Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XIV

Ich fühlte niemals den Wunsch, Erna, die immer noch und gleichsam provisorisch am Theater spielte, auf der Bühne zu sehn. Ich könnte eher sagen, daß ich das Bedürfnis hatte, sie nicht in den Rollen zu beobachten, die ihr der Beruf zuteilte, sondern in den anderen, die sie sich selbst ausgesucht hatte und die sie am Tag besser spielte als die offiziellen am Abend und auf der Bühne. Zu einer natürlichen Geringschätzung des Theaters, von der ich glaube, daß sie mir angeboren ist, gesellte sich im Fall Erna die Furcht, ich könnte die Klarheit verlieren, mit der ich sie sah und durchschaute, die Furcht, daß ich, durch das Spiel der beruflichen Komödiantin verwirrt, dem der privaten verfallen müßte. Dieser Vorgang ist nicht selten. Er scheint mir, daß die Schauspieler und besonders die Schauspielerinnen sich einer moralischen Beurteilung entziehen, indem sie sich einer künstlerischen aussetzen, und daß sie, sooft ihnen jemand verfällt, in Liebe, Ergebenheit und Verehrung, sie ihre Eroberung nicht mit den ehrlichen, sozusagen primären Mitteln der Frau gemacht haben, sondern sie der Milde zu verdanken haben, mit der man zum Beispiel ihrer billigen Koketterie begegnet, in Anbetracht ihrer beruflichen Notwendigkeit, in manchen Augenblicken billig zu werden, um wirksam zu sein. Deshalb verzeihen wir eine Geschmacklosigkeit einer Frau von der Bühne eher als einer andern. Mancher Schauspielerin sehen wir, sogar wenn wir Moralisten sind, eine moralische Unzulänglichkeit nach. Und all das nicht etwa aus »Achtung vor der Kunst«, sondern aus einem unbewußten Respekt vor der Anstrengung, die es erfordern muß, sowohl der Menge zu gefallen als auch einen einzelnen nicht abzustoßen. Gegen Erna war ich voreingenommen. Aber weil ich wußte, daß jede Art von Urteilen, also auch Vorurteile mehr oder weniger gerecht sein können, und weil ich an die Gerechtigkeit meines Vorurteils glaubte, hielt ich es, trotz meiner Neugier und meiner Teilnahme an allem, was meinen Freund Arnold betraf, nicht mehr für nötig, mir über die Bühnenkünstlerin Erna ein Urteil zu bilden, das vielleicht günstiger ausgefallen wäre. Dennoch konnte ich eines Tages der Forderung Arnolds nicht widerstehen. Ich ging mit ihm ins Theater. Ich sah Erna in einer Rolle, in der sie dem Publikum gefiel. Es war ein gleichgültiges Stück, dessen Namen und Autor, ja, dessen Inhalt ich vergessen habe. Erna spielte die sogenannte unverstandene Frau eines braven philiströsen Mannes. Mich reizte schon der schamlose Vorwurf dieses Stückes. Denn abgesehen von der Billigkeit der Schablonen: unverstandene Frau und philiströser Mann, die meinen Geschmack langweilten, war mir der Eindruck, den die Argumente des Autors auf die Zuschauer machten, zu körperlich nahe und unangenehm, wie ihr Schweiß und ihr Geruch. Es ist, als wenn tatsächlich die Absonderung der menschlichen Körper abhängig wäre von dem mehr oder weniger künstlerischen oder geistigen Eindruck, den sie empfangen. Die Menschen lachen anders über einen groben als über einen feinen Witz. Die Träne, die eine Frau aus dem Volk über eine plumpe Tragik vergießt, hat eine gröbere Beschaffenheit als jene, die sie im Anblick einer echten, also stilleren Trauer verlieren könnte. In diesem Stück war Erna nun unmittelbar die Ursache der Stimmungen, die das Publikum beherrschten. Sie spielte ihre Rolle gewiß glaubhafter, als sie der Autor geschrieben hatte. Aber gerade weil sie so außerordentlich geeignet war, die plumpen Absichten eines plumpen Schriftstellers so zu verfeinern, daß sie fast wie künstlerische erschienen, erkannte ich die Erna aus dem Literatencafé, ertappte ich sie geradezu. Sie besaß etwa die Fähigkeiten einer geschickten Vorstadtmodistin, mit billigem Material nahezu vornehme Wirkungen im Schaufenster zu erzielen. Eine doppelte Möglichkeit zu gefallen. Die Leute sind von der Billigkeit des Stoffs angezogen und von dem falschen Beweis, daß er trotzdem vornehm sein kann.

