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XVI

Eine Amnestie erlaubte Theodor Bernheim und seinem Freunde Gustav die Heimkehr.

Sie kamen an einem trüben Vormittag nach Deutschland, aus einem sonnigen und klaren Ungarn, in dem der Frühling schon heimisch und vertraut geworden war. Die Natur selbst war bedacht, in den Heimkehrern die Sehnsucht nach einem angenehmen Exil wachzuhalten. Gustav hatte ein braunrotes Angesicht, gesunde, sichere und schnelle Bewegungen. Er gehorchte nur einem Gebot der Schicklichkeit, indem er nach Deutschland zurückkehrte. Theodor war blaß und hastig, seine Hände waren wirr und seine Brille zerbrochen. Er empfand sie nicht als ein verdorbenes Instrument, sondern als ein beschädigtes Organ. Auf seinen schwachen Schultern lastete das ganze grausame Gewicht der Wendung: Rückkehr in die verlorene Heimat. In solch einer Lage mußte ein Mann und ein Deutscher wehmütig sein und fröhlich, bitter und gereift, voller Hoffnung und Tatkraft. Welch eine Menge von Verpflichtungen! Von Zeit zu Zeit beobachtete Theodor seine Reisegenossen, um zu sehen, ob er einen Eindruck auf sie machte. »Von all diesen Volksgenossen«, sagte er zu Gustav, »hat niemand soviel mitgemacht wie wir. Sie gehen ihren Geschäften nach, als wäre gar nichts geschehn, jeder denkt an seine Verdienste und niemand an Deutschland.«

»Quatsch nicht!« antwortete Gustav.

Theodor schwieg. Seit langem schon, seit dem Tag, an dem sie das Land verlassen hatten, haßte er seinen Kameraden Gustav. Gustav hatte ja eigentlich diese Flucht verschuldet, Gustav hatte ihn in das Verbrechen und in die Verbannung gebracht, Gustav hatte sich draußen wohl gefühlt, Gustav war gleichgültig gewesen, Gustav hatte keine Gedanken, Gustav las kein Buch, Gustav liebte kein Gespräch, Gustav lachte Theodor aus, Gustav hatte keinen Respekt vor Theodor. Wenn Theodor imstande gewesen wäre, seine Gefühle von seiner Weltanschauung zu lösen, so hätte er sich zugestehen müssen, daß ihm sein Gesinnungsgenosse mehr verhaßt war als jeder seiner politischen Feinde. Aber er mußte Begegnungen, Empfindungen, Ereignisse in einen Zusammenhang mit seiner Überzeugung bringen, mit Deutschland, mit den Juden, mit der Welt, mit inneren und äußeren Feinden, mit Europa. Infolgedessen hielt er sich in Gustavs Nähe. Aus diesem Grunde begann er immer wieder die Diskussionen, auf die Gustav die ewige Antwort »Quatsch nicht!« hatte. Wenn Gustav nicht ein Kerl wäre, sagte sich Theodor, würde ich ihn verachten. Aber da Gustav ein »Kerl« war, mußte er ihn anerkennen.

Auf dem Bahnhof verabschiedeten sie sich. Das Exil fand hier seine Grenze. Die Gemeinschaft der Gesinnung und eines Lebens in der Fremde war denn doch nicht so stark wie die Gedanken an das väterliche Heim, die plötzlich Gewalt über beide bekamen in dem Augenblick, in dem sie ihre Fahrkarten abgaben. Die Heimatstadt strömte ihnen entgegen. Sie bestand aus tausend unnennbaren, privaten Gerüchen, die nichts mit der Politik zu tun hatten, nichts mit der Nation, von der sie bewohnt war, nichts mit der Rasse ihrer Bürger. Sie bestand aus tausend unnennbaren, bestimmten Geräuschen, die, mit der Kindheit vermischt, in der Erinnerung bis zu dieser Stunde gelebt hatten, ohne sich bemerkbar zu machen, und erst jetzt auf einmal und mit Macht der Wiederholung der Gerüche, ihrer Geschwister, antworteten. Die Heimat schickte den Zurückgekehrten eine vertraute Straße nach der andern entgegen, in denen nichts Öffentliches, nichts Allgemeines vorhanden war, kein Ideal, keine Gesinnung, keine Leidenschaft, nichts als private Erinnerungen. Gustav, der Gesündere, ergab sich ihnen, vergaß, weshalb er die Heimat verlassen hatte und wieso er jetzt zurückkehrte. Theodor aber fand, daß es seiner unwürdig sei, sich im Privaten zu verlieren. Er kämpfte gegen die Erinnerungen, die Geräusche, die Gerüche. Und es gelang ihm selbst diesmal, sich als einen Faktor einer Öffentlichkeit zu fühlen, seine Rückkehr als ein nationales Gebot, seine Vaterstadt als einen blutgedüngten und versklavten Boden, und als er endlich in die Straße einbog, in der sein Haus sichtbar wurde, war er nur noch neugierig, seine Mutter zu sehn und den Kummer zu erkennen, den ihr seine lange Abwesenheit verursacht haben mochte; nur neugierig.

