Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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Brief des Autors an Arnold Zipper

Lieber Arnold,

vielleicht, ja wahrscheinlich wird Dir dieser mein bescheidener Bericht über Deines Vaters und über Dein bescheidenes Leben in die Hand kommen. Es ist möglich, daß Du es aufgegeben hast, noch einmal mit mir in eine briefliche Verbindung zu gelangen, und daß Du Deine neue Existenz mit dem wahrscheinlich berechtigten Entschluß begonnen hast, nicht mehr an die Vergangenheit zu rühren. Dann wäre dieser Brief, den ich Dir eben schreibe, das einzige Zeichen meiner Freundschaft, das Du nach langer Zeit erhältst, und ein Zeichen meiner durch den vorliegenden Bericht keineswegs beendeten oder auch nur geschwächten Freundschaft. Denn ich habe, wie Du siehst, nachdem Du alles gelesen hast, unsere Freundschaft ebensowenig erschöpft wie Dein Schicksal. Ja, es schien mir, kaum hatte ich den letzten Punkt hinter das Geschriebene gesetzt, daß ich nicht zuviel, sondern viel eher zuwenig von Dir berichtet habe. Der Grund dafür scheint mir eben darin zu liegen, daß ich zwischen Dir und mir die Distanz nicht sehe, die zwischen Deinem Vater und mir vorhanden war. Vielleicht auch hatte ich die einigermaßen berechtigte Angst, ich müßte, wollte ich mehr von Dir schreiben, auch manches nicht Unwichtige von mir selbst erwähnen – und das hätte den Rahmen meiner Aufgabe sprengen können. Mit jener Klarheit Dich zu zeichnen, die allein aus der Distanz kommt, war mir, wie schon gesagt, nicht möglich. Doch schien mir das Leben Deines Vaters mit dem Deinigen so notwendig verbunden, daß ich, wollte ich Dich eliminieren, vieles hätte verschweigen müssen. Und beim Schriftsteller beginnt schon dort, wo er schweigt, die Lüge.

Dies alles mußte ich Dir direkt sagen, ins Gesicht gewissermaßen, obwohl immerhin die Gefahr besteht, daß Dich dieser Brief niemals erreichen wird. Ich fühlte die Notwendigkeit, mich bei Dir zu entschuldigen, nicht, weil ich Dein Leben zum Gegenstand meines Buches gemacht habe, sondern umgekehrt: weil ich zuwenig von Dir berichtet haben könnte. Du gehörst zu jenen Menschen, denen man nicht zu erklären braucht, was den Unterschied macht zwischen einer Indiskretion und einer exemplarischen Darstellung. Ich weiß also schon, daß Du, weit entfernt, Dich über dieses Buch zu ärgern, Dich darüber freuen wirst, in dem Maß, in dem Dir mein Versuch gelungen erscheinen wird: der Versuch, an zwei Menschen die Verschiedenheiten und die Ähnlichkeiten zweier Generationen so darzustellen, daß diese Darstellung nicht mehr als der private Bericht über zwei private Leben gelten kann. Denn so stark und, man kann sagen, so sonderbar auch die Individualität Deines Vaters war, seine Erscheinung war noch mehr typisch für die Generation unserer Väter, und ich habe die Hoffnung, daß mancher meiner Leser von unserem Alter im Herrn Zipper, zumindest in vielen Eigentümlichkeiten Zippers, seinen eigenen Vater erkennen wird, ebenso wie er sich selbst in Dir erkennen muß, wie ich mich selbst in Dir zu erkennen glaube. Ja, ich gestehe Dir, daß es mir manchmal scheint, ich könnte Du sein und selbst auf der Bühne des Varietés stehen und die vergeblichen Versuche machen, auf meiner Geige ein Spiel zu beginnen. Vielleicht, so denke ich, käme in dieser Art der regiemäßig verhinderten Produktion, über die das Publikum lacht, das traurige Verhältnis, das ich zum Publikum habe, besser zum Vorschein als durch die mühseligen Worte, durch die ich mich verständlich zu machen versuche, ebenso vergeblich, wie Du zu spielen. Dein Beruf hat eine gröbere, aber dafür auch eine deutlichere Symbolik. Er ist symbolisch für unsere Generation der Heimgekehrten, die man verhindert zu spielen: eine Rolle, eine Handlung, eine Geige. Wir werden uns nie verständlich machen, mein lieber Arnold, wie Dein Vater es noch konnte. Wir sind dezimiert. Wir sind zu wenige. Zu wenige für diese Welt, in der nichts anderes als das rein physische Gewicht der Masse den Durchbruch macht und nicht die geistige Energie einer Einheit.

Ich beglückwünsche Dich dennoch zu Deinem neuen Beruf. Versuche Du nur weiter, vergeblich zu spielen, wie ich nicht aufhören will, vergeblich zu schreiben. »Vergeblich«, das heißt: scheinbar vergeblich. Denn es gibt, wie Du selbst weißt, irgendwo eine Region, in der die Spuren unseres Spiels verzeichnet bleiben, unlesbar, aber auf eine merkwürdige Weise wirkungsvoll, wenn nicht jetzt, so nach Jahren, und wenn nicht nach Jahren, so nach Tausenden von Jahren. Man wird wahrscheinlich nicht wissen, ob ich geschrieben und Du gespielt hast oder umgekehrt. Aber in dem geistigen Gehalt der Atmosphäre, der stärker ist als ihr Gehalt an Elektrizität, wird ein fernes Echo Deines einen Geigentons schweben, neben dem ebenso fernen Echo eines Gedankens, den ich einmal habe niederschreiben dürfen. Und sicherlich wird die verfehlte Sehnsucht unserer ganzen Generation unsterblich bleiben, wie sie unerfüllt geblieben ist.

Ich begrüße Dich in alter Freundschaft

Joseph Roth


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