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Viertes Buch
Das Ende der kleinen Angelina

I

In diesen Tagen kamen viele Menschen zu Jan Wokurka. Seine alten Kameraden, die polnischen Legionäre, brachten immer wieder neue Menschen mit, heimatlose Freunde, Soldaten der kaiserlichen Armee, die das neue große Unheil des Kaisers noch ratloser gemacht hatte, als sie vorher schon gewesen waren. Früher waren sie nur unglücklich gewesen; jetzt aber waren sie bereits verloren. Der Boden wankte unter ihren Füßen, sie begriffen es nicht; war es doch ihr heimatlicher Boden. Es war ja Paris, die Hauptstadt ihres Landes! Dennoch wankte die heimatliche Erde unter den Füßen ihrer eigenen Söhne. Die Soldaten der feindlichen Armee marschierten bewaffnet durch die Straßen von Paris. Man hörte die feindlichen Märsche, gespielt und getrommelt von feindlichen Militärkapellen. Alle Armeen von Europa, so schien es den alten Soldaten der kaiserlichen Armee, hatten sich in Paris verabredet. Jeden Morgen exerzierten sie. Jeden Vormittag marschierten sie, gut gefüttert, in tadellosen Kleidern, durch die Straßen der Stadt. Am Rande der Bürgersteige schlichen die Soldaten der kaiserlichen Armee einher, zerlumpt und verhungert. Herrenlosen Hunden glichen sie. Der Kaiser war weit! Auf unbekannten Meeren segelte er herum, irgendwo, einem unbekannten, aber gewiß schrecklichen Schicksal entgegen! Ein neuer, ein alter Herr saß auf dem Throne Frankreichs, ein dicker, gutmütiger König. Sie haßten ihn nicht; aber mit ihm waren die Feinde gekommen, die wohlgenährten Truppen mit der feindlichen Marschmusik. Vor der Kalesche, in der er seine Residenz und seinen Thron zum zweitenmal erreicht hatte, waren – so erzählte man sich unter den Soldaten – englische Kanonen gefahren, preußische Reiter und österreichische Husaren geritten. Ebenso dachten die Menschen aus dem Volke. Da die Feinde den König gebracht hatten, war auch der König ein Feind. War es überhaupt noch der Herr von Frankreich, durch dessen Hauptstadt die fremden Soldaten marschierten? Hatte Frankreich noch einen Herrn? War es nicht schon die Beute der Welt? Einst war die ganze Welt die Beute des großen Kaisers gewesen. In jedem Lande der ganzen großen, bunten Welt war jeder Soldat der kaiserlichen Armee heimisch gewesen. Jetzt aber schlichen sie alle durch die Straßen der heimatlichen Hauptstadt wie Fremde und Landstreicher. Deshalb versammelten sie sich, wenn der Abend kam und die Dämmerung sie noch heimatloser zu machen schien, bei alten Freunden. Auch hungrig waren sie; eine Pfeife Tabak und ein Glas Wein wünschten sie sehnsüchtig. Und Leute wie der Schuster Wokurka waren gastfreundlich.

Es waren klare, wolkenlose Sommertage. Es war den alten Soldaten, als höhnte sie dieser Sommer; als zeigte ihnen der Himmel deutlich, daß er sich um das Unglück Frankreichs und des Kaisers nicht kümmerte. In einem beständigen, heiteren Blau wölbte er sich über der Trauer dieser Erde. Fern und unbekümmert strahlte die Sonne über den verhaßten Fahnen der Feinde. Der Sommer selbst feierte den Sieg der Feinde.

II

An einem dieser heißen Tage ging der Schuster wieder nach dem Schloß, um Angelina zu suchen. Er war bereits ein paarmal dort gewesen. Er liebte sie mit allen Kräften seiner einfachen Seele. Er zitterte auch um sie in diesen Tagen. Sie konnte etwas Unbedachtes sagen und sich Gefahren bereiten, den Tod sogar heraufbeschwören. Sie kam nicht selbst zu ihm, obwohl er ihr doch gesagt hatte, daß er sie erwarte, wenn sie in Not gerate. Nun war sie gewiß in Not geraten, und sie kam dennoch nicht. Er machte sich auf den Weg, um sie wiederzugewinnen.