Sie stand an der Schwelle, um ihn zu erwarten. Sie hatte alle Szenen vergessen, alle Stunden, in denen ihre mütterliche Sorge um das mißratene Kind sich gewandelt hatte in einen feindlichen und trotzdem bekümmerten Hohn. Sie sah ihr Kind wiederkehren, nichts mehr. Die Stunde seiner Rückkehr klang sachte an die seiner Geburt an, rührte wieder an das längst entschlafene mütterliche Weh in Schoß und Herz. Sie hielt ihn umfangen, ohne ihn zu küssen. Theodors Kopf hing über die Schulter seiner Mutter. Tränen drangen ihm in die Augen, sein Herz klopfte und mit zusammengebissenen Zähnen, mit aufgerissenen Augen hinter den gesprungenen Brillengläsern bemühte er sich, »männlich« zu bleiben. Die Rührung kam ihm nicht gelegen und nicht die Liebe der Mutter. Es wäre ihm angenehmer gewesen, von seiner Mutter so kühl empfangen zu werden, wie sie ihn einmal hatte gehen lassen.

»Du bist so mager geworden«, sagte die Mutter.

»Das glaub' ich«, meinte er, nicht ohne einen verborgenen Vorwurf in der Stimme.

»Wir haben dir zu wenig Geld geschickt!« klagte die Mutter.

»Das ist es eben!« bestätigte er.

»Mein armes Kind!« rief sie.

»Nur keine Phrasen, Mutter! Laß mich ein Bad nehmen!«

»Sag mir ein Wort, Theodor, wie hast du gelebt?«

»Wie ein Hund, in einem blöden Land, wir hatten Wanzen, ekelhaft!«

»Wanzen?!« rief Frau Bernheim.

»Und Läuse«, ergänzte Theodor wollüstig.

»Daß Gott bewahre! Theodor, du mußt sofort die Kleider wechseln.« Sie ging in die Küche. »Anna, machen Sie ein Bad, zehn Scheite genügen, aber holen Sie noch die Kohle aus dem Keller, hier ist der Schlüssel.« Seit dem Krieg hatte Frau Bernheim den Schlüssel zum Kohlenkeller nicht den Dienstboten gegeben.

Sie begleitete ihren Sohn ins Badezimmer, sie wollte ihn nicht verlassen. Sie wartete, bis er seine Kleider abgelegt hatte, und lauerte auf eine Gelegenheit, ihm zu helfen. Sie war glücklich, als sie sah, daß der Hemdsärmel Theodors zerrissen war und losgetrennt von der Schulter. »Ich will ihn dir sofort einsetzen –«, sagte sie. »Und wo sind die andern Hemden?« Mit einer Wollust wartete sie auf die Nacktheit ihres Sohnes. Es schien ihr, sie hoffte, daß sie einen körperlichen Mangel an ihm entdecken würde, der ebenso durch die Abwesenheit von zu Hause erklärt werden könnte wie der abgetrennte Hemdsärmel. Nun sah sie ihren Sohn nackt, zum erstenmal seit seiner Kindheit lag er wieder nackt vor ihr im Wasser und nur noch mit der Brille bekleidet, die er vor seiner Mutter nicht abzulegen wagte, als eine letzte Hülle.

»Wie mager bist du geworden!« sagte Frau Bernheim.

»Und krank!« ergänzte ihr Sohn.

