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VIII

Theodor war verschwunden.

Er hatte einen flüchtigen Abschied von der Mutter genommen und einen gründlichen von seinem Zimmer. Er war dem Weinen außerordentlich nahe, als er seine Schubladen ausräumte, seine Papiere verbrannte, seine Pistolen entlud und sie und die Papiere in einem harten Leinenfutteral für Regenschirme verpackte. Es graute ihm vor dem Leben auf einem fremden Gut, bei einem ungarischen Gesinnungsgenossen, vor dem Land, das er sich schmutzig und barbarisch vorstellte, vor unbekannten Apotheken, in denen die sicherlich gewissenlosen Pharmazeuten Schlaf- und Fiebermittel vertauschten, vor den unzulänglichen Optikern, die seine zweieinhalb Dioptrien bestimmt nicht begreifen würden, und schließlich vor der Armut, der Armut. Die Mutter und Paul waren imstande, ihn in der Fremde verhungern zu lassen. Gustav, der an der ganzen Sache schuld war, war ein armer Häuslersohn, und ein Aufenthalt auf dem Gut eines ungarischen Magnaten konnte ihm eine Erholung und ein Fest sein. Sorgfältig packte Theodor seine Pyjamas und seine vierundzwanzig Krawatten ein. Es tat ihm leid, daß er nur zweitausend Dollar von Paul verlangt hatte. Viertausend hätte er fordern sollen. Draußen konnte jeden Augenblick der vereinbarte Pfiff Gustavs ertönen. Sie hatten den Sitten ihres Bundes getreu einen Pfiff ausgemacht, auch in dieser Stunde der Abreise. Verschwörer hatten zu pfeifen.

Gustav pfiff, erbarmungslos, Theodor schloß den Koffer und ließ ihn vom Portier nur bis zum Gitter tragen. Gustav durfte ihn nicht auslachen und für einen Verräter halten. Vom Gartengitter bis zum Wagen an der Ecke wollte Theodor den schweren Koffer selbst schleppen. Gustav wartete schon im Wagen. Theodor seufzte. Gustav rührte sich nicht. Theodor hatte gehofft, daß sein Kamerad den Koffer in den Wagen heben würde.

»Du hast es leicht«, sagte Theodor. »Du bist viel kräftiger als ich.« Und dennoch machte Gustav keine Anstalten, Theodor zu bedauern. Theodor schwieg erbittert bis zum Bahnhof.

Frau Bernheim saß über einer Handarbeit im kalten Speisezimmer und weinte, als Paul eintraf. Ihr Weinen hatte aufgehört, die Folge bestimmter Erregungen zu sein, es war, wie bei vielen alternden Frauen, eine Gewohnheit der Augen geworden. Ihre Tränen rannen lange, ehe sie selbst bemerkte, daß sie weinte, sie rannen wie ein Landregen, stetig und dünn und lind und tröstlich. Der Kummer löste sich in Wasser auf. Es floß immer aus den entzündeten Augen, die gleichen alten zwei Furchen entlang, zwischen den Wangen und der Nase und von den Mundwinkeln abwärts in zwei anderen Furchen, die das breite Kinn von den Wangen abgrenzten. Dann verloren sich die Tränen in den Falten des alten Halses und im hohen Kragen des schwarzen Kleides, der immer noch von einem grausamen Fischbeinskelett gehalten wurde.

»Mutter, du sollst nicht weinen!« sagte Paul.

»Ich weine gar nicht«, erwiderte Frau Bernheim, »es kommt mir nur so manchmal.« Sie saßen wortlos drei Stunden nach dem Essen im Speisezimmer und froren. Frau Bernheim hatte ein altes Reiseplaid ihres Mannes um die Beine gewickelt. Ihre Stricknadeln aus Bein klapperten wie im Frost. Die Fenster zitterten im Wind. Ein wüster, kalter Atem schlug vom Garten her gegen das Haus.

