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Erstes Buch
Die Heimkehr des großen Kaisers

I

Die Sonne tauchte blutrot, winzig und vergrämt aus den Nebeln. Bald verschwand sie wieder im kalten Grau dieses Morgens. Ein mißmutiger Tag brach an. Es war der zwanzigste März, also ein Tag vor dem Anfang des Frühlings. Man spürte ihn noch nirgends. Es regnete und stürmte im ganzen Lande, und die Menschen froren.

Es hatte noch gestern nacht in Paris gestürmt und geregnet. Heute verstummten die Vögel jäh, nach einem kurzen, morgendlichen Jubel. In dünnen, gehässigen und kalt schwelenden Fäden stieg der Nebel aus den Ritzen zwischen dem Pflaster empor, näßte die Steine aufs neue, die der Morgenwind soeben getrocknet hatte, schwebte um die Weiden und Kastanien in den Parks und an den Rändern der Alleen, ließ die fürwitzigen Knöspchen der Bäume erzittern, jagte deutlich sichtbare Schauder über die feuchten Rücken der geduldigen Fiakergäule und drückte den Rauch, der hier und dort aus morgenfleißigen Kaminen aufzusteigen versuchte, gegen die Erde. Es roch nach Brand, Nebel, Regen, feuchten Kleidern, lauernden Schneewolken und vorderhand verhindertem Hagel, nach unfreundlichem Wind, durchnäßtem Lederzeug und nach häßlich dünstenden Kanälen.

Dennoch hielt es die Einwohner der Stadt Paris nicht in ihren Häusern. Zu früher Stunde schon drängten sich die Menschen in den Straßen. Sie versammelten sich vor den Wänden, an denen Zeitungsblätter klebten. Diese Zeitungen enthielten die Abschiedsworte des Königs von Frankreich. Es waren kaum leserliche, geradezu verweinte Zeitungen, denn der nächtliche Regen hatte ihre frischen Lettern verwischt und hie und da auch den Leim gelöst, mit dem sie an den Stein geklebt waren. Von Zeit zu Zeit riß ein stürmischer Windstoß ein Blatt vollends von der Mauer und schleuderte es in den schwarzen Kot der Straße. Also wurden die Abschiedsworte des Königs von Frankreich schmählich vernichtet, im Kot der Straße, unter den Rädern der Wagen, unter den Hufen der Pferde, unter den achtlosen Tritten der Fußgänger.

Manche, die dem König treu geblieben waren, sahen diesen Blättern wehmütig und ergeben nach. Der Himmel selbst schien ihm ungünstig gesinnt. Sturm und Regen ließen es sich angelegen sein, seine Abschiedsworte zu vernichten. In Wind und Regen hatte er gestern abend sein Schloß und seine Residenz verlassen. »Macht mir das Herz nicht schwer, Kinder!« sagte er, als sie ihn auf den Knien baten zu bleiben. Er konnte nicht bleiben, der Himmel war gegen ihn . . . man sah es.

Er war ein guter König. Wenige liebten ihn, aber viele im Lande hatten ihn gern. Er hatte kein gutes Herz, aber es war ein königliches. Er war alt, wohlbeleibt, schwerfällig, friedfertig und stolz. Er kannte das Unglück der Heimatlosigkeit, denn er war in der Verbannung alt geworden. Er traute den Menschen nicht, wie jeder Unglückliche. Er liebte das Maß, die Ruhe und den Frieden. Einsam war er und den Menschen fremd – denn die wahren Könige sind fremd und einsam. Er war arm und alt, wohlbeleibt und schwerfällig, würdig, bedächtig und unglücklich. Wenige liebten ihn, aber viele hatten ihn gern im Lande.

Der alte König floh vor einem großen Schatten, dem Schatten des gewaltsamen Kaisers Napoleon, der sich seit zwanzig Tagen der Hauptstadt des Landes näherte. Der Kaiser warf seinen Schatten voraus, und es war ein schwerer Schatten. Er wuchtete auf dem Lande und fast auf der ganzen Welt. Man kannte ihn gut im Lande und überall auf Erden. Seine Würde war eine andere als die der geborenen Könige: Er besaß die Würde der Gewalt. Seine Krone hatte er erworben und erobert und nicht geerbt. Er stammte aus einem unbekannten Geschlecht. Und selbst seinen namenlosen Vorfahren verlieh er noch Ruhm. Er schenkte Glanz seinen Ahnen, statt ihn von ihnen zu empfangen wie die geborenen Kaiser und Könige. Also ward er allen Namenlosen ebenso verwandt wie den Trägern altererbter Würden. Indem er sich selbst erhob, adelte, krönte, erhob er alle Namenlosen im gemeinen Volk, und also liebte es ihn. Erschreckt, besiegt und im Zaum gehalten hatte er eine geraume Zeit die Großen dieser Erde, und deshalb hielten ihn die Kleinen für ihren Rächer und anerkannten ihn als ihren Herrn. Sie liebten ihn, weil er ihresgleichen zu sein schien – und weil er dennoch größer war als sie. Ihnen gab er ein Beispiel; eine Aufmunterung war er ihnen.

Überall in der Welt kannte man den Namen des Kaisers – aber wenige wußten von ihm. Denn wie ein wahrer König war auch er einsam. Er wurde geliebt und gehaßt, gefürchtet und verehrt und selten erkannt. Man konnte ihn nur hassen, lieben, fürchten, anbeten, als wäre er ein Gott. Und er war ein Mensch.

Er selbst haßte, liebte, fürchtete und verehrte. Er war stark und schwach, verwegen und mutlos, treu und verräterisch, leidenschaftlich und gleichgültig, hochmütig und einfach, stolz und niedrig, gewaltig und armselig, treuherzig und mißtrauisch.

 

Er verhieß den Menschen Freiheit und Würde – aber wer in seine Dienste trat, verlor die Freiheit und ergab sich ihm vollends. Er schätzte das Volk und die Völker gering, und er buhlte um die Gunst des Volkes. Er verachtete die geborenen Könige, und wollte ihre Freundschaft und ihre Anerkennung. Er glaubte an Gott, und er fürchtete ihn wenig. Vertraut war ihm der Tod, und er wollte nicht sterben. Er achtete das Leben gering, und er wollte es genießen. Er schätzte die Liebe nicht, und er wollte die Frauen besitzen. Er glaubte nicht an die Treue und an die Freundschaft, und er suchte unermüdlich, Freunde zu gewinnen. Er schätzte diese Welt wenig, und er wollte sie erobern. Er traute den Menschen nicht, bevor sie nicht bereit waren, für ihn zu sterben: also machte er aus ihnen Soldaten. Damit er ihrer Liebe sicher sei, lehrte er sie, ihm zu gehorchen. Damit er ihrer sicher sei, mußten sie sterben. Beglücken wollte er die Welt, und er verschaffte ihr Plage. Ach, und man liebte ihn noch seiner Schwäche wegen. Denn wo er sich schwach erwies, sahen die Menschen, daß er ihresgleichen sei, und sie liebten ihn, weil sie sich ihm verwandt fühlten. Und wenn er sich stark zeigte, liebten sie ihn gerade deswegen und weil er nicht ihresgleichen zu sein schien. Und wer ihn nicht liebte, haßte ihn oder fürchtete ihn. Er war stark und wankelmütig, treu und verräterisch, mutig und furchtsam, erhaben und gering.

Jetzt stand er vor den Toren der Stadt Paris.

Aus Furcht warfen die einen und andere aus Freude die Abzeichen weg, die der König eingeführt hatte.

Die Farbe des Königs und seines Hauses war die weiße gewesen. Die sich zu ihm bekannt hatten, trugen weiße Schleifen am Rock.

Heute aber verloren Hunderte, wie durch einen Zufall, ihre weißen Schleifen. Nun lagen sie, geschändete, verleugnete Schmetterlinge, im schwarzen Kot der Straße.

Die Blume des Königs und seines Hauses war die unnahbare, jungfräuliche Lilie gewesen. Jetzt lagen Hunderte weggeworfene, verleugnete, geschändete Lilien aus Stoff und Seide im schwarzen Kot der Straße. Die Farben des herannahenden Kaisers aber waren: Blau und Weiß und Rot: blau wie der Himmel und die Ferne; weiß wie der Schnee und der Tod; rot wie das Blut und die Freiheit.

Auf einmal sah man in der Stadt Tausende von Menschen mit blau-weiß-roten Schleifen an den Röcken und an den Hüten.

Und statt der keuschen, stolzen Lilie trugen sie die bescheidenste aller Blumen: das Veilchen.

Es ist eine demütige und eine tapfere Blume. Sie hat die Tugenden des namenlosen Volkes. Kaum erkannt blüht sie im Schatten der großen Bäume, und mit einer bescheidenen und würdigen Tollkühnheit begrüßt sie als erste aller Blumen den Frühling. Und ihr dunkelblauer Schimmer erinnert ebenso an den morgendlichen Dunst vor dem Aufgang der Sonne wie an den abendlichen vor dem Anbruch der Nacht. Es war die Blume des Kaisers. Man nannte ihn den »Vater des Veilchens«.

Nun sah man Tausende aus dem Volk, aus den Vorstädten von Paris gegen den Mittelpunkt der Stadt, gegen das Schloß heranziehen, alle mit Veilchen geschmückt. Es war ein Tag vor dem Anfang des Frühlings, ein unfreundlicher Tag, ein mißmutiger Frühling. Aber das Veilchen, die mutigste aller Blumen, blühte schon vor den Toren der Stadt, in den Wäldern. Und es war, als trüge das Volk aus den Vorstädten den lebendigen Frühling in die steinerne Stadt, vor das steinerne Schloß. Die frischgepflückten Veilchensträuße blauten an den Spitzen der erhobenen Stöcke der Männer, zwischen den warmen und schwellenden Brüsten der Frauen, an den hochgeschwenkten Hüten und Mützen, in den grüßenden Händen der Arbeiter und Handwerker, an den Degen der Offiziere, an den Trommeln der alten Tamboure und an den silbernen Trompeten der alten Trompeter. An der Spitze mancher Gruppen marschierten die Taboure der alten kaiserlichen Armee. Sie trommelten die alten Schlachtenmelodien auf die alten Kalbfelle, ließen die beschwingten Schlegel in der Luft wirbeln und fingen sie, die heimkehrenden schlanken Vögelchen, in den väterlich geöffneten Händen wieder auf. An der Spitze anderer Gruppen, oder auch in ihrer Mitte, marschierten die alten Trompeter der alten Armee, und von Zeit zu Zeit setzten sie ihre Hörner an die Lippen und bliesen die alten Schlachtrufe des Kaisers, die wehmütigen und einfachen Rufe des Todes und des Sieges, von denen jeder jeden Soldaten an seinen Schwur erinnerte, für den Kaiser zu sterben, und auch an den letzten Seufzer der geliebten Frau, bevor man sie verließ, um für den Kaiser zu sterben. Mitten zwischen vielen Menschen und rittlings auf Schultern sah man die alten Offiziere des Kaisers. Sie schwankten, ja, sie wurden geschwenkt über den wogenden Köpfen der Menge wie lebendige, menschliche Fahnen. Sie hatten ihre Degen gezogen. An deren Spitzen flatterten ihre Hüte wie kleine, schwarze Fahnen, geschmückt mit den dreifarbigen Kokarden des Kaisers und des Volkes von Frankreich. Und von Zeit zu Zeit und als bedrückte der nicht oft genug ausgestoßene Schrei immer noch die Herzen der Frauen und Männer, riefen sie: »Es lebe Frankreich! Es lebe der Kaiser! Es lebe das Volk! Es lebe der Vater des Veilchens! Es lebe die Freiheit! Es lebe der Kaiser!« Und noch einmal: »Es lebe der Kaiser!« – Manchmal auch, mitten in einer Gruppe, begann ein Begeisterter zu singen. Er sang die alten Lieder der alten Soldaten, aus alten Schlachten, die Lieder, die den Abschied der Menschen vom Leben besingen, ihr Gebet vor dem Tod, die gesungene Beichte des Soldaten, der keine Zeit hat zur letzten Absolution, seine Liebe zum Leben und seine Liebe zum Sterben, die Lieder, die den Tritt der Regimenter enthalten und das Knattern der Gewehre. Plötzlich stimmte einer das längst nicht mehr gehörte Lied, die Marseillaise, an – und alle Tausende fielen ein in diesen Gesang. Es war das Lied des Volkes von Frankreich. Es war das Lied der Freiheit und des Gehorsams. Es war das Lied des Vaterlandes und der ganzen Welt. Es war das Lied des Kaisers, wie das Veilchen seine Blume war, wie der Adler sein Vogel war, wie die Farben Blau, Weiß, Rot seine Farben waren. Es adelte den Sieg und überglänzte auch noch die verlorenen Schlachten. Es enthielt den Triumph und seinen Bruder, den Tod. Es enthielt die Verzweiflung und die Zuversicht. Jeder einzelne, der die Marseillaise vor sich hinsingt, wird der mächtige Genosse und Freund der vielen, deren Lied sie ist. Und wer sie gemeinsam mit vielen anstimmt, fühlt seine ewige Einsamkeit, obwohl er mitten unter vielen ist. Denn die Marseillaise verkündet den Triumph und den Untergang, die Gemeinschaft mit der Welt und die Verlassenheit jedes einzelnen, die trügerische Macht des Menschen und seine sichere Ohnmacht, es ist das singende Leben und der singende Tod. Es ist das Lied des Volkes von Frankreich.