Er schritt munter aus unter der glühenden Sonne. Der Schweiß rann über sein Angesicht, machte seinen buschigen Schnurrbart klebrig, näßte sein Hemd, und sein armer Beinstumpf, eingebettet in ledernes Polster, glühte wie ein offener Brand. Es war kurz nach Mittag, als er das Elysée erreichte. Er verlangte, Veronika Casimir zu sprechen. Einer von den Soldaten der Wache ging, sie zu suchen . . . es dauerte lange, ehe sie kam. Unerbittlich brannte die Sonne, und man ließ Wokurka nicht einmal in den schmalen Schatten durch das Tor. Veronika kam endlich, umarmte ihn vor Rührung und Trauer und auch mit ein wenig vorgetäuschter Herzlichkeit. Sie brauchte ihn jetzt, welch ein Wunder, daß er gerade gekommen war! Sie hatte einen Handwagen, sie packten gerade, sie und Angelina. Alle Dienerschaft des Schlosses hatte einen neuen Eid dem König zu leisten – und wer ihn verweigerte, mußte es verlassen. Selbstverständlich ging sie mit Angelina. Wie wohl tat ihr da eine männliche Hilfe, sagte sie und blickte dabei auf das Holzbein Wokurkas. Er sah es wohl, klopfte darauf mit dem Knöchel des Zeigefingers und sagte: »Es hält gut, Fräulein Casimir! Besser als mein altes!«

Sie verließ ihn. Er mußte warten, einen halben Nachmittag, aber er war gar nicht müde, trotz der Hitze. Er humpelte auf und ab, auf und ab, auf und ab, schon weckte er das Mißtrauen der geheimen Polizisten, die rings um das Schloß patrouillierten. Er bemerkte sie wohl, und er hatte keine Angst vor ihnen. Er machte sich auf eine Antwort bereit, für den Fall, daß ihn einer fragen sollte. Er arbeitete an dieser Antwort redlich, er gedachte, etwa zu sagen: Fragen Sie Ihren Minister, den Minister Fouché, was er beim König zu suchen hat! Eine geistreiche Antwort, so schien es ihm, vieldeutig, sinnreich, und sie ließ keinen Widerspruch zu.

Endlich, die Schatten waren schon länger, man löste gerade den Wachtposten ab, kamen sie, Veronika Casimir und Angelina. Sie rollten einen mäßigen, zweirädrigen Karren vor sich her. Auf dem lag, aufgetürmt und mit Stricken festgehalten, ihre Habe. Jede der beiden Frauen hielt je einen der beiden Griffe. Beim Ausgang hielt sie der Posten auf, hierauf ein Polizist in Zivil, Veronika sprach viel und wies Papierchen vor. In einer Stunde komme sie zurück, sagte sie.

Wokurka hatte Angelina lange nicht mehr gesehen. Da er sie jetzt wieder erblickte, war es ihm, als sei kaum ein Tag seit dem letztenmal vergangen. So vertraut und nahe kam seinem verliebten Auge das geliebte Angesicht vor. Der Kaiser war gekommen und geflohen, der König war heimgekehrt, vieltausend Menschen waren gefallen, auch der Sohn Angelinas war tot . . . dem Schuster Wokurka aber schien es, gestern erst oder vorgestern habe ihn Angelina verlassen. Die ganze Zeit, in der er sie nicht gesehen hatte, war groß und ewig gewesen, auf einmal aber, in dieser Sekunde, war die ganze Zeit ausgelöscht. Er gab Angelina die Hand und sagte gar nichts. Dann nahm er die beiden Griffstangen des Karrens in seine harten Fäuste und fragte: »Wohin also?« mit ängstlichem Herzen. »Zur Pocci, natürlich!« sagte Veronika Casimir.

