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Eugène Carrière

Ueber Carrière's transzendentale Seelenmystik machen die Anhänger des modernen Okkultismus viel geheimnisvolle Worte. Die Mystik ist heute Mode. Zwei so eminente Schriftsteller wie Huysmans und Maeterlink, beide von demselben Stamm und Blut wie der berühmte Ruysbroek und seine Verwandten, haben ihr viele vornehme Geister gewonnen, unter denen der frühverstorbene Dichter Georges Rodenburg, ebenfalls flandrischer Deszendenz, den stärksten Zauber ausübte. Diese Leute, die Schüler wenigstens, haben das Eigentümliche: Wenn man näher zusieht, so sind es recht »sonderbare Heilige«, sind es fast immer nicht ganz gesunde Lebemänner mit mehr oder weniger perversen Neigungen, die sich sogar nicht ungern als richtige Gigerl aufspielen. Maurice Barrès gehört ja auch zu ihnen. Und einige deutsche Namen lägen nahe, die ich aber lieber nicht nenne.

Ob Eugène Carrière zu ihnen gehört? Von seinem grossen Kunstgenossen Rodin kann man dasselbe fragen.

Aber vielleicht gehört die Frage zu den müssigen. Und jedenfalls hat Carrière als Maler grosse Verdienste, die mit Mystizismus nichts zu thun haben. Jedenfalls lässt sich die Psychologie seiner Kunst ohne alle Mystik in rein historischer Betrachtung erklären. Eine solche Erklärung fällt sicher weniger tief aus als die okkultistische und weniger dunkel, diesen Vorwurf muss sie sich gefallen lassen; aber sie gibt dafür vielleicht einige Begriffe.

Die hervorstechendste kunstgeschichtliche Thatsache des abgelaufenen Jahrhunderts ist jene grosse technische Evolution, die man in historischer Folge als Impressionismus, Luminismus und Pointillismus bezeichnet und die sich uns original darstellt in den Werken eines Manet und Monet, eines Pissaro und Sisley, eines Renoir und Degas bis herunter zu dem Belgier Ruysselberghe, von dem die Darmstädter Ausstellung im letzten Sommer höchst interessante Beispiele vorführte. Diese grosse Bewegung, die übrigens doch nicht bloss technisch aufgefasst werden darf – denn sie wurde zugleich ein Spiegel aller sozialgefärbten ethischen und ästhetischen Präoccupationen der Zeit – sie ist, in ihrer Ganzheit genommen, unbestreitbar die grösste künstlerische That des Jahrhunderts, sie ist geradezu sein künstlerisches Stigma. Und sie ist der höchste künstlerische Ruhmestitel der französischen Nation, der wir sie der Hauptsache nach verdanken und die damit über den ganzen Erdteil, und weit darüber hinaus, in der Malerei einen Einfluss und eine Herrschaft ausübte, wie kaum in ihren glänzendsten Epochen auf dem Gebiet der Litteratur, der Mode und der Politik.

Und dennoch wurde eine Reihe der hervorragendsten Maler der Zeit von dieser ganzen Bewegung gar nicht berührt: in Frankreich Puvis de Chavannes und Gustave Moreau, in Deutschland Böcklin und Thoma, in England Watts und Burne-Jones – um nur die grössten zu nennen. Sie wurden nicht davon berührt, obwohl sie die ganze Bewegung von Anfang bis zu Ende mit erlebt haben. Sie waren einesteils in ihrer künstlerischen Bildung schon zu weit vorgeschritten, als das Neue einsetzte, und sie waren insbesondere zu ausgeprägte künstlerische Persönlichkeiten, um überhaupt eine Bewegung mitmachen zu können, um überhaupt andere Wege gehen zu können als ihre eigenen. Sie wussten sich auf einer höheren Warte und konnten nicht zu den andern hinuntersteigen, wenngleich dort unten, auch für sie, gewisse subtile technische Werkzeuge zu holen gewesen wären, was übrigens die Frage ist.

Andere Künstler, jüngere, scheinen heut ebenfalls unberührt vom Impressionismus oder wie man die Sache nennen will. Aber das ist eben Schein. Sie staken einst darin bis über die Ohren. Sie haben ihn nur ausgezogen wie man ein Kleid auszieht. Das sind Leute, die wissen, dass man mit den Wölfen heulen muss. Sie heulten sogar immer noch lauter als die Wölfe selber. Aber andere Zeiten, anderes Geheul.