Man sang es an dem Tage, an dem der Kaiser Napoleon heimkehrte.

II

Manche seiner alten Freunde eilten ihm entgegen, um ihn noch unterwegs einzuholen. Andere machten sich bereit, ihn erst in der Stadt zu empfangen. Schon war die weiße Fahne des Königs vom Turm des Rathauses verschwunden, schon flatterte an ihm die blau-weiß-rote des Kaisers. Und an den Mauern, an denen heute morgen noch die Abschiedsworte des Königs geklebt hatten, hafteten jetzt neue, nicht mehr verweinte, vom Regen verwüstete, sondern klare, leserliche, saubere und trockene Blätter. Über ihnen schwebte in mächtiger Beharrlichkeit der kaiserliche Adler, als beschützten seine starken, schwarzen Schwingen die schwarzen, sauberen Schriftzeichen und als hätte er sie selbst, Zeichen um Zeichen, aus seinem gefährlichen und beredten Schnabel fallen gelassen. Es war das Manifest des Kaisers. Und wieder versammelten sich die Leute vor den gleichen Mauern, und in jeder Gruppe las einer mit lauter Stimme die Worte des Kaisers vor. Das war ein anderer Klang als der wehmütige Abschied des Königs. Die Worte des Kaisers waren blank und stark, in ihnen schwang das Rattern der Trommeln, der harte Ruf der Trompeten und die anstürmende Stimme der Marseillaise. Und es war, als verwandelte sich die Stimme eines jeden, der die Worte des Kaisers vorlas, in die Stimme des Kaisers selbst, und es war, als spräche er, noch nicht angekommen, bereits aus zehntausend vorausgesandten Boten zum Volk von Paris. Ja, bald war es, als sprächen die Zeitungen selbst von den Wänden. Die gedruckten Worte verlauteten sich selbst, die Lettern riefen, und über ihnen schien der mächtig und geruhsam schwebende Adler seine Schwingen zu rühren. Der Kaiser kam. Schon hallte seine Stimme von allen Wänden.

 

Die alten Freunde, die alten Würdenträger und ihre Frauen eilten zum Schloß. Die Generäle und Minister zogen ihre alten Uniformen an, legten ihre kaiserlichen Auszeichnungen um, und nun, da sie sich im Spiegel besahen, bevor sie ihr Haus verließen, war es ihnen, als hätten sie seit der Abwesenheit des Kaisers gar nicht gelebt, sondern einen tauben Schlaf getan und wären erst heute zum Leben erwacht. Glücklicher noch waren die Damen des kaiserlichen Hofes, als sie ihre alten Kleider wieder anzogen. Schon hatten sie gedacht, ihre Jugend sei verloren, ihre Schönheit verwelkt, ihr Glanz erloschen. Nun aber, da sie ihre Kleider anlegten, die Zeugen ihrer Jugend und ihrer seligen Triumphe, glaubten sie zu sehen, daß die Zeit stillgestanden sei seit der Abfahrt des Kaisers. Ja, die Zeit, die Feindin der Frauen, hatte gelähmt innegehalten, ein wüster Traum waren die rollenden Stunden gewesen, die schleichenden Wochen, die langweiligen und langsam mordenden Monate. Die Spiegel trogen nicht mehr. Sie gaben die wirklichen Bilder der Jugend wieder. Und mit triumphierenden Schritten, auf seliger beschwingten Füßen, als es jugendliche sein können – denn es waren verjüngte und zur Jugend wiedererwachte Füße –, bestiegen die Damen ihre Wagen und fuhren zum Schloß, umjubelt vom nachdrängenden und vom wartenden Volk.

In den Gärten vor dem Schloß wartete es, vor den Toren stieß es sich. In jedem ankommenden Minister und General sah es einen neuen Boten des Kaisers. Es kamen auch die niederen Bedienten, die alten Köche und Kutscher und Bäcker und Wäscherinnen des Kaisers, die Stallmeister und die Pferdeknechte, die Schneider und die Schuster, die Maurer und die Tapezierer, die Lakaien und die Dienstmägde. Und man begann, das Schloß für den Kaiser herzurichten, damit er es wiederfinde, wie er es verlassen hatte, und damit ihn nichts mehr an den geflohenen König erinnere. In dieser Arbeit vereinigten sich die hohen Damen und Herren mit den niederen Bedienten. Ja, eifriger als diese begannen die Damen des kaiserlichen Hofes, ohngeachtet ihrer Würde, ihrer leicht zu verderbenden Kleider und ihrer behüteten Fingernägel, die Tapeten, die weißen Lilien des Königs, von den Wänden zu schälen, zu reißen, zu kratzen, mit Rachsucht, Wut, Ungeduld und Begeisterung. Unter den Tapeten des Königs erschienen wieder die alten, wohlbekannten Zeichen des Kaisers, unzählige goldfarbene Bienen mit gläsernen, zart geäderten, gespreizten Flügelchen und schwarzgestreiftem Hinterteil, kaiserliche Insekten, die emsigen Bereiter der Süße. Soldaten der alten Armee brachten die kaiserlichen Adler aus golden glänzendem Messing und stellten sie an allen vier Ecken auf, damit der Kaiser in dem Augenblick seiner Ankunft wisse, daß die Soldaten ihn erwarteten – auch jene, die ihn nicht bei seinem Einzug begleiten konnten.

Inzwischen brach die frühe Dämmerung herein – und der Kaiser war noch immer nicht gekommen. Die Laternen vor dem Schloß entzündeten sich. Die Windlichter flammten an den Rändern der Straßen auf. Sie kämpften gegen Nebel, Feuchtigkeit und Wind.

Man wartete, man wartete. Endlich hörte man das regelmäßige Getrappel militärischer Pferdehufe. Man wußte: Es waren die Dreizehner-Dragoner. Ihnen voran ritt der Oberst, sein Säbel glänzte, ein silberner, schmaler Blitz, in der trüben Finsternis – und der Oberst rief: »Platz für den Kaiser!« Hochragend auf seinem braunen Roß, das im Dunkel kaum sichtbar wurde, das weiße, breite Angesicht mit dem großen, schwarzen Schnurrbart über den Köpfen der herandrängenden Menschen, die blanke Waffe in erhobener Hand, von Zeit zu Zeit seinen Ruf: »Platz dem Kaiser!« wiederholend, von Zeit zu Zeit gelblich umschimmert von den flackernden Windlichtern und schnell wieder aus ihrem Leuchtkreis verschwindend, erinnerte er das Volk an den leibhaftigen, kriegerischen, ja grausamen Schutzengel, dessen sich der Kaiser versichert haben mochte. Denn es war dem Volk, als befähle der Kaiser sogar seinen Schutzengeln in dieser Stunde . . .

Und da kam auch, begleitet von den Dragonern, schon sein Wagen, auf hurtigen Rädern, deren Rollen erstarb unter dem Getrappel der Hufe.

Man hielt vor dem Schloß.

Als der Kaiser aus dem Wagen stieg, streckten sich ihm viele weiße, offene Hände entgegen. In diesem Augenblick, gebannt von den beschwörenden Händen, verlor er Willen und Bewußtsein. Diese liebenden, weißen Hände, die sich ihm entgegenstreckten, schienen ihm furchtbarer als feindliche und bewaffnete. Jede einzelne Hand war wie ein weißes, liebevolles und sehnsüchtiges Angesicht. Die Liebe der ausgestreckten, blanken Hände strömte dem Kaiser entgegen, eine heftige und gefährliche Beschwörung. Was verlangten diese Hände? Was alles wollten sie von ihm? Diese Hände beteten, forderten und befahlen zugleich: Hände, die man Göttern entgegenstreckt.

Er schloß die Augen und fühlte schon, wie ihn die Hände hoben und wie er auf unbekannten Schultern dahinzuschwanken begann, die Treppe zum Schloß empor, und er hörte noch die wohlbekannte Stimme seines Freundes, des Generals Lavalette: »Sie sind es! Sie sind's! Sie sind's – mein Kaiser!« Er erkannte an der Stimme und am Atem, die ihm zugewandt waren, daß sein Freund rücklings vor ihm die Treppe hinanstieg. Der Kaiser öffnete die Augen – und er sah die ausgebreiteten Arme seines Freundes Lavalette und die weiße Fläche seines Gesichts.

Er erschrak und schloß wieder die Augen. Einem Schlafenden und Ohnmächtigen ähnlich, erreichte er, getragen, geführt und gestützt, sein altes Zimmer. Schrecken und Glück, also ein schreckliches Glück im Herzen, setzte er sich an den Schreibtisch.

Er sah wie durch einen Nebel einige seiner Freunde im Zimmer. Von der Straße her, hinter den geschlossenen Fenstern, hörte er die lärmenden Rufe des Volkes, das Wiehern der Pferde, das Klirren der Waffen, das helle Klingeln der Sporen, und aus dem Vorzimmer, hinter der hohen, weißen Tür, der gegenüber er saß, Gemurmel und Geflüster vieler Stimmen, und von Zeit zu Zeit war es ihm, als erkenne er diese und jene. Alles nahm er wahr, deutlich und verschwommen, ferne und nah zugleich, und alles beglückte und alles schauderte ihn zu gleicher Zeit. Es war ihm, als sei er endlich heimgekehrt und zugleich weit von irgendeinem Sturm davongetragen worden. Allmählich zwang er sich achtzugeben, befahl er seinen Augen zu beobachten, seinen Ohren zu horchen. Er saß reglos vor dem Schreibtisch. Ihm allein galten die Rufe draußen vor den Fenstern. Seinetwegen standen die Freunde hier im Zimmer und warteten. Seinetwegen murmelten und flüsterten die vielen Stimmen hinter der geschlossenen Tür im Vorzimmer. Auf einmal war es ihm, als sähe er im ganzen großen Lande Frankreich alle, viele Tausende Freunde stehen und warten. Im ganzen Lande riefen Millionen wie hier die Hunderte: »Es lebe der Kaiser!« In allen Zimmern flüsterte, murmelte und sprach man von ihm. Er hätte sich gerne noch ein wenig Muße gegönnt, um über sich so nachzudenken, als wäre er ein Fremder. Da hörte er hinter seinem Rücken auf dem Kamin das regelmäßige und unbarmherzige Ticken der Standuhr. Die Zeit lief – auf einmal begann die Uhr mit ihrer dünnen, wehmütigen Glocke zu schlagen. Es war elf Uhr, eine Stunde vor Mitternacht. Der Kaiser erhob sich.

Er trat zum Fenster. Von allen Türmen der Stadt verkündeten die Glocken die elfte Stunde. Er liebte die Glocken. Seit seiner Kindheit hatte er sie geliebt. Er schätzte die Kirchen gering, er stand ratlos und manchmal sogar furchtsam vor dem Kreuz, aber die Glocken liebte er. Sein Herz antwortete ihnen. Ihre Stimmen machten ihn feierlich. Ihm schien es, daß sie mehr verkündeten als nur die Stunden und die Gottesdienste. Sie waren die Zungen des Himmels. Welcher Irdische verstand ihre goldene Sprache? Jede Stunde schlugen sie fromm, sie allein mochten wissen, welche die entscheidende war. Er blieb am Fenster und genoß ihren mählich verklingenden Nachhall. Dann wandte er sich um. Er ging zur Tür und riß sie auf. Er blieb an der Schwelle stehn und überflog die Gesichter der Versammelten. Da waren sie alle, er erkannte sie, er hatte sie nie vergessen, denn er hatte sie ja selbst geschaffen: der Herzog von Bassano und Cambacérès, die Herzöge von Padua, von Rovigo, von Gaëte, die Thibeaudeau, die Decrès und Daru und Davout. Er warf einen Blick ins Zimmer zurück, da waren seine Freunde Caulaincourt und Exelmans und der junge, unschuldsvolle Fleury de Chaboulon. – Ach, es gab noch Freunde. Der und jener hatte ihn verraten. War er ein Gott, zu strafen und zu zürnen? Er war nur ein Mensch. Sie aber hielten ihn für einen Gott. Und wie von einem Gott verlangten sie von ihm Zorn und Strafe, und wie von einem Gott erwarteten sie von ihm Verzeihung. Er aber hatte keine Zeit mehr, wie ein Gott zu zürnen und zu strafen und hierauf zu verzeihen. Er hatte keine Zeit. Deutlicher als die Rufe der Menge vor den Fenstern und die vielfältigen Geräusche seiner Dragoner in den Gärten und im Haus hörte er das zarte, aber unbarmherzige Ticken der Standuhr auf dem Kamin hinter seinem Rücken. Er hatte keine Zeit mehr zu strafen. Er hatte nur noch Zeit, zu verzeihen und sich lieben zu lassen, zu schenken und zu geben: Gnaden, Titel und Ämter, alle armseligen Gaben, die ein Kaiser zu vergeben hat. Die Großmut verlangt weniger Zeit als der Zorn. Er war großmütig.