»Wo fehlt es dir?«

»Die Lungen und das Herz!«

»Bist du wenigstens bequem gefahren?«

»Viele Juden unterwegs! Man ist nirgends allein in Deutschland!«

»Sei vernünftig, Theodor, laß die Juden in Ruh'! Deine Freunde haben dir das eingeredet.«

Nach dem Bad ging Theodor in sein Zimmer. Er machte die Tür auf. Er ahnte nicht, daß sein Zimmer vermietet war. Kurzsichtig, wie er war, bemerkte er die Frau Militär-Oberrechnungsrat nicht sofort, die klein, mager, in einen Schal gewickelt auf dem Diwan lag und einen leisen Schrei ausstieß. Er klang wie der Ruf eines Käuzchens. »Wer sind Sie?« fragte Theodor. »Verlassen Sie mein Zimmer!« schrie die Frau Oberrechnungsrat. Theodor zog sich zurück. Er hatte nur eine Pistole wiedersehen wollen, die aus Irrtum zurückgelassen worden war.

Er ging zur Frau Bernheim. »Ich muß mein Zimmer wiederhaben.«

»Wir haben kein Geld, Theodor. Es ist für ein Jahr vermietet!«

»Ich muß mein Zimmer wiederhaben!« wiederholte er.

»Sei gut, Theodor!« flehte die Mutter.

Auf einmal ließ sie sich in einen Sessel fallen, schlug die Hände vors Gesicht und begann, lautlos zu schluchzen. Theodor sah ihre Schultern zucken. Eine unbekannte Gewalt trieb ihn zu seiner Mutter. Er machte einen Schritt und hielt inne. Ich könnte schwach werden! sagte er sich – und: Alle Frauen weinen, wenn sie alt sind! Er machte wieder kehrt, ging zum Fenster und sah in den Garten hinaus.

Plötzlich wandte er sich um und fragte: »Wo werde ich schlafen?«

»Anna wird in der Küche schlafen und du im Zimmer, wo der Kutscher gewohnt hat!«

»Ah, so«, sagte Theodor. »Paul hättest du nie im Zimmer des Kutschers einquartiert. Es tut mir leid, daß ich nach Hause gekommen bin. Aber warte nur! Warte nur!«

Am Nachmittag ging er zu Gustav.

Gustav saß im Kreise seiner Familie, seiner verheirateten Schwestern, seiner drei Brüder, die alle Briefträger waren. Es roch nach festlichem Sauerkraut und frisch gebrannten Kaffeebohnen. Der Papierhändler hatte sich bereit erklärt, Gustav aufzunehmen. In einer Woche sollte Gustav angestellt werden, einen Beruf haben. »Er will nichts mehr von der Politik wissen«, sagte einer der drei Briefträger. Sie saßen alle mit aufgeknöpften Uniformröcken. Die Mützen hingen wie Drillinge an dem Kleiderrechen neben der Tür.

»Nach einem Jahr wird er an die Hochschule kommen können. Er wird sparen. Wir werden alle sparen«, sagte ein zweiter Briefträger.

»Unser Vater hat sich auch nie um die Politik gekümmert«, bemerkte der dritte.

»Wir wollen nichts von der Politik wissen«, sagte die Mutter Gustavs mit einem starren Blick gegen Theodor.

Theodor begriff, daß die Familie seines Freundes ihn nicht liebte. Jedes Wort, das man ihm sagte, hatte noch einen verborgenen gehässigen Sinn, den er nicht erriet, aber den er fürchtete. Diese kleinen Leute benahmen sich so, als hielten sie Theodor für den verantwortlichen politischen Ratgeber Gustavs. Dieser saß mitten unter seinen Brüdern und Schwestern, auf einmal unpolitisch und ihresgleichen. Der festliche Geruch aus der Küche umgab sie alle gleichmäßig und verlieh ihnen allen einen billigen, engen und sichtbaren Genuß. Theodor verstand, daß er auf einmal seinen Gesinnungsgenossen verloren hatte. Gustav hatte keine politische Gesinnung mehr. Er wollte einen ehrlichen, biederen, kleinbürgerlichen Weg machen.

Schlechte Rasse, dachte Theodor, während seine dünne und stumpfe Nase schnupperte. Er verabschiedete sich schnell. Und als er wieder draußen war, glaubte er zu fühlen, daß die Einsamkeit, die ihm immer so gewichtlos vorgekommen war, plötzlich schwer wurde, ein drückender Körper.

Ich werde fleißig sein, lernen, wissen, nahm er sich vor. Gustav kann meinetwegen Briefträger werden.

