Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XIII

In der nächsten Saison gelang es Erna, eine kleine Anstellung an einem kleinen Theater in Breslau zu bekommen. Sie wußte genau, daß es nicht der Weg zum Ruhm war, sondern der Kampf gegen die Gefahr, den Willen zu verlieren. Sie wußte, daß sie Feindschaft, Neid, Bosheit, Entmunterung erwarteten und niemals ein Trost, niemals ein Wort, das ihr den Glauben wiedergeben würde, niemals eine Anerkennung, niemals die Liebe eines Mannes ohne Eigennutz. Deshalb willigte sie ein, daß Zipper sie begleite. Er, im ersten Jubel, fragte sie, ob sie seine Frau werden wolle.

Sie wollte.

Es war mir damals nicht verständlich. Er wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt, ohne ihre Liebe dafür zu verlangen. Es war mir unverständlich, daß eine Frau wie sie etwas kaufte, was sie umsonst hätte haben können. Später erkannte ich, daß sie für seine Treue, seine Arbeit, sein Leben und vielleicht sein Glück – denn er hätte auch glücklich werden können – ihm nicht so viel gab, wie er nahm. Denn seit Jahrhunderten leben die Männer in dem Wahn – und Dichter und Romanschriftsteller nähren ihn –, daß eine Frau immer das Höchste gebe, wenn sie sich gibt. Daher die fassungslose Haltung eines Mannes von Wert, wenn er entdeckt, daß seine Frau ihn mit einem Wertlosen betrogen hat. Daher die übertrieben schauderhafte Vorstellung, die man von dem Verlauf einer Hochzeitsnacht ohne Liebe hegt. Daher die Leichtigkeit einer »Verführung«. Daher der übertriebene Respekt vor den Casanovas.

Erna schätzte ihren Körper gering – wie viele Frauen. Sie schlief mit einem Mann, der ihr gleichgültig war, weil ihr die Liebe gleichgültig war. Es schien ihr besser, das erste Engagement als eine jung verheiratete Frau anzutreten. Es war zumindest originell. Es bedeutete etwas, wenn ein Mann ihr folgte, wenn Eifersucht sie umgab und sie doppelt begehrenswert machte. Sie hatte gar keine Illusionen. Sie hatte nur Verstand.

Arnold heiratete, und obwohl es eine Trauung vor dem Standesamt war und ihr keine Feier folgte; trug Frau Zipper doch nach vielen Jahren zum erstenmal wieder ihr schwarzes Flitterkleid. Ob sie die abgefallenen Flitter wieder in die roten Gläser schüttete? Ob das blaue Tintenfaß noch da war? Ob überhaupt die Kommode noch dort stand? – Das waren, ich erinnere mich, die Fragen, die mich bei Arnolds Trauung beschäftigten. Still und mit einer Feierlichkeit, die der Einfachheit der Zeremonie nicht entsprach, stand der alte Zipper da. Hatte er nicht selbst einmal gefragt, ob sie sich heiraten werden? Und siehe da, sie heirateten wirklich: sein Sohn und eine junge Schauspielerin. Merkwürdig war es nicht. Eine religiöse Zeremonie brauchte man nicht. Eine Feier war schließlich auch nur ein Vorurteil. Und der alte Zipper, der immer mit der Jugend ging, sagte wiederholt, daß ihm das Geld leid sei, das seine eigene Hochzeit gekostet hatte.

Wovon Arnold leben wollte, wußte man nicht. Zipper trieb noch Geld für ihn auf – ob er es gespart oder geliehen hatte, blieb ungewiß. Dann fuhr Arnold nach Breslau.

Ich verlor ihn aus den Augen, ich hörte wenig von ihm. Ich weiß nicht, wovon er gelebt hat, er muß schwer gearbeitet haben. Er folgte seiner Frau in den nächsten zwei Jahren in viele Provinzstädte. Endlich gelang es ihr, Verbindung zu Filmleuten herzustellen. Zipper und seine Frau kamen nach Berlin.

Es ging zu langsam mit dem Theater. Es mußte im Film schneller gehn. Denn das Theater hatte viele Zentren, der Film nur ein einziges: Hollywood. Dort hinzukommen, Geld zu haben, Ruhm und Macht!