III

Die Glocken schlugen Mitternacht. Die Zeit lief, die Zeit rannte. Das Ministerium! Die Regierung! Der Kaiser mußte eine Regierung haben! Kann man ohne Minister und ohne Freunde regieren? Die Minister, die man bestellt, damit sie andere überwachen, müssen auch noch bewacht werden! Die Freunde, denen man vertraut, werden selber mißtrauisch und erwecken Mißtrauen! Das Volk, das vor den Fenstern jubelt und heute die Nacht zum Tage macht, ist wankelmütig! Der Gott, auf den man vertraut, ist unbekannt und unsichtbar! Jetzt hat der Kaiser das Ministerium: Namen! Namen! Decrès verwaltet die Marine und Caulaincourt das Ministerium des Äußeren; Mollieu den Staatsschatz und Gaudin die Finanzen; Carnot wird hoffentlich der Minister des Innern werden; und Cambacérès wird Erzkanzler: Namen! Namen! – Von den Türmen schlägt es eins und zwei, und bald bricht der Morgen an . . . Wer wird die Polizei übernehmen?

Eine Polizei braucht der Kaiser, ein Schutzengel genügt nicht. Der Kaiser erinnert sich seines alten Ministers der Polizei, Fouché hieß er. Der Kaiser konnte Befehl geben, den Gehaßten zu verhaften und sogar zu töten. Der hatte ihn verraten. Der kannte alle Geheimnisse im Lande, alle Freunde und alle Feinde des Kaisers. Er konnte verraten und beschützen – und beides zugleich. Ach, alle Freunde, denen man eben noch vertraut hatte, nannten seinen Namen! Er sei geschickt und dem Mächtigen treu, sagten sie. War der Kaiser nicht mächtig? Konnte jemand an seiner Macht zweifeln, und durfte jemand seine Angst sehen? Gab es einen Mann im Lande, den der Kaiser fürchten durfte?

»Holt mir den Fouché!« befahl der Kaiser. »Und laßt mich allein!«

IV

Er sah sich im Zimmer um, zum erstenmal, seitdem er es betreten hatte. Er stellte sich vor den Spiegel. Er sah sein Spiegelbild bis zur Brust. Er runzelte die Brauen, versuchte zu lächeln, prüfte seine Lippen, öffnete den Mund und betrachtete seine weißen, gesunden Zähne. Er kämmte mit den Fingern sein schwarzes Haar in die Stirn, lächelte seinem Spiegelbild zu, der große Kaiser dem großen Kaiser. Er war mit sich zufrieden. Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sich aufs neue. Er war allein, stark, jung und gesund. Er fürchtete keinen Verräter.

Er ging rundum durch das Zimmer, betrachtete die eben abgerissenen Tapeten, die zerfetzten Lilien des Königs, schmunzelte, hob einen der messingnen Adler hoch, der in der Ecke lehnte, und blieb schließlich vor einem kleinen Altar stehn. Es war ein glattes Stück aus schwarzem Holz. Ein verlorener, ferner Duft von Weihrauch entströmte dem verschlossenen Schubfach, und auf dem Altar stand, weiß und gespenstisch, ein kleines, elfenbeinernes Kruzifix. Unbeweglich, unveränderlich, ewig ragte das knöcherne, spitze, bärtige Angesicht des Gekreuzigten in die unstete, von unsteten Kerzen erhaltene Helligkeit des Zimmers. Sie haben vergessen, den Altar zu entfernen, dachte der Kaiser. Hier hat jeden Morgen der König gekniet. Und Christus hat ihn nicht erhört! »Ich brauche keinen!« sagte der Kaiser plötzlich laut. Und: »Weg mit ihm!« Er hob die Hand. Und es war ihm in diesem Augenblick, als müßte er knien. Und er fegte dennoch in diesem gleichen Augenblick mit einer flachen, wie zur Ohrfeige geöffneten Hand das Kruzifix vom Altar zu Boden. Es fiel auf den schmalen Streifen unbedeckten Parketts, mit trockenem, hartem Schlag. Der Kaiser bückte sich. Das Kreuz war zerbrochen. Mit ausgebreiteten, elfenbeinernen, dünnen Armen, die ihren schmerzlichen Halt nicht mehr hatten, lag auf dem nackten, blonden, schmalen Brett des Parketts der Erlöser, das weiße Bärtchen und die spitze Nase gegen den Plafond gestreckt, nur noch die verschlungenen Beine und Füße am unversehrt gebliebenen Stamm des kleinen Kreuzes.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und man meldete den Minister der Polizei.

V

Der Kaiser blieb an der gleichen Stelle stehn. Sein linker Stiefel verdeckte die weißlichen Trümmer des Kruzifixes. Er verschränkte die Arme, wie es seine Art war, wenn er etwas erwartete, wenn er etwas überlegte oder wenn er den Anschein erwecken wollte, daß er etwas überlege. Er hielt sich so selbst gleichsam fest, er fühlte seinen Körper mit seinen eigenen Händen, den Schlag seines Herzens prüfte und ordnete er mit der rechten Hand. Man kannte und liebte diese seine Haltung. Vielhundertmal hatte er sie vor dem Spiegel probiert. Vieltausendmal hatte man ihn so gemalt und gezeichnet. Diese Bilder hingen in vieltausend Stuben, in Frankreich und in allen Ländern der Welt, in Rußland und Ägypten. Ach, er kannte, seinen Polizeiminister, den gefährlichen, ungläubigen, alten und ewigen, der niemals jung gewesen war und der niemals geglaubt hatte. Eine dürre, glänzende Spinne, hatte er Netze geflochten und zerstört, zähe, geduldig und ohne Leidenschaft. Den ungläubigsten aller Menschen, den eidbrüchigen Priester, empfing der Kaiser in der Haltung, in der ihn Millionen Gläubige zu sehen gewohnt waren. Da er jetzt die Arme verschränkte, fühlte er nicht nur sich selbst, sondern er ließ auch den Gehaßten den Glauben der Millionen Gläubigen fühlen, die den Kaiser mit seinen verschränkten Armen verehrten und liebten. Als sein eigenes Denkmal erwartete der Kaiser den Minister.

Der Minister stand schon da, er hielt den Kopf geneigt. Der Kaiser rührte sich nicht. Es war, als hätte sich der Minister verneigt, nicht wie man den Kopf beugt vor den Großen, sondern wie man ihn hält, um das Gesicht zu verbergen und wie um irgend etwas auf dem Boden zu suchen. Der Kaiser dachte an das zerbrochene Kruzifix, das sein linker Stiefel verdecken mochte – und vor jedermann gewiß verborgen hätte, nur nicht vor dem Blick dieses Polizisten. Es erschien dem Kaiser unwürdig, seinen Platz zu verlassen, und unwürdig auch, daß er etwas verbarg. »Sehen Sie mir ins Gesicht!« befahl er, und er legte den alten, siegreichen Klang in seine Stimme. Der Minister hob den Kopf. Er hatte ein dürres Gesicht, Augen von unbestimmbarer Farbe, zwischen hell und dunkel, die sich vergeblich bemühten, ganz geöffnet zu sein, dem Zwang der Lider zu widerstehen, die von selbst immer wieder niederfielen, obwohl er sich den Anschein gab, als versuchte er, sie immer wieder zu heben. Seine kaiserliche Uniform war tadellos und vorschriftsmäßig, aber wie um die ungewohnt nächtliche Stunde anzudeuten, in der sich ihr Träger befinden sollte, nicht ganz geschlossen. Wie durch Zufall war ein Knopf an der Weste offen. Der Kaiser sollte diesen Mangel sehn – und er sah ihn auch. »Ordnen Sie Ihr Kleid!« sagte der Kaiser. Der Minister lächelte und schloß den Knopf.

»Majestät!« begann der Minister, »ich bin Ihr Diener!«

»Ein getreuer Diener!« sagte der Kaiser.

»Einer Ihrer treusten!« erwiderte der Minister.

»Man hat nicht viel davon gemerkt«, sagte der Kaiser sanft, »in den letzten zehn Monaten.«

»Aber in den letzten zwei«, antwortete der Minister. »An meinem Glück, Eure Majestät heute hier wiederzusehn, habe ich seit zwei Monaten gearbeitet.«

Der Minister sprach langsam und leise. Er hob nicht, er senkte nicht den Ton. Aus seinem schmalen Mund schlichen die Worte hervor, eine Art rundlicher, wohlgenährter Schatten, stark genug, wahrgenommen zu werden, behutsam genug, um nicht ebenso kräftig zu werden wie die Worte des Kaisers. Seine langen, sacht gekrümmten Hände hielt der Minister hilflos und respektvoll an den Schenkeln. Es war, als verneigte er sich auch mit den Händen.

»Ich habe beschlossen«, sagte der Kaiser, »die Vergangenheit zu begraben. Hören Sie, Fouché? Die Vergangenheit. – Es ist nicht erfreulich.«

»Sie ist nicht erfreulich, Majestät.«

Er wird zutraulich, dachte der Kaiser.

»Es wird viel zu tun geben, Fouché«, sagte er. »Man darf den Leuten keine Zeit lassen. Man muß ihnen zuvorkommen. Haben Sie übrigens Nachrichten aus Wien?«

»Schlechte Nachrichten, Majestät«, sagte der Minister. »Der kaiserliche Minister des Äußern, Herr Talleyrand, hat alles verdorben. Dient den Feinden Eurer Majestät besser, als er jemals Eurer Majestät gedient hat. Ich habe ihn nie – Eure Majestät erinnern sich – für ehrlich gehalten. Es wird viel zu tun geben, gewiß! Um all die Aufgaben zu lösen, bedarf es einer festen Hand –«

Fouché hielt seine Hände derart an den Schenkeln und halb geschlossen, als verberge er etwas in ihnen. Die etwas allzu langen, goldenen, gestickten Palmen am Ärmel verbargen wie absichtlich die Handgelenke. Man sah nur die langen, griffigen Finger. – Verräterfinger, dachte der Kaiser. Damit kann man kleine, niederträchtige Zetteleien am Schreibtisch spinnen. Diese Hände haben keine Muskeln. Ich werde ihn nicht zu meinem Außenminister machen! . . .

Der Kaiser hatte, während er überlegte, unwillkürlich den Fuß von den Scherben des Kreuzes weggeschoben. Er wollte zum Fenster gehn. Er glaubte zu sehen, daß Fouché aus seinen verdeckten Augen auf das Kreuz schiele, und es war ihm peinlich. Er trat rasch einen Schritt vor, warf das Kinn hoch und sagte, um die Audienz schnell zu beenden, laut und befehlend: »Ich ernenne Sie zu meinem Minister!«

Der Minister blieb unbeweglich. Nur das Lid seines rechten Auges hob sich ein wenig über die Pupille, als wenn es gleichsam erwachte. Es war, als ob sein Auge lauschte und nicht sein Ohr.

In einem Tonfall, der dem Minister von allzu lässiger Selbstverständlichkeit schien, fuhr der Kaiser fort:

»Sie übernehmen das Ministerium der Polizei, das Sie so verdienstvoll geleitet haben.«

In diesem Augenblick fiel das neugierig gehobene Lid wieder über die Pupille. Es verhüllte einen kleinen, grünen Blitz.

Der Minister blieb unbeweglich. – Er überlegt, dachte der Kaiser, er überlegt zu lange.

Endlich verbeugte sich Fouché. Aus einer ganz trockenen Kehle kamen seine Worte:

»Ich freue mich aufrichtig, Eurer Majestät wieder dienen zu dürfen.«

»Auf Wiedersehn, Herzog von Otrante!« sagte der Kaiser.

Fouché erhob sich aus der Verbeugung. Er stand eine geringe Weile starr da, mit ganz geöffneten, gleichsam erstaunten Augen blickte er genau in die Richtung der kaiserlichen Stiefel, zwischen denen die elfenbeinernen Splitter des Kreuzes schimmerten.

Dann ging er.

Er schritt, ein paarmal halbe Grüße mit gesenktem Kopf austeilend, durch das Vorzimmer. Man hörte seinen Tritt nicht. Lautlos ging er, in zarten Schuhen, wie in Strümpfen, die steinernen Stufen hinunter, an den kauernden, hingelagerten, schnarchenden Dragonern vorbei, in den Garten, an den wiehernden und mit den Hufen scharrenden Pferden, an den halberleuchteten Zimmern und an den noch nicht ganz geschlossenen Türen vorbei. Sorgsam wich er dem verstreuten Sattel- und Lederzeug aus. Als er vor dem Gitter stand, pfiff er leise. Sein Sekretär kam heran. »Guten Morgen, Gaillard«, sagte er. »Nun sind wir wieder ein bißchen Polizeiminister. Er kann nur Krieg machen und keine Politik! In drei Monaten bin ich mehr als er!« Er wies mit dem Finger rückwärts über die Schulter nach dem Schloß.

»Es sieht schon jetzt aus wie ein Heerlager«, sagte Gaillard.

»Es sieht schon jetzt aus wie ein Krieg«, antwortete der Minister.

»Ja«, sagte Gaillard, »aber wie ein verlorener.«

Nebeneinander, brüderlich, gingen sie die Straße dahin, hinein in den nächtlichen Nebel, heimisch in ihm und bald von ihm verschlungen.