»Du solltest Gesellschaft haben, Mutter!«

»Siehst du, daran habe ich auch gedacht! Und nun ist ja Theodor fort, und ich dachte an sein Zimmer. Es hat einen separaten Eingang vom Flur.«

»Was willst du damit?«

»Unsereiner kann keinen Zettel vor die Tür hängen und auch kein Inserat in die Zeitung geben. Ich habe also Herrn Merwig gebeten, er sucht unter der Hand nach einer Dame aus guter Gesellschaft, die etwas zahlen müßte, allerdings etwas zahlen. Dann könnten wir auch das Dienstmädchen behalten, für uns zwei. Sonst müßte ich sie ja abschaffen. Grund genug hätte ich dazu. Es ist nicht lange her, da hat mir Geld aus der Büchse für die Armen gefehlt, sie kann es genommen haben. Warum nicht? Dienstboten sind drei Jahre ehrlich, und auf einmal stehlen sie. Aber man kann ja keine besseren finden heutzutage. Und so würde ich sie behalten, wenn ich nur einen Zuschuß hätte. Merwig ist brav, er sucht wirklich unter der Hand, morgen soll eine Dame herkommen, eine Frau Militär-Oberrechnungsrat, im Kriegsministerium war ihr Mann beschäftigt.«

Die Frau Oberrechnungsrat Hammer zog in Theodors Zimmer.

Von nun an saßen beide Frauen jeden Abend im Speisezimmer und froren und häkelten, blickten von Zeit zu Zeit mißtrauisch auf und häkelten weiter. Immer, wenn die Frau Oberrechnungsrat ins Speisezimmer trat, sagte Frau Bernheim: »Entschuldigen Sie einen Augenblick« und ging in den Korridor. Sie ging einen »Blick in Theodors Zimmer werfen«, denn sie hatte beobachtet, daß ihre Mieterin vergeßlich war und manchmal das Licht brennen ließ. Aber sie hütete sich, der Frau Hammer etwas zu sagen. Denn es war ihr eine Freude, immer nachsehn zu können und mit eigenen Händen Geld zu sparen.

Die Anwesenheit der fremden Frau störte Paul. Immer seltener wurden seine Besuche. Seine Mutter übertrieb vielleicht.

Aber sie waren in der Tat nicht einmal wohlhabend mehr. Schon hatte er zwei Hypotheken, von denen die Mutter nichts wußte, auf das Haus nehmen müssen. Und gar keine Aussicht, reich zu werden – es sei denn durch das Geschäft mit den Stoffen, das Brandeis vorgeschlagen hatte. Konnte man Brandeis trauen? Man hatte keine Vorurteile, gewiß, aber waren diese Leute aus dem Osten nicht unheimlich? Man brauchte nicht gerade an die Sieben Weisen von Zion zu glauben. Aber brachten die Menschen aus dem Osten nicht andere Moralbegriffe mit, handelten sie nicht nach irgendeiner verborgenen östlichen Weisheit? Sie kannten Geheimnisse, sie handelten nach Geheimnissen. Spielte bei Brandeis die Ehre eines Mannes eine Rolle? Brandeis machte sich nichts aus Gefängnisstrafen. Aber Paul? Lag nicht ein ganzes Leben vor ihm?

Er war wieder in der Stimmung, mit Doktor König zu sprechen, an dessen Widerstand sich Pauls Ehrgeiz immer entzündete. Er lud den Doktor König zu Heßler ein, zum Abendessen. Die guten Lokale! Wenn Paul ein gutes Lokal betrat, zweifelte er nicht mehr an seiner Karriere. Alles bestätigte hier seine Hoffnungen. Die Dienstbeflissenheit des Kellners und der optimistische Glanz der Lampen. Die vollen Hände der Gäste, der gute Teint der Damen, selbst noch die bettelnden Krüppel vor dem Eingang und der frierende Schutzmann, der sie verjagte und der nicht mehr wie ein Beamter des Staates aussah, sondern wie ein Angestellter der Gäste. Nicht im Namen des Gesetzes handelte er, sondern im Auftrag des Direktors, des Portiers, des Kapellmeisters und Pauls. Wenn man reich war, konnte man ihn immer haben, Tag und Nacht das ganze Bürgerliche Gesetzbuch vor der Tür. In diesem Restaurant, und besonders wenn ein Revolutionär dabei war, eingeladen und aus diesem Grunde doppelt widerspenstig, vergaß man die Zweifel. Es war, als ob die Leichtigkeit, mit der alle Geld ausgaben, in Paul Bernheim die Leichtigkeit züchtete, Geld zu verdienen. Da lächelte eine Frau, und es war tröstlich zu wissen, daß man eine Nacht immer noch bezahlen konnte. Da bot sich die Zigarettenverkäuferin zugleich mit einer Schachtel Amenophis extra Korkmundstück an, und es war herrlich, zu wissen, daß man Geld genug für dreihundertfünfundsechzig Nächte Verkäuferin hatte. Bald würde man jahrelang Geld für die Gattinnen der Farbenfabrikanten haben. Da saßen sie, die Giftgaserzeuger, und man war fast ihresgleichen. Ahnten sie denn, daß man mit ihnen verglichen ein Bettler war? Nein! Sie ahnten es nicht! Man war auch kein Bettler. Man war nur unterwegs, noch nicht angekommen.