Es war für Erna mehr ein Triumph als ein Erfolg, als sie durch einen Film, »Der ewige Schatten« – in dem sie nur eine Nebenrolle spielte –, der Presse so aufgefallen war, daß man sie mehr lobte als die Trägerin der Hauptrolle.

Jetzt erst begann ihre Arbeit. Denn die Stimmen der Presse waren damals für die Maßgebenden der »Branche« keine Urteile, sondern ein Gegendienst für Inserate. Für Erna hatten die Kritiken immerhin den Wert, daß ihr Name den ersten schüchternen Klang bekam und die ersten Konturen einer Physiognomie. Mit der Gewandtheit, die ihr angeboren war, begann sie, an ihrer Karriere zu arbeiten.

Sie hatte es beim Film vorläufig mit Menschen zu tun, die ihrem Vater glichen: kleine Bürger mit großen Redensarten. Es waren die Inflationsjahre der Filmindustrie. Da waren sie herbeigekommen aus allen Branchen, aus allen Randgebieten, aus allen Provinzen: die von der Manufaktur und die vom Gastgewerbe, die aus den Drogerien und die von der Photographie, die aus den Modesalons und die von den Rennpferden, die Buchmacher und die Journalisten, die Reisenden von der Konfektion und die Hofphotographen, die Offiziere außer Dienst und die Gelegenheitsverdiener, die aus Kattowitz und die aus Budapest, die aus Galizien und aus Breslau, aus Berlin und der Slowakei. Der Film war ein Kalifornien. Alte Börsenmakler aus Czernowitz setzten sich mit deutschnationalen Großindustriellen zusammen und erfanden patriotische Filme. Reisende in Lampenschirmen rasten in den Ateliers herum, brüllten Mechaniker an und nannten sich Beleuchtungskünstler. Mittelmäßige Porträtzeichner wurden Architekten. Studenten, die akademische Dilettantenklubs geleitet hatten, wurden Hilfsregisseure. Gehilfen, die aus Möbellagern ausgeschieden waren, wurden Ausstattungskünstler, Photographen hießen Aufnahmeleiter, Devisenhändler Direktoren, Polizeispitzel »Kriminalfachmänner«, geschickte Dachdecker »Bautenarrangeure«, und alle, die kurzsichtig waren, Sekretäre. Mancher schlaue Wechselstubenbesitzer machte sich selbständig, mietete ein Büro in der Friedrichstraße und nannte es »Direktion«, einen Winkel am Tempelhofer Feld und nannte es »Atelier«, verfaßte selbst seine Filme und war ein Autor, befahl einer Dilettantin zu weinen und ihrem Partner zu poltern und war ein Regisseur, leimte Pappendeckel zusammen und war ein Architekt, zündete ein Magnesiumlicht an und war ein Beleuchtungskünstler. Da war er und blieb er, selbst ist der Mann.

Zigarrenhändler eröffneten Kinos, ab sieben Uhr abends nach Geschäftsschluß, verkauften dreimal soviel Karten, als sie Plätze im Saal hatten. Wenig Plätze aber zählte der Saal, weil sie so viel falschen Marmor angebracht hatten, kubistische Logen und expressionistische Brüstungen. Die Intellektuellen warben nur mit seltenem Glück um die Beherrscher des Marktes und der Ateliers. Hier und dort gelang es einem, alle fingierten Konferenzen zu überstehen, während derer man ihn nicht empfing, alle Stenotypistinnen durch Liebe zu erweichen, die wie Hunde vor den Kanzleien ihrer Brotgeber saßen und bellten, alle Sekretäre zu überlisten, die ihm übelwollten, weil sie um ihr Brot zitterten, und schließlich die eigenen Hemmungen zu überwinden, um dem und jenem die Hand zu drücken und »sich umzustellen« – wie man damals sagte. Trotzdem hatten sie in der Branche nur eine Stimme, aber kein Wort, was verstanden sie vom Geschäft, vom Publikum, von Amerika?