VI

Die Zeit ging unaufhaltsam, hurtiger schien sie dem Kaiser als je zuvor in seinem Leben. Zuweilen hatte er die beschämende Empfindung, daß sie ihm nicht mehr gehorchte wie einst, wie vor Jahren. – Vor Jahren! sagte er sich, und er rechnete nach, und er ertappte sich dabei, daß er zu denken und zu zählen begann wie ein Greis. Früher bestimmte und lenkte er allein den Gang der Stunden, sein Maß hatten sie und seine Fülle, seine Macht und seinen Namen verkündeten sie in vielen Teilen der Welt. Heute gehorchten ihm noch vielleicht die Menschen, die Zeit aber rannte ihm davon, zerfloß und verschwamm, sobald er sie greifen wollte. Vielleicht gehorchten ihm nicht einmal mehr die Menschen! Er hatte sie eine Weile nur freigelassen. Ein paar kurze Monate hatten sie nicht mehr seinen zähmenden und lockenden Blick gespürt, nicht den festen und schmeichelnden Griff seiner Hand, nicht den drohenden und zärtlichen, den grollenden und den lüsternen Ruf seiner Stimme. Gewiß, so war es, sie hatten ihn nicht vergessen – konnte man seinesgleichen vergessen? –, aber sie waren seiner entwöhnt. Ohne ihn hatten sie gelebt, manche auch gegen ihn und im Einvernehmen mit seinen königlichen Feinden. Sie hatten sich daran gewöhnt, ohne ihn zu leben.

Er saß da, allein zwischen vielen und häufig wechselnden Menschen und Freunden. Bald kamen seine Brüder, seine Schwestern, seine Mutter. Die Zeit ging, es wurde heller und wärmer, der Frühling von Paris wurde stark und prächtig, er sah fast aus wie ein Sommer. Die Amseln schmetterten in den Gärten der Tuilerien, bedächtig und schwer begann schon der Flieder zu duften, die Nachtigall vernahm der Kaiser an manchen Abenden, wenn er allein durch den Garten ging, die Hände am Rücken, den Blick gesenkt auf den Kies der Wege. Der Frühling war da. In solchen Stunden fiel ihm ein, daß er ein ganzes Leben den ewigen Wechsel der Jahreszeiten so zur Kenntnis genommen hatte, wie er gewohnt gewesen war, günstige oder ungünstige Gelegenheiten wahrzunehmen, in seinem Sinne ausgeführte oder mißverstandene Befehle, gelungene oder widerwärtige Situationen, wohlwollende oder gehässige Launen der Natur. Die Erde war ein Terrain, der Himmel ein Bundesgenosse oder ein Gegner, der Hügel ein Punkt der Beobachtung, das Tal eine Falle, der Bach ein Hindernis, der Berg eine Deckung, der Wald ein Hinterhalt, die Nacht eine Rast, der Morgen ein Angriff, der Tag eine Schlacht und der Abend ein Sieg oder eine Niederlage. So einfach war es früher gewesen. – Vor Jahren! dachte der Kaiser.

Er kehrte ins Haus zurück. Er wollte das Bild seines Sohnes sehn. Es verlangte ihn in trüben Stunden eher nach seinem Kind als nach seiner Mutter. Außergewöhnlich, wie er war, Erzeugnis einer Willkür der Natur und ihre Ausgeburt, hatte er gleichsam auch ihre Gesetze verkehrt, und er war nicht mehr das Kind seines Geschlechts, sondern geradezu wie der Vater seiner Vorfahren. Von seinem Namen lebten seine Ahnen. Und die Natur war rachsüchtig – er kannte sie! Da sie ihm erlaubt hatte, Glanz den Vorfahren zu verleihen, mußte sie ihn seinen Nachkommen verweigern. – Mein Kind! dachte der Kaiser. Er dachte an seinen Sohn mit der Zärtlichkeit eines Vaters, einer Mutter und mit der eines Kindes. Mein unseliges Kind! dachte der Kaiser. Er ist mein Sohn – ist er auch mein Erbe? – Ist die Natur so wohltätig, daß sie meinesgleichen wiederholt? Ich habe ihn gezeugt, mir ist er geboren. Ich will ihn sehn.

Er betrachtete das Bild, das pausbäckige Antlitz des Königs von Rom. Es war ein braves, rundliches Kind, wie es deren Tausende geben mochte, gesund und unschuldig. Ergeben sahen seine sanften Augen dem noch unbekannten, schrecklichen, schönen und gefährlichen Leben entgegen. Es ist mein Blut! dachte der Kaiser. Er wird nichts mehr zu erobern haben, aber er wird bewahren können. Ich hätte ihm gute Ratschläge zu geben . . . Ich kann ihn nicht sehn! . . .

Der Kaiser trat zwei Schritte zurück. Es war später Nachmittag, durch die offenen Fenster schwebten die Dämmer ins Zimmer und schlichen langsam die Wände entlang. Das dunkle Kleidchen des kaiserlichen Sohnes verschwamm unsichtbar in ihnen. Bleich leuchtete nur noch sein liebliches und sehr fernes Antlitz.

VII

Auf dem Tisch stand die Sanduhr aus geschliffenem Beryll. Durch ihren schmalen Hals floß der gelbliche, zarte Strahl des Sandes und füllte unaufhaltsam die untere Schale. Sachte schien der Strahl zu fließen; schnell schien sich die untere Schale zu füllen. So hatte der Kaiser seine Feindin, die Zeit, ständig vor Augen. Er vergnügte sich manchmal damit, die Uhr umzustülpen, ehe sie abgelaufen war, ein kindisches Spiel. Er glaubte an die geheimnisvolle Bedeutung der Daten, der Tage, der Stunden. Am zwanzigsten März war er heimgekehrt. Am zwanzigsten März war ihm sein Sohn geboren. An einem zwanzigsten März hatte er einst einen seiner unschuldigen Feinde erschießen lassen, den Herzog von Enghien. Der Kaiser hatte ein gutes Gedächtnis. Die Toten ebenfalls. Wie lange brauchte der Tote noch, um sich zu rächen?

Der Kaiser hörte den Gang der Stunden, auch im Gespräch mit Ministern, Freunden und Ratgebern und auch, wenn draußen vor den Fenstern das jubelwütige Volk seine Rufe ausstieß. Stärker als das Heulen der Menge war die geduldige, gleichmäßige und eintönige Stimme der Uhr. Und er liebte sie mehr als die Stimme des Volkes. Das Volk war ein unzuverlässiger Freund, die Zeit war eine getreue, zuverlässige Feindin. Noch klangen in seinen Ohren die gehässigen Schreie, die er vernommen hatte, als er vor zehn Monaten, geschlagen und ohnmächtig, das Land verlassen hatte. Jeder jubelnde Ruf der Menge erinnerte ihn schmerzlich an alle gehässigen Rufe einer anderen.

Ach! er mußte dennoch die Wankelmütigen halten, selbst die Lügenden noch glauben machen, daß sie ihn nicht belogen, und den Ungeliebten zeigen, daß er sie liebe. Er beneidete seinen Feind, den alten, schwerfälligen König, der vor ihm geflohen war. Der König hatte im Namen Gottes regiert, und kraft seiner Ahnen hatte er Frieden gehalten. Er aber, der Kaiser, mußte Kriege führen. Er war nur der General seiner Soldaten.

VIII

Es war ein milder Vormittag im April. Der Kaiser verließ das Schloß. Er ritt durch die Stadt, in seinem grauen Soldatenmantel, auf seinem Schimmel, in seinen kriegerischen und dennoch delikaten Stiefeln aus zartem Chevreau, an denen die silbernen Sporen schimmerten, artig und gefährlich, den schwarzen Hut auf dem gesenkten Haupt, das sich von Zeit zu Zeit und überraschend emporreckte, als führe der Kaiser plötzlich aus irgendeiner Versunkenheit auf. Er hielt das Tier im Schritt. Es trommelte mit seinen Hufen gleichmäßig, zärtlich auf den Steinen. Es war den Menschen, die den Kaiser so vorüberreiten sahen, als vernähmen sie aus dem Getrappel der Schimmelhufe schon einen gemäßigten, liebenswürdigen Ruf jener gefährlichen Trommel, die zu den Kriegen ruft. Sie blieben stehn, entblößten die Köpfe und riefen: »Es lebe der Kaiser!« – gerührt, erschüttert und gewiß auch erschrocken von seinem Anblick. Dieses Bild, das er heute darbot, kannten sie von vieltausend Konterfeien her, in ihren Stuben hing es und in den Stuben ihrer Freunde, es schmückte die Ränder der Teller, aus denen sie jeden Tag aßen, die Tassen, aus denen sie tranken, den metallenen Griff des Messers, mit dem sie das Brot schnitten. Es war ein vertrautes, ein heimisches, ja ein heimliches Bild des großen Kaisers im grauen Mantel mit seinem schwarzen Hut, auf seinem weißen Roß. – Deshalb auch erschraken sie manchmal, wenn sie es so lebendig erblickten: den lebendigen Kaiser, das lebendige Roß, den wirklichen Mantel, den echten Hut. Er ritt ziemlich weit seiner Suite voran, Generäle und Minister in prunkvollen Kleidern folgten ihm in respektvollem Abstand.

Das gute, junge Sonnenlicht sickerte durch die hellgrünen, frischen Kronen der Bäume an den Rändern der Alleen und in den Gärten von Paris. Den finsteren Gerüchten, die aus vielen Teilen des Landes kamen, mochten die Menschen heute nicht gerne glauben. Seit vielen Tagen sprach man von den Aufständen der Königstreuen im Lande gegen den Kaiser. Man erzählte auch, daß die Mächtigen dieser Welt beschlossen hätten, den Kaiser zu vernichten und Frankreich mit ihm. Wehrhaft und schrecklich standen die Feinde an allen Grenzen des Landes. Die Kaiserin war in Wien, im Hause ihres Vaters, des österreichischen Kaisers. Sie kam nicht heim, man ließ sie nicht nach Frankreich zurück. In Wien hielt man auch den Sohn des Kaisers gefangen. An allen Grenzen Frankreichs lauerte schon der Tod. Dennoch vergaßen die Menschen an diesem hellen Tage bereitwillig die finsteren Gerüchte, den Krieg an den Grenzen und den lauernden Tod. Sie waren geneigt, den hellen Nachrichten zu trauen, welche die Zeitungen verbreiteten. Da sie nun den Kaiser durch die Stadt reiten sahen, genau so, wie sie ihn zu kennen glaubten, mächtig und besonnen, klug und groß und kühn, den Herrn der Schlachten, mitten im jungen Frühling der Straßen von Paris, erschien es ihnen selbstverständlich, daß der Himmel ihnen und dem Kaiser zugetan sei – und sie überließen sich der tröstlichen Melodie dieses seligen Tages und ihrer beseligten Herzen.

Der Kaiser ritt nach Saint-Germain, es war der Tag der Parade. Der Kaiser hielt an. Er nahm den Hut ab. Er grüßte das versammelte Volk von Saint-Germain, die Arbeiter und Soldaten. Er wußte, daß die einfachen Menschen sein schwarzes, glattes Haar liebten und die glatte Locke, die ihm eigenwillig und doch gefügig in die Stirne fiel. Er war ärmer und einfacher vor den Armen und Einfachen, wenn er vor ihnen barhäuptig erschien. Die Sonne näherte sich dem Mittag, sie brannte schon beträchtlich auf seinen entblößten Kopf. Er hielt still. Er zwang sein Tier und sich selbst zu der monumentalen Unbeweglichkeit, deren Wirkung und Gewalt er seit Jahren kannte. Aus der Menge des Volkes, in der vielhundert rote Kopftücher der Frauen aufglühten, stieg der wohlbekannte säuerliche und fette Geruch des Schweißes empor, der üble Duft der Armen, die Feste feiern, der Geruch ihrer freudigen Erregung. Rührung ergriff den Kaiser. Er behielt den Hut in der Hand. Er liebte das Volk nicht, er mißtraute seinem Jubel, seiner Begeisterung und seinem Geruch. Und er lächelte dennoch, auf seinem Schimmel, unbeweglich, der Liebling dieses Volkes, ein Kaiser und ein Stein. In starren Karrees standen die Soldaten, seine alten Soldaten. Wie glichen sie einander alle, die Feldwebel, die Korporale, die Gefreiten, alle, die der Tod verschont und die ihre heimische, bürgerliche, säuerliche Armut wieder aufgenommen hatte. Ein Name nach dem andern fiel dem Kaiser ein. An den und jenen erinnerte er sich genau, er hätte den und jenen aufrufen können. Es kam kein Ton aus seinem Herzen. Er schämte sich. Man liebte ihn – er schämte sich, daß man ihn liebte, weil er nur Mitleid mit den Liebenden haben konnte. Er saß auf seinem hellbesonnten und also doppelt strahlenden Schimmel, das Haupt entblößt, umbraust und bedrängt von den Rufen. Innerhalb des Karrees der alten Soldaten begannen jetzt die Tamboure zu trommeln. Wie gut, daß sie trommelten! Jetzt schwenkte er den Hut – und während er die Zügel ein wenig lockerte und den Druck seiner Schenkel milderte, dermaßen, daß der Schimmel ihn begriff und auf der Stelle tänzelte, begann der Kaiser zu sprechen – und es war den Menschen aus dem Volk, als sprächen die Trommeln, die sie soeben vernommen hatten, nunmehr in menschlicher, kaiserlicher Sprache. »Meine Kameraden«, begann der Kaiser, »Genossen meiner Schlachten und meiner Siege, Zeugen meines Glücks und meines Unglücks . . .«

Der Schimmel spitzte die Ohren und rührte leise den Vorderhuf im Takt der kaiserlichen Worte.