Er humpelte dahin zwischen den beiden Frauen, den schweren Karren rollte er dahin wie ein Spielzeug. Er war aufgeräumt, und er redete laut, um das Stampfen seiner Krücke und das Rollen des Karrens auf den holprigen Steinen zu übertönen. Was ging ihn, Jan Wokurka, in dieser Stunde das ganze Unheil der Welt, des Landes und dieser Stadt an? Mochten hundert große Kaiser gehen, hundert alte, wohlbeleibte Könige wiederkommen – meinetwegen, meinetwegen, dachte er – und er äußerte auch seine Meinung: »Siehst du, Angelina, ich hab' es dir gesagt! Was geht uns Kleine das Schicksal der Großen an? Wären wir damals in meine Heimat nach Polen gefahren! Heute schon wärst du heimisch dort und hättest alles vergessen!« Darunter stellte er sich nichts Genaues vor, unter dem allen, was Angelina vergessen haben könnte; aber er wurde gerührt in dem Augenblick, in dem er die beiden Worte »alles vergessen« aussprach, und ein gewaltiges Mitleid mit Angelina erfüllte ihn. »Man soll«, fuhr er fort, »sein Herz nicht an die Großen und Mächtigen hängen, wenn man unsereins ist, klein und gering. Ich habe es längst gesagt, seit vielen Tagen wiederhole ich es meinen unglücklichen Freunden. Siehst du, Angelina, sehen Sie, Fräulein Casimir! Was habe ich davon gehabt? Ich habe mein Herz an eine große Sache gehängt und an den großen Kaiser. Ich habe das Vaterland befreien wollen. – Ich bin ein Schuster geblieben, ich habe ein Bein verloren, mein Vaterland ist nicht befreit, der Kaiser ist geschlagen! Mir soll noch einer sagen, ich soll mich um die große Geschichte kümmern! Die kleinen, die kleinen Geschichtchen sind es, die ich liebe. Du allein kümmerst mich, Angelina! Sag, jetzt, nach all dem: Willst du fahren? mit mir?«

»Ich danke dir!« sagte sie nur. »Später, wir sprechen noch davon.« Sie hätte nicht erklären können, was in ihr vorging, denn es fehlte ihr ebenso an dem Mut, ihre Gedanken auszudrücken, wie auch an den Worten, die dazu nötig waren, und an der Fertigkeit, sie gehörig zu setzen. Sie dachte, es sei nicht falsch, was der Wokurka sage, aber ihre große Sache, an die sie das Herz verloren hatte, sei eben ihre kleine Sache und es sei gleichgültig, ob man von Anfang an, auf Gottes Geheiß gewissermaßen, einen großen Kaiser liebhaben müsse oder irgendeinen beliebigen andern. Die Sachen waren eben groß und klein zugleich, so dachte sie. Aber konnte sie es ausdrücken? Und, wenn sie es könnte, würde man sie begreifen? Soviel Verwirrung, Qual und Schande sie auch schon erlebt hatte seit ihrer Ankunft in dieser Stadt, sie wußte es, nichts war mächtiger gewesen als ihre jähe Liebe, in der alles enthalten war: Sehnsucht und Heimweh, Stolz und Scham, Begierde und Trauer, Leben und Tod. Jetzt, da der Kaiser für alle Zeiten verloren war (oh, wie gut wußte sie es!), fühlte sie deutlich, daß sie nur von ihm gelebt hatte; weit von ihm; abseits von ihm; aber von seinem kaiserlichen Dasein. Ihr Sohn war tot, und der Kaiser war gefangen! Was konnte sie noch fühlen? Gut zu ihr war der Wokurka. Aber war die Güte groß und stark genug, um ein Herz zu beleben, ein totes, kleines Herz? – Wenn ich ein Mann wäre! dachte sie. Sie sagte es laut, gegen ihren Willen. »Wenn ich ein Mann wäre!« – »Was tätest du?« – »Ich hätte ihn nicht gehen lassen. Auch wäre ich mitgegangen!« – »Auch von Männern hängt nichts ab«, sagte Wokurka, »was in der Welt Großes vorgeht. Man müßte schon ein so großer Mann sein, wie er selbst einer gewesen ist, um etwas zu ändern. Wenn man klein ist, ist es gleich, ob Mann oder Frau!«