Doktor König trug aus Opposition keinen Smoking, sondern nur einen schwarzen Anzug: als wäre ein schwarzer Anzug eine Herausforderung der kapitalistischen Gesellschaft. Er wußte nicht, daß er den englischsten aller Smokings zur besten Geltung brachte und daß er Paul gekränkt hätte, wenn er ebenfalls im Smoking erschienen wäre. In Doktor König ging nach dem dritten Glas Wein eine Revolution vor, mit der verglichen die russische ein Kinderspiel gewesen war. Doktor König sah sich an der Macht, er überlegte, wie er, ohne sein Gewissen zu beschädigen, dem armen, enteigneten, zum Straßenkehrer begnadigten Paul Bernheim eine Protektion angedeihen lassen könnte. Er hörte aus einer meilenweiten Ferne Pauls lange Erklärungen. Rede du nur! dachte König, während Paul verliebt in seinen Smoking, seine Hände, seine Stimme, Wunder von der Börse erzählte. »Das ist mein Gebiet«, sagte er, »ich fühle mich dort wie Sie in den Volksversammlungen. Ich liebe dieses unmenschliche Gewirr, Stimmen von Insekten, nicht von Menschen. Die schwarzen Tafeln, den schnellen Schwamm, der alles auslöscht, und die noch schnellere Kreide, die neue Zahlen hinschreibt. Ja, ja, ich liebe das: ans Telephon zu gehen und zu zittern, daß die Verbindung mit meinem Sekretär nur schnell hergestellt wird. Ich telephoniere, eile zurück, und die neuen Ziffern geben mir recht. Nase muß man haben! Schnell ein Gespräch mit der Bank, und dann vor dem Nachtmahl zur Erholung im offenen Wagen achtzig Kilometer die Straßen verschlingen. Das ist Leben.«

»Sagen Sie mir lieber«, meinte Doktor König, der jetzt Paul Bernheim für alkoholisiert hielt und die Hoffnung hegte, etwas »wirklich« zu erfahren, »was halten Sie vom Ruhrgebiet?«

»Nach meinen Erfahrungen«, erklärte Bernheim, der den Revolutionär nicht enttäuschen wollte, »nach all dem, was ich von meinen Freunden höre, ist es eine große Dummheit von beiden Seiten. Frankreich ist noch schlimmer daran als wir, und uns geht es auch nicht gut. Was wollen Sie? Solange die dummen Politiker à la 1900 nicht ihr Geschäft den Führern der Wirtschaft überlassen, wird es in Europa schlimm sein. Darin, glaub' ich, stimmen wir überein: daß die Wirtschaft die Politik regiert.« Und um auch die Kenntnis des internationalen Lebens außerhalb des Kontinents zu beweisen, fügte Paul hinzu: »In England weiß man das längst.«

»Sie kennen ja England gut!« bemerkte Doktor König, um gefällig zu sein.

Da Paul schon das sechste Glas getrunken hatte, zögerte er nicht, zu sagen: »Meine zweite Heimat. Sie wissen, daß ich den wichtigsten Teil meiner Erziehung Oxford zu verdanken habe. Es war eine schöne Zeit, der Krieg hat sie unterbrochen«, Paul hatte in der Tat vergessen, daß er noch vor dem Krieg zurückgekehrt war, »ich möchte gerne wieder zurück, ehe es überhaupt zu spät wird. Werden Sie mir glauben, lieber Herr Doktor König, Sie kennen mich doch, Sie wissen von meinen geistigen Interessen, aber ich bin auf nichts so stolz wie auf die zwei Ruderpreise, die ich in Oxford bekommen habe. Wenn Sie nächstens bei mir sind, zeige ich Ihnen die Pokale.«

Das Zahlen war Paul von allen Zeremonien des Restaurants die liebste! Er liebte den diskreten Wink, den er dem Kellner gab, das gefaltete Blatt, das wie ein Geheimnis vor ihn hingelegt wurde. Manchmal hielt er es für vornehm, die Rechnung zu kontrollieren. Manchmal begnügte er sich mit einem leichten Blick auf die Summe. Noch mit dem Rückgrat maß er die Tiefe der Verbeugung hinter seinem Sitz, er beantwortete keinen Gruß, im Gegensatz zu Doktor König, der als ein Mann aus dem Volke allen »Gute Nacht!« sagte, bieder und klassenbewußt.