Der virtuoseste Heuler dieser Art ist der auf Java geborene Holländer Toroop. Er hat genau gemalt wie Courbet und dann genau wie Manet; er hat den Monet und Pissaro übertroffen und dann Renoir und Degas. Es gibt von ihm Köpfe im Umriss, die an die wunderbarsten Handzeichnungen der Museen erinnern. Daneben ist er ein Plakatfarben-Symboliker und Linienrätsel-Aufgeber der fanatischsten Art, als welcher er nun auch Helleu und Knopf und Verwandte übertrifft. Wo ist er nun »er«? Ueberall oder nirgends? Er spielt siebenundzwanzig Instrumente mit gleicher Virtuosität, aber er sagt auch auf jedem nur was andere schon gesagt haben. Er spricht mit Leichtigkeit so viele Sprachen, dass man unmöglich sagen kann, welche davon nun seine Sprache ist. Sein Werk ist das Paradigma der Kunstgeschichte seit 40 Jahren.

Und er ist leider typisch. Nur dass die andern nicht ganz so virtuos sind. Courbet hatte nur eine Sprache und Monet, wie auch Rubens und Rembrandt nur eine Sprache redeten als Maler.

Und nur Eine Sprache hat auch Eugène Carrière. Ihre Grammatik festzustellen, darum handelt es sich.

Sie ist impressionistisch, um es kurz zu sagen. Mehr als irgend einer von denen, die heute als Individualgestalten über die andern emporragen, steht Carrière, technisch, im Impressionismus und dessen Konsequenzen. Von Monet zu ihm führt eine gerade Linie.

Deren Endpunkte freilich sind zwei Welten. Aber diese Linie unterscheidet Carrière fast von allen seinen bedeutenden Zeitgenossen. Die andern haben dem Impressionismus den Rücken gekehrt und haben zu Ausdrucksmitteln ihre Zuflucht genommen, zu denen der Impressionismus in tötlicher Feindschaft stand. Carrière, vielleicht eine stärkere Künstlerindividualität als alle andern, ist unbehindert auf dem betretenen Weg weiter geschritten, ist dem Impressionismus treu geblieben, hat ihn aber aus der Kraft seines Genius wiedergeboren, in welcher Wiedergeburt der als unpersönlich, als ungeistig, als naturgebunden erkannte, hervorging als ein Allerpersönlichstes, ein Allergeistigstes, ein Allerfreiestes. Das ist die Formel für Eugène Carrière.

Die impressionistische Kunst hatte eines Tages ein Gefühl wie der verlorene Sohn, der die Schweine hütete und Trebern ass. Dieses Gefühl war zunächst eine Art Ausgehungertheit. Diese Kunst hatte sich zu lange nur von Luft- und Lichtschwingungen genährt, hatte alles Substantielle, alles Kompakte abgewiesen. Und alte längstentwohnte Sehnsucht erwachte: die Sehnsucht nach ganzen, klaren, hellen Farben, die so schön sein können und wenn sie auch nirgends in der Natur so rein und ungebrochen vorkommen sollten; die Sehnsucht nach der schönen bedeutenden Linie in ruhiger rhythmischer Bewegung, die Sehnsucht nach der festen klar umschriebenen Gestalt. Es war eine Bekehrungssehnsucht, ein Heimwehschmerz.

Und die Kunst machte sich auf, und was sie in der Person von einzelnen Künstlern schon vorher gethan hatte, sie that es jetzt auf der ganzen Linie: sie kehrte ins Vaterhaus zurück, zurück zu den ersten Märchenträumen ihrer Kindheit. Sie verliebte sich unter anderem so närrisch in die arme Seele von Linie, die langvergessene, die langverschmähte, so dass, wo sie ehedem nichts sah als Lichtergeflimmer, sie nun nichts mehr wollte als Linie, als keusche körperlose Linie, als gegenstandslose, als symbolische Linie. Sie wurde stellenweise ganz verrückt von dieser Leidenschaft.

Doch huldigte sie auch, nebenbei, einer andern mehr sinnlicheren Liebe. Sie vernarrte sich in breite Farbenflächen. Sie liebte Bilder, die entstanden schienen, indem man einen Topf voll roter und einen Topf voll blauer und einen Topf voll gelber Farbe auf eine Tafel ausgegossen, fein sauber und unverwischt.

Auch war es oft sehr schön, was sie liebte: die ruhigen oder bachantischen Tanzrhythmen der freien, gegenstandslosen, idealen Linie, und die Fanfarenmusik und das Jubelgejauchz, und die Augenlustwunder der ganzen und ungebrochenen, hohen und tiefen Farben in breiten Ergüssen.

Neben dieser Bekehrung, Rückkehr oder Umkehr, lief noch eine andere Bewegung her. Wo sonst in der Landschaft vor lauter Licht sich am liebsten kahle Brandmauern und Fabrikschlöte aufreckten und schwielenfäustige ruppige Proletarier das nicht gerade immer hohe Lied der Arbeit mit rauhen und heisern Stimmen deklamierten, da schwebten jetzt zwischen schlanken Bäumen liebliche Allegorien und unleibhaftige Engel in weissen lotrecht fallenden Gewänder und ebenso weissen langen schmalen Flügeln und sangen Gloria in excelsis.