Die Sonne stand im Mittag, sie glühte jugendlich und milde.

Der Kaiser setzte den Hut auf und stieg vom Pferde.

IX

Er näherte sich den Menschen. Ihre Liebe schlug ihm entgegen mit ihrem Atem, sie strahlte aus ihren Gesichtern kräftig wie heute die Sonne vom Himmel, und auf einmal war es ihm, als wäre er immer ihresgleichen gewesen. In diesem Augenblick sah sich der Kaiser selbst ebenso, wie ihn seine Anbeter sahen, auf vieltausend Bildern, auf den Tellern, auf den Messern, an den Wänden der Stuben, schon eine Sage und noch lebendig.

Nach diesem Volk hatte er sich lange Monate in der Verbannung gesehnt. Es war das Volk von Frankreich, so kannte er es. Es war schnell bereit, zu lieben und zu hassen. Es war feierlich und spöttisch, leicht zu begeistern, schwer zu überzeugen, stolz im Elend, großmütig im Glück, gläubig und leichtfertig im Sieg, bitter und rachsüchtig im Unglück, spielerisch und kindlich im Frieden, unerbittlich und unwiderstehlich in der Schlacht, leicht enttäuscht, zutraulich und mißtrauisch zugleich, vergeßlich und rasch durch ein treffliches Wort zu versöhnen, ewig zum Rausch bereit und immer voller Liebe zum Maß. Dies war das Volk der Gallier, das Volk von Frankreich. So liebte es der Kaiser.

Er hatte kein Mißtrauen mehr. Sie umringten ihn. Sie schrien in seiner Nähe: »Es lebe der Kaiser!«, während er mitten unter ihnen stand, in ihrer Mitte, und es war also, als wollten sie ihm beweisen, daß sie auch, wenn er in ihrer Mitte stand, nicht vergessen konnten, er sei ihr Kaiser. Ihr Kind war er und ihr Kaiser.

 

Er umarmte einen älteren Unteroffizier. Der Mann hatte ein düsteres, gelbliches, kühnes, knöchernes Antlitz, einen graumelierten, gewaltig herabhängenden und sauber gestrählten Schnurrbart, er überragte den Kaiser wohl um einen Kopf, und es war, während sie sich umschlungen hielten, als hätte sich der Kaiser in den Schutz des mageren, knöchernen Unteroffiziers begeben. Der Mann neigte das Haupt linkisch, ein wenig lächerlich, von seiner eigenen, ungelenken Größe und auch von der korpulenten Kleinheit der Majestät behindert, und ließ sich auf die rechte Wange küssen. Der Kaiser schmeckte den Geruch der gelblichen Haut, den scharfen Essig, den der Mann auf seine frischrasierten Wangen getan hatte, den Schweiß, der ihm in winzigen Tropfen von der Stirn perlte, den Tabak auch, der aus seinem Munde dünstete. Auf einmal war dem Kaiser das ganze Volk vertraut und heimisch. Ja, das war der Geruch des Volkes, das die Soldaten gebar, die wunderbaren Soldaten des französischen Landes, so roch die Treue selbst, die Treue der Soldaten: nach Schweiß, Tabak, Blut und Essig. Indem der Kaiser einen einzigen küßte, umarmte, küßte und roch er das ganze Volk, seine ganze große Armee, alle ihre Toten und ihre überlebenden Erben. Indessen war es dem Volk, das den fetten und kurzen Körper des Kaisers von dem langen, mageren und knöchernen Unteroffizier umschlungen und wie beschützt sah, als würde es ganz, so wie es dastand, vom Kaiser umarmt, als umarmte es selber den Kaiser. Tränen erfüllten die Augen der Zuschauer, und mit heiseren Stimmen brüllten sie: »Es lebe der Kaiser!« – – und die Wollust zu weinen beengte ihre jubelnden Kehlen. Der Kaiser löste seine Arme. Der Mann trat drei Schritte zurück. Er erstarrte, der alte Soldat. Unter seinen buschigen, strotzenden Brauen leuchteten seine kleinen, schwarzen Augen, ergebene, gefährliche Feuerchen der Treue.

»Wo hast du gekämpft?« fragte der Kaiser.

»Bei Jena, Austerlitz, Eylau, Moskau, mein Kaiser!« erwiderte der Unteroffizier.

»Wie heißt du?«

»Lavernoile, Pierre Antoine!« schmetterte der Unteroffizier.

»Ich danke Ihnen«, rief der Kaiser mit lauter Stimme, so daß ihn alle hören mußten, »ich danke Ihnen, Leutnant Pierre Antoine Lavernoile!« –

Der neue Leutnant erstarrte abermals. Er trat noch einen Schritt zurück, er hob seine magere, braune Hand, schwenkte sie wie ein Fähnchen und schrie mit erstickter Stimme: »Es lebe der Kaiser!« Er trat in die Reihe der Kameraden zurück, aus der ihn der Kaiser hervorgeholt hatte, und halblaut erzählte er allen, die sich um ihn sammelten: »Denkt euch, er hat mich sofort erkannt! Du warst, sagte er, bei Jena, Austerlitz, Eylau und in Moskau, mein lieber Lavernoile! Du hast noch keine Auszeichnung. Du wirst sie haben. Ich ernenne dich zum Leutnant.«

»Uns alle kennt er«, sagte einer der Unteroffiziere.

»Er hat keinen einzigen vergessen!« sagte ein anderer.

»Er hat ihn erkannt«, tuschelten Dutzende. »Er kannte ihn beim Namen. Er kannte sogar seine beiden Vornamen: Pierre Antoine Lavernoile, sagte er, ich kenne dich.«

Indessen bestieg der Kaiser wieder das Pferd. Lavernoile, dachte er, armer, großer Lavernoile! Glücklicher Lavernoile! – Der Kaiser zieht den Hut, und allen sichtbar, aufrecht in den Steigbügeln, ruft er mit jener Stimme, die gewohnt ist, im Lärm der Kanonen gehört und verstanden zu werden: »Volk von Paris!« ruft er. »Es lebe Frankreich!« Er wendet sein Pferd. Und alle stürzen ihm nach – und trennen ihn, sein strahlendes Tier und seinen grauen Mantel von seiner Suite. Es sind viele hundert Menschen, Männer in Uniform und in Zivil und Frauen, deren rote Kopftücher in der jugendlichen Sonne flackern.

X

Er kehrte heim, beschämt, müde und traurig. Immer wieder mußte er unbekannte, arme Menschen umarmen, ihnen Titel und Orden geben, um sie werben und sie kaufen. Sie liebten ihn. Ihm waren sie gleichgültig. Er schämte sich. Noch einen Lavernoile umarmen! Hieß er auch so: »Lavernoile?« Vieltausend Unteroffiziere gab es in der großen Armee des Kaisers, vielhunderttausend Soldaten. Er schämte sich, der große Kaiser der kleinen Lavernoiles . . .

XI

Der Kaiser befahl, daß in jeder Stadt des Landes je hundert Kanonenschüsse abgefeuert würden. Dies war seine Sprache. Auf diese Weise gab er dem Volke kund, daß er über die aufständischen Feinde, die Freunde des Königs, gesiegt hatte.

Die Kanonen dröhnten durch das ganze Land und widerhallten mit gewaltigem Echo. Die Menschen hatten lange Zeit keinen Kanonendonner gehört. Sie erschraken, da sie ihn nunmehr vernahmen. Sie erkannten wieder einmal die Stimme des heimgekehrten, gewaltsamen Kaisers. Auch den Frieden noch verkündete er mit Geschützen.

Der Bruder des Kaisers sagte: »Es wäre besser gewesen, die Glocken läuten zu lassen, nicht die Kanonen abzuschießen.«

»Ja«, erwiderte der Kaiser. »Ich liebe die Glocken, du weißt es! Ich hätte sie gerne gehört. Aber: die Glocken – damit warte ich noch. Ich werde sie läuten lassen, wenn ich die mächtigen Feinde besiegt habe, die wirklichen.«

»Wen meinst du?« fragte der Bruder.

Der Kaiser sagte langsam und feierlich: »Die ganze Welt!«

Der Bruder erhob sich. Er hatte in diesem Augenblick Angst vor der ganzen Welt, die der Feind des Kaisers war, aber auch Angst vor diesem Bruder, der die ganze Welt zum Feind hatte. Draußen noch, vor der Tür, bevor er eingetreten war, hatte er Mitleid mit dem Kaiser und Furcht um ihn empfunden, und er hatte sich vorgenommen, Furcht und Mitleid im Angesicht des Kaisers nicht zu zeigen. Wie er nun aber vor ihm stand, erlag er, wie seit Jahren, dem kaiserlichen Blick und der kaiserlichen Stimme. Es war dem Bruder, als wäre er einer der namenlosen Grenadiere des gewaltsamen Kaisers.

»Setz dich«, sagte der Kaiser, »ich habe dir sehr Ernstes zu sagen. Nur dir, dir allein, kann ich es sagen: Ich hätte lieber die Glocken läuten lassen, aber ich habe die Kanonen befohlen, weil die Glocken eine Lüge gewesen wären – eine Lüge – und ein Versprechen, das ich nicht halten kann. Noch ist kein Friede, mein Bruder! Ich muß die Menschen mit den Kanonen vertraut machen. Ich möchte den Frieden, sie zwingen mich zum Krieg. Wenn mein Postmeister ihnen nicht die Pferde vorenthalten würde – alle Gesandten aller Länder hätten längst Paris verlassen. Sie sind beim König akkreditiert gewesen. Sie sind nicht beim Volk von Frankreich und nicht bei seinem Kaiser zu Gast. Oh, sie hassen mich noch mehr, als ich sie verachte. An den Grenzen fangen sie meine Boten ab. An die Kaiserin gelangt keiner meiner Briefe. Oh, mein Bruder! Wenn man aus unserer Familie kommt, kennt man die große Welt nicht genau. Das ist unser Irrtum, mein Bruder, der Irrtum der Kleingeborenen. Ich habe die Könige gedemütigt, aber von mir gedemütigt zu werden, von meinesgleichen, von unseresgleichen, macht sie nicht klein. Es macht sie rachsüchtiger, als sie schon sind. Der letzte meiner Grenadiere hat mehr Adel als sie. Es war leicht, die armseligen Aufständischen im Lande zu besiegen. Das verdient noch keinen Glockenklang. Es gibt noch mehr Feinde, auch im Lande: die Abgeordneten. Sie sind nicht das Volk: Sie sind die Gewählten des Volkes. Das Parlament! Ihm bin ich untertan. Aber ich allein darf die Freiheit wollen, ich allein, weil ich mächtig genug bin, sie zu erhalten. Ich bin der Kaiser der Franzosen, weil ich ihr General bin.«

»Also wirst du Krieg führen«, sagte leise der Bruder.

»Krieg«, antwortete der Kaiser.

XII

Er brauchte dreihunderttausend neue Gewehre. Er befahl sie. Und es begann in allen Fabriken des Landes ein gewaltiges Hämmern und Schmieden und Gießen und Löten und Schweißen. Er brauchte Männer für die neuen dreihunderttausend Gewehre. Und die jungen Männer des ganzen Landes verließen ihre Bräute, ihre Mütter, ihre Frauen und ihre Kinder. Er brauchte Nahrungsmittel. Und alle Bäcker des Landes begannen mit dreifachem Eifer, haltbare Brote zu backen, und alle Fleischer im Lande begannen, ihre Ware einzusalzen, damit sie lange dauere, und alle Schnapsbrenner brannten zehnmal mehr Schnaps als sonst, den Schnaps, das Getränk für die Schlachten, das die Feigheit mutig macht und die Mutigen noch mutiger.

Er befahl, er befahl. Wollüstig genoß er den Gehorsam seines Volkes; und aus dieser Wollust noch bezog er Kraft zu neuen Befehlen.

XIII

Es regnete heftig, als der Kaiser das andere Schloß bezog, das Elysée, das außerhalb der Stadt lag. Man hörte nichts mehr als den kräftigen, regelmäßigen Aufschlag der starken Regenschnüre auf die dichten Baumkronen im Park. Man hörte nicht die Stimmen der Stadt und nicht mehr die getreuen und zudringlichen Rufe des Volkes: Es lebe der Kaiser! Es war ein guter, warmer, frühsommerlicher Regen. Die Felder brauchten ihn, die Bauern segneten ihn, die Erde gab sich ihm willig und sehnsüchtig preis. Der Kaiser aber dachte daran, daß der Regen die Eigenschaft hat, den Boden aufzuweichen, so daß die Soldaten es nicht leicht haben vorwärts zu marschieren. Der Regen durchtränkt die Kleider der Soldaten. Der Regen macht den Feind fast unsichtbar (unter Umständen). Der Regen macht die Soldaten feucht und krank. Man braucht die Sonne, wenn man einen Feldzug plant. Die Sonne macht bedenkenlos und heiter. Die Sonne macht die Soldaten trunken und die Köpfe der Generäle klar. Der Regen nützt nur dem Feind, der nicht angreift, sondern der den Angriff abwartet. Der Regen macht den Tag fast zu einer halben Nacht. Wenn es regnet, denken diejenigen Soldaten, die Bauern waren, an ihre heimatlichen Äcker, hierauf an ihre Kinder, hierauf an ihre Frauen. Der Regen war der Feind des Kaisers.