Es war schon voll in der Werkstatt Wokurkas, als sie ankamen, wie alle Tage um diese Zeit. Er ließ seine Stube unverschlossen, seine Freunde konnten gehen und kommen nach Belieben. Einige standen vor dem Tor und sprachen mit den Nachbarn. Die Dämmerung nahte schon, die gefürchtete Dämmerung nahte den Einsamen und den Geschlagenen. Man half das Gepäck zur Hebamme Pocci hinaufbringen. Man fragte Veronika Casimir, wie es im Schloß aussehe und ob sie den König gesehen habe. Einer fragte, ob die Frauen wüßten, wo der Kaiser jetzt hingebracht würde. Ein anderer antwortete, er selbst wisse es genau: nach London, und dort würde man ihn sicher köpfen. Angelina zitterte. Es war, als hätte man ihr selbst das Todesurteil verkündet. »Wer sagt es? Wer sagt es?« schrie sie mitten durch das Gewirr der Stimmen. – »Es ist doch nichts zu machen!« sagte ein Mann. »Sie haben es so beschlossen, die Großen.« – Die kleine Stube war voll. Da sie so nahe beieinander standen und auch auf herbeigeholten Kisten, Stühlen, Schemeln hockten und auf dem Bett Wokurkas, dichte, graue Wolken aus ihren Pfeifen aufwallten und das Licht verdunkelten, sah es aus, als wären ihrer noch viel mehr im Zimmer und als wären alle ihre Gesichter gleich. Einer, ein alter polnischer Legionär mit der Ehrenlegion an der zerschlissenen und arg befleckten Uniform, mit grauschwarzem Bart und stark geröteten Wangen, zog eine Flasche aus der Rocktasche, setzte an, tat einen tiefen Schluck, sagte: »Ah!« – so laut und so grimmig, als wäre es nicht ein Laut der Zufriedenheit, sondern des Grolls und des Unmuts – und so war es auch: Unmut und Groll, die längst in ihm geschlummert hatten, lockte jetzt dieser Schluck aus seinem Herzen. Er tat noch einen, denn er fühlte, daß er jetzt, bald, irgend etwas Außerordentliches werde tun müssen. Seine Ehre verlangte es einfach. Er war ein alter, gutherziger und leicht erregter Polterer. Wokurka kannte ihn gut, zusammen waren sie marschiert, zusammen hatten sie geschossen, zusammen hatten sie getrunken, aus einer Schüssel gegessen, aus einer Pfeife geraucht. Obwohl in dem dichten Rauch die Gesichter aller vernebelt und entstellt waren, erkannte Wokurka in den Augen seines Freundes – Jan Zyzurak hieß er, und er war einmal Schmied gewesen – das alte, flackernde Flämmchen, das den höchsten Grad der Aufregung Zyzuraks verkündete. Er fürchtete ihn, der Frauen wegen. Die Hebamme Pocci, Angelina und Veronika Casimir saßen still da, auf dem Bett, das man ihnen eingeräumt hatte. Sie fürchteten sich sehr, sie wußten nicht genau, wovor. Aber die Männer, der Schnaps, den sie tranken – jeder hatte eine Flasche in seiner zerschlissenen Tasche –, ihre verzweifelten Gesichter, ihre trostlosen Reden jagten den Frauen einen großen Schrecken ein. Dennoch wagten sie nicht aufzustehn. Was den Schmied Zyzurak anbetraf, so sah er schon nach dem zweiten tiefen Schluck die Versammelten nicht doppelt, sondern zehnfach. Ihm schien es, er stünde unter freiem Himmel, vor vielem, vielem Volk, und der Geist kam über ihn, der Geist seines unseligen polnischen Vaterlandes und auch der Geist des Kaisers, und diese beiden Geister geboten ihm zu reden, und es schien ihm, daß er viel und Bedeutendes