Im Leben war Erna zart. Auf der Bühne erschien sie gebrechlich, aber mit Grazie. Im Leben war sie elastisch und widerstandsfähig. Im Spiel war sie spröde und hilflos. In der Gesellschaft von Männern benahm sie sich so, daß jeder sich mit ihr beschäftigen mußte, ja, daß jeder glaubte, sie hätte ihm ein Amt zugewiesen. Auf der Bühne sah sie so aus, als würden sie alle Männer verlassen, so, daß jeder männliche Gast im Parkett ihr zu Hilfe auf die Bühne hätte eilen mögen. Am Nachmittag sprach sie mit einer tiefen Stimme, die aus dem Herzen zu kommen schien. Am Abend mit einer hohen, hellen, die aus der Angst kam. Die wohlüberlegte Koketterie, mit der sie sich bei Tag klug und geistreich machte, verwandelte sich am Abend in eine andere, aus der eine edle, stille, demütige Einfalt kam. Sprach man mit ihr und kam die Rede auf einen ihr unangenehmen Gegenstand, so wich sie aus, mit der Elastizität eines Gummiballons, der scheinbar nachgibt und die Luft, das Material seines Widerstandes, verbergen kann, ohne sich merklich zu verändern. Spielte Erna aber, so schien es, daß sie sich mit einer wonnigen Ahnungslosigkeit gerade den Gefahren aussetzte, die sie am Tag so vorausschauend abzuwehren wußte. Man hatte Angst um sie. Man wollte ihr zurufen: Gehen Sie nicht! Sagen Sie das nicht! Nehmen Sie sich in acht! Lügen Sie ein bißchen! Ihr, die sich immer in acht nahm und die meistens log, nicht weil sie so viel zu verbergen hatte, sondern weil sie genau wußte, daß die Lüge reizvoller ist als die Wahrheit, auch wenn man diese kennt und jener nicht glaubt.

Trotz ihrer großen Fertigkeit schien es mir doch, als könnten auch andere – nicht nur ich, der ich sie kannte, sondern auch Kritiker zum Beispiel (vorausgesetzt, daß sie nur halb soviel von Frauen verstünden wie vom Theater) – erkennen, daß es einen unerklärlichen Widerspruch gab zwischen der Sprödigkeit, mit der sie jeden Augenblick zu zerbrechen drohte, und der schlangenhaften, gespannten, fast muskulösen Elastizität, mit der sie ihren Körper, ihre Arme, ihren Hals bewegte. Sie schlug die Augen im Dialog auf wie im Gebet. Aber es mußte doch schließlich auffallen, daß dieser Blick, der ewig zum Himmel gewandt war, auch wenn es im Text hieß: »Ein Glas Wasser, bitte!«, aus einer großen Gleichgültigkeit kam, aus der Seele eines Menschen, der den Himmel mit einem Gartenzaun verwechseln konnte. Man mußte doch hören, daß die Gabe, immer flehen zu können, die Fähigkeit des Betens ausschloß! Man mußte schließlich erkennen, daß diese Eleganz, die die Gattinnen der Fleischermeister betörte, aus einer Art didaktischer Überlegung kam und nicht zwecklos war wie das Spiel selbst, sondern es unterstützen und den Zuschauer belehren sollte.

Arnold saß, obwohl wir nahe genug der Bühne waren, mit dem Opernglas da, es schien eine natürliche Fortsetzung seiner Augen zu sein. »Sie ist nicht zufrieden«, sagte er mir, »wenn ich sie ohne Glas betrachte. Sie sagt, mein nacktes Auge könnte ihr Unglück bringen. Ich sehe nicht durchs Opernglas, um sie besser zu beobachten, sondern um ihr nicht mein Gesicht zu zeigen.«

Ich aber ahnte, ja, ich glaubte es zu wissen, daß Erna nicht das Auge fürchtete; daß es ihr daran lag, von Arnold deutlich gesehen zu werden, deutlich und unerreichbar, und seine Phantasie zu entzünden durch eine vorgetäuschte Nähe, die auf Distanz nicht zu verzichten brauchte. Auch erkannte ich wohl an Arnold, daß er litt, indem er so nahe sah, was ihm zu halten nicht möglich war.

Warum aber plagte sie ihn? Ich fand keine Antwort, ich finde sie auch heute nicht. Ich glaube, daß Erna von der Qual Arnolds lebte, daß sie den Schmerz des Liebenden brauchte wie andere Frauen den Liebenden allein. Es ist nicht wahr, daß es Frauen gibt, die zwecklos quälen. Sie brauchen die Qual des andern wie ein Heil- oder wie ein Schönheitsmittel. Auch glaube ich, daß die abergläubischen Methoden, deren sich Schauspielerinnen so gerne bedienen, nicht aus einer reinen Furcht kommen, sondern einen vernünftigen Grund haben und einen überlegten Zweck verhüllen, wie es der Aberglaube Ernas tat.


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