Aber draußen, wenn die Kälte ihn wieder ernüchterte, bekam Bernheim Angst vor den eigenen Worten, die er drinnen gesagt hatte. Er klammerte sich schweigsam an Doktor König. Er schlug noch einen Besuch im Spielklub vor. Er versuchte, mit beklommenem Herzen einen Scherz zu machen, immer noch liebenswürdiger, heiterer, sorgloser, weltmännischer Gastgeber zu sein. Aber schon überlegte er: Ich werde noch auf diesen verdammten Brandeis hereinfallen. Geld muß man haben, reich muß man werden, vielleicht gewinne ich. Ja, er glaubte im Ernst, daß er eines Tages im Spielklub gewinnen würde. Während er dem blassen und schmalen und blaugefrorenen Aufpasser an der Ecke winkte, schöpfte er neuen Lebensmut. Der Anblick dieses armseligen Mannes war herzerfrischend. An dem schmalen Pelzkragen, dessen Haare ausgefallen waren und gelbe, harte, nackte Ledernarben frei ließ, an den dünnen Beinen in den viel zu kurzen Hosen, den Stiefeln, die vor Kälte aneinanderschlugen mit der Schnelligkeit klappernder Zähne, ermaß Paul Bernheim die ganze Höhe seiner eigenen Situation. Er hörte das leise Kreischen der Tür, die in den geheimnisvollen Flur führte, wie einen Ruf der Zukunft, und er sah die romantische Laterne des Portiers als ein symbolisches Licht – im billigen Sinn dieser alten Wendung. Er gebot der Vernunft, die ihm die Lächerlichkeit der ganzen Maskerade enthüllen wollte, zu schweigen. Er ging dem Glück entgegen. Er wollte nicht geweckt werden.

Aber oben, in den Spielräumen, in denen der Rauch die Wände, die Decken und die Lampen verhüllte und der Geruch eines bürgerlichen Familienlebens, das der Inhaber der Wohnung tagsüber führte, den des nächtlichen Lasters behinderte, verlor Bernheim den Mut zu spielen. Nein, die Karten hatten keine Gewalt über ihn, sie waren ihm hold, aber mit Maß, sie erhielten eine ordentliche, distanzierte Beziehung zu ihm. Obwohl er alle Spielsäle kannte, hatte er sie doch immer wieder vergessen, ehe er sie betrat. Solange er sich noch in der Straße befand, hoffte er, daß sie sich durch ein Wunder seit gestern verwandelt hatten. Mit welcher Leidenschaft hätte er spielen können, wenn statt dieser armen Filmstatisten, Vortragskünstler, Artikelschreiber und anderer Zufallsverdiener lauter reiche Herren an den Tischen säßen wie in England! Hier stürmten ihm bei seinem Eintritt seine Freunde entgegen und baten ihn um Darlehen. Er hatte schon längst die Fähigkeit, mit einer aufrichtigen Stimme die Höhe seiner Barschaft zu verleugnen und über seine vorgetäuschte Ohnmacht so verlegen zu sein, daß man ihm eine wirkliche zutraute. Aber nun konnte er keine hohen Summen setzen – und was er mit den kleinen gewann, verschenkte er in der Runde. Ihn störten die Öldrucke an den Wänden, die Nippessachen in den Glasschränken, die falschen Perserteppiche und die Deckchen auf den Armlehnen der Sessel – alles Einrichtungsgegenstände, die den kleinbürgerlichen Staub der Wohnung, den braven Beruf ihres Mieters und die umgearbeiteten Kleider seiner Frau verrieten. Manchmal stieß man zufällig an eine geschlossene, von einer Portiere verborgene Tür und hörte hinter ihr ein Mitglied der Familie schnarchen. Der Sohn des Hauses wartete im Flur auf die Überfälle der Polizei, und seine Schwester kochte in der Küche den schwarzen Kaffee. Ein gähnender Kellner schlotterte in einem gespenstischen Frack zwischen den Tischen. Unter solchen Umständen konnte man das Glück nicht herausfordern.