Seit einer Stunde wohl stand er am offenen Fenster und lauschte dem ständigen Rauschen mit einer ergebenen und müden Andacht. Er sah das ganze Land, das ganze Land, dessen Kaiser und oberster Herr er war, aufgeteilt in Äcker, Gärten und Wälder, in Dörfer und in Städte. Er sah vieltausend Pflüge, er hörte das bedächtige Sirren der Sensen und das schnellere, kurze Schwirren der Sicheln. Er sah die Männer in den Scheunen, in den Ställen, in den Schobern, in den Mühlen, jeden der Männer in friedlicher Liebe der Arbeit ergeben, auf die warme Suppe wartend nach vollendetem Tag und hierauf auf den wollüstigen Schlaf in den Armen seiner Frau. Sonne und Regen, Wind und Tag, Nacht und Nebel, Wärme und Kälte waren den Bauern vertraut, gute oder unangenehme Gaben des Himmels, jedenfalls immer vertraute. Zuweilen stieg eine alte, in den Tiefen der kaiserlichen Seele verborgene, niemals in den wirren Jahren seiner Siege und Niederlagen gefühlte Sehnsucht in dem Kaiser auf: das Heimweh nach der Erde. Ach! – auch seine Vorfahren waren einmal Bauern gewesen!

Der Kaiser, das Gesicht zum Fenster gewendet, blieb allein mit der Dämmerung. In das Zimmer drang nun der bittere Duft der Erde und der Blätter, vermischt mit dem süßen der Kastanienkerzen und des Flieders, dem feuchten Atem des Regens, der nach Verwelkung riecht und nach fernem Tang. Es raschelte gut durch die gute Dämmerung, friedlich sprachen miteinander der Regen, der Abend und der Park.

So wie er war, barhäuptig, verließ der Kaiser das Zimmer. Er wollte in den Park, den süßen Regen fühlen. Überall im Hause brannten schon die Lichter. Der Kaiser schritt schnell, fast zornig, durch die satte Helligkeit, mit gesenktem Haupt an den Garden vorbei. Er ging in den Park, wandelte auf und ab, die Hände am Rücken, immer hin und zurück, durch die gleiche kurze und breite Allee und lauschte der emsigen Sprache des Regens und der Blätter.

Plötzlich hörte er rechts, zwischen dem dichten Dunkel der Bäume, ein Geräusch, das ihm merkwürdig erschien und auch verdächtig. Es gab Menschen, die ihn töten wollten, er wußte es. Einen Augenblick dachte er daran, daß es für einen Kaiser seiner Art ein lächerliches Ende wäre, im friedlichen Park, mitten in diesem törichten, guten Regen, ein kümmerliches Attentat, ein kümmerlicher Tod. Er trat zwischen die Bäume, auf den aufgeweichten Boden, ging in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien, und er erblickte, bestürzt und zugleich erheitert, ein paar Schritte vor sich eine Frau. Ihre weiße Haube schimmerte. »Hierher!« rief der Kaiser. »Hierher!« rief er noch einmal, da sich die Frau nicht rührte. Jetzt kam sie näher. Jetzt stand sie dem Kaiser gegenüber, kaum zwei Schritte von ihm entfernt. Es war, ohne Zweifel, eine Frau vom Gesinde. Wahrscheinlich, dachte der Kaiser, hat sie ein Mann verlassen. Die alten Geschichten! (Sie amüsierten ihn, die gewöhnlichen, die ganz gewöhnlichen Geschichten.)

»Warum heulst du?« fragte der Kaiser, »und was machst du hier?«

Die Frau antwortete nicht, sie ließ den Kopf sinken.

»Antworte!« befahl der Kaiser. »Komm näher!« – Die Frau trat ganz nahe an ihn heran.

Jetzt konnte er sie sehen. Sie war gewiß eines seiner Mädchen vom Gesinde.

Die Frau fiel nieder in die Knie, auf die nasse Erde. Sie hielt den Kopf gesenkt. Ihr Haar berührte fast den Rand seiner Stiefelschäfte. Er neigte sich zu ihr hinunter. Jetzt sagte sie etwas. »Der Kaiser«, sagte sie. Und nach einer Weile: »Napoleon! – mein Kaiser!«

»Aufstehn!« befahl der Kaiser. »Sag, was los ist!«

Sie mochte Ungeduld und auch Gefahr in seiner Stimme spüren. Sie erhob sich. »Erzählen!« befahl der Kaiser. Er ergriff ihren Arm und führte sie in die Allee. Er blieb stehen, ließ sie los und befahl noch einmal: »Erzählen!«

Jetzt sah er im Widerschein, der aus den Fenstern in die Allee fiel, daß die Frau jung war.

»Ich werde dich bestrafen lassen!« sagte der Kaiser – und zugleich strich er mit der Hand über das nasse Angesicht der Frau. »Wer bist du?«

»Angelina Pietri!« sagte die Frau.

»Aus Korsika?« fragte der Kaiser – der Name war ihm vertraut.

»Ajaccio!« flüsterte die Frau.

»Lauf! – Schnell!« befahl der Kaiser.

Die Frau wandte sich um, hob den Rock mit beiden Händen, lief über den Kies und verschwand um die Ecke.

Er ging langsam weiter. Ajaccio! dachte er, Angelina Pietri aus Ajaccio.

Er ließ sich umkleiden. Er fuhr heute in die Oper. Er kam mitten in den zweiten Akt. Er stand aufrecht in der Loge, den Hut auf dem Kopf. Über der samtenen, dunkelroten Brüstung schimmerte ein blendendes Stück seiner schneeweißen Reithose. Die Leute erhoben sich und sahen starr auf die Brüstung, und die Kapelle spielte die Marseillaise.

»Es lebe der Kaiser!« rief von der Bühne her ein Schauspieler. Das ganze Haus antwortete: »Es lebe der Kaiser!«

Er winkte und verließ wieder die Loge. Auf der Treppe wandte er sich zum Adjutanten und sagte: »Notieren Sie: Angelina Pietri aus Ajaccio.«

Er vergaß sofort wieder den Namen. Er dachte nur noch: Ajaccio.

XIV

Er brauchte Waffen, Soldaten und eine große Parade.

Vor den gewählten Abgeordneten des Volkes, die er geringschätzte, vor seinen Soldaten, die er liebte, vor den Priestern des Glaubens, den er nicht achtete, und vor dem Volk von Paris, dessen Liebe er fürchtete, gedachte der Kaiser, sich zu zeigen als der Beschützer des Landes und der Freiheit. Für ein paar Stunden an diesem Tage ruhten alle Werkstätten, in denen man den Krieg vorbereitete. Es ruhten die Schmiede und die Schlosser. Aber die Müller, die Bäcker, die Fleischer und die Schnapsbrenner arbeiteten für das Fest. Für diesen Tag durften die Soldaten die neuen Uniformen anziehn, die man ihnen für den Krieg bereitet hatte.

Der Zeremonienmeister verfaßte den Plan zu einer großartigen und langwierigen Zeremonie.

Das Fest fand am ersten Juni statt. Dieser Tag war einer der wärmsten Tage seit der Heimkehr des Kaisers. Es war ein heißer und reifer Sommertag. Es war eine seltsame, um diese Zeit des Jahres nie gekannte Hitze. Das Jahr verriet überhaupt eine eilfertige Reife. Schon verblühte der Flieder. Schnell waren die Maikäfer verschwunden. Schon breiteten sich mächtig und tiefgrün die großen Blätter der Kastanien. In den Wäldern reiften längst schon die Erdbeeren. Gewitter brachen häufig und mit hochsommerlicher Wucht hernieder. Die Sonne brannte, ihr Glanz war grausam. Auch an heiteren, wolkenlosen Tagen schossen die Schwalben sehr tief, fast knapp über dem Pflaster der Straßen dahin, wie sonst, in anderen Jahren, nur kurz vor dem Regen. Man sprach von kommendem Unheil, hier und dort, laut und leise. Die Zeitungen des Landes versicherten den Frieden. Aber in allen Dörfern, in allen Städten hob man neue Rekruten aus und holte wieder die alten Soldaten in die Armee. Und man hörte auch nicht ohne Schrecken das fleißige Hämmern der Waffenschmiede, und man vernahm mit Entsetzen beim Fleischer von den Bestellungen des Staates, und man sah auf den Exerzierplätzen den unheilverkündenden Eifer der übenden Soldaten. Und man erhob sich an diesem festlichen Tage neugierig zwar, aber auch mißmutig.

Schon begann die Feier auf dem großen Festplatz. Von jedem Regiment sah man Abgeordnete, Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten; zweihundert Männer trugen die blinkenden Adler des Kaisers aus Messing und Gold; hier standen die Würdenträger der Ehrenlegion, hier die Staatsräte, dort die Professoren der Universität, die Richter, die Räte der Stadt, die Kardinäle, die Bischöfe, die kaiserliche Garde und die Garde Nationale. Es blitzten die Säbel und die Bajonette von fünfundvierzigtausend Bewaffneten. Es donnerten hundert Kanonen. Ringsum stauten sich die Menschen aus dem Volke, unzählbar, namenlos, neugierig, armselig und voller Eifer. Die Sonne brannte immer stärker auf den weiten, schattenlosen Platz. Man hörte von Zeit zu Zeit einen harten Kommandoruf, einen kurzen Trommelwirbel, die schmetternde Trompete, das scheppernde Rasseln der Waffen, den dumpfen Aufschlag der Gewehre auf den Boden. Man wartete. Und immer grausamer glühte die Sonne.

Nun hörte man den Kaiser kommen. Er kam in einer vergoldeten Karosse, gezogen von acht Pferden, die weißen Federbüsche auf ihren Häuptern schwankten übermütig, stolze, silberne Flämmchen; zu beiden Seiten seines Wagens ritten seine Marschälle. Grün, rot und golden waren seine Pagen gekleidet. Dragoner und berittene Grenadiere folgten hinterdrein. Der Kaiser kam. Man erkannte ihn kaum in seinem perlmutterfarbenen Mantel, in seinen Hosen aus weißem Satin, unter seinem schwarzen Velourhut mit weißen Federn. Man erkannte ihn kaum in der Begleitung seiner weißgekleideten Brüder. Er bestieg die Tribüne, einen übermäßig erhöhten Thron. Zu beiden Seiten standen seine Brüder, unter ihm Kanzler, Minister und Marschälle. Man erkannte sie alle kaum. Zu prächtig waren sie.

Er selbst fühlte sich einsam wie noch nie. Er fühlte, daß man ihn nicht erkannt hatte. Er stand da, allein auf seinem erhabenen Thron, unter blauem Himmel, unter der heißen Sonne, hoch über dem Volk und den Soldaten, zwischen dem Himmel, der weit, blau, heiter und rätselhaft war, und seinen Zuhörern, die ebenfalls weit und ebenso rätselhaft waren.

Er begann zu sprechen. Er vertraute der Kraft seiner Stimme. Aber heute klang ihm auch die eigene Stimme fremd: »Wir wollen nicht den König«, schrie er, »den unsere Feinde wollen. Vor die Wahl gestellt, zwischen dem Krieg und der Schande zu wählen, wählen wir den Krieg . . .«

Vor ein paar Tagen noch, als er die Worte niedergeschrieben hatte, waren sie ihm sehr einfach und selbstverständlich gewesen. Er kannte die Franzosen. Die Ehre war ihr Gott, die Schande der Teufel. Sie waren die besten Soldaten der Welt, denn die Göttin der Ehre befehligte sie, die unerbittlichste Herrin der Krieger. Er aber, der Kaiser, welchem Gott gehorchte er selbst?

