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XIX

Theodor legte den Smoking an. Sein Angesicht strahlte ihm in festlicher Fahlheit aus dem Spiegel entgegen. Mit einer Taschenschere versuchte er nach einigen Härchen zu schnappen, die an verschiedenen Stellen seiner Ohrmuscheln wuchsen. Alle Sanftmut und Geduld, die ihm zur Verfügung standen, konnte er aufbringen, wenn es sich um sein Aussehn handelte. Noch einmal warf er einen Blick auf seine langen Hände, auf die er stolz war und aus deren Form er auf sein aristokratisches Wesen schloß. Jetzt schlüpfte er in den Rock, zog an den Klappen und drehte alle Lichter auf. Probebeleuchtung. Er suchte nach dem Spiegelbild seines Profils, indem er die Spiegeltür des Kleiderkastens so drehte, daß sie in einem schiefen Winkel zum großen Wandspiegel stand. Dann nahm er die Brille ab und dachte einen Augenblick an gar nichts mehr, als wären seine Gedanken abgestorben, aus Mangel an visueller Nahrung. Durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers klang das Klappern einer Schreibmaschine. Eine Sekretärin war beschäftigt, einen Artikel Theodors abzuschreiben. Er lauschte dem hastigen Rhythmus der Tasten wie einer angenehmen Musik. »Jetzt ist sie auf der dritten Seite, dort, wo ich von der Ohnmacht der Nächte in deutschen Großstädten spreche. Ohnmacht der Nächte ist gut, tadellos, großartig.« Dann hatte die Sekretärin noch Briefe zu erledigen. »Die Korrespondenz«, sagte Theodor. Wenn die Post ihm viele Briefe brachte, fühlte er sich dem Mittelpunkt der Welt näher rücken. Wenn er eine Zuschrift auf einen seiner Artikel bekam, übergab er sie sofort der Redaktion, damit sie die Wirksamkeit ihres Mitarbeiters richtig einschätzen lerne. Außerdem zeigte er sie seinen Freunden und besonders jenen, die sich darüber ärgern konnten. Er beantwortete alles. Er bewarb sich um Einladungen zu Festen, Ausstellungen, Konferenzen, in die Salonimitationen der Bankdirektoren, eines Generals, eines Ministers. Am nächsten Tag erzählte er von seinen Diskussionen. Er beabsichtige, den »Kerlen« einen neuen Typus eines »jungen Deutschen« zu zeigen, einen nüchternen, trotzdem patriotischen, aristokratisch erzogenen, trotzdem revolutionären, einen diplomatisch denkenden und dennoch freimütig redenden. Dabei zitterte er unaufhörlich aus Angst, zuviel gesagt zu haben. Mit ganz bestimmten »Kerlen« wollte er es sich nicht verderben, obwohl sie ihm nicht gefielen. Zu ihnen gehörten seine Verleger, die Herausgeber von Zeitschriften, ein Redakteur, der Theodors Artikel zu behandeln hatte. Schrieb dieser Redakteur einmal selbst einen Artikel, so bekam er prompt einen telephonischen Anruf von Theodor: »Gratuliere! Ausgezeichnet!« Seinen Freunden sagt er dann: »Habt ihr den Artikel gelesen? Der schreibt ja ganz gut, der Kerl, aber naiv, naiv. Er sieht eben die Welt nicht!«

Jetzt erstarb das Klappern. Die Sekretärin klopfte. Obwohl Theodor es nicht für vornehm hielt, private Beziehungen zu einer Sekretärin herzustellen, und er in ihr nur »Personal« sah, aber keine Frau, warf er doch noch zwei glättende Finger auf seine gescheitelten Haare, bevor er »Herein!« rief. Er setzte sich an den Tisch, um das Manuskript zu lesen. Die Sekretärin stand neben ihm. Er kam an die Stelle von der Ohnmacht der Nächte, warf schnell seinen Kopf zu ihr herum und sagte: »Gut! Was?« Gleich darauf ärgerte er sich. Er konnte niemals die richtige Mitte finden zwischen dem Verlangen, eine Anerkennung zu hören, und der Notwendigkeit, Personal in respektvoller Entfernung zu halten. Manchmal vergaß er sich so weit, der Sekretärin einen Artikel vorzulesen, der sehr aktuell war und den auf der Maschine abzuschreiben sie keine Zeit mehr fand. Das arme Mädchen, das jeden Tag von acht bis vier Geschäftsbriefe schrieb, fühlte ihre Tätigkeit bei Theodor wie ein tägliches Bad in Witz und Esprit. Sie bewunderte ihn. Sie las die Bücher, die er zur Besprechung bekam, nach den Hinweisen, die seine Referate enthielten. Wenn Theodor ihre Bewunderung sah, verringerte er die Respektsdistanz um einige Zentimeter durch die Frage: »Sie sind schon müde? Gut! Dann arbeiten wir heute weniger!« Er steckte das Manuskript in einen Umschlag und schrieb »Eilt« darauf, obwohl es gar nicht eilte. Er liebte, den langsamen Dingen einen Stoß zu geben, damit sie sich hasteten. Was nicht eilte, war nicht wichtig. Tempo, Tempo. Aus Geringschätzung für den normalen Lauf der Stunden hielt er die Zeiger seiner Taschenuhr vorgeschoben. Er warf jetzt einen Blick auf sie. Und obwohl er noch eine Stunde Zeit hatte, sagte er: »So, jetzt hab' ich keine Zeit mehr. Sie können gehen!« Die Sekretärin ging. Er setzte sich, drehte die Kurbel des Grammophons und ergab sich dem Gesang der Platte von den Brüdern King aus Wilmington. Die Musik der Neger brachte ihn in Stimmung. Er ging heute in Gesellschaft, und er gedachte, es den »Kerlen« zu zeigen. Er ging heute zu keinem andern als zu seinem Bruder Paul.

Ja, im Hause Paul Bernheims erwartete man einen Gast aus Frankreich. Es war einer von den Schriftstellern, die nach dem Kriege anfingen, die Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen, literarische Friedenstauben. Die Steuern, die sie von ihren Honoraren dem Vaterland zahlten, verwendete der Kriegsminister für einen zukünftigen Krieg. Der Unterrichtsminister hingegen rüstete gleichzeitig die Schriftsteller mit Empfehlungen für die deutsche Botschaft in Paris aus. Verschiedene Verständigungs-, Kultur- und Versöhnungsvereine luden die Autoren übersetzter Bücher ein, Vorträge zu halten. Die Schriftsteller kamen, hielten einen Vortrag, wurden in die Häuser eingeladen, bekamen Trüffeln und studierten mit Wohlwollen die Sitten und Gebräuche der früheren Feinde. Sie machten Notizen für spätere Artikelserien über deutsche Dichter, deutsche Generaldirektoren, deutsche Revolutionäre. Von deutschen Professoren der Romanistik wie von Schutzengeln begleitet, gelangten sie in die Häuser der Wohlhabenden und der Reichen, der Gebildeten und europäisch Denkenden, der Industriellen, die in der Fabrik Giftgase erzeugten und zu Hause Keyserling lasen.

Der Gast war noch nicht vorhanden. Der Professor Hamerling war früher gekommen und glaubte die lautlosen Vorwürfe zu vernehmen, die sich im Innern Paul Bernheims vorbereiteten. Die Frage der Frau Irmgard: »Kennt er sich auch aus in Berlin, Herr Professor? Haben Sie ihm auch die Adresse richtig gesagt, Herr Professor? Hat er nicht zufällig die Einladungen verwechselt, Herr Professor?« empfand der Professor Hamerling bereits als Anklagen. Einer nach dem andern kamen die Gäste. Die Beleuchtung der Zimmer schien immer stärker zu werden von dem friedlichen Licht, das jeder vor sich her trug wie eine Laterne. Sie nickten mit den Köpfen, überhörten die Namen der Vorgestellten und sahen geradeaus in deren Gesichter – nicht mit den Augen, sondern mit entblößten Zähnen. Man fühlte sich gehoben im Hause Paul Bernheims, das zu den modernsten der Stadt gehörte. »Alles comme il faut«, sagten die Leute, die für gesellschaftliche Dinge technische Ausdrücke in französischer Sprache gebrauchen, so wie man bei ärztlichen Konsilien Latein redet. Paul Bernheim lud »comme il faut«-Leute aus allen Lagern ein. Es kam Herr von Marlow mit junkerlichem Einschlag samt Gattin, ein Mann, der von den Deutschnationalen zur Volkspartei übergegangen war, seitdem er in Berlin wohnte und seine schlesischen Güter verpachtet hatte. Der städtische Asphalt schien ihn immer liberaler zu machen. Das Ideal der Vornehmheit, das früher darin bestanden hatte, möglichst national zu sein, erforderte heute eine möglichst europäische Gesinnung. Auf Umwegen – und so, daß es nur seine nächsten Angehörigen wußten – schickte Herr von Marlow jedes Jahr zum Geburtstag des Kaisers seine untertänigsten Wünsche nach Doorn. Aber es waren nicht die Manifestationen einer Gesinnung, sondern eher die Gewohnheit an einen Ritus, eine religiöse Privatangelegenheit, so wie die Juden in Berlin, die längst von ihrem Glauben abgefallen sind, in einer verschämten Heimlichkeit den heiligsten ihrer Feiertage immer noch feiern, Weihnachten dagegen öffentlich und aller Nachbarschaft sichtbar.

Es kam der Herausgeber einer demokratischen Zeitung, der mit einem Radikalismus vor sieben Jahren angefangen hatte und nun ähnlich dem Herrn von Marlow, nur vom entgegengesetzten Ende her, der Mitte zustrebte, seitdem er durch eine große Mitgift in die Lage gekommen war, ein kleineres Gut in der Mark Brandenburg zu kaufen und dank der Berührung mit dem märkischen Boden immer konservativere Ansichten zu gewinnen. Zwar sah man seiner Frau, die jeden dritten Monat Kleider aus Paris mitbrachte und Empfehlungen für die Modenschau bei Molineux austeilte, immer noch das gehobene, kommerzielle Milieu an, aus dem sie kam. Aber man verzieh es ihr und hoffte, daß sie sich zu einer recht feudalen Gutsherrin entwickeln würde in Anbetracht ihrer regelmäßigen Reitstunden im Tiergarten. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid und braune Schminke, wegen der olivenfarbenen Haut. Frau Irmgard hatte fast das gleiche Modell in Blau, eine ähnliche Situation, die von einer gleichzeitig unternommenen Reise nach Paris kam. Das nächste Kleid lasse ich mir in Wien machen, dachte die Frau des Herausgebers. Sie sah Frau Irmgard an und erriet erschrocken, daß diese das gleiche gedacht hatte. Sie hat aber doch zu dicke Arme, dachte die Frau des Herausgebers. Sie hat aber doch zu dünne Arme, dachte gleichzeitig Frau Irmgard. Es kam der bekannte Publizist Freytag mit seiner Frau, deren Kleider weit billiger waren als die Artikel ihres Mannes. Die Blicke der reicheren Damen trafen sich einträchtig in einer kurzen Sekunde, und Frau Freytag war verdammt. In der Tat stammte ihr Kleid aus einem jener Ausverkäufe, die von den großen Häusern am Ende der Saison veranstaltet werden und bei denen man die Roben verkauft, die von den Modellen ein paarmal getragen sind. Die Züge der Frau Freytag waren hart, Runzeln um die Augen verrieten, daß sie keine Massage kannte, sie war noch jung, kaum sechsunddreißig. Aber die ersten Jahre ihrer Ehe, in denen ihr Mann noch das gewesen war, was man einen »kleinen Journalisten« nennt, schienen erst jetzt ihre Andenken in das Gesicht einzeichnen zu wollen. Früher waren diese Jahre unschädlich gewesen. Aber die Spuren des Kummers kamen allmählich, spät nach diesem, so wie eine Schwäche lange nach einer verrauschten Aufregung kommt. Immer noch mußte Frau Freytag unsicher die Hand reichen. Sie hielt dabei den Ellbogen an die Hüfte, und ihre Hand hatte etwas Verschämtes und rief sofort das Bild von einer andern, in der Küche gereichten, eben an einer blauen Schürze abgetrockneten Hand wach. Es kam ein Major aus dem Reichswehrministerium in einem Zivil, das von Fischbeinstäbchen gehalten zu sein schien, und mit dem harten Gesicht eines Vogels, aber mit unbeweglichen Augen, die an schwarze, kleine Schuhknöpfe erinnerten. Von links nach rechts trafen sich die Leute in der Mitte, bildeten Gruppen aus Verlegenheit. Aus den Gruppen lösten sich einzelne, die plötzlich wie verloren in einer Wüste waren und das Bedürfnis empfanden, sich irgendwo anzulehnen. Schüchtern prüften ihre Arme die Solidität der Einrichtungsgegenstände. Eine große, festlich illuminierte, traurige Leblosigkeit schwebte in den Zimmern. Frau Irmgard nahm einen Gast nach dem andern vor, comme il faut und wie es geschrieben steht. Sie war froh, wenn einer im letzten Moment die Abwesenheit seiner Frau entschuldigen mußte, weil sich dann eine kleine Abwechslung des Themas ergab. »Ach, das ist aber doch schade, daß ihre Gattin ...« Dieser Anfang erforderte keine Überlegung und war immer zutreffend.

Der französische Pazifist kam schließlich, etwas geblendet von der tragischen Festlichkeit und immer noch nicht gewöhnt an die fremden Sitten eines fremden Volkes. Es hätte ihm keineswegs so fremd sein müssen, wäre er nicht mit der festen Absicht gekommen, darüber zu schreiben. Diese Absicht forderte wieder von ihm, Interessantes zu finden, auch wo nur Gewöhnliches vorhanden war. Als der Angehörige einer Nation, die alles, wessen sie bedarf, im eigenen Lande findet und es infolgedessen nicht verläßt, liebte Herr Antoine Charronoux, in fremden Ländern das Außergewöhnliche zu suchen. Seine Reise hatte nun einmal einen literarischen Zweck, und sie mußte Material abwerfen, ob sie wollte oder nicht. Er hastete von einem Eindruck zum andern und klassifizierte alle ebenso hastig. Sein Entschluß, über das fremde Land zu schreiben, erzeugte von selbst und gleichsam bereits im Auftrag zukünftiger Leser einen romantischen Schleier um die Menschen und Gegenstände, die Herrn Charronoux entgegenkamen, und heftete an die Brust eines jeden die Marke einer bestimmten repräsentativen Kategorie. Herr Charronoux war selig, daß der Herr Professor Hamerling sich einen Freund Frankreichs genannt hatte. Für Herrn Charronoux sahen nun die Freunde Frankreichs genauso aus wie der Professor Hamerling, der jetzt in einer entfernten Ecke den Herrschaften von Marlow und Freytag einen Vortrag über Frankreich hielt. »Sie haben«, meinte er von den Franzosen, »den nüchternen, kleinen, praktischen Verstand, der uns so fehlt, uns, den Germanen mit der Seele im ewigen Nebel. Ich liebe über alles den guten, fröhlichen Lebensgeschmack dieser heiteren Franzosen und wie sie essen, trinken und lieben. Paris bleibt der Mittelpunkt der Vernunft und des Vergnügens. Wir bleiben immerdar die Kinder des Nordens, und unsere Heimat sind die sanften Schattierungen der Dämmerung.« »Sie brauchen uns, nicht wir sie«, sagte Theodor, der eben eingetreten war. Mit einem Instinkt für ernste und problematische Diskussionen hatte er sich mechanisch und sogleich der Gruppe um Hamerling genähert. Alle sahen ihn an. Er fühlte mit Wonne seine eigene, forsche Jugendlichkeit diesem würdigen Hamerling gegenüber. Er glaubte, die Zuhörer ringsum vor lauter Bewunderung tief atmen zu hören. »Paris«, so fuhr Theodor fort, »hört auf, hat längst aufgehört, ein Mittelpunkt zu sein. Berlin wird es, ist es schon.« »Wir haben nicht davon gesprochen«, sagte Hamerling ungehalten und gewichtig. »Die Leichtigkeit der Franzosen ist eben in Paris zu Hause. In Berlin arbeitet man, in Deutschland arbeitet man.« Der Herr Charronoux war inzwischen der Gruppe nahe gekommen. Er hatte die letzten Worte gehört und beschloß, sie genau wiederzugeben. So verständliche, eindringliche Mitteilungen gingen ihm ein, ihm, der seit Tagen, ohne es zu wissen, das Auge und das Ohr seiner zukünftigen Leser geworden war. »In Paris ist die Leichtigkeit zu Hause, in Deutschland die Arbeit.« Welch eine glückliche Lösung. Jeder Krieg in Zukunft ausgeschlossen!

Er saß bei Tisch neben Frau Irmgard. Alles comme il faut. Längst hatte sie sich vorgenommen, ihm das Haus und die Bilder zu zeigen. Sie überlegte, ob es schicklich sei, ihn in das Schlafzimmer zu führen, vor das große Gemälde von Hartmann. Sie begann zaghaft, davon zu sprechen. »Es ist leider in meinem Schlafzimmer«, sagte sie. Herr Charronoux maß sie mit einem Seitenblick, einem neuen Blick, der plötzlich über seinen Augen lag, wie man eine Brille anzieht. Er hatte sofort die Vorstellung von diesem Schlafzimmer, ganz genau – und es war vielleicht interessant zu wissen, wie man in dieser Gesellschaftsklasse schläft. Ein Herr von der französischen Botschaft hatte ihm gesagt, daß es nirgends so viel getrennte Schlafzimmer gäbe wie in Deutschland. Sollte man vielleicht ein Kapitel über Erotik einschalten?

Mitten unter seinen Gästen war Paul Bernheim der fremdeste Gast. Er sah eine Frau nach der andern an. Warum war Lydia nicht hier? Er liebte sie nicht. Er bestätigte es sich. Nein, er liebte sie nicht. »Begehren« fiel ihm ein. Es war das richtige Wort. Er begehrte sie. An ihr hatte er gelernt, daß er keineswegs unwiderstehlich war. Ungeschickt war er, plump. Ein kindisches Verlangen diktierte ihm, sich auf den Boden zu werfen und mit den Füßen zu strampeln wie dereinst als Knabe, wenn er gerufen hatte: Ich will aber doch, ich will aber doch. Ich will Lydia, ich will Lydia, sagte er sich zehnmal, ohne den mechanischen und mächtigen Ablauf dieser kurzen Sätze aufhalten zu können. Jeder tat ihm weh. Er konnte genau den Weg eines jeden Wortes verfolgen. Es schien dem Herzen zu entspringen, dem Kreislauf des Blutes zu folgen, in das Gehirn zu steigen, hier eine Weile zu verharren und wieder zurück ins Herz zu kehren. Ich – will – Lydia – haben! – – – Welch eine Qual!

Er wartete auf das Ende der Mahlzeit, als müßte sich dann etwas Entscheidendes ereignen. Etwas Unmögliches. Man mußte die endlose Zeit, die noch vor ihm lag, ein ganzes Leben, durchklungen von einem unerfüllten Wunsch, zerhacken, einteilen und am Ende eines jeden Teilchens irgendeine Entscheidung erwarten. Die also eingeteilte Trostlosigkeit war leichter zu ertragen als eine riesengroße, ungeteilte, umfassende. Und viele Enttäuschungen am Ende eines jeden Abschnitts waren besser als eine einzige Enttäuschung.

Man erhob sich. In einer Sekunde faßte er den Entschluß hinauszugehen. Um die zweite Ecke links war die Villa Brandeis. Es war, als hätte er ihre geographische Lage erst in diesem Augenblick erfahren und als käme ihm die wunderbare Nähe Lydias jetzt als eine letzte Rettung in den Sinn. Es war doch nicht möglich, einander so nahe zu sein und nicht zueinander zu gelangen. Er lief in die Straße. Er bog um zwei Ecken links.

Vor der Villa Brandeis leuchteten die zwei sonnenhellen Augen eines Autos. Die Gartentür und die Haustür standen offen. Zwei Männer in Livreen, der Chauffeur und der Portier offenbar, trugen zwei große Koffer und verluden sie in den Wagen.

Paul stand im Schatten. Er hörte Stimmen. Es wurde ihm heiß. Seine Hände wurden schwach. Er suchte nach einem der Gitterstäbe in seinem Rücken. Er hörte Lydias Stimme wie einen fernen Gesang. Aber er verstand nicht, was sie sprach.

Ein paar Sekunden später trat Lydia aus dem Haus. Der Motor knatterte. Das Geräusch empfand Paul Bernheim als eine Beruhigung. Solange der Motor knattert, hab' ich noch Zeit! fiel ihm ein. Das Geräusch milderte die unerträgliche Helligkeit der Scheinwerfer. Paul maß die kurze Entfernung zum Wagen. Er brauchte eine Sekunde, nicht mehr als eine Sekunde, um die Klinke der Wagentür zu fassen. Ein zweiter Paul Bernheim, ein beweglicher, löste sich aus dem stehenden, sprang zum Auto, stieg ein, fuhr weg. Das ereignete sich eben und war doch schon vor langen, langen Jahren vollbracht. Auf einmal war alles abgetan und erlebt. Weit hinter Paul Bernheim lagen die Abenteuer, der Ehrgeiz, der gesellschaftliche Glanz, die Macht, die Liebe, die Welt. Es war, als täte, dächte, fühlte er alles jetzt nur noch einmal und zum Schein. Jemand hatte ihm diese Rolle zu spielen übertragen, weil er ihren Inhalt schon erlebt hatte und mit ihm so gut vertraut war. Plötzlich hörte das Knattern auf, und gleichzeitig machte der Scheinwerfer eine Wendung und überflutete den stehenden Mann. Paul Bernheim senkte den Kopf. Es dauerte einen Augenblick. Lautlos glitt der Wagen davon.

Paul ließ das Gitter los, das er bis jetzt gehalten hatte. Er wollte gehen. Es schien ihm, daß er hier zwanzig Jahre verlebt hatte. Die Tür der Villa war noch offen. Tröstliches, goldenes Licht drang zart aus dem Flur. Brandeis trat aus der Tür.

Sein Blick fiel auf den Schatten am Gitter. »Wer ist dort?« fragte Brandeis.

»Ich«, erwiderte Paul.

Brandeis trat näher mit dem leichten, lautlosen Schritt, der seine schwere, große Körperlichkeit so unwahrscheinlich machte. Es war, als ginge er auf fremden Füßen.

»Sie wollten zu uns?«

»Nein«, sagte Paul, »ich wollte zu ihr.«

»Lydia Markowna ist für immer weggefahren. Sie ist zurück zu ihrem Theater. In Genf sind sie jetzt. Sie können hinfahren!«

»Nein!« sagte Paul. Und er dachte: Mein Vater wäre hingefahren, mein Vater wäre hingefahren.

»Wir können uns gleich verabschieden«, sagte Brandeis. »Ich werde Sie bis zu Ihrem Haus begleiten. Das genügt. Ich fahre morgen. Und komme nicht mehr so bald. Ich habe nicht die Fähigkeit, lange auf einem Fleck zu bleiben.

Ich bin eigentlich verpflichtet, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich dachte ein paarmal daran, mich mit dem Element zu messen, in dessen Nähe Sie durch Ihre Heirat gekommen sind. Ich wollte Sie mir aufheben. Ich hatte niemals einen übermäßigen Respekt vor ihnen, vor den Menschen im allgemeinen nicht. Meine Meinung hat hier nichts zu tun, aber ich hätte es Ihnen geschrieben, auf jeden Fall. Nun, da ich Sie hier überrasche, sage ich es. Die Umstände sind für meinen Geschmack etwas zu romanhaft.«

»Ich nehme Ihnen nichts übel«, sagte Paul. »Soeben, vor fünf Minuten noch, wäre ich tief beleidigt gewesen. Inzwischen aber bin ich alt geworden. Sehen Sie nur, Herr Brandeis, sehen Sie meine Haare! Sind sie nicht schon weiß? Seit drei Minuten habe ich die Empfindung, daß ich mein Haus als junger Mann verlassen habe und daß ich als Greis zurückkomme. Ich bin, scheint mir, weise genug geworden, um Ihnen gestehen zu können, daß ich Sie immer bewundert habe. Bewundert und auch gefürchtet. Und dennoch bin ich noch immer nicht weise genug, um auf die Frage verzichten zu können, die ich Ihnen jetzt stellen will: Warum haben Sie mich verachtet?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Brandeis. »Sie waren ein Schwächling. Sie wären zum Beispiel nicht imstande gewesen, einen Tag oder eine Stunde vor der endgültigen, wirklichen Macht vielleicht, alles zu verlassen, wie ich es jetzt mache. Denn es gehört keine Stärke dazu, etwas zu erobern. Alles ist morsch und ergibt sich Ihnen. Aber verlassen, verlassen, darauf kommt es an. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, etwas Außerordentliches zu tun. Es treibt mich fort von hier. So wie es mich einst hierhergetrieben hat. Es treibt mich fort, und ich folge. Lassen Sie es sich gutgehen, Herr Paul Bernheim. Versuchen Sie, jetzt wird es ihnen vielleicht gelingen.«

Sie standen vor dem neuen Hause Bernheims. Alle Fenster erleuchtet. Paul glaubte die Stimmen seiner Gäste zu hören. Er griff in die Tasche nach dem Schlüssel. Und während er ihn hervorholte, sagte er gleichgültig, als sagte er etwas, was sich auf die Tür beziehen sollte: »Sagen Sie, Herr Brandeis, haben Sie Lydia weggeschickt?«

»Nein, sie ist gegangen. Ich schicke niemanden weg. Sie ist gegangen, und vielleicht gehe ich deshalb auch. Ich weiß nicht, was mich aufhält, ich weiß nicht, was mich davontreibt.«

Eine Sekunde blieb es still. Dann sagte Brandeis laut: »Gute Nacht!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er im Schatten der Bäume, die den Straßenrand säumten.


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