Statistinnen opferten ihre Jungfernschaft für das vage Versprechen eines Hilfsregisseurs dritter Klasse, aus ihnen eine »Diva« zu machen. Neben den weißen Himmelbetten der Backfische bürgerlicher Häuser hingen die Ansichtskartenporträts der Lieblinge, eigenhändig von ihnen unterschrieben am Tage einer Premiere. Um die Schönheiten der Welt authentisch in spannende Begebenheiten zu flechten, machten Filmkarawanen weite Reisen, zu Maharadschas, Geishas, Toreros und Fakiren. Aktiengesellschaften fielen in Trümmer, und neue waren auferstanden. Direktoren sanken zu Statisten, und Statisten stiegen zu Stars.

Es war eine Welt für schlaue Menschen, es war eine Welt für Erna. Das war nicht mehr das Provinztheater mit den belesenen Sekretären, mit den empfindlichen ungebildeten Regisseuren, den bedächtigen und furchtsamen und bedürftigen Direktoren, da war nicht mehr die ewige Furcht vor dem »Schließen« – sondern im Gegenteil: die ewige festliche Aufregung des Eröffnens. Beim Theater war es ein besonderes Glück, wenn der Regisseur etwas konnte und noch nicht in Berlin war, wenn er sie von Herzen liebte und noch nicht mit ihr geschlafen hatte und wenn er, nach drei Liebesstunden, immer noch überzeugt war, daß sie »Zukunft« habe. Beim Theater, das zu sterben anfing, nutzte ihr keine Klugheit. Hier gab es keine Taktik, alle Kraft war verschwendet, jede Umarmung, jedes Kokettieren mit dem Theateragenten, jedes falsche Schmeichelwort, das man dem Direktor gab, jede feine Intrige, die man gegen eine Kollegin spann, jede hervorragende Szene, die man »hinlegte«, jeder Blumenstrauß, den man sich schicken ließ. Beim Film dagegen war alles neu, es roch nach Lack, es gab noch keine Tradition im »Ausstechen«, »Hereinlegen«, »Zerspringenlassen«, »Dingedrehn«, »Chosendeichseln« – alle Traditionen waren der Theaterwelt entlehnt und noch nicht genügend der Branche angepaßt. Zwar galt hier ein Wort noch weniger, eine Verabredung war ein Witz, eine Unterschrift ein »Wennschon«, ein Versprechen ein »Hereinfall« und ein Vertrag ein »Dreh«. Aber der Argwohn weckte Respekt, Schlauheit Achtung, Beziehungen erregten Furcht, und in einem ewigen Wechsel sich zu halten war leichter als in einem ständigen langsamen und sichern Sterben. Wenn man das Leben so genau und bitter sah wie Erna, konnte man beim Film leichter eine »Position« erringen als beim Theater.

Der kleinbürgerlichen Primitivität der Branche-Männer galt es zu imponieren: Durch Schönheit? – Sie hatten einen merkwürdigen Geschmack. Durch gespielten Adel der Seele? – Sie wußten nicht, was es ist. Durch einen vornehmen Ton? – Sie überhörten ihn im Lärm, den sie selbst erzeugten. Durch kuriose Allüren? – Sie ahmten sie nach. Durch ein Verhältnis mit einer »Kapazität«? – Das gab es schon. Durch Ausschweifung? – Das war zu leicht verständlich. Durch Talent? – Das hatte jede. Es gab einen Ausweg: alle Mittel zu mischen, zu komponieren und sie je nach Bedarf anzuwenden – und – was niemals schaden konnte – ein wenig »pervers« zu werden. Es hielt die unerträglichen langweiligen Männer fern und gab immer einen Gesprächsstoff. Schließlich führte es so weit vom elterlichen Haus weg, von der Mutter, vom Vater, vom eigenen Blut, daß man fast sicher war, nie mehr in die eigene Vergangenheit zurückzufallen.

So bekam Erna eine Freundin, zwei, drei Freundinnen.

Frühere Heiratsvermittler, die zu der Branche gekommen waren, ehe sie selbst wußten, warum, schüttelten den Kopf und erwogen in Gedanken, wie eine so hübsche Frau zur Normalität bekehrt werden könnte. Im Grunde überlegten es alle Männer, sogar die Intellektuellen, die ja mit der Erscheinung vertraut waren. Ihnen gefiel Erna ausgezeichnet. Ihnen gefiel diese Koketterie, die doch an Männer nutzlos verschwendet zu werden schien und eben deshalb die Männer reizte; diese Klugheit, die den schwierigen Gedanken folgen konnte; diese kollegiale Einfachheit, die keine Mühe machte; diese Grazie, die so krank und verloren war; dieses »außergewöhnliche Talent«, dem der »ungewöhnliche Intellekt« nicht schadete, diese ewige Bereitschaft Ernas, sich hinzugeben – aber keinem Mann; die Aussichtslosigkeit, ihr gefallen zu können, und das Bedürfnis, das sie verriet, trotzdem umworben zu werden. Man schätzte sie hoch, wie alles Unerreichbare, vor das die Natur selbst Schranken gelegt hat.

War Erna mit Geschäftsleuten von der Branche zusammen, so benahm sie sich anders: sie machte die Intellektuellen lächerlich und ihre »Weltfremdheit«. Sie gab zu erkennen, daß diese Zeit Männer der Tat brauche und daß Geldmachen eine größere Kunst sei als Theaterspielen. Sie schwärmte von Amerika und erzählte, daß sie schon als Kind dort gewesen sei. Sie verbreitete Legenden über ihre armselige Abstammung und behauptete, so viel Geld verdienen zu müssen, weil sie noch Eltern und Geschwister auszuhalten habe, die im dunkelsten Stadtteil von Wien lebten. Das hinderte sie freilich nicht, ungarische Grafen zu kennen. Sie verlor keinen Augenblick die Überlegenheit eines Künstlers, obwohl sie vorgab, Talent nicht zu schätzen, am wenigsten ihr eigenes. Sie benahm sich wie ein Aristokrat, der keine Vorurteile zu kennen vorgibt, unter Bürgern, die ihn verehren – nicht, weil er keine Vorurteile hat, sondern weil er ein Aristokrat ist, der keine hat.

Sie sprach von oben herab und von gleich zu gleich.

»Sie ist charmant!« sagte Herr Prinz von der Alga GmbH.

»Ob sie charmant ist!« bestätigte der Herr Direktor Natanson.

Und beide luden sie – ohne daß einer vom andern wußte – zu einer Spazierfahrt ein.

Sie ging mit einem, sie ging mit dem andern, ließ jeden von ihnen ihre scheinbare schüchterne Wehrlosigkeit auskosten, jeden die Hoffnung hegen, daß er und gerade er sie zu einem »normalen Leben« zurückzuführen imstande wäre, wenn dieser ersten Fahrt ein paar noch intimere folgen könnten, und bekam von beiden Angebote.

Kleine Rollen übernahm sie nicht mehr. Dem bedeutenden Rechtsanwalt – dem sie vorläufig nichts zahlte – vertraute sie ihre Geschäfte an. Sie ließ Regisseure warten, lernte reiten, fechten, schwimmen, klettern, springen, Akrobatik am Trapez – alles, was man für den Wilden Westen von Hollywood braucht. Sie wurde manchmal plötzlich krank, erlitt Unfälle, lud jeden Mittwoch maßgebende Männer ein, nahm einen Sekretär auf und nur wenig Einladungen, kaufte Buddhas bei Antiquitätenhändlern, wurde in illustrierten Blättern reproduziert, gab »grundsätzlich« kein Interview, flog im Aeroplan, statt in der Eisenbahn zu fahren, setzte sich wirklichen Gefahren aus, um berühmt zu werden, unterstützte Streikkomitees, trug radikale Gedichte vor, nannte Menschen, die sie geringschätzte, Genossen, ließ sich aber auch mit hohen Offizieren bekannt machen und »konnte auch sie verstehen«, erreichte schließlich, daß man ihr hohe Gagen zahlte, und machte Schulden, hatte Erfolg, Ehren und alle Vorteile, welche die Kunst zu imponieren einbringt.

Sie begann, nach Hollywood Fäden zu spinnen.


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