sprechen.

Aber der Kaufmann ließ sich nicht so leicht abweisen. Er komme in einer dringlichen Sache, die Herrn von Berryer persönlich angehe. Da fragte ihn der Lakai nach Stand und Namen und hieß ihn warten.

Ob dieser Tressenmensch nun seinen Herrn von dem Begehren des Fremden wirklich benachrichtigt oder ob er dem Kaufmann nur eine kleine Komödie vorgespielt hat; er kam nach einigen Minuten zurück mit dem Bescheid: Der Herr Polizeileutnant lasse Herrn Larousse bitten, ihm, wenn es möglich sei, um elf Uhr die Ehre seines Besuches zuteil werden zu lassen.

Larousse begab sich nun in das benachbarte Café Procope, dessen literarische und sonstige Stammgäste zu dieser Stunde noch schliefen. Dort ließ er sich eine Schokolade und dazu Tinte und Feder geben und verfaßte mit großer Sorgfalt einen Brief an Herrn von Berryer, da ihm schwante, daß er auch um elf Uhr nicht vorgelassen werden könnte.

»Euer Gnaden, der König ist in Gefahr«, so begann der Brief und erzählte darauf Wort für Wort das erlauschte Gespräch.

Herr Larousse hatte richtig geahnt. Als er wenige Minuten nach elf im Vorzimmer Seiner Gnaden erschien, hieß es, der Statthalter des Königs sei augenblicklich von wichtigen Geschäften in Anspruch genommen; den Brief des Kaufmannes aber wollte der Lakai gern abgeben.

Umsonst wartete Herr Larousse danach, zur näheren Auskunft vorgerufen zu werden. Eine Stunde verging, es vergingen zwei, es vergingen drei Stunden, worauf man dem Kaufmann bedeutete, Herr von Berryer sei plötzlich in einer dringlichen Angelegenheit ausgefahren und heute nicht mehr zu sprechen. Ob Seine Gnaden den Brief gelesen hätten, wußte der Lakai nicht zu sagen; der Kaufmann aber zweifelte nicht daran, denn sicher bestand zwischen der Lektüre des Briefes und der plötzlichen Ausfahrt des allgewaltigen Polizeileutnants ein kausaler Zusammenhang.

Dabei beruhigte sich Herr Larousse, und da etwas vor fünf die Lyoner Post abging, wofür er sich bereits am Vorabend einen Platz gekauft hatte, nahm er in aller Eile einen Fiaker und fuhr (sein Felleisen hatte er in der Frühe schon hin befördert) nach der Posthalterei von St. Severin nah beim Justizpalast, wo er gerade ankam, als der Postillion das letzte Signal zur Abfahrt blies, während in der Kutsche die Reisenden in dicken Mänteln sich zurechtrückten und der Stallbursche mit krummen Knien im Schnee stand und heftig die Arme übereinanderschlug, um sich gegen die Kälte zu wehren.

In der Vorstadt von St. Anton schlug die Uhr das erste Viertel nach fünf, als der wackelige Postkarren, an der Bastille vorbei, über den knirschenden Schnee rollte, dem Tor von Vincennes zu. Trotz der beißenden Kälte ließ es sich der junge Postillion nicht nehmen, das finstere Staatsgefängnis drüben, das bei der hereinbrechenden Nacht sich nur unbestimmt vom schwarzen Himmel abhob, auf seinem Horn mit einer lustigen Weise, wie er immer pflegte, neckisch zu begrüßen, indessen Herr Larousse, gehoben von dem stolzen Gefühl, den König gerettet und dem Vaterland still und bescheiden einen außerordentlichen Dienst erwiesen zu haben, sich aufs neue dem beglückenden Vorgenuß eines zärtlichen Wiedersehens hingab. In derselben Viertelstunde geschah draußen in Versailles die Tat, die, trotz aller Verstimmung gegen den König, seinen Untertanen so entsetzlich schien, daß zuerst niemand daran glauben wollte.

