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Malerische Skulptur

Le buste-survit à la Cité.
Théophile Gautier.

 

Raffaelli, in einer Aeusserung im Figaro, nennt die Malerei schlechtweg die Kunst des XIX. Jahrhunderts. Und andere, die nicht selber Maler waren, haben sich in dem gleichen Sinn ausgesprochen.

Der Satz ist unbestreitbar, wenn man ihn nicht mit Gewalt missverstehen will. Denn ohne Zweifel war die Malerei in hohem Grad auch die Kunst des fünfzehnten, des sechzehnten, des siebenzehnten Jahrhunderts. Der Satz ist anders zu verstehen. Sein Sinn ist viel radikaler. Er will eigentlich sagen, die Malerei sei die einzige Kunst des XIX. Jahrhunderts, Skulptur und Architektur kämen neben ihr kaum in Betracht. Und jedenfalls haben diese beiden nicht annähernd so bedeutende und eigentümliche Leistungen aufzuweisen als die Malerei. Kein Wunder, dass sie nicht mehr, wie in früheren Epochen, die Malerei auf ihrem Gebiet beeinflussen konnten.

Denn das geschah zeitweise sehr stark. Die Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts war ganz von architektonischen Gesetzen beherrscht, ihre ganze Kompositionsweise war architektonisch. Im sechzehnten Jahrhundert aber gesellte sich zum architektonischen Aufbau noch die Liniengebung und Formenbetonung der antiken Statue. Ja der Einfluss der Skulptur auf die Malerei wurde noch grösser, wurde zuletzt geradezu verhängnisvoll für die schwesterliche Kunst an der Wende des achtzehnten Jahrhunderts.

Im Gegensatz dazu bestand die Entwicklung der Malerei des XIX. Jahrhunderts in einer immer radikaleren Befreiung von unmalerischen Elementen und Einflüssen, von architektonischen, statuarischen und nicht zum wenigsten litterarischen. Ein immer klareres Besinnen auf ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Kräfte und Vermögen, ihre eigenen Mittel und Aufgaben, das war die Geschichte der Malerei von David bis auf Monet und Raffaelli, von Carstens bis auf Leibl und Slevogt.

Erst einmal war die Malerei mit so rein malerischem Charakter aufgetreten, im siebenzehnten Jahrhundert, und nicht umsonst gelten die grossen Meister jener Zeit, über die man in den Tagen des Cornelius die Achsel gezuckt hatte, gelten die Velasquez und Rembrandt heute für die grössten Maler aller Zeiten überhaupt.

Unmalerischer als je war die Malerei im Anfang des XIX. Jahrhunderts, und wahre Orgien feierte das formen- und linienlose Reinmalerische gegen das Ende desselben Zeitabschnittes.

Neben der Malerei hat es noch die Musik in dieser Zeit zu hoher Bedeutung gebracht. Und leicht Hesse sich nachweisen, oder vielmehr, es liegt ganz offenbar, dass diese beiden dominierenden Künste vom gleichen Geist oder Gesetz beherrscht waren, dass das Aufgeben der Linie und der festgeschlossenen Form in der Malerei und das Zurücktreten der Melodie in der Wagner'schen Musik ganz parallele Erscheinungen sind, die auf einen tiefliegenden geheimnisvollen Zusammenhang hinweisen. Doch das nur nebenbei. Was uns hier interessiert, ist der Einfluss der Malerei auf ihre Schwesterkunst, die Skulptur. Denn wenn früher die Skulptur in einem usurpatorischen Verhältnis zur Malerei gestanden, so hat sich in unserem Jahrhundert der Stiel radikal umgekehrt.

Ganz oberflächlich zeigt sich dies vielleicht schon in dem Verlangen nach farbiger Skulptur, in der wiederholt aufgetretenen Frage, ob man Statuen bemalen solle. Zur Zeit eines Genelli und Carstens hätte man umgekehrt sogar seinen Gemälden die Farbe am liebsten versagt.