Aber immer wieder ging Paul nach Mitternacht in einen Spielklub.

Die Einsamkeit in seiner Wohnung war unerträglich. Seit Monaten hatte er sich schon eine Abwechslung gewünscht. In der steten Erwartung, gelegentlich der Polizei in die Hände zu fallen, trug er keine Papiere, die seine Identität bescheinigen konnten. Die Polizei kam. Er wurde in der Gesellschaft der andern auf einen Lastwagen verladen und blieb bis zum Morgen im Polizeipräsidium. Eine Nacht der Einsamkeit entrissen! Er sah den fahlen Morgen das Amtszimmer bestreichen, den alten Staub auf den grünen Pappendeckelbänden der Kartothek, die grindigen, verschwitzten und gesprungenen Mauern und den gelben Lichtfleck der nächtlichen Lampe, die einer Verordnung gemäß noch bis acht Uhr zu brennen hatte. Dann ging er durch die verworrenen Räume des großen Hauses. Er hielt sich vor dem Kasten mit den Photographien unbekannter Leichen auf, er sah die toten Gesichter, durch furchtbare Wunden entstellt, zertrümmerte Schädeldecken, abgerissene Augenlider, zerfetzte Oberlippen, enthüllte Kiefer, von Wasserratten angenagte Ohrmuscheln. So viele Menschen verschwanden also aus dem Leben – und niemand hatte sie gekannt.

»Nicht wahr, ein schönes Familienalbum«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Es war Nikolai Brandeis.

»Sind Sie auch verhaftet worden?« fragte Paul.

»Ich bin freiwillig hierhergekommen, wenn auch nicht ganz freiwillig«, sagte Brandeis. »Unsereins hat so oft hier zu tun. Ich versichere Sie, es ist nicht angenehm. Aber ich habe die Gewohnheit, mir die Bilder der unbekannten Toten anzusehen, ehe ich eines dieser Polizeibüros betrete. Das tröstet mich, verstehen Sie. Das gibt mir ein wenig Mut. Hätten Sie gedacht, daß so viele sterben, nach denen kein Hahn kräht? Danach können Sie berechnen, wie viele von dieser Art leben und noch nicht gestorben sind. Sie torkeln so auf den breiten Landstraßen dahin, hinter ihnen der Tod, hinter ihnen der Tod ... Aber nun bin ich erfrischt. Wollen Sie mich in jenes Amtszimmer begleiten? Ich brauche ein Visum.«

Um sich nach Lettland zu begeben, wo Brandeis alte Geschäftsfreunde hatte, mußte er ein Visum haben. Er gehörte zu den dokumentenlosen Flüchtlingen und hatte einen provisorischen Paß für Staatenlose, also waren seine Reisen nicht leicht.

»Wenn Sie mich begleiten«, sagte Brandeis, »werden Sie sehn, wie wenig ich mich von jenen Toten dort unterscheide. Kommen Sie.«

Der Beamte saß hinter einer hölzernen Barriere und war, wie die Polizeibeamten der ganzen Welt, ein Freund überheizter Zimmer. Da er zur Fremdenpolizei gehörte, haßte er die Fremden. Als Brandeis »Guten Morgen« sagte, fragte der Beamte: »Was wollen Sie?«

»Ihnen guten Morgen sagen«, antwortete Brandeis. »Ferner ein Aus- und Einreisevisum.«

»Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung!«

»Ich habe um sie gebeten. Sie ist noch nicht erledigt.«

»Dann können Sie wegfahren, aber nicht zurückkommen.«

»Dennoch werde ich zurückkommen!« sagte Brandeis. Diesen Satz flüsterte er, als wäre es ein Geheimnis.

Es ist eine Eigenschaft der Beamten, ihren Besucher erst nach dem dritten oder vierten Satz anzuschauen, als gingen sie von der Voraussetzung aus, daß alle Fremden gleich aussehen und daß es genügt, einen von ihnen zu kennen, um sich alle andern vorzustellen. Der Polizist sah jetzt erst auf. Er sah die mächtige Gestalt Brandeis', den schweren Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war. Er erhob sich, wie um den Größenunterschied zwischen sich selbst und dem des Fremden zu verringern. Er wollte etwas sagen. Brandeis fing plötzlich laut zu sprechen an. »Sie sind Herr Kampe, nicht wahr? Ich werde von jetzt in drei Stunden wieder bei Ihnen sein.« Er wies mit dem Stock auf die Wanduhr. »Guten Tag.«

»Sehen Sie«, sagte er zu Bernheim, »ich werde in drei Stunden das Visum haben. Und nur, weil ich ihm seinen Namen, der leicht zu erfahren ist, gesagt habe. Er hat wahrscheinlich nichts Schlimmes getan. Da ich aber seinen Namen kenne, fürchtet er, ich wüßte irgend etwas über ihn. Jeder Mensch hat Sünden.«

»Und wenn Sie dennoch kein Visum bekommen?« fragte Bernheim.