Der König, der zu dieser Zeit das Trianon bewohnte, war um vier Uhr nachmittags nach dem Schloß gefahren, um seinen Töchtern, deren eine etwas kränkelte, einen Besuch abzustatten, wie er fast täglich zu tun pflegte. Genau ein Viertel nach fünf verabschiedete er sich von den Prinzessinnen. Er nahm beim Herabsteigen die kleine Treppe, da er fast ohne Gefolge war. Zwei Fackeln wurden ihm vorgetragen. Als er, unten angelangt, schon den Fuß erhoben hatte, um in den Wagen zu steigen, sah sich der nächststehende Oberst der Leibwache plötzlich mit einem Ruck auf die Seite geschoben und der König fühlte etwas wie einen Faustschlag auf der linken Brust. Er fuhr nach der Stelle und griff in Blut. »Ich bin ermordet,« rief er, »haltet den Täter!« Der war schon ergriffen: ein großer, starker Mann in schwarzem Anzug mit einer Beutelperücke auf dem Kopf.

Dies war der Vorgang bei dem bekannten Attentat des Hausknechts Damiens auf Ludwig XV.; und wenn man auch heute weiß, daß der König dabei nur ganz leicht verwundet wurde, so blieb doch zunächst alles zu befürchten, und ungeheuerer Schrecken und Verwirrung verbreiteten sich.

Die erste amtliche Nachricht, die nach Paris abging, war an Herrn von Berryer gerichtet. Der reitende Kurier fand den hohen Polizeibeamten bei der Baronin von Breteuil, seiner anerkannten Geliebten, wo er in großer Gesellschaft bei Tische saß. Gerade wurde der sechste Gang, ein getrüffelter Pfau aufgetragen, als sich die Stafette meldete.

Man kann sich den Schrecken der illustren Gesellschaft denken. In eiliger Hast verabschiedete sich der Königsleutnant, um seines Amtes zu walten. Das heißt: um im weitesten Umfang und mit äußerster Strenge alle die Maßregeln zu treffen, die eine hohe Polizei mit Sicherheit immer anzuordnen pflegt, wenn ein Unglück geschehen ist. Herr von Berryer fühlte sich um so verwirrter, als der Brief, im Namen des Königs geschrieben, einen Zusatz enthielt, der sich wie eine erste Andeutung höchster Ungnade ausnahm. »Auf daß es Euch nicht etwa einfallen mag,« hieß es da, »zu uns nach Versailles zu kommen, verbieten wir Euch ausdrücklich, unsere Stadt Paris für die nächste Zeit auch nur auf einen Augenblick zu verlassen.«

Das genügte, um den Königsleutnant in höchsten Alarm zu versetzen.

Während nun seine schwergebaute Karosse über das holprige Pflaster in heftigen Schwankungen dahinfuhr und seine Seele in tausend Ängsten und Befürchtungen schwebte, fiel ihm plötzlich der Brief des fremden Kaufmanns ein, den er am Vormittag zu sich gesteckt, aber zu lesen vergessen hatte. Er zog das Schreiben hervor und überflog es.

Und so erschrak er, daß die zitternde Hand das Blatt zu Boden fallen ließ.

»Ich bin ein verlorener Mann, rief er aus. Der Mensch wird plaudern; ich bin unrettbar verloren.«

Ein paar Sekunden saß er wie erstarrt. Dann kam ihm ein rettender Gedanke; er klopfte heftig an den Wagenschlag. Der Wagen hielt und schon war auch der Jäger vom Bock gesprungen und stand, des Befehls gewärtig, den Federhut in der Hand, vor dem Schlag.

»Cölestiner-Kai, Kaserne der Königlichen Dragoner, eilig!« befahl Seine Gnaden; und der Wagen setzte sich wieder in Trab.

Unterdessen war die Lyoner Mallepost mit Herrn Larousse über Brie-Comte-Robert und Melun hinaus und dann dem vielgewundenen pappelbestandenen Tal des Flüßchens Nonne entlang in ihrem behaglichen Postkutschentempo weitergefahren. In dem Städtchen Pont-sur-Nonne hatte sie zum soundsovieltenmal die Pferde gewechselt und wollte eben mit ihren drei Insassen sich langsam wieder in Bewegung setzen, als plötzlich ein Trupp galoppierender Reiter die Straße herunter gegen sie heransprengte. Im Nu war der Wagen von den Dragonern umstellt.

Der Kaufmann Larousse aus Lyon! rief der Gefreite.

Ein eigentümlicher Glücksschauder durchrann in diesem Augenblick die Seele des Lyoner Kaufmannes, der aus seinen Gedanken an die zu Haus harrende junge Frau und an die schönen Kinder wie aus einem lieblichen Traum emporfuhr. Aber nur, um in einen noch zauberhafteren einzutreten. Wie eine blendende Phantasmagorie tauchte es ihm vor den Augen auf. Kristallene Kronleuchter mit Tausenden von Kerzen flammten und vervielfältigten sich in Spiegeln bis ins Unabsehbare, auf goldgestickten Westen blitzten diamantene Sterne, nackte Frauenschultern leuchteten über Sträußen von Blumen, seidene Kleidfalten knisterten, Atlasschleppen rauschten; plötzlich ein allgemeines Knixen und Verbeugen: Der König!