zu sagen habe. Er hob beide Hände, wie zu einer Beschwörung, verlangte mit lauter Stimme Ruhe und Licht (»denn es ist schon Abend«, sagte er, »und ich muß euch sehen können, wenn ich euch etwas zu sagen habe«). Man entzündete die drei Kerzen in der Laterne. Die Lichter verloren sich elendiglich in dem graublauen Rauch und verbreiteten durchaus nicht Helligkeit genug, als daß der Schmied seine Freunde hätte sehen können. Er aber glaubte, er sehe sie jetzt genau, die vielen Tausende seiner Zuhörer. Unter freiem Himmel stand er, in der warmen Sommernacht, und acht Windlichter leuchteten wie acht Monde. »Volk von Paris!« begann er – »ja, Volk von Frankreich! Man schleppt den Kaiser Napoleon – ich habe geheime Kunde erhalten – in dieser Stunde nach England, auf die Festung des Prinzregenten, nach London also. Man schleift schon das Beil, das ihn köpfen wird. Hört ihr, wie man es schleift? Sind wir Weiber oder Männer? Der Kaiser hat nicht freiwillig das Land verlassen, wie die Zeitungen erzählen. Verraten und auf ein Schiff geschleppt haben ihn die Leute, die er für seine liebsten Freunde hielt. Ein General – ihr kennt ihn alle – ich schäme mich, seinen Namen vor euch auszusprechen – hat drei Stunden vor der Schlacht dem Feind seine Pläne verraten. Verrat, Verrat, überall Verrat!« – Er hielt ein und streckte die Hand aus. »Verrat, Verrat!« riefen die andern. »Recht hat er, recht hat er!« Der Schmied Zyzurak sprach noch lange weiter, aber die Leute hörten ihm nicht mehr zu. Sie waren ein kleines Häuflein von zwölf Männern, aber jeder von ihnen hatte viel getrunken und wenig gegessen, und jeder von ihnen sah seinen Nächsten doppelt und auch vielfach, und in jedem von ihnen klang die Anrede nach: »Volk von Paris!«, und jeder einzelne fühlte sich allein schon als das Volk von Frankreich. Sie bemerkten nicht einmal, daß ihr Kamerad zu sprechen aufgehört hatte. Er hatte mitten in der Rede abgebrochen. Alle fühlten sie nur, daß unbedingt, um jeden Preis, irgend etwas getan werden müsse. Einer aber, ein Unteroffizier von den Dreizehner-Jägern, glaubte zu wissen, das einzige, was geschehen müsse, sei ein Ruf, der alte Ruf, den er so oft schon ausgestoßen hatte. »Es lebe der Kaiser!« schrie er. Alle antworteten mit dem gleichen Schrei. Sie nahmen die Pfeifen aus den Mündern und setzten noch einmal die Flaschen an. Plötzlich begann einer zu singen, das alte Lied, bei dessen Klang sie aufgewachsen und Männer und Soldaten geworden waren. Sie sangen mit heiseren Stimmen, aus trunkenen Herzen, das Lied der Marseillaise, den Gesang des französischen Volkes, das Lied des Kaisers und seiner Schlachten. Stark schaukelte die Laterne über dem Kopf Zyzuraks, die Scheiben klirrten. Die gesessen waren, erhoben sich und sangen mit. Sie traten den Takt mit den Füßen. Sie traten immerzu auf der Stelle, aber ihnen allen war, als marschierten sie weit, über die großen Straßen der Erde, über die sie der Kaiser einst geführt hatte. Erst als das Lied zu Ende war, sahen sie einander ratlos und töricht an. Der Zauber war von ihnen gefallen, sie erkannten, daß sie in der Stube Wokurkas geblieben waren, verschwunden waren die breiten Straßen, über die sie der Kaiser geführt hatte.