Brandeis zog einen dänischen Paß hervor. »Dann fahre ich mit dem.«

»Falsch?«

»Wie man's auffaßt«, erwiderte Brandeis, »was ist richtig in dieser Welt? – Haben Sie über die Stoffe nachgedacht?«

»Ja, das Geld, Herr Brandeis – –«

»Nicht das Geld«, unterbrach Brandeis, »die Stoffe!« Und er hob seinen Stock gegen den Himmel, grüßte und ließ Bernheim stehn.

Die durchwachte Nacht, die Bilder, die er gesehn hatte, das Gespräch Brandeis' in der Polizei, die Erinnerung an das Geschäft, an das Geld, an Theodor: dies alles verwirrte Paul Bernheim. Je mächtiger ihm Brandeis erschien, desto schwächer kam er sich selbst vor. Weit im weißen Schnee, der während der Nacht gefallen war und den der Verkehr des Tages noch nicht vernichtet hatte, lag der Platz. Die Straßenhändler schrien, die Stadtbahnzüge dröhnten, Lastfuhrwerke ratterten. Zum erstenmal befand sich Paul Bernheim in dieser Gegend am frühen Vormittag. Er kannte sie nur von weichen, versöhnlichen Winternachmittagen her; die goldenen Lichter des großen Warenhauses, der Läden, der Untergrundbahn. Jetzt war der Platz übersichtlich, von einer grausamen Willkür gebildet, trotz dem weißen Schnee ahnte man den Schatten der großen, dunkelroten Polizei, und das Warenhaus, am Abend dank seiner Beleuchtung so nahe, war jetzt ferne zwischen dem gleichförmigen Weiß der Häuser. Es gab irgendeinen Zusammenhang zwischen diesem Platz und den Bildern der unbekannten Toten im Polizeigebäude. Als wäre die Untergrundbahn an dieser Stelle nicht ein Verkehrsmittel, sondern eine unterirdische, warme, schützende Zufluchtsstation, lief er die Stiegen hinunter. Er fuhr zum erstenmal nach langer Zeit mit vielen Menschen zusammen in einer Bahn. In jedem fremden Angesicht glaubte er Züge der töten Physiognomien wiederzufinden. Zu Hause legte er sich schlafen.

Sonst vertrieb der Schlaf die beginnenden Schrecken eines Tages, und die künstlich eingeschobene Nacht bescherte dem erwachenden Bernheim einen veränderten, ja einen andern Tag. Heute war die List, mit der Paul das Unheil zu betrügen pflegte, vergeblich. Als er erwachte, fand er einen jener dicken Briefe seiner Mutter vor, die immer Unangenehmes enthielten. Denn seitdem Frau Bernheim angefangen hatte, auch am Porto zu sparen, schrieb sie nur bei unseligen Anlässen und dann sehr ausführlich, um den ganzen Wert der Briefmarke und den ganzen Umfang des Briefpapiers auszunutzen.

Dem Brief der Mutter lag ein anderer bei, ein Brief von Theodor. Er brauchte Geld. Hätte Paul Bernheim in dieser Stunde ein besseres Gedächtnis besessen, so wäre ihm die Ähnlichkeit zwischen dem Briefstil Theodors und seinem eigenen aus der Oxforder Zeit nicht entgangen. »Liebe Mutter!« schrieb Theodor, »brauche unbedingt monnaie. Leben gesund, frische Luft, falscher Name. Gastfreundschaft enorm. – Denke an Dich und Paul oft, habe aber keine Zeit zu Gedankenaustausch. Brauche dringend monnaie. Vielleicht telegraphische Anweisung möglich. Post hierorts schafft langsam. Kuß. Dein Sohn Theodor.«