Nie hat sich eine Zeit in so schroffen, rasch sich ablösenden Gegensätzen gefallen, wie die unsrige. Doch nicht alle Künstler machten die Sprünge mit. Und unter ihnen ist einer der bedeutendsten, Eugène Carrière.

Er hielt keine Bekehrung, keine Umkehr für nötig. Er liess sich in seinem Glauben an das Licht als weltschöpferisches Agens nicht irre machen.

Aber während andere sich zum Licht, ihrer Gottheit, fast mehr wie Chemiker denn als Künstler verhielten und im Analysieren keine Grenze finden konnten, auch im Licht und in der Natur überhaupt sozusagen das Ding an sich der Kunst erblickten, sah Carrière in all dem nur Mittel, wollte Carrière nicht die Natur mit Haut und Haaren in die Kunst hineintragen, wollte er, wie eben auch die zur idealen Linie und zur idealen Farbe Bekehrten, weniger als die Natur und vor allem mehr als die Natur.

Das wollte er wie diese Bekehrten, nur mit andern Mitteln. Nicht mit den so lang verschmähten und fremd gewordenen Mitteln der idealen Linie und der idealen Farbe wollte ers, sondern mit den Mitteln, die das mühsam gewonnene technische Resultat der letzten Entwicklung waren.

Eine Reihe interessanter Künstler wären zu nennen, die sich ähnlich verhielten. Auf der letzten Pariser Ausstellung sah man ein Bild: nackte tanzende Mädchen am Strand. Dem ziemlich umfangreichen Gemälde sah man die Monet-Schule auf den ersten Blick an. Aber während die impressionistischen Lehrer nichts malen wollten als ihre naturalistischen Lichtstudien, benutzte dieser Schüler dieselben Studien bloss als Mittel und wob, was die andern für ein Verbrechen gehalten hätten, in Licht und Luft ein Traumgesicht persönlichster Art. Sein Bild übt auch den vollen Zauber der Poesie. Und die künstlerische Befriedigung über eine technisch so subtile Behandlung der Licht- und Luftprobleme gibt es uns obendrein. Es war gezeichnet Raphaël Collin.

Das Bild wäre gerade in dieser Duftigkeit, in dieser poetisch-leisen Wirkung eines schönen Traumes nicht möglich gewesen, ohne die Errungenschaften des Monet'schen Luminismus. Andere warfen diese Errungenschaften über den Haufen, wie Kinder ihr Spielzeug, um nur wieder anderem Spielzeug nachzulaufen. Das that Collin nicht. Das that noch weniger Eugène Carrière.

Der idealen Linie und der idealen Farbe der andern stellte er das ideale Licht zur Seite, eine Wahlvereinfachung der Lichtwirkung, und machte daraus sein eigenstes persönlichstes Instrument. Nicht zu alten Göttern braucht er sich zu wenden, da er das Zeug in sich fühlte, den neuen Götzen selber, der auf einmal verlassen zu werden drohte, zu einem wahren Gott zu verklären.

So blieb Carrière dem Licht als Darstellungsmittel treu und wurde damit die hervorstechende Künstlerindividualität, als die wir ihn kennen.

Selber wie ein Gott schied er das Licht von der Finsternis und liess aus dem Dunkel das Helle hervorgehen.

Nur mit Hilfe des Lichts gestaltet er seine Geschöpfe. Die Linie und die Farbe haben keinen Teil an ihnen. Sie sind Licht, nichts als Licht. Sie sind körperlos. Sie sind noch körperloser als die unleibhaftigsten Engel der Symbolisten.

Wer noch nichts von Carrière gesehen hätte, der möchte bei den letzten Sätzen einen Augenblick stark an Rembrandt gedacht haben und dann doch wieder stutzig geworden sein. Beides mit Recht. Carrière ist ganz zweifellos ein Verwandter Rembrandts. Und wie er auf manchen Bildern gewisse kärgliche Frauenköpfe und Kinderköpfe modelliert und gruppiert, erinnert er noch ganz besonders an Pieter de Hoch. Mit Rembrandt verknüpft ihn die Verwendung der Dunkelmassen zum Zweck der Vereinfachung und Reduktion des Ganzen auf das Wesentlichste und Wichtigste. Das ehemals so berühmte Clair-oscur, das in Lionardo seinen ersten geheimnisvollen Zauber übte, das dann in Correggio fast eine Art Vulgarisierung erfuhr und in Rembrandt eine echt nordisch-protestantische Verdüsterung annahm, erlebte in Carrière eine eigentümliche Wiedergeburt.