Zu Hause brachte ihm die Mutter einen kurzen Brief von Paul. In ein paar Sätzen, die wie eine amtliche Benachrichtigung klangen, schrieb Paul, daß er sich mit Irmgard Enders verlobt habe.

»Der Kerl hat Glück«, bemerkte Theodor.

»Hoffen wir!« sagte die Mutter.

»Ein Streber!« murmelte Theodor.

Frau Bernheim verließ das Zimmer. Seit der Ankunft Theodors waren kaum acht Stunden vergangen. Dennoch litt sie schon unter seiner Anwesenheit. Es war wie eine ganz alte Plage. Theodor war wiedergekommen wie ein rheumatischer Schmerz, den man für ein paar Monate verloren und vergessen hatte. Ach, sie erkannte ihn, ihren Sohn. So war er immer gewesen, so würde er immer bleiben.

Sie gab ihm einen Hausschlüssel und sagte ihm, daß er kommen und gehen könne, wann er wolle. Essen würde er in seinem Zimmer. Das Mittagessen könne man ihm zurücklassen und aufwärmen. Sie hob noch für einen Augenblick das Lorgnon. Ihre Augen besiegelten und beschlossen also, was sie verfügt hatte. Und von nun an sah sie Theodor nur, wenn er ihr zufällig in den Weg kam.

Erst Wochen später, ein paar Tage vor Pauls Trauung, die in Berlin stattfinden sollte, richtete Theodor wieder ein Wort an seine Mutter. Er fragte sie, wann sie fahren wolle. Sie antwortete: »Ich fahre nicht. Eine arme Mutter nimmt sich nicht gut aus.«

»Aber ich werde hinfahren«, meinte Theodor.

»Ich dachte, du liebst deinen Bruder nicht?«

»Aber es ist für mich eine Gelegenheit, Beziehungen anzuknüpfen.«

Frau Bernheim dachte einige Sekunden nach. Dann sagte sie mit einer unerwartet scharfen Stimme, mit jener, die sie im Verkehr mit dem Hausmeister zu verwenden pflegte: »Ich werde Paul schreiben. Er wird dir Geld schicken, du wirst nach Berlin fahren und dort bleiben. Ich kann dich nicht mehr erhalten. Du brauchst wirklich Beziehungen. Es ist Zeit, daß du dir dein Brot verdienst. Pack deine Koffer!«

Zum erstenmal hatte Theodor Respekt vor seiner Mutter. Sie stand vor ihm, fahl, alt, größer als er, die Linke an der Hüfte, die Rechte noch ausgestreckt in der Luft und immer noch in den Korridor weisend, wo die Koffer Theodors waren. Die Hand schien so den Befehl verewigen zu wollen. Sie verwies ihrem Sohn das Haus. Es war kein Zweifel.

Theodor fuhr nach Berlin. Er ging in Pauls Hotel und ließ sich anmelden. Paul bat ihn, in der Halle zu warten. Theodor betrachtete sich als beleidigt und wollte wieder weggehn. Gut, sagte er sich, ganz gut. Ich werde hungern, obdachlos sein, verkommen. Meinetwegen! Aber er hatte nicht die Kraft, die Halle zu verlassen. Es war ein reiches Hotel. Dieser Kerl, dachte er, läßt mich nicht zu sich, damit ich nicht sehe, daß er eine Flucht von Zimmern bewohnt. Nun gut! Jedes »Nun gut«, das er vor sich hinflüsterte, bereitete ihm einen Trost, als hätte es irgendeinen Sinn, als drückte es irgendeine Gegenmaßnahme aus.

Endlich kam Paul. »Tadellos elegant«, sagte Theodor statt eines Grußes. Sie reichten einander die Fingerspitzen. Dann setzten sie sich schweigsam. »Was trinkst du?« fragte Paul aus Verlegenheit. »Jedenfalls keinen Lindenblütentee!« »Whisky?« »Meinetwegen!«

»Höre, Theodor«, begann Paul. »Du darfst mich, wenn du Lust hat, sobald wir von unserer Hochzeitsreise zurück sind, einmal im Monat besuchen. Du wirst dir einen bestimmten Tag wählen. Im übrigen ist hier die Adresse meines Rechtsanwalts. Du beziehst ein halbes Jahr fünfhundert Mark im Monat. Von morgen in sechs Wochen mußt du eine Arbeit gefunden haben. Hier ist die Adresse meines Schneiders. Du kannst dir drei Anzüge machen lassen. Zu meiner Trauung kannst du kommen. Sie wird hier stattfinden, nicht in der Kirche.«

Dann trat eine lange Pause ein. Sie schlürften beide Whisky-Soda. Dann erhob sich Theodor, reichte seinem Bruder ein lockeres Bündel Finger und ging.