Dazu schrieb Frau Bernheim einen gerührten Begleitbrief. Je länger Theodor in der Fremde war, je seltener sie von ihm auf vorsichtigen Umwegen ein Lebenszeichen bekam, desto edler, ärmer, hilfsbedürftiger sah sie ihn. Ja, sie, die während seiner Anwesenheit seine Freunde, seine geheimnisvollen Ausflüge und Bahnfahrten, seine Broschüren, seine Zeitungen mit einem furchtsamen Grauen beobachtet hatte, sie begann jetzt, »die Regierung« wie einen persönlichen Feind zu hassen und »die Juden« für Theodors »Unglück« – so nannte sie seine Flucht – verantwortlich zu machen. »Er leidet für die Politik!« Diese Formel hatte ihre mütterliche Eitelkeit ihr eines Tages geliefert. Aber immerhin, als Paul seiner Mutter schrieb, daß er kein Geld geben könne, da er Theodors wegen schon eine so hohe Schuld auf sich genommen habe, und es wäre doch einfach, den Mietpreis für Theodors Zimmer jeden Monat nach Ungarn zu schicken, erwiderte Frau Bernheim entrüstet, daß sie nicht daran denke, noch mehr Opfer für ihre Kinder zu bringen. »Ich habe Euch meine ganze Jugend geopfert«, schrieb sie. Sie glaubte manchmal wirklich, daß sie ohne ihre Söhne nur ganz langsam alt geworden wäre. Blut sei kein Wasser, schrieb sie ferner, und ein Bruder müsse dem andern helfen.

Sie sammelte indessen Geld für ihre alten Tage. Sie hatte einen Koffer voller Papierscheine, die immer wertloser wurden und an deren Gültigkeit sie unerschütterlich glaubte. Vergeblich waren Merwigs und Pauls Bemühungen. Da sie einmal mit der Kriegsanleihe recht behalten hatte, glaubte sie an ihren »finanziellen Instinkt«, wie sie sagte. Sooft Paul nach Hause kam, bat sie ihn um ein paar Scheine. »Dafür kannst du dir grad' eine Zeitung kaufen!« sagte Paul. Sie ging zum Koffer und legte sie sorgfältig geglättet zu den andern.

Eines Tages erwachte Paul mit dem Entschluß, das Geschäft mit Brandeis zu wagen. Er rief bei Brandeis an. Man sagte ihm, Brandeis sei verreist. Er komme nach einer Woche. Paul wartete. Um den Mut nicht zu verlieren, sagte er sich jeden Tag: Ich muß reich werden. Schließlich war Brandeis wieder da. Sie trafen sich:

»Mit dem Geld«, begann Brandeis, »da haben Sie Zeit, Herr Bernheim!«

»Nein«, sagte Paul, »ich komme wegen der Stoffe.«

»Das ist zu spät!« sagte Brandeis, »ich habe sie verkauft. Sie müssen zugeben, daß ich Sie vor meiner Abreise noch einmal gesprochen habe.«

»Ja, sehr flüchtig, kaum erwähnt.«

»Ich wollte nicht zudringlich erscheinen, Herr Bernheim. Eine Eigenschaft, die man Leuten meiner Art so oft nachsagt.«

Sie saßen in einer Konditorei. Brandeis betrachtete die Wände, die Auswüchsen ähnlich sahen, einer Krankheit der Mauern, einer Beulenpest in Prismenformen, die tief verschleierten Stehlampen in den Nischen, in denen nackte, oktaedrige Nymphen der modernen Innenarchitektur lehnten. »So baut man also heutzutage!« sagte er. Er schien das Geschäft Pauls vergessen zu haben.

Bernheim wollte wieder davon anfangen. »Reden wir nicht mehr von einer alten Sache«, sagte Brandeis. »Ich nehme Ihnen nichts übel. Vielleicht haben Sie recht gehabt. Ich habe jedenfalls heute noch kein Geld gesehn. Ich fürchte, ich werde wieder in die Eisenbahn steigen müssen. Und wieder ein Visum nehmen –«

Als die Abendblätter mit den Kurszetteln kamen, bemerkte Bernheim, daß Brandeis sich nicht um die Kurse kümmerte.

 

»Sie wundern sich?« sagte Brandeis. »Ich habe gestern alles verkauft.«

»Und?«

»Dollars gekauft.« Ehe sie sich trennten, sagte er: »Verkaufen Sie, Herr Bernheim.«

Aber Bernheim verkaufte nicht.


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