Diese Frage begann ihn zu peinigen, während er mit einer fremden Stimme sein Manifest hersagte. Zum erstenmal sprach er zu den Franzosen von einer übermäßig erhöhten Tribüne aus, zum erstenmal war er angetan mit einem perlmutterfarbenen, seidenen Umhang, zum erstenmal trug er einen fremden Hut mit fremden Federn auf dem Kopf. Zum erstenmal glaubte er, die unerbittlich wüste Leere der körperlichen Einsamkeit zu fühlen. Ach! Es war nicht die Einsamkeit, die ihm immer wohlbekannt und vertraut gewesen war! Es war nicht die Einsamkeit der Mächtigen, auch nicht die der Verratenen, auch nicht die der Verbannten, und auch nicht die der Gedemütigten. Hier, auf dieser übermäßig erhöhten Tribüne herrschte die Einsamkeit der körperlich Verlassenen. Er war sehr arm in seiner Höhe, der große Kaiser. Er konnte kein einziges der vieltausend Gesichter sehn. Er sah nur über die Köpfe, über die Mützen, die Zweispitze, die Hüte hinweg und weit im Hintergrund erst die unkenntlichen Gesichter der Menge, die man »das Volk« nannte. Und seine Worte klangen ihm selbst fremd und leer, und ihre Feierlichkeit schien ihm ebenso wüst wie seine Einsamkeit. Er fühlte sich auf dieser Tribüne wie auf einem seltsamen lächerlichen Gerät und so, als stünde er auf einem Thron und zugleich auf Stelzen. Sein Kleid war eine Verkleidung, die Versammlung ein Publikum, die Würdenträger und er selbst waren Schauspieler. Er war immer gewohnt gewesen, seine Sätze mitten unter den Soldaten, angetan mit seiner gewohnten Uniform, zu sprechen, den Atem der Versammelten zu spüren, den geliebten Schweiß- und Tabakgeruch der Soldaten, das scharfe Leder und die beizende Stiefelwichse. Jetzt aber stand er hoch über diesen Gerüchen, arm und groß und leer und verkleidet, allein unter der glühenden Sonne. Selbst die gewichtlosen Federn auf seinem Hut fühlte er wie eine schwere Last, Federn aus zwecklosem, törichtem und wuchtigem Blei. Plötzlich nahm er den Hut ab, er riß ihn sich geradezu vom Kopfe. Nun sah man von allen Seiten sein vertrautes, dunkles, glänzendes Haar. Hierauf warf er mit einem kräftigen Ruck seiner Schultern den Mantel ab – und es war, als hätten die Schultern den Mantel weggeschleudert, wie es sonst nur Hände können. Jetzt sahen ihn alle in seiner vertrauten Uniform, genau so, wie er abgebildet war an hunderttausend Wänden, auf den Tellern, auf den Messern, in allen Stuben, in allen Hütten vieler Länder. Und mit einer veränderten Stimme, das heißt, mit seiner alten, wohlbekannten, rief er: »Und ihr, Soldaten, meine Brüder im Leben und vor dem Tod, Kameraden meiner Siege!« . . . Es wurde ganz still. Die Stimme des Kaisers dröhnte durch die heiße Luft. Die Abgeordneten und die Würdenträger hörten nicht mehr zu, sie sehnten sich nach einem Schatten. Das Volk aber und die Soldaten waren zu weit vom Kaiser entfernt. Sie verstanden nur jedes dritte Wort. Aber sie sahen jetzt den Kaiser genau so, wie sie ihn liebten. Und also riefen sie: »Es lebe der Kaiser!«

Der Kaiser beendete hastig seine Rede. Er eilte die Stufen hinunter, den Rufen der Versammelten entgegen. Es war im Zeremoniell vorgeschrieben, daß er mit gewichtiger Langsamkeit diese Treppe hinunterzusteigen hatte. Ihn aber überfiel die Ungeduld eines Heimkehrenden. Zu lange hatte er hoch oben verharrt in der Heimatlosigkeit. Immer schleuniger wurde sein Schritt. Und einem Soldaten mehr gleich als einem Kaiser sprang er schon fast von der letzten Stufe zu Boden.

Man sah oben, auf der verlassenen Tribüne, seinen perlmutterfarbenen Umhang, schlaff und kümmerlich, einen armen, prächtigen, abgeworfenen Irrtum des Kaisers. Seinen Hut mit den weißen Federn hatte einer der Würdenträger aufgehoben. Er trug ihn jetzt feierlich und ratlos in beiden Händen. Das Volk und die Soldaten drängten sich schon vor den freigebigen Zelten der Marketender. Man begann bereits, Schnäpse, Blutwürste und Brote zu verschenken.

Mittag war längst vorbei. Aber die Sonne brannte weiter, unersättlich, festlich und sehr grausam.

XV

Auf diese feierliche Weise hatte der Kaiser dem Volke von Frankreich die Freiheit beschworen. Es schien also, als sei er nicht mehr der gewaltsame Kaiser von einst. Aber die Menschen im Lande hörten nur den Lärm der Waffen, den Gesang der Soldaten, der alten Soldaten, die nach langen Monaten in ihre Kasernen heimkehrten, und den Gesang der jungen Rekruten. Der Kaiser berief die Armee, es war kein Zweifel. Die Menschen glaubten den Zeitungen nicht mehr, die schrieben, alle Mächte der Welt wollten sich bald mit dem Kaiser versöhnen. Die Lügen flatterten über die Städte und Dörfer, falsche, bunte Zaubertäubchen, in Schwärmen erhoben sie sich aus den Zeitungen, kamen sie aus den Mündern der Schleicher, der Horcher, der Schwätzer und der Alleswisser. Sie kreisten auch über den Köpfen der Soldaten, die aus allen Richtungen nach der Hauptstadt zu marschieren hatten und aus der Hauptstadt weiter nach Nordwesten. Es mußte also Krieg werden, und die buntbeflügelten Nachrichten waren Lügen. Ach, das Volk von Frankreich kannte alle die Anzeichen, die der Krieg vorausschickt. Ein großes Entsetzen verbreitete sich über Nacht in allen Teilen des Landes auf einmal. Die bunten Täubchen, die Lügen vom Frieden, schwärmten nicht mehr in den Lüften; umgekommen waren sie in dem großen Entsetzen, in dem grausamen Schweigen, in dem sich die Wahrheit allein verkündete: die Wahrheit vom kommenden Krieg. Nächtens brannten die Wachtfeuer der Soldaten, die unterwegs auf dem Marsch nach Nordwesten Rast gemacht hatten. Des Morgens dröhnten ihre Trommeln durchs Land. Auf den heißen, trockenen Straßen marschierten sie, blühende Felder zu beiden Seiten, das Brot sahen sie heranreifen, sie fragten sich, ob sie es auch einmal würden essen können. Vielleicht waren sie tot, noch ehe dieses Korn gemahlen war, vielleicht waren sie selbst schon ein Teil der Erde, ein Dünger der Äcker – und wer weiß, welcher fremden Äcker? Und die älteren unter den Soldaten, die schon viele Kriege des Kaisers mitgemacht hatten, gedachten ihrer Kameraden, die in den fremden Ländern geblieben waren. Die älteren unter den Soldaten kannten einander alle. Und sie unterschieden sich von den anderen dadurch, daß sie sich in einer Art eigener Sprache unterhielten, jener Sprache, die alle Soldaten der Welt nur im Angesicht des Todes erlernen. Sie hatten hunderttausend gemeinsame Erinnerungen: Gewitter und Hitze, Vollmond und Abende, Mittag und Morgen, ein Heiligenbild und einen Brunnen, einen Schober und eine Rinderherde sahen sie mit andern Augen als die Jungen. »Weißt du noch«, konnte einer zum andern sagen, »damals in Sachsen? Das war der Brunnen, wo wir von der dritten Kompanie zwei blöde, verfluchte, lange Tage warten mußten.« – »Ja, ja«, erwiderte der andere, »der Brunnen, ich weiß, das war drei Meilen vor Dresden!« – »So hat die Wurst bei Eylau geschmeckt!« sagte einer. – Und der andere darauf: »Gewiß, gewiß, auch diese Wurst stammt von einem braven Roß!« – »Es war damals das Pferd von einem Obersten.« – »Diesmal ist es nur das eines Hauptmanns.« – »Wo ist denn eigentlich der kleine, dumme Desgranges geblieben?« – »In der Beresina, glaube ich. Ein alter Karpfen hat ihn verschluckt, so klein war er!« – »Und der Korporal Dupuis?« – »Bei Austerlitz, zum Donnerwetter! – Hast du gar kein Gedächtnis mehr? Vergißt du auch den guten Dupuis?«

Von diesen Reden verstanden die jungen Rekruten gar nichts. Sie wußten nur, daß auch sie in den Tod gingen. Vielleicht, so dachten sie, war es den Alten leicht, in den Tod zu gehn, da sie den Kaiser doch kannten. Ihnen aber war der Kaiser fremd und das Leben nahe. Wozu wollte er den Krieg? Wozu, wohin und warum mußten sie marschieren?

Aber sie marschierten dennoch, sie marschierten, sie marschierten. Und wenn sie durch Paris zogen, so kamen sie am Schloß vorbei, wo der Kaiser wohnte, und sie riefen: »Es lebe der Kaiser!«

Er aber, der Kaiser, war allein. Einsamer, immer einsamer saß er vor den Karten, den großen, bunten und verwirrenden, seinen lieben Karten. Sie enthielten die ganze große Welt. Die ganze große Welt bestand aus lauter Schlachtfeldern. Ach, wie leicht war die Welt zu erobern, sah man nur die Karten, auf denen sie abgebildet war! Hier war jeder Fluß ein Hindernis, die Mühle ein Stützpunkt, der Wald ein Versteck, der Hügel eine Beobachtungsstätte, die Kirche ein Angriffsziel, der Bach ein Bundesgenosse, und all die Felder der ganzen Welt, die Wiesen und die Steppen: Welch prachtvolle Schauplätze prachtvoller Schlachten! Schön waren die Karten! Schöner als Gemälde stellten sie die Erde dar! Klein erschien die Erde, betrachtete man sie nur recht auf den Landkarten: schnell zu durchschreiten, so schnell, wie die Zeit es erforderte, die unerbittlich tickende Standuhr, der unaufhörlich rinnende Sand . . .

Der Kaiser zeichnete Kreuze, Sterne, Striche in die Karten ein, bedächtig, wie er Schach zu spielen pflegte. Er schrieb Zahlen auf diese und jene Stelle. Hier waren die Toten, dort die Überlebenden, hier Kanonen und dort Reiter, drüben der Train und hüben die Sanität. Lauter Pferde, Mehlsäcke, Schnapsfässer, Feinde, Menschen, Pferde, Schnäpse, Hammel, Ochsen – und Menschen, Menschen, Menschen: immer wieder Menschen.

Manchmal erhob er sich, verließ den Tisch und die Karten, öffnete das Fenster und sah auf den Platz, den großen, weiten Platz, auf dem er einst, als ein kleiner, unbekannter Offizier, viele unbekannte Soldaten befehligt hatte. Viele Tausende kleine Soldaten marschierten jetzt nach Nordwesten. Er lauschte ihren Liedern. Er hörte ihre Trommeln. Es waren noch die alten Tamboure. Er vernahm ihren schnellen und festen Schritt. Ja, es war der wunderbare, hurtige und siegreiche Schritt der Franzosen, der Rhythmus der geschwinden, tapferen Füße, die über die Landstraßen der halben Welt gewandert waren: brave Füße, die Füße der kaiserlichen Soldaten, nützlicher und notwendiger noch als ihre Hände.

In solchen Minuten hörte er lüstern und gierig die Rufe: »Es lebe der Kaiser!« Frohgemut setzte er sich wieder an den Tisch, vor die Karte und zeichnete mit roter, mit blutiger Tinte hier und dort Zahlen ein. Sie bedeuteten: Schnäpse, Pferde, Ochsen, Wagen, Kanonen, Soldaten – Soldaten, die gerade am Schlosse vorbeimarschierten und riefen: »Es lebe der Kaiser!«

XVI

Lange hatte der Kaiser seine Mutter nicht mehr gesehn. Sehr wenig hatte er an sie gedacht, an die alte Frau. Er kam jetzt, um Abschied von ihr zu nehmen, bevor er in den Krieg zog. Die Sitte erforderte es und auch sein Herz.

Schwerfällig, einfach und würdig saß sie im breiten Lehnstuhl, im verdunkelten Zimmer. Sie liebte den kühlen Dämmer, dunkelrote, schwere Vorhänge vor zugemachten Fenstern, die milde, schützende Stille des verschlossenen Hauses aus dicken Mauern. Sie war alt, sie konnte den Lärm der sommerlichen Sonne nicht vertragen.

Es war Vormittag, als ihr Sohn eintrat. Er schien etwas von der satten, leuchtenden Hitze mitzubringen, die heute in der Stadt herrschte. Mitten im sanften, dunkelroten, leise durchsonnten Schatten, der das Zimmer erfüllte, schimmerten seine schneeweißen, prallen Hosen allzulaut, sie schmetterten beinahe. Er war zu Pferd gekommen, seine Sporen verbreiteten ein zierliches, aber in diesem Zimmer unpassendes und peinliches Klirren. Er neigte sich, küßte die Hand seiner Mutter und empfing ihren Kuß auf seinen Haaren, auf dem gesenkten Scheitel. Er blieb eine Weile so, gebückt, in einer höchst unbequemen Stellung. In seinen allzu engen Hosen hätte er kaum niederknien können. Die weiche, große, sehr weiße Hand der Mutter streichelte ein paarmal seine Haare. Sie schwiegen beide.

»Setz dich, Kind!« sagte die alte Frau endlich. Er erhob sich, er blieb stehen, er stand hart vor der Mutter. Sie wußte nicht, ob es Ehrfurcht war oder Ungeduld. Sie kannte ihn. Er war ebenso ehrfürchtig wie ungeduldig. – »Setz dich, mein Kind!« wiederholte sie. Und er gehorchte.

Er saß jetzt rechts von der Mutter, gerade dem Fenster gegenüber, auf sein Angesicht fiel der Widerschein des dunkelroten, durchsonnten Vorhangs.

Die Mutter wandte sich ihm ganz zu. Sie betrachtete ihn eine lange Weile. Der Kaiser hielt ihr seine offenen, hellen Augen entgegen, er ließ sich von der Mutter prüfen. Auch er betrachtete ihr altes Angesicht, ihren großen, schönen Mund, ihre glatte Stirn, an der noch keine Falte zu sehn war, das starke Kinn und die schöne, gerade Nase. Ja, es war kein Zweifel, viel hatte er von ihr geerbt. Sie sah aus wie die Mutter des großen Kaisers, der er war. Er fand sein Gesicht und beinahe auch sein Geschick bestätigt, wenn er sie betrachtete. Er hatte nur jetzt keine Geduld und keine Zeit zur Betrachtung. Er schob sachte einen Stiefel vor. Die Mutter bemerkte es.