An Rembrandt denkt man bei Carrière in erster Linie. Allein es ist doch eine grosse Kluft zwischen dem Holländer und dem Franzosen. Abgesehen von der ausgiebigen Verwendung der Farbe bei Rembrandt, und einer sehr materiell wirkenden Farbe, machen seine Gestalten nichts weniger als einen geisterhaften Eindruck, sie wirken vielmehr durchaus mit gesunder und oft genug mit derber Körperlichkeit. In diesem Sinn haben sie nicht die geringste Verwandtschaft mit den Geschöpfen Carrierès.

Und noch weniger darf man bei Carrière an die groben Gegensatzwirkungen von Licht und Schatten bei Carravaggio und Ribera denken, die vor der grossen luministischen Evolution von Théodule Ribot virtuos wiedergeschaffen und neuerdings von Ferdinand Roybet noch übertrumpft wurden. Neben diesen Künstlern, die auf den ersten Blick die Erinnerung des siebzehnten Jahrhunderts vor uns heraufbeschwören, wirkt Carrière erst recht wie ein Ursprünglicher. Daneben lassen seine Geschöpfe oft genug, man muss das den Okkultisten zu geben, an Geisterspuk denken.

Etwas anderes ist es, ob gerade in dieser Art Wirkung Carrières Verdienst zu suchen ist. Es gibt heute in Deutschland gewisse Dichter – ich will keine Namen nennen – deren Verse das Gefühl erwecken, als ob einem vor den Augen Schleier niederwallten, perlschimmernde, silberglänzende, irisierende, opalisierende Schleier, hinter denen dann vielleicht sogar Gestalten auftauchen. Etwas wie eine dunkle Ahnung dieser Gestalten bekommt man wohl auch. Aber nicht mehr. Carrière gibt mehr, viel mehr. Er gibt wahrhafte Gesichte. Aber ein leiser Schleier ist auch immer davor. Und das verdriesst einen manchmal. Man möchte die Spinnwebe wegwischen können. Man wünschte, der Künstler hätte sie weggewischt.

Aber dieser Wunsch ist wohl sehr thöricht, es wäre dann am Ende auch das mit weggewischt worden, was wir einzig daran schätzen.

Durchaus gross und bewunderungswürdig ist Carrière, wo wirkliche Geister, Menschengeister, nervöse moderne Geister seine Aufgabe sind. Seine Dichterköpfe sind geniale Leistungen und ganz einzig in ihrer Art. Sie tragen auf der Stirne den Stempel ihres Jahrhunderts in schärferer Prägung als irgend ein Produkt dieser Zeit. Hier wirkt Carrière in Wahrheit überweltlich. Was kein Mensch in der That vermag durch alle Ewigkeit, hier scheint es in der Kunst verwirklicht, hier scheint alle Erdenhaftigkeit überwunden, alle Materie abgestreift zu sein.

Doch braucht man in all dem kein Mysterium und keinen Mystizismus und Spiritismus zu suchen. Carrière hat sich das Medium des Lichts so dienstbar gemacht, so zurecht geknetet, wenn man sich so ausdrücken darf, und er modelliert nun damit wie andere mit Thon. Die Plastik kommt dabei etwas zu kurz und noch mehr die Körperlichkeit, um so stärker wirkt das Geistige. Das ist das Geheimnis.

Die auffallende Verwandtschaft Carrières mit seinem genialen Kollegen der andern Fakultät, Auguste Rodin, kann wohl von niemand übersehen werden. Die einseitige Betonung des seelischen Ausdrucks bei dem einen entspricht der übermässigen Herauskehrung der Geste bei dem andern. Und wie sehr der Bildner Rodin mit Beleuchtungseffekten arbeitet, mehr als irgend ein Plastiker vor ihm, ist bekannt.

Unter den zeitgenössischen Malern steht Aman-Jean in nächster Nähe von Carrière. Er ist nicht so konsequent wie Carrière. Die Farbe lässt er auch nur ausserordentlich leise und nur in den diskretesten Tönen sprechen; aber der Linie, macht er keine geringen Zugeständnisse. Bei Aman-Jean wird man eher an Correggio als an Rembrandt erinnert. Er ist eine weibliche Natur. Die Anmut, die Zartheit, die Lieblichkeit sind seine Stärke. Neben ihm wirkt Carrière fast unheimlich. Doch kommt Carrière in diesem Vergleich nicht zu kurz. Er ist männlicher, stärker, einfacher und grösser. Er ist vor allem tiefer. Er schmeichelt weniger den Sinnen und reizt stärker den Geist.


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