Aber man kann am Ende sagen, dass das Verlangen nach farbigen Statuen mit dem Malerischen innerlich nichts zu thun hat. In der That wird, wenn nicht farbiger, so doch getönter Marmor am unbedingtesten von Adolf Hildebrand verlangt, also gerade von demjenigen deutschen Künstler, dem auch seine ausgesprochensten Gegner nicht nachsagen werden, dass er mit seiner statuarischen Kunst malerische Tendenzen verfolge. Wenn irgend ein Bildhauer heut noch streng bei der Stange bleibt, so ist es Hildebrand. Auch Klingers bekannte Bestrebungen gehen eigentlich nicht auf malerische Wirkung aus. Eine andere Errungenschaft macht sich hier geltend, eine Forderung, die gerade unter dem Einfluss rein malerischen Bemühens in Vergessenheit geraten war, die Forderung: dass das Kunstwerk ein Schmuck sein soll, dass das Kunstwerk nicht nur durch den Ausdruck, sondern schon durch sein Material, durch die Behandlung seines Materials schön sein soll. Auch Klinger, obwohl er von der Malerei herkommt, gehorcht in seinen Marmorwerken streng statuarischen Gesetzen. Klinger steht überhaupt, oder ich müsste mich sehr irren, stark unter dem Einfluss Hildebrands. Seine persönliche Begabung kam dem entgegen. Schon im Maler Klinger verriet sich dies. Man denke an sein Urteil des Paris.

Unter dem Einfluss malerischen Empfindens steht dagegen unbestreitbar das Schaffen des Münchner Bildhauers Maison. Und mit ihm wären gewisse andere deutsche und nordische Bildhauer anzuführen, deren Namen in Kunstzeitschriften viel genannt werden, deren Bedeutung überhaupt aber zweifelhaft ist. Ich möchte dafür auf einen hervorragenden Franzosen näher eingehen.

Mit August Rodin nenne ich unstreitig einen der Grössten in der heutigen Kunst. Das beweisen schon die heftigen Anfeindungen, die er zu erleiden hatte. Und dann hat man ihn oft genug einen neuen Michel Angelo genannt.

Dieser Titel nun war nicht geistreich. Solche Rückbenennungen sind schon so oft Lügen gestraft und in sich selber lächerlich geworden, dass man sich wundern muss, wie sie sich trotzdem immer wieder hervorwagen. Dagegen ist nichts zu machen. Die Armseligkeit der Sprache muss daran schuld sein oder der Leute, die sie handhaben.

Dennoch, Rodins künstlerisches Wesen wird damit auf einmal klar. Man braucht eben Michel Angelo nur zu nennen, und jeder fühlt sofort: Rodins Kunst ist eine andere, Rodin's Kunst will etwas anderes.

Und was sie will? Bewegung vor allem. Aeussere Bewegung und noch mehr innere Bewegung. Nicht die Form, sondern die Bewegung ist ihr das wichtigere, das primäre. Die Form mag man aus der Bewegung gar nur erraten. Die Form wird, in andern Fällen, nur gegeben, um einen innern Charakter, um eine Seele darzustellen.

Ich weiche nicht vom Thema ab, wenn ich hier einen Augenblick von Donatello rede. Dieser Bildhauer, im Gegensatz zu Michel Angelo, wetteifert mit den Malern, mit den innigen Malern des Quattrocento in der Darstellung des Seelischen, des Geistigen. Er war auch für mich immer ein halber Gotiker. Ich empfand ihn so, lange bevor ich wusste, dass er thatsächlich bei der Gotik in die Lehre gegangen ist. Und zwar war das seine zweite Lehre. Denn die Frucht seiner ersten Lehre, bei Andrea Pisano und Nanni di Bacco, sind die konventionellen und in wenigen Ausnahmen fast nichtssagenden Typen in den Nischen von Or San Michele. Erst später erlitt er den Einfluss eines nordischen Meisters, eines Meisters der gotischen Kunst, d'uno maestro nell' arte statuaria molto perito ... et di santissima vita, wie Ghiberti den geheimnisvollen Fremden charakterisiert. Und nun entstanden die Propheten des Campanile, die sich neben denen von Or San Michele so brutal ausnehmen, auf Grund deren aber Donatellos einzige Kunst der unübertrefflichen Charakteristik und des starken seelischen Ausdrucks, sich ausbildete, um dann rasch zu erstarken und sich zugleich zu verfeinern. Das ist Donatellos Zusammenhang mit der Gotik, die für das damalige Italien im Grossen und Ganzen bereits vollkommen überwunden war.