»Ich weiß«, sagte sie, und ihr Kopf zitterte ein wenig, und ihre Stimme war wehmütig und leise, »ich weiß«, sagte sie, »daß du keine Zeit hast. Du hast niemals Zeit gehabt, mein Sohn. Aus Ungeduld bist du so groß geworden. Gib acht, daß dich die Ungeduld nicht zugrunde richtet. Aus Ungeduld bist du jetzt zurückgekommen. Du hättest bleiben sollen! . . .«

»Ich konnte nicht«, sagte der Kaiser. »Sie hassen mich zu sehr, meine Feinde. Sie hätten mich auf eine ferne, wüste Insel verschleppt. Ich mußte schneller sein als sie. Ich mußte sie überraschen.«

»Ja, überraschen!« sagte die Mutter. »Das ist deine Art. Das Warten aber hat auch seinen Wert.«

»Ich habe lange genug gewartet!« rief der Kaiser laut. Er stand auf. Er sprach jetzt sehr laut – und seine Stimme nahm sich schon wie eine Lästerung aus. – »Ich kann nicht mehr warten!« schrie er. »Sie werden einbrechen, wenn ich noch warte! . . .«

»Jetzt ist es zu spät zu warten!« sagte die Mutter leise. »Bleib nur sitzen, mein Kind, ich habe dir vielleicht noch etwas zu sagen!«

Der Kaiser setzte sich wieder.

»Ich sehe dich vielleicht zum letztenmal, mein armer Sohn!« sagte sie. »Ich bete, daß du mich überlebst. Ich habe nie oder nur selten um dein Leben gezittert. Jetzt aber habe ich Angst. Und ich kann dir nicht helfen: denn du bist ja selbst der Mächtige. Ich kann dir nicht raten: denn du bist ja selbst so klug! Ich kann nur für dich beten.«

Jetzt senkte der Kaiser den Kopf. Er blickte auf den dunkelroten Teppich. Er stützte den Ellenbogen auf seine blendende, weiße Hose und das Kinn auf die geschlossene Hand. »Ja, bete für mich, Mutter!« sagte er.

»Wenn dein Vater noch lebte«, fuhr sie fort, »er wüßte sicher einen Ausweg.«

»Der Vater hätte mich nicht begriffen!« sagte der Kaiser.

»Schweig!« rief sie, schrie sie fast, ihre metallene, schöne, dunkle Stimme klirrte. »Dein Vater war groß, klug, tapfer und bescheiden. Du hast ihm alles zu verdanken. Du hast alle seine Eigenschaften geerbt – außer der Bescheidenheit. Er, er hatte Geduld, dein Vater!«

»Ich habe ein anderes Schicksal, Mutter!« antwortete der Kaiser.

»Ja, ja«, sagte die alte Frau. »Du hast freilich ein anderes Schicksal.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann begann die Mutter wieder: »Du scheinst mir gealtert, mein Sohn, wie fühlst du dich?«

»Ich werde manchmal müde, Mutter!« sagte der Kaiser. »Ich werde manchmal plötzlich müde.«

»Wo fehlt es?«

»Ich frage keinen Arzt. Wenn ich die Doktoren kommen lasse, heißt es, ich sei todkrank.«

»Wirst du es aushalten?«

»Ich muß, Mutter, ich muß. Ich werde größer heimkehren als je. Ich werde sie niederschlagen.«

Er hob den Kopf. Er blickte geradeaus an der Mutter vorbei, auf ein Ziel, das er allein sehen mochte . . . auf eine siegreiche Heimkehr.

»Gott segne dich!« sagte die Mutter. »Ich werde für dich beten.«

Der Kaiser stand auf. Er ging an die alte Frau heran und verbeugte sich. Sie machte das Zeichen des Kreuzes über ihm und gab ihm ihre weiße, alte, große, weiche Hand. Er küßte sie. Sie umschlang seinen Nacken mit dem linken Arm. Er spürte am Halse, durch die schwarze Seide ihres Ärmels, die weiche, mütterliche Wärme ihres vollen Armes. In diesem Augenblick wurde ihm weh zumut. So möchte ich meinen Sohn umarmen können, dachte er, und: Glücklich ist sie, meine Mutter: Sie darf ihren Sohn umarmen! –

Ein warmer Tropfen, ein zweiter, ein dritter fiel auf seinen gesenkten Scheitel. Er wagte nicht aufzusehn, er konnte es auch nicht, niedergehalten, wie er war, von der guten Fessel des mütterlichen Armes. Als sie sich endlich lockerte und er sich erheben konnte, sah er seine Mutter weinen. Sie weinte mit einem unbewegten Gesicht, ohne daß sich ein Zug darin veränderte. Nur die Tränen flossen unermüdlich aus ihren großen, offenen Augen.

»Weine nicht, Mutter!« sagte der Kaiser, ratlos und leise.

»Ich weine aus Stolz!« sagte die alte Frau, mit ihrer gewöhnlichen Stimme, und so, als weinte sie gar nicht. Ihre Kehle, ihr Mund, ihre Stimme hatten nichts mit ihren Tränen zu tun.

Sie schlug vor dem Kaiser noch einmal ein Kreuz in die Luft und murmelte etwas Unhörbares. Dann sagte sie: »Geh, mein Kind! – Gott segne dich, mein Kind, Gott segne dich, mein Kaiser!«

Er verneigte sich noch einmal. Dann ging er schnell hinaus. Seine Sporen klirrten, seine schwarzen Stiefel blitzten trotz der Dämmerung durch das dunkelrote Zimmer, und seine schneeweißen Hosen blinkten grell und schmetternd.

XVII

Als er eine halbe Stunde später die Truppen der Pariser Garnison inspizierte, zum letztenmal, bevor sie in den Krieg marschieren sollten, fühlte er zwar noch auf seinem Scheitel den Kuß und die Tränen der alten Frau, aber es war ihm dennoch, als wäre schon eine recht lange Zeit seit dem Augenblick vergangen, in dem er den rötlich-dunklen Raum verlassen hatte. Die Soldaten der Pariser Garnison waren für diesen Feldzug sorgfältiger ausgerüstet worden als alle anderen im Lande. Auch die Rekruten hatten stramme, heitere und wohlgenährte Gesichter. Zufrieden blickte er in die braven, jungen, gehorsamen Augen der jüngst und zum erstenmal Eingerückten und in die wissenden, treuen und ergebenen seiner alten, erfahrenen Soldaten. Solide waren Tornister und Mäntel und Stiefel. Die Stiefel prüfte er mit doppelter Aufmerksamkeit, beinahe mit Liebe. In den Feldzügen, wie er sie zu unternehmen pflegte, hing sehr viel von den Stiefeln und Füßen der Leute ab, fast ebensoviel wie von den Händen und den Gewehren, ja mehr noch vielleicht. Und auch mit diesen war er zufrieden. Die Läufe waren frisch eingefettet worden, und sie schimmerten sanft und gefährlich, mattblau und zuverlässig. Wohlgeschliffen blinkten die Spitzen der Bajonette. Der Kaiser ging langsamer als gewöhnlich, bedächtig fast, zwischen den starren Reihen einher, hier und dort zerrte er an einem Knopf, um zu prüfen, ob er festsitze, an einem Riemen, an einem Koppel, an einer Schnur. Er ging zu den großen Feldkesseln, fragte, was für ein Fleisch man heute zubereite, und als man ihm sagte, es würde Hammel gekocht, befahl er, man möge ihm einen Bissen reichen. Seit seinem letzten, unseligen Feldzug hatte er nicht mehr Hammelfleisch mit Bohnen gegessen. Er lieh sich einen Löffel aus Zinn von einem Sergeanten, führte mit der Linken die Brotkante zum Munde, mit der Rechten den gefüllten Löffel, stand da mit gespreizten Beinen, im Angesicht seiner Soldaten, und in allen, die ihn so essen sahen, jauchzte das Herz. Die Augen glühten vor Stolz und auch von verdreifachtem Hunger. Eine robuste Andacht erfüllte sie wie niemals bei einer Feldmesse oder in einer Kirche und eine feierliche, kindliche und zugleich auch väterliche Zärtlichkeit für ihren großen Kaiser. Gewaltig war er und auch rührend. Er ließ sie im Karree antreten und sprach zu ihnen, wie immer – und aufs neue die alten Worte, die er so oft erprobt hatte: von den Feinden des Vaterlands, von den Bundesgenossen des schmählichen Königs, von den alten Siegen, von den Adlern und von den Toten und schließlich von der Ehre, der Ehre, der Ehre. Und wieder zogen die Offiziere ihre Degen. Noch einmal brüllten die Regimenter: »Es lebe der Kaiser! Es lebe die Freiheit! Es lebe der Kaiser!« Und wieder einmal lüftete er seinen Hut und rief: »Es lebe Frankreich!« mit erstickter Stimme und ehrlicher gerührt, als er es im dunklen Salon seiner Mutter gewesen war. Er wollte noch jemanden umarmen, bevor er die Regimenter verließ, er suchte nach einer geeigneten Persönlichkeit. Zu oft schon hatte er Generäle, Oberste, Sergeanten und auch Mannschaften umarmt. Da erblickte er einen kleinen Trommler, einen der halbwüchsigen Jungen, deren es viele in seiner großen Armee gab, die guten Kinder seiner Regimenter, gezeugt vielleicht von mehreren Vätern vor einer Schlacht, geboren vielleicht auf dem Zeltwagen einer Marketenderin, in Deutschland, in Italien, in Spanien, in Rußland oder in Ägypten. »Komm, Kleiner!« sagte der Kaiser. Und der Junge trat vor, mit der Trommel, er hatte kaum Zeit, die beiden Klöppel in die Schlaufe zu stecken, und stand dann unbeweglich vor dem Kaiser da, unbeweglicher noch als ein alter Soldat. Der Kaiser hob ihn hoch, samt der Trommel, hielt ihn und schwenkte ihn noch eine Weile in der Luft, so daß es alle sehen mußten, und küßte ihn auf beide Wangen. »Wie heißt du?« fragte der Kaiser. »Pascal Pietri«, sagte der Kleine mit klingender Stimme, wie ein Junge in der Schule einem Lehrer antwortet. Der Kaiser erinnerte sich, diesen Namen vor einigen Tagen gehört zu haben, er wußte nur nicht mehr, bei welcher Gelegenheit. – »Lebt dein Vater?« – »Jawohl, Majestät!« sagte der Junge. »Er ist Wachtmeister bei den Dreizehner-Dragonern.« »Notieren Sie: Wachtmeister Pietri«, sagte der Kaiser zum Adjutanten. – »Verzeihung, Majestät!« sagte der Knabe, »mein Vater heißt Levadour, Wachtmeister Levadour!« Der Kaiser lächelte – und alle Offiziere und Soldaten in der Nähe lächelten mit. »Kennst du deine Mutter?« – »Meine Mutter, Majestät, ist Wäscherin am Hofe.« – Der Kaiser erinnerte sich plötzlich: »Angelina heißt sie?« – »Jawohl, Angelina, Majestät!« – Und alle Offiziere und Soldaten in der Nähe lächelten noch einmal – und wurden sofort wieder ernst. »Notieren Sie«, sagte der Kaiser zum Adjutanten, »die Wäscherin Angelina Pietri.«

Seine Inspizierung hatte lange gedauert. Absichtlich hatte er sie lange dauern lassen, er hatte nicht heimkehren wollen mit der frischen Erinnerung an den dunklen Salon seiner Mutter. Als er wieder das Schloß betrat, war es später Nachmittag, in einer Stunde mußte der Abend dasein, es dämmerte bereits. Er war mit diesem Tag zufrieden. Es war ihm, als hätte er seine Mutter nicht heute vormittag erst, sondern bereits vor sehr langer Zeit schon gesehn. Er erinnerte sich an Angelina Pietri, die kleine Frau aus dem Hausgesinde, die er im nächtlichen Park gesehen hatte. Die Erinnerung stimmte ihn heiter, der Name Angelina, ihr kleiner Sohn, der in seiner Armee die Trommel schlug, und die brave Frische, mit der der Knabe den Namen seines Vaters richtiggestellt hatte, rührte ihn fast. Ja, das war sein Volk, so waren seine Soldaten! Zuversichtlich wie seit Tagen nicht mehr, beugte er sich über die Karten auf seinem Tisch. Er hatte sie, seine Feinde, er hielt sie, diesmal wie so oft, Parlament und Polizeiminister konnten ihm vielleicht gefährlich werden. Generäle und Armeen konnte er besiegen: Es war ein guter Tag.

Was für ein Tag war eigentlich heute? Seine alte abergläubische Laune überfiel ihn. Er ging zur Tür, riß sie auf und rief ins Vorzimmer hinein: »Was haben wir heute für einen Tag?« – »Majestät, Freitag!« antwortete Marchandeau, der Diener.

Er erschrak für die Dauer einer Sekunde, er liebte keine Freitage. Man mußte den Freitag gewissermaßen wettmachen, und er kannte auch das unfehlbare Mittel. Seine Frau Josephine hatte es ihm oft gesagt. Und er erinnerte sich auch an den Namen der unfehlbaren Kartenlegerin, die der Kaiserin und ihm so oft die Zukunft schon prophezeit hatte. »Ist sie noch im Hause«, fragte er, »die Véronique Casimir?« – »Jawohl, Majestät!« sagte der Diener. – »Hol sie!« befahl der Kaiser.

Es schien ihm ein gutes Zeichen, daß sie im Hause war. Die