Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XXI

Am nächsten Vormittag begegnete ich einem gemeinsamen Freund von Arnold und mir, dem Eduard P.

Hager und leise, immer in der Nähe der Wände und der Straßenränder, niemals in der Mitte eines Raumes wandelnd, erinnerte P. an einen Schatten, der sich von seinem Körper frei gemacht hat, nie mehr nach ihm sucht und auf ein körperliches Dasein verzichtet hat. Er wandelt nicht nur an den Rändern der Straße, sondern auch an den Rändern der Ereignisse. Er säumte sie ein gewissermaßen. Von außen her und als gehörte er nicht zu dieser Welt, nahm er Stellung zu ihr und ihren Vorgängen.

Zwar tat er es mit Leidenschaft. Zwar konnte er sich über Häßliches aufregen, Mittelmäßiges verachten, Schönes bewundern. Aber selbst dann war er eher ein eifernder Geist als ein eifernder Mensch, seine Leidenschaft kam aus dem Jenseits, das Maß, das er an die Menschen und ihre Taten anlegte, war kein irdisches und sein Urteil infolgedessen ungerecht. Er hatte eine himmlische oder eine höllische, jedenfalls keine menschliche Gerechtigkeit. Von allen Menschen, die ich kannte, scheint er am ehesten begabt, die unverständlichen Schicksale, die aus unbekannten Händen verschüttet werden, zu begreifen.

Er kam aus dem Kaffeehaus der Literaten und Künstler, auch er. Aber dort war er nicht Gast wie alle andern, sondern eine Art Geist des Hauses, ein Gespenst vielleicht, die Seele eines längst verschollenen Schriftstellers, der keine Bücher hinterlassen hatte und der in einem Kreis mit dem Jenseits vertrauter Leute keine Veranlassung fand, nach üblicher Gespenstermanier zu spuken, sondern Grund hatte, sich mit ihnen menschlich zu unterhalten. Er las keine Bücher, er besuchte kein Theater, aber er wußte, was geschrieben und was gespielt wurde. Er gab keine Urteile ab, es schien ihm leichtsinnig oder auch zu geringschätzig, ein Urteil über ein einzelnes Werk abzugeben. Er wies jeder Erscheinung ihren Platz im Jahrhundert an, und von dem Gipfel aus, von dem man auf drei oder sechs Jahrtausende herabschaut, sprach er über ein winziges Buch, das in einem kleinen Schublädchen seines Jahrzehnts seinen Platz und sein Vergessen gefunden hatte.

Ich erinnerte mich, daß ich P. immer gemieden hatte aus Angst vor der Höhe, auf der er sich befand und von der es eisig auf mich herabwehte. Schließlich lebt man, ist jung, hat Hoffnungen, möchte zwar ewig dasein, fühlt sich aber dennoch glücklich innerhalb des beschränkten Himmelsrunds, das über ein paar Jahrzehnte menschlichen Lebens gestülpt ist, und will am liebsten nichts wissen von der Geringfügigkeit, der Bedeutungslosigkeit eines Worts, das man spricht, einer Handlung, die man begeht, eines Schmerzes, den man erleidet. Es war, wenn man mit P. sprach, als blickte man in die Milchstraße und erlebte an hunderttausend Sonnen und an Millionen Planeten das Schicksal, das unserer Sonne und unserer Erde einmal beschieden ist. Seine Unerbittlichkeit war nicht hart und nicht grausam, denn man fühlte, daß sie notwendig war. Aber man mußte wahrscheinlich sehr alt geworden sein, um mit P. überhaupt sprechen zu können.

P. hatte noch niemals diese Stadt verlassen. Er war krank, er war auch nicht in den Krieg gegangen, er wartete auf den Tod. Da es feststand, daß er sterben würde, wunderte man sich immer darüber, daß er noch lebte. Manche nahmen es ihm übel, daß er sein Wort nicht hielt. Vielleicht hatten sie Angst vor ihm wie ich.

Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, daß er den alten Zipper überleben würde. Denn obwohl Zipper weit älter war, so schien er mir doch wegen all seiner sonderbaren Eigenschaften eine Ewigkeit dauern zu sollen. Es war, als stünde der alte Zipper nicht im gewöhnlichen Leben, sondern in einer anderen, dem Verderb und dem Untergang nicht unterworfenen Abteilung des Lebens, während der junge Eduard P., obwohl schon ein Geist, dennoch als Körper ein schwächliches Mitglied dieser Welt war, über die der Tod stündlich ausgeschüttet wird wie Schnee im Winter.

»Ich habe heute in der Zeitung gesehen«, sagte P., »daß der alte Zipper gestorben ist. Haben Sie ihn gekannt? Er war ein Tartarin eines bestimmten Wiener Bezirks. Ein Ausbund von liberalem Kleinbürgertum, ein Spießer, den ich verabscheut hätte, wenn nicht sein konfuser Kopf seine Entschuldigung gewesen wäre.«

»Wissen Sie vielleicht, wo Arnold ist?«

»Ah, Sie kennen nicht Arnolds Schicksal? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie immer gesagt, das Leben sei niemals so inkonsequent wie die Schriftsteller. Wenn ich mich erinnere, war es der Text Ihrer Predigt im Kaffeehaus am Abend, in der ›Roten Ecke‹ auf dem Sofa: es sei Aufgabe des Autors, abzuschreiben, was er sehe. Hab ich mir's gemerkt? Wenn Sie nun ein Romanschriftsteller aus der guten alten Schule wären, dann hätten Sie einen ausgezeichneten Stoff: Arnolds Leben. Sie wissen, daß er mit Erna in Monte Carlo von täglichen Gewinsten gelebt hat. Ist das nicht romanhaft genug? Nun, warten Sie! Dieser schlauen Erna (auf die Sie auch einmal hereingefallen waren, Sie auch) gelingt es, von Nizza aus, wo sie einen Filmamerikaner kennenlernt, nach Hollywood zu gelangen. Wahrscheinlich haben Sie schon ihren letzten Film gesehen. Eine ausgezeichnete Rolle. Das ist endlich die gute Schauspielerin ohne eine Spur von Talent. An dem Tag, an dem die Frau aus Monte Carlo abreist, fängt Arnold an zu verlieren. Er muß leben. Aber was hat er gelernt? Sein Vater hat ihn zu einem Genie erzogen, wie mein Vater mich – aber mir hat es nicht geschadet, weil ich ohnehin lebensunfähig bin. Arnold hat seinem Vater nur ein einziges Handwerk zu verdanken: er spielt, wie Sie noch wissen, Geige und Klavier. Was macht man in diesem Fall? Sie erinnern sich vielleicht noch, wie Arnold spielte? Kein gottbegnadeter Künstler selbstverständlich! Aber ›es geht zum Herzen‹, hätte der alte Zipper gesagt. Vielleicht hätte er doch ein Musiker werden sollen. Erinnern Sie sich, was für ein herrlicher Kiebitz das war? Wie er immer an unserem Tisch gesessen ist und geschwiegen hat? Na, Nebensache, kommen wir zu Ihrem Roman.

Arnold ging also in ein Musikcafé, man brauchte keinen Klavierspieler, aber einen ersten Geiger. Einmal am Abend, Solostück, mit Klavierbegleitung. Ave Maria oder so was. Sie kennen diese Pausen der Andacht, wenn die Leute von Welt verlegen werden und die kleinen Bürger andächtig. Haben Sie schon bemerkt, wie die Leute ihren Kaffee schlürfen, beim Solo? Dann klatschen einige und verlangen zum Ärger der Menschen von Welt noch ein Stück. Der Sologeiger verneigt sich. Er spielt nicht mehr. Er wird nicht für zwei Solos bezahlt. Aber der Kapellmeister gibt ihm einen Wink. Da steht er auf und fängt wieder an. Und nach dem zweiten klatscht man nicht mehr. Das ist selbst dem kleinen Bürger zuviel. Also setzt sich der Solist hin, ein wenig verprügelt.

So ein Solist war also Zipper.

Es wird aber noch romanhafter. – Kommen Sie, wir müssen einen Kaffee trinken, ich kann nicht mehr so viel sprechen. Der alte Johann, der Markör, ist zum ersten Male seit vierzig Jahren in Urlaub gefahren. Ich habe also keinen Kredit. Sie laden mich aber ein.«

Im Kaffeehaus erzählte P. weiter:

»Eines Abends kommt der berühmte Clown Lock nach Nizza ins Café, gerade zum Solo. In der Pause geht er zu Arnold hin und engagiert ihn als Partner. Nun ist Arnold ein echter Musikant. Ich wußte nie, wo ich sein Gesicht hintun sollte. Jetzt weiß ich es: es gehört unbedingt in ein Varieté.«

P. zog eine Brieftasche und entnahm ihr eine Photographie. Es war Arnold. Er trug Pumphosen und ein schmales Jackett und einen hellen steifen Hut mit breiter Schärpe.

»Ein echter Habig!« rief ich aus.

»Oh, sehen Sie!« sprach P. weiter. »Sehen Sie dieses Gesicht! Dieses Gesicht hat zwanzigtausend Ohrfeigen bekommen. Es hat eine hündische Trauer. Es ist so traurig, weil es nicht erzählen kann, wie traurig es ist. Denken Sie an seinen Auftritt. Er kommt auf die Bühne, ahnungslos, er weiß nicht, daß im Parkett das Publikum sitzt. Er ist ein Trottel, er sieht aus wie einer, der nur Essen und Trinken nötig hat, um frohgelaunt zu sein. Er will ein Stück auf der Geige spielen. Aber sobald er spielen will, kommt ein anderer Clown, ein selbstbewußter, auch ein Narr, aber ein Narr mit Ambitionen, ein Narr, der bereits weiß, daß es ein Publikum gibt, einen Direktor, eine Gage. Dieser kluge Narr gibt unserm Arnold eine Ohrfeige. Arnold hatte gerade zwei Bogenstriche gemacht. Aber diese zwei Töne, die er noch hervorbringt, bevor es der andere merkt, sind so klar, so himmlisch, daß es jedem Zuhörer leid tut, daß Arnold nicht weiterspielt. Kennen Sie das? Natürlich. Sie haben es schon gesehen, und nun wissen Sie, daß Arnolds musikalisches Talent gerade noch dazu reicht, diese zwei Töne himmlisch zu spielen.

Das ist der Roman!«

»Ich sehe«, sagte ich, »nichts Romanhaftes darin. – Selbst wenn ich das Leben Arnolds schreiben würde, wäre es kein Roman in diesem Sinn. Ich muß Ihnen übrigens den Vorwurf machen, daß mir dieser Schluß ein bißchen gewollt vorkommt. Ich würde Arnold im Kaffeehaus Sologeiger bleiben lassen. Ich würde ihn auch nicht gesondert von seinem Vater behandeln können.«

»Da haben Sie recht!« rief P. »Die Zippers gehören zusammen. Betrachten Sie diesen Vater. Er ist an Arnolds Unglück schuld, für den Fall, daß Arnold immer noch unglücklich ist. (Aber das wäre Nebensache.) Alle unsere Väter sind an unserem Unglück schuld. Das sind die Väter der Generation, die den Krieg gemacht hat. Sie haben ihre Uhrketten, ihre Eheringe für Eisen gegeben. Ach, was waren sie für Patrioten! Meinem Vater hat nichts so leid getan wie meine Krankheit, die mich gehindert hat, in den Krieg zu gehen. Erinnern Sie sich nur: wer hat im Sommer 1914 vor der serbischen Gesandtschaft protestiert: wir oder unsere Väter? Wer hat die Feinde – allerdings im Kasino – ›umzingelt‹? Am Nachmittag, beim Sechsundsechzig? Sie sind wie ein Ochs verladen worden, und Ihr Vater hat der Mutter gesagt: ›Eine jede Kugel trifft ja nicht.‹ Wenn Ihr Vater auch eingerückt ist, hat er höchstens eine Brücke bei Floridsdorf bewacht.

Erinnern Sie sich nur: Sie kamen zurück, die unseligste aller Generationen der Neuzeit. Was war geschehen? Ihr Vater hat Zeit gehabt, neue Kinder zu zeugen, mit den Mädchen, die eigentlich für Sie bestimmt waren. Kaum waren Sie zu Hause, da saßen die Väter schon wieder dort, wo sie den Krieg angefangen hatten. Sie machten die Zeitungen, die öffentliche Meinung, die Friedensschlüsse, die Politik. Sie, die Jungen, waren tausendmal gescheiter, aber müde, halbtot, sie mußten ausruhen. Sie hatten nicht, wovon zu leben. Es war gleichgültig, ob Sie gefallen oder heimgekehrt waren. Und wohin waren Sie heimgekehrt? – In Ihre Elternhäuser!

Erinnern Sie sich an diese schauderhaften Elternhäuser! Haben Sie jemals die Bibliothek der Zippers gesehn? Ich habe oft mit den Bänden gespielt. Da waren drei prachtgebundene Jahrgänge ›Moderne Zeit‹, das ›Deutsche Knabenbuch‹, ›Der Trompeter von Säckingen‹ – welch eine Literatur! Erinnern Sie sich an die Kommode? Wir haben zu Hause eine ähnliche. Wenn ich ein Meter von ihr entfernt bin, fürchte ich mich schon vor ihren Kanten. Welch lebensgefährliche Möbel! Welch klirrender Hängeleuchter mit elektrisch beleuchteten Kerzen aus Porzellan, aber gedreht wie Wachs! Diese Kalender, die jedes neue Jahr vor den Schreibtisch gehängt wurden! Und diese abonnierten Blätter mit den Leitartikeln. Mein Vater kann heute noch nicht einschlafen, wenn er nicht weiß, was – ›Er‹ gesagt hat. ›Er‹ ist das absolute Er hinter dem Leitartikel. ›Er‹ ist dort, wo man alles weiß, ›Er‹ ist im Grunde genau so ein törichter kleiner Bürger wie sein Leser.

Arnold ist der junge Mann der Kriegsgeneration. (Kommen Sie, gehen wir ein wenig.)«

Wir gingen in den Park zurück. P. sprach lange. Er versuchte Arnolds Gleichgültigkeit, seine Trauer, seine Unentschlossenheit, seine Schwäche, seine Kritiklosigkeit auf die Erziehung zurückzuführen und auf den Krieg.

Die Sonne stand sehr hoch, die Kindermädchen rüsteten, nach Hause zu gehen, die Mittagsstunde brach an. Ich hörte, mit welcher Unerbittlichkeit P. die Menschen aus der Zeit zu erklären wußte. Zu dieser Entschiedenheit hatte er vielleicht mehr Recht als ich, als jeder andere, weil er ein Sterbender war. Er mußte zu jeder Zeit mit dem Urteil über alle Erscheinungen fertig sein, heute noch, zu jeder Stunde erwartete er den Tod.

Ich widersprach ihm nicht, ich gab ihm nicht recht. Ich sagte nur:

»Hätte ich einen Vater gehabt, ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.« (Zu einem ganz kleinen Teil war übrigens der alte Zipper mein Vater.) »Sie stellen sich so hoch über die Menschen, daß Sie nur ihr Schwarzes und ihr Weißes sehen, ihre Schuld oder Unschuld. Sie richten wie ein Gott und wie ein Richter: nach den Absichten und nach den Taten. Wir aber, die wir im Krieg waren, richten nach dem Stoff, aus dem die Menschen gemacht sind.

Wir waren nicht nur müde und halbtot, als wir heimkamen, wir waren auch gleichgültig. Wir sind es noch. Wir vergaben nicht unseren Vätern, wie wir den jüngeren Generationen nicht vergeben, die uns nachrücken, ehe wir noch unsere Plätze hatten. Wir vergeben nicht, wir vergessen. Oder noch besser: wir vergessen nicht, wir sehen gar nicht. Wir geben nicht acht. Es ist uns gleichgültig. Das Schicksal der Menschen, des Landes, der Welt, was geht es uns an? Wir machen nicht Revolutionen, wir treiben passive Resistenz. Wir empören uns nicht, klagen nicht an, verteidigen nicht, erwarten gar nichts, fürchten gar nichts – – daß wir nicht freiwillig sterben, ist alles. Wir wissen, daß noch einmal eine Generation kommen wird, die so sein wird, wie unsere Väter waren. Noch einmal wird Krieg sein. Wir betrachten das lächerliche Gehabe derer, die an der Traurigkeit der Welt leiden – wie Sie –, derer, die im Krieg nicht waren – und der Jungen, die an dem Willen leiden, etwas zu bessern, zu verändern. Wenn Skepsis nicht auch eine Teilnahme voraussetzen würde, dann hätte ich gesagt: wir sind Skeptiker. Aber wir nehmen überhaupt nicht teil. Sie verspotten das Pathos. Wir aber glauben auch nicht an den Witz. Sie hassen die Reaktion. Wir zweifeln auch an den Erfolgen der Revolution. Was wollen Sie? – Wir sind irrtümlich zurückgekommen

P. schwieg.

Ich betrachtete die Kinder, die aufgeregt ihre Spielzeuge sammelten, nichts wollten sie vergessen, unerbittlich entriß jedes, was ihm gehörte, dem Spielgenossen. Aber der grüne Frieden des Mittags im Park, die sanften, blonden Gesichter der Kindermädchen und die tiefen Gesänge der Glocken versöhnten mich mit allem, was da war – – auch mit den traurigen Instinkten der kleinen Menschen und mit der Stumpfheit der Alten.

Selbst die Fliegen summten, als wollten sie die Glocken nachahmen ...


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