An jene derb naturalistischen Gestalten am Campanile aber erinnern manche Schöpfungen Rodins.

Und hier stossen wir auf den Schlüssel zu Rodins Wesen. Er ist der Gotik verwandter als der Renaissance.

Nur wenn man dies erkannt hat, kann man ihm gerecht werden. Seine Bürger von Calais, die sich auf ihrem Sockel wie in Verlegenheit aneinander drücken, scheinen direkt von einer Kathedrale heruntergestiegen zu sein. Man glaubt ihnen, dass sie Menschen jener Zeit sind, denn sie sind fast Skulpturen jener Zeit. Das ganze Werk erinnert, wie schon Roger Marx bemerkt hat, an einen mittelalterlichen Kalvarienberg. Und wer könnte bei Rodins Balzac an eine griechische Statue denken? Aber denken wird man etwa an die ältesten Gestalten der Kathedrale von Amiens. Blättert man in einem illustrierten Katalog zu Rodins Werk, z. B. in dem der letzten Pariser Ausstellung, so ist man erstaunt von der Menge gotischer Ungeheuer, die einem da wie alte Bekannte entgegengrüssen. Nur wenn man näher zusieht, gewahrt man die Täuschung und erkennt man, dass die Geschöpfe aus dem XIX. Jahrhundert doch eine andere Sprache reden als die aus dem dreizehnten, wenngleich ein verwandter Geist aus beiden spricht.

Denn nicht äusserlich ist die Verwandtschaft. Sie ist wirklich geistiger Natur. Rodin wurde sich ihrer auch nie bewusst. Mit Violet le Duc hat er nichts zu thun. Er hat mit keinen Nachahmern etwas zu thun.

Und er ist durchaus ein Kind seiner Zeit. Er ist durchaus ein Zeitgenosse von Wagner, von Monet und Begas, von Felicien Rops. Er ist der nächste geistige Vetter von Richard Wagner. Alle für und wider, die bei Wagner Geltung haben, lassen sich auf ihn anwenden, sind auf ihn angewandt worden. Und mit Monet zusammen hat er nicht aus blossem Zufall seine erste grosse Ausstellung im Frühjahr 1888 bei George Petit veranstaltet.

In Monets Bildern ist alles in Bewegung aufgelöst, in zitterndes Licht, und eine Bewegung zu erfassen, ihre Wirkung für den ganzen Körper festzustellen, eine Bewegung wiederzugeben bis in das Zucken des zitternden Fleisches, das ist Rodins Ehrgeiz. Monet und seine Schule haben aus der Malerei den letzten Rest dessen ausgetilgt, was Malerei und Skulptur gemeinsam haben können und fast immer gehabt haben. Und Rodin hat rein malerische Mittel und Aufgaben in die Skulptur hinübergenommen.

Nicht nur ist ihm die Bewegung, äussere und innere, wichtiger als die Form; in seiner Berechnung von Wirkungen spielen Licht und Schatten eine grössere Wirkung als ihnen je in der Plastik eingeräumt worden. In ihm hat das malerische Prinzip, nachdem es innerhalb seiner eigenen Domäne, nach den hitzigsten und hartnäckigsten Kämpfen endlich siegreich zum Durchbruch gekommen, auch auf dem Boden der Skulptur – das Wort Plastik vermeidet man hier lieber – Fuss gefasst und gleich mit einem Schlag unerhörte Eroberungen gemacht.