Es war lange still. Sie standen alle da, mit kraftlosen Armen, die Frauen mit heißen, roten, verlegenen Gesichtern. »Auf, gehen wir!« rief plötzlich einer in die Stille. – »Gehn wir!« sagten andere. »Wohin wollt ihr?« fragte Wokurka. – »Wohin? – hört nicht auf ihn«, rief der Jäger, »ich führe euch. Was ist unser Leben? Wer von euch fürchtet, es zu verlieren?!«

Sie waren begeistert vom Lied, von ihren eigenen Stimmen, betäubt vom Hunger, der seit vielen Tagen in ihnen wütete, berauscht vom Schnaps, der allein sie noch erhielt, und benebelt vom Rauch und erschlagen vom Unglück. Das Sinnlose erschien ihnen einfach, das Törichte nützlich. Dennoch zögerten sie noch, unentschlossen und furchtsam. Plötzlich rief Angelina – aber sie rief nicht selbst und nicht mit eigenem Willen, irgendeine unbekannte Kraft schrie aus ihr: – »Gehn wir!« Sie schrie es mit gellender Stimme, erschrak selbst, lauschte eine Weile, sah sich um, als wollte sie erkennen, wer eigentlich gerufen habe. Sie trat vor, hin zur Tür, erschrocken machte man ihr Platz, es war, als ginge ihr scharfer Schrei vor ihr her und machte ihr den Weg frei. Sie war barhäuptig, ihre roten Haare brannten, ihr kleines, armseliges, sommersprossiges Angesicht war hart, gehässig, gramvoll und auf einmal ganz alt. Sie wußte nicht mehr, was mit ihr geschah, sie stand an der Tür, sie ging hinaus, die Männer folgten ihr. Auf der Straße gingen sie einher, eine arme, dunkle Gruppe, unter dem silberblauen, abendlichen Himmel dahin, stumm zuerst, man hörte nur das Holzbein Wokurkas auf den Stein schlagen. Plötzlich begann der Jäger, die Marseillaise zu singen. Sie sangen mit. Sie erfüllten die Gasse mit heiserem Gesang. Die Fenster gingen auf. Menschen sahen hinunter. Einige winkten. Andere riefen: »Es lebe der Kaiser!« Sie hatten nicht weit zum königlichen Schloß, und in allen Köpfen erwachte gleichzeitig der sinnlose, heiße Wunsch, vor das Schloß zu ziehn. Eine winzige, eine lächerlich winzige Schar! Aber, da sie so gewaltig johlten, Rufe ihnen von vielen Fenstern zuflogen, schien es ihnen, sie seien Hunderte, Tausende, das Volk von Frankreich. Im nächsten Augenblick aber vernahmen sie von den Ufern der Seine her, denen sie entgegenschritten, das feindliche Lied und den übermächtigen Schrei aus wirklich tausend Kehlen: »Es lebe der König!« – Sie stießen so, das ärmliche Häufchen, mitten in den großen Zug der Königlichen, blieben zuerst stehen, wandten sich um und zerstreuten sich. Wokurka nur, der als letzter ging, versuchte Angelina zu erreichen. Er sah, wie auch sie zuerst stehengeblieben war. Im nächsten Augenblick eilte sie vorwärts, der Menge entgegen, mitten in die Flanke der Menge. Er glaubte, ihre roten Haare loderten jetzt wie ein wirkliches Feuer. Ihr Kleid flatterte, die Arme hatte sie erhoben, es sah aus, als flöge sie, von dem Brand ihres roten Haares überflackert. Mit einem grellen Schrei, der Wokurka wie ein unmenschlicher, tierischer, wilder und zugleich himmlisch-mächtiger vorkam, stürzte sie sich in die dunkle, dichte Schar. »Es lebe der Kaiser!« schrie sie. Und noch einmal: »Es lebe der Kaiser!« Wokurka sah, wie man sie faßte. Ein Teil der schreitenden Menge hielt einen Augenblick still, länger dauerte es nicht. Da wirbelte schon über den Köpfen Angelina durch die Luft. Ihr dunkles Kleid blähte sich weit, Hände hoben sich, um sie aufzufangen. Noch einmal warf man sie hoch, dann fiel sie irgendwo nieder, und unendlich marschierte die Menge weiter.