Er ging sofort zum Rechtsanwalt.

»Ihr Bruder läßt Sie bitten«, sagte man ihm, »Herrn Brandeis übermorgen früh zu besuchen. Herr Brandeis erwartet Sie.« Man zahlte ihm fünfhundert Mark.

Am nächsten Tag war Pauls Trauung. Sie vollzog sich schnell, lautlos und geölt. Theodor hatte kaum Zeit gehabt, Pauls Frau zu sehn. Er sah Brandeis unter den fünf männlichen Gästen.

»Dieser Kerl kauft jetzt ganz Deutschland auf.«

In der Halle sah Theodor, wie Brandeis sich sofort von der Gruppe der andern Gäste löste, davonging mit einem leichten Schritt, den man seiner großen und wuchtigen Gestalt nicht zugetraut hätte.

»Ich möchte nicht mit ihm heimisch werden«, sagte einer von den Gästen in Theodors Nähe zum andern.

»Ja, eben ein Inflationsgewinner«, erwiderte der Angesprochene.

Den einen kannte Theodor, es war Herr Enders. Der andere sah dem Herrn Enders wie ein Bruder ähnlich. Beide bestanden aus einer glatten, runden und harten Substanz und erinnerten an hölzerne, blankgehobelte und etwas mühelos angepinselte Kugeln. Sie sprachen so laut, daß man sie in der ganzen Halle hören konnte.

»Diese Leute«, sagte Herr Enders und blieb an einer Säule stehen, als müßte er sich einen Stützpunkt für einen längeren und ermüdenden Vortrag vorbereiten, »die Leute sind von unsereinem ebenso verschieden wie Seeräuber von ordentlichen Seeleuten. Das sind Piraten!«

»Vollkommen recht, Herr Enders. Während unsere Väter ihr Vermögen mit ehrlichem Schweiß erwarben, kamen diese Leute gewissenlos und durch günstige Zufälle zu Geld. Das ist ein Unterschied. Und es ist besonders dieser Osten, der uns die, wie Sie richtig sagen, Piraten des Geschäftslebens beschert. Moral insanity.«

»Ich bin froh, daß wenigstens Herr Bernheim zu seinen Direktoren gehört. Eine Gewähr wenigstens, eine einzige.«

»Ich möchte trotzdem kein Geschäft mit ihm machen«, sagte zu Herrn Enders sein Doppelgänger.

»Hören Sie«, meinte Herr Enders, der immer an alle Möglichkeiten dachte, »Geschäfte machen ist etwas anderes. Wenn wir den Leuten à la Brandeis zeigen, was ein anständiger Kaufmann und was ein biederer Industrieller ist, so erziehen wir sie zur Ehrlichkeit, und das ist ein gutes Werk!« Die beiden entfernten sich, Theodor blieb hinter der Säule. Dieses Gespräch hatte ihn mit Selbstbewußtsein erfüllt und mit einer großen Dankbarkeit für Herrn Enders. Es war ihm so schwergefallen, einen Dankbesuch bei Brandeis abzustatten! Nun, da er wußte, wie die gute Gesellschaft über den Mongolen dachte, schien Theodor das Auftreten gegenüber Brandeis leichter. Er ist keineswegs mein Wohltäter, dachte er, es ist Deutschland, das ihm Wohltaten erwiesen hat.

Also gerüstet begab sich Theodor am nächsten Tag zu Brandeis. Er ging nicht, wie es sein Bruder Paul einmal getan hatte, zu Fuß hinauf, er stieg in den Lift. Aber hatte Brandeis Paul Bernheim sofort zu sich gebeten, so ließ er Theodor lange warten. Das Wartezimmer war weiß und kahl, Fachzeitschriften, die Theodor nicht interessierten, lagen auf dem Tisch. Theodor begann hin und her zu rennen und wurde müde. Der Kerl versucht mich zu demütigen, dachte Theodor, aber ich werde es ihm heimzahlen! Immer noch ging er auf und ab in dem leeren Zimmer, immer matter wurden seine Schritte, seine schwachen Augen sahen nichts mehr als das verschwimmende und ölige Weiß der Wände. Er zog einen Spiegel aus der Tasche. Er betrachtete sein fahles, eingefallenes Angesicht und war damit zufrieden. Er sah seiner Meinung nach vornehm, entschlossen und weise aus. Er schob die Unterlippe etwas vor, um dem Gesicht zu einem energischeren Profil zu verhelfen. Sein dünner Hals blähte sich. Er fuhr mit den Fingerspitzen noch einmal über den fahlblonden Haarscheitel. In diesem Augenblick rief man ihn zu Brandeis.