Und das ist es, worin Rodin mit der Gotik verwandt ist. Es ist das Malerische und das damit zusammenhängende Seelische seiner Kunst. Mehr malerisch als plastisch ist auch die gotische Skulptur. Und mehr malerisch als architektonisch ist die ganze Kathedrale, in ihrer Wirkung auf die Phantasie das gerade Gegenteil vom griechischen Tempel: keine »schöne Ordnung«, keine »klare Uebersichtlichkeit«, kein »ruhiges Ebenmass«, sondern ein Verblüffendes, Ungeheuerliches, ein Mysterium, in ihrer Masse einem vorsintflutlichen Mastodon gleich, erschreckend fast, und zugleich ins feinste und kleinste gegliedert wie ein Insekt, ein Wunder, aber ein Wunder aus der Apokalypse.

Und so ist die gotische Skulptur auch mehr seelisch als leiblich, auch mehr bewegt als ruhig, auch mehr symbolisch als klar, auch mehr Vision als Anschauung, auch mehr zum innern Auge sprechend als zum äussern. Das alles stimmt auf Rodin.

Muss man aber Rodin deswegen einen Anachronismus nennen? Ich glaube nicht. Man müsste denn unsere ganze Zeit einen Anachronismus schelten.

Die gotische Skulptur ist in manchem Betracht eine naturalistische Kunst, und Rodin wie Monet sind aus dem Naturalismus herausgewachsen. Aber die naturalistische Behandlung braucht den geistigen Gehalt nicht auszuschliessen; sie kann im Gegenteil hohe und höchste Ideen und Gefühle zum Ausdruck bringen. Die Maler des Quattrocento waren Naturalisten im Vergleich zu den Klassikern des sechzehnten Jahrhunderts, und die »gefühlsinnigen« alten Deutschen, Dürer miteingeschlossen, sind wiederum naturalistischer als alle Italiener. Zolas Romane sind zum Teil von wunderbaren Symbolen durchleuchtet, und auch der Naturalist Rodin könnte leicht zu den Symbolisten gezählt werden. Er ist es in einzelnen seiner Werke im bedenklichsten Sinn des Wortes.

Man kann mit Naturalismus eine gewisse künstlerische Armut bezeichnen. Im guten Sinn aber sind alle Künstler Naturalisten. Rodin äussert sich: Die Natur ist immer liebenswürdig. Und sie ist nie hässlich. Die Menschen nur entstellen sie durch ihre Auslegungen. An sich ist sie immer schön. Wir haben nur falsche und konventionelle Ideen von der Schönheit gefasst, die auf unsere Gewohnheiten und Sitten gegründet und ein Produkt unserer hochgepriesenen Zivilisation sind. Ein Mann in Hut und Frack und in Hosen eingeklemmt, eine geschnürte und gequetschte oder sonst durch sinnlose Kleider entstellte Frau: sie sind hässlich genug. Aber die nackte Form, was auch ihre Mängel sein mögen, kann nie hässlich sein, denn alles an ihr ist logisch und harmonisch auf Grund ewiger Zweckmässigkeit. Die Natur umfasst alles. Wirklich, man braucht keine Phantasie, um ein grosser Künstler zu sein. Man braucht nur die Natur anzusehen.

Die Worte könnten von Zola sein. Sie könnten aber auch von Goethe oder Dürer sein. Und aus dem Munde von Hans Thoma, den ja wohl auch niemand zu den »Naturalisten« zählt, habe ich sie fast gleichlautend vernommen. Alle Künstler lieben die Natur. Diese Liebe gehört zu ihrem Wesen. Sie macht sie erst zu dem was sie sind.