In der Mitte dieser königstreuen Menge, hoch über allen Köpfen, schwankte eine lächerliche Puppe, aus Fetzen zusammengeflickt, aus bunten, armen, lächerlichen Fetzen. Sie stellte den Kaiser Napoleon dar, den Kaiser in der Uniform, in der ihn das Volk von Frankreich kannte und verehrte, den Kaiser im grauen Rock, mit dem schwarzen, kleinen Hut auf dem Haupte.

An der Brust dieser Puppe hing, an einem groben Strick aufgehängt, ein schwerer, weißer Karton, auf dem mit groben, schwarzen Buchstaben, die weithin leserlich sein mußten, die ersten Verse der Marseillaise, des Liedes der Franzosen, aufgezeichnet waren: »Allons, enfants de la patrie!« Der armselige, aus armseligem Stoff hergestellte Kopf des Kaisers hing an einem äußerst nachgiebigen Lappen und wackelte jämmerlich rechts und links, fiel bald vornüber und hierauf nach hinten; es war gleichsam ein bereits geköpfter Kaiser, obwohl sein Kopf noch immer an dem schändlichen Lappen hing. Die Puppe, die den Kaiser Napoleon darstellte, schwebte und schwankte zwischen den zahllosen Fahnen des Königs, zwischen den weißen bourbonischen Fahnen, die Puppe selbst ein Spott und dennoch noch einmal verspottet, sie selbst ein Hohn und noch hundertmal verhöhnt.

Als die Königstreuen Angelina, die Kleine, sahen, die immer, auch während man sie hoch warf wie einen Ball, die Marseillaise zu singen versuchte, aus gepreßter Kehle und aus einem Herzen, das seinen Tod schon nahe fühlte, gefiel es einem der Königstreuen, ihr die Puppe, die den Kaiser Napoleon darstellen sollte, nachzuwerfen. Wie man also die kleine Angelina in der Luft herumwirbelte und schließlich an das steinige Ufer der Seine warf, geschah es, daß die jämmerliche Puppe knapp über ihren hingeschmetterten Körper fiel. Sie aber sah in diesem Augenblick nicht, daß es eine Puppe war, ein Hohn auf den Kaiser, ein Hohn aus armen Lappen. Sie sah nicht den also verspotteten, sondern sie sah den wirklichen Kaiser neben sich, hart neben ihrem zerschmetterten Körper. Und sie las noch ganz deutlich die ersten Worte der Marseillaise, des Liedes der Franzosen: »Allons, enfants de la patrie! . . .« Als sie diese ersten Worte des großen Liedes las, begann sie auch, das Lied zu singen, das oft gehörte, niemals genug gehörte Lied. Mit dem Lied auf den Lippen schlief sie ein, hart neben der Figur des Kaisers, eines Kaisers aus Fetzen und Lumpen, und vor ihren brechenden Augen die ersten Verse der Marseillaise und den schwarzen, kleinen Hut Napoleons, den lächerlich gemachten, zerfetzten kaiserlichen Hut.

Als der Zug vorbei war (es dauerte eine Ewigkeit), humpelte Wokurka hinüber. Er fand Angelina an der Uferböschung. Ihr Blut rötete das Steingeröll. Es sickerte langsam und stetig aus dem Munde.

Er saß neben ihr die ganze Nacht. Er wagte nicht, sie anzusehen. Er streichelte unermüdlich ihr Haar, es knisterte noch. Eifrig gurgelte die Seine an ihm vorbei, er sah hartnäckig, gedankenlos, betäubt in das hurtig dahinfließende Wasser. Es trug den Himmel, der sich darin spiegelte, mit sich fort und alle seine silbernen Sterne.


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