Denn der gute Kaufmann dachte nicht anders, als daß die Boten des Königs ihn einholten und daß ihm eine großartige Belohnung bevorstehe.

Aber nur ein Wimperzucken lang stand ihm die beglückende Fata Morgana vor dem Blick. Denn schon fühlte er sich einen Knebel in den Mund gestoßen und eiserne Schließen an die Gelenke gelegt.

Wie in einem Räuberroman war's. Kein Wort wurde laut, und ehe Herr Larousse sich's versah, saß er im Pferdesattel mit zwei Dragonern zur Seite, die mit ihren Armen unter die seinen faßten. Und fort ging's in gestrecktem Galopp auf der winterlichen Landstraße, zwischen verschneiten Hügeln mit den Flecken dunkler Gehölze, vorüber an Gehöften, wo die Hunde ängstlich knurrten, über Brücken und durch verschlafene Dörfer, in gestrecktem Galopp immer fort.

Der arme Kaufmann verfiel zuletzt in eine todähnliche Betäubung, aus der er erst ... im Grabe wieder erwachte.

Denn ganz an eine Gruft erinnerte das Gelaß, in dem er, ahnungslos darüber, wie lange seine geistige Lähmung gedauert hatte, zur Besinnung kam. Nackte Mauern, zwei plumpe, mit Ketten befestigte Stühle, ein rohgezimmerter Tisch und eine hölzerne Lagerstatt: Das waren die Gegenstände, die er in dem schwachen Licht erkannte, das durch eine schmale Luke aus der Höhe herab spärlich in den trostlosen Raum hereinsickerte.

Er mußte sich besinnen, was mit ihm vorgegangen war. Aber umsonst suchte er nach einer Erklärung der furchtbaren und rätselhaften Ereignisse. Sein Kopf war düster wie die Gruft, die ihn umschloß. So versank er in ein ratloses, dumpfes Brüten. Und Stunden mochten so hingehen. Stunden oder Ewigkeiten: er hätte es nicht zu sagen gewußt. Ein Geräusch ermunterte ihn.

Er hörte Schlüssel drehen und Riegel sich verschieben und eine schwere Tür in ihren Angeln knarren. Dreimal wiederholte sich das. Denn drei schwere Türen führten in seinen unterirdischen Kerker. Nach Öffnung der letzten Tür wurde wirklich ein lebendiger Mensch sichtbar. Er trug am Gürtel ein Gehäng mit gewaltigen Schlüsseln. Ein Gehilfe, der ihm auf dem Fuß folgte, setzte ein Brett mit einem vollständigen Mittagsmahl auf den Tisch.

Von dem Schließer erfuhr der Kaufmann, daß er in der Bastille sei.

So hatte Herr von Berryer die ihm drohende Gefahr beseitigt. Auch in anderer Richtung wußte er der Ungnade des Hofes energisch vorzubeugen. Seine strengen Maßnahmen in der nächsten Zeit nach dem Attentat des Damiens fanden ganz die Billigung des Königs, der sich seinem Polizeichef dafür so dankbar erwies, daß er ihn bereits ein Jahr darauf, obwohl Herr von Berryer in seinem Leben kein Schiff gesehen hatte, zum Minister der Marine ernannte, wie in jedem Kompendium der französischen Geschichte zu lesen ist.

Herr Larousse aber war in der Bastille und blieb darin. Erst der berühmte 14. Juli 1789 gab ihm die Freiheit; gab ihm aber weder seinen Verstand wieder, den er verloren hatte, noch sein geliebtes Weib und seine schönen Kinder, auf die sich sein braves Herz so unsäglich freute damals, als er vor zweiunddreißig Jahren, am Vorabend der Heiligen Drei Könige, an der Bastille vorüber durch das Tor von Vincennes in die frühe Winternacht hinausfuhr, nicht nur vom Vorgefühl des ersehnten Wiedersehens beglückt, sondern ebenso sehr von dem Gedanken, den König gerettet und dem Vaterland still und bescheiden einen außerordentlichen Dienst erwiesen zu haben.


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