Die sogenannten Naturalisten werfen sich mit ihrer Liebe nur besonders gern auf gewisse Manifestationen der Natur, denen andere lieber ausweichen, die andere lieber übersehen. Was die wahren Naturalisten, was die wahrhaft sinnlichen Menschen aus der Natur weg haben möchten, nämlich alles was wir in unserer Beschränktheit oder der Beschränktheit unserer Sprache »hässlich« nennen, das lieben die »sogenannten« Naturalisten ganz besonders. Auf diese Liebe thun sie sich was zu gute.

Diese Liebe quillt aber vielleicht aus etwas ganz anderem als aus wahrem Naturalismus. Sie hängt vielleicht viel eher zusammen, im Zeitalter der Kathedrale wie im Zeitalter der Sozialdemokratie, mit gewissen ethischen und religiösen Forderungen, mit der christlichen Lehre vom Wert des Geringsten unter uns – deposuit potentes de sede et exaltavit humiles – mit dem geraden Gegenteil schöner Sinnlichkeit also, mit pessimistisch-lebensverneinenden Instinkttrübungen – wodurch sich denn der rasche Umschlag des »Naturalismus« zum Symbolismus sehr natürlich von selber erklärt.

Also es besteht eine ästhetische und eine ethische Verwandtschaft unserer Zeit mit der der Kathedralen, und Rodin hat dies in grandioser Weise dargethan.

Deutlich und klar spricht sich der Geist des Meisters aus in seinem Werk: Die gefallene Karyatide. Der Pariser Kritiker Arsène Alexandre hat über dieses Werk gesagt, die griechische Kunst habe die Karyatide in heiterer Ruhe dargestellt, lächelnd sogar unter ihrer Last; die moderne Kunst sehe in den Karyatiden menschliche Wesen. Ihre Arbeit scheine eine Strafe, und während sie diese Strafe erleiden, zeige ihr Gesicht müde, schmerzverzerrte Züge. »Rodin, der plastische Poet, geht noch weiter. Er drückt in ihnen die tiefe Traurigkeit aus, die auf den menschlichen Wesen in unserer Zeit lastet, und in einer plötzlichen Eingebung sieht er die Karyatide zu Boden gedrückt, erschöpft, unfähig den Stein länger zu tragen, und ihn dennoch tragend ...« Man sieht: im Handumdrehen wird aus einem tektonischen Glied antiker Architektur ein christliches Symbol, das höchste christliche Symbol, ein – qui tollit peccata mundi.

Das ist eben Rodins Stärke, dass er trotz allem gegenteiligen Anschein, tief in seiner Zeit wurzelt, mit allen Fasern seiner ehrlichen Natur, was nun freilich die nicht ahnen können, die überhaupt keine Wurzeln haben. Sie werden es aber schon ahnen, wenn sein Sieg endgiltig sein wird. Hintennach ahnen sie es immer. Das war schon so bei Wagner. Heut muss einer schon ganz dumm sein, wenn er nicht einsieht: dass Wagner ein ebenso naturgemässes Produkt des XIX. Jahrhunderts war, wie Mozart des achtzehnten, ja dass diese beiden Musiker den Charakter der beiden Zeitalter und Kulturen stärker und bestimmter aussprechen als irgend eine andere Erscheinung dies thut.

Ein Künstler kann selber über den Sinn seiner Zeit völlig im Unklaren sein, er muss ihn uns doch offenbaren, ob er will oder nicht.

Auch Rodins Werk ist eine wunderbare Aufklärung. Schmeichelhaft ist sie vielleicht nicht diese Aufklärung. Aber wenn wir Rodin deswegen zürnen, so sind wir wie die alten Juden, die ihre Propheten verfolgten. Wir sind keine Griechen. Wir sind entfernter von der griechischen Kultur als je. Wir sind eben so entfernt von der Kultur des achtzehnten Jahrhunderts. Unsere künstlerische Renaissance und unsere ethische Renaissance sind das Gegenteil von der grossen Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts. Wir sind keine Herrenmenschen. Wir sind Christen. Wir haben kein herrisches Wesen. Wir sind Beherrschte und fühlen uns wohl dabei. Wir preisen nicht die Schönheit, sondern die Demut.

Das alles kann eine Schmach sein, es kann auch ein Ruhm sein, ich lasse es ganz unentschieden. Es braucht ja keines von beiden zu sein.

Das alles aber steht geschrieben in Rodins Werk. Das ist die geistige Bedeutung dieses Thonkneters. Sein Werk ist ein Spiegel der Zeit.

Die ehrlichen Gegner Rodins, das sind auch die Gegner ihrer Zeit. Aber die meisten, die sich einst wider ihn empörten, das waren jene, die als Künstler und als Menschen eine schäbige Maske tragen ihr Leben lang, weil sie nicht einmal ein eigenes Gesicht haben; sie fürchteten für ihre »hübsche« Maske, die auch noch heute von der blöden Menge für ein lebendiges Gesicht gehalten wird. Rodin zeigt das wahre Gesicht der Zeit. Wenn die Zeit sich darin nicht gleich wieder erkannte, das war immer so. Und wenn sie die Maskenmännlein bequemer findet, das ist begreiflich.

* * *

Unser ablaufendes oder abgelaufenes Jahrhundert wird wohl mit Recht das Jahrhundert der Naturwissenschaften genannt. Und ihm allein eigen ist die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Historie. Die Anwendung dieser Methode auf die Geschichte und deren Verbindung mit praktischer Psychologie, als welche ebenfalls ein Zweig der Naturwissenschaft ist, haben die historische Wissenschaft und Kunst auf eine Höhe gebracht, die sie nur im Altertum und auch damals nur als Kunst erreicht hatte. In diesem Betracht kann nun freilich unsere Zeit nicht mehr recht mit der Zeit der Kathedralen verglichen werden.

Auch Rodin ist vor allem ein grosser Historiker. Hier liegt unbestreitbar seine grösste Bedeutung. Er ist es im modernsten Sinn des Wortes. Er ist Historiker nicht im alten Stil, kein Verfasser von feierlichen Staatsschriften in pomphaftem Pathos, wo die feierliche Aufputzung, das Arrangement, wichtiger sind als die Wahrheit, und die Lüge eine politische Tugend bedeuten kann. Solche Historiker sind die offiziellen und offiziösen Denkmallieferanten. Mit ihnen konnte Rodin nur schlecht konkurieren. Er hat natürlich überhaupt nicht mit ihnen konkuriert. Sie haben es sich nur eingebildet.

Auch ist Rodin kein Epiker wie Herodot oder Livius, oder wie die Reliefkünstler des Parthenon oder der sogenannten Nimrodgalerie, deren Handschriften im britischen Museum aufbewahrt werden. Rodin ist aber ein grosser Meister der Monographie, der modernen, der psychologischen Monographie. Mögen vielleicht wirklich alle seine übrigen Werke, wie manche meinen, von den begeisterten Freunden stark überschätzt werden; von seinen Büsten ist das nicht möglich. Ihnen ist ein unsterblicher Ruhm sicher. Sie gehören zu den lebendigsten Werken aller Kunst. Sie sagen mehr vom Menschen, vom Menschen im Allgemeinen wie von den Individuen, die sie darstellen, als die meisten plastischen Werke. Sie enthalten jedenfalls mehr vom geistigen Wesen der Menschheit, insbesonders der Menschheit unseres Jahrhunderts, als alle Denkmalstatuen dieser Zeit zusammen.

Rodins eigentümliche Begabung, die ihn als Plastiker für manche fragwürdig erscheinen lässt, seine überstarke Betonung der Bewegung vor der Form, der Seele vor dem Leib, der leidenschaftlichen oder auch nur gemütlichen Erregtheit und der charakteristischen Heftigkeit vor der schönen Ruhe, der schönen Linie, dazu seine Neigung über das rein Plastische hinweg zum Malerischen: diese ganz besondere Richtung seiner Natur wird zu einer ganz unbezweifelbaren künstlerischen Stärke, wenn es sich, wie in der Portraitbüste, darum handelt, das geistige Wesen des Menschen, besonders des spezifisch-geistigen Menschen darzustellen. Und nicht umsonst hat Rodin solche spezifisch geistige Menschen sich fast ausschliesslich zum Vorwurf genommen. Auch ist auf diesem engen und doch unendlich weiten Gebiet, aber auch nur auf diesem, die Aufgabe des Bildhauers kaum eine andere als die des Malers.

Unübertrefflich sind schon die paar Frauenköpfe, die man von Rodin kennt: z. B. jene Büste im Luxembourg mit den herausfordernden Lippen, die gleich stark von Sinnlichkeit reden wie von Geist, oder jener tief seelenvolle Frauenkopf, der aus dem rohen Block auftaucht wie ein schöner Traum aus der Nacht – »comme la beauté s'extraît de la matière«.

Sein wahres Genie aber in höchster Stärke zeigt Rodin vor allem in seinen männlichen Köpfen und Büsten.

Sie haben alle ein Gemeinsames. Immer ist das Modell genau darin enthalten, aber seine Linien, seine Züge haben durch Vereinfachung eine Grösse erhalten, die über das persönliche, das individuelle weit hinausgeht. Das ist ja so bei jedem wirklichen Kunstwerk. Es ist ein Resultat, das zum Wesen künstlerischen Schaffens gehört. Aber vor wenigen Werken der porträtierenden Kunst wird man eine so starke und deutliche Empfindung davon bekommen wie vor den Büsten von Rodin.

Ob er in Dalon die hartnäckige Energie des Talents, oder in Puvis de Chavannes den Künstlerstolz eines ruhigen grossen Willens; ob er in Oktave Mirbeau die fein ironische Ueberlegenheit eines modernen Satirikers, oder in Rochefort die bissige Bosheit und Unverschämtheit eines politischen Freibeuters und Glaubenslosen; ob er in Laurens die Vornehmheit und ernste Güte des ruhmgekrönten Künstlers, in Antonin Prouste den scharfen Verstand, oder in Falquière, dem Bildhauer der fleischlichen Grazie, eine überraschende Melancholie darstellt: nie bleibt er in seinem Ausdruck hinter dem zurück, was das Modell erwarten lässt, nie gibt er weniger Leben als das Leben selbst – und das will viel sagen.

Wenn man von Rodins Büsten und Köpfen redet, kann man wohl auch den Balzac heranziehen. Denn diese Statue scheint nur des Kopfes wegen dazu sein, dem der Körper als Sockel dient. Der Körper verschwindet unter der Kutte. Er ist noch summarischer behandelt als an altgotischen Statuen. Der Kopf allein scheint dem Bildner wichtig gewesen zu sein. Und es ist wirklich ein ausserordentlicher, bewunderungswürdiger, einziger Kopf, eine Art geniales Monstrum. So etwas an einer öffentlichen Statue auszudrücken war freilich noch nie einem Bildhauer in den Sinn gekommen. Der Kopf ist trotzig zurückgeworfen, die sinnlichen Nasenflügel beben; um die aufgeworfenen Lippen spielt eine furchtbare Ironie, und eine Mischung von Entsetzen und Rabelais'scher Tollheit liegt in dem tiefen Ausdruck des Auges, es ist wie ein Ewigkeitsblick in das Schauspiel der menschlichen Komödie.

Dieser Kopf wird bleiben. Er hat Leben genug für die Ewigkeit. Auch er macht den Eindruck, als sei er die Konzeption nicht eines Bildhauers, sondern eines genialen Malers, er erinnert fast an die Masken von Böcklin im Museum zu Basel. Aber immerhin, le buste survivra à la statue.


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