Brandeis erhob sich so langsam, daß er erst stand, als Theodor hart am Schreibtisch angekommen war. Etwas hastig, weil er dessen Tiefe nicht richtig eingeschätzt hatte, fiel er in den weichen Sessel. Brandeis ließ sich ebenso langsam niedersinken, wie er sich erhoben hatte. Er wartete. Theodor brachte kein Wort hervor. Es war still. Eine unsichtbare Uhr tickte. Brandeis hielt seine beiden schweren, behaarten Hände auf der Tischplatte.

Schließlich erhob sich Theodor: »Ich muß Ihnen danken!« »Sie müssen gar nichts«, sagte Brandeis, der sitzen geblieben war. »Ihr Bruder überbrachte mir Ihren Wunsch, mich zu besuchen. Ich begreife, daß es gar nicht Ihr Wunsch war. Aber er selbst hatte einen. Er meinte, Sie sollten bei mir eintreten!« »Bei Ihnen?« sagte Theodor. »Ich halte nicht genug davon, ich glaube nicht, daß Sie sich dazu eignen. Außerdem, glaube ich, ist Ihre politische Gesinnung störend, äußerst störend.« »Ich bin konservativ und national.« »Wie man es versteht«, sagte Brandeis sehr leise, »meiner Ansicht nach bin ich konservativ und Sie äußerst radikal. Es ist, glaube ich, nicht konservativ zu schreien, zu demonstrieren und Windjacken zu tragen. Es ist, sagen wir, nicht sehr salonfähig.« »Sie haben kein Recht, darüber zu urteilen.« »Ich habe nur die Pflicht, Ihnen zu helfen!« sagte Brandeis leise.

Theodor setzte sich wieder. Er sah jetzt Brandeis ganz nahe, sein Blick verlor sich in den breiten Gefilden des gelben Angesichts. Er mußte zugeben, daß er selbst über Demonstrationen und Windjacken ähnlich dachte. Er erinnerte sich an Gustavs Familie. Es schoß ihm plötzlich durch den Kopf, daß es besser sein könnte, mit Brandeis vertraut zu werden. Das geht ohne weiteres! dachte er. Und er beugte sich vor und sagte: »Ich habe zufällig gestern ein Gespräch über Sie gehört, Herr Brandeis!« »Und Sie wollen es mir berichten?« »Ja!« »Ich werde Sie enttäuschen. Es interessiert mich nicht. Ich weiß, daß die Menschen, die vor zwanzig Jahren reich geworden sind, mich, weil ich erst seit einem Jahr reich bin, für einen Seeräuber halten. Und vielleicht«, Brandeis lächelte, »halten sie mich auch für gefährlich – man fürchtet mich«, schloß er plötzlich laut.

Dann begann er wieder in seiner gewohnten Sanftheit: »Ich glaube, Sie interessieren sich genügend für Zeitungen, um ein Journalist werden zu können. Nun könnte ich Sie zwar einem politisch rechtsgerichteten Blatt empfehlen. Aber dort gibt es mehrere Ihresgleichen. Dagegen sind Sie vielleicht eine Akquisition für ein demokratisches Blatt, ein großes, von altem Ruf, dessen Verleger mir verpflichtet sind. Ein demokratisches Blatt kann einen jungen Mann von Ihrer rechtsradikalen Vergangenheit sehr gut brauchen. Um offen zu sein: Bei den Juden können Sie Karriere machen. Wollen Sie?« Theodor wollte ja sagen. Aber Brandeis wartete nicht. »Sie werden mir schreiben!« Er stand auf. Stumm, mit einer Verbeugung, die er sofort bereute, weil sie seiner Meinung nach zu tief ausgefallen war, verabschiedete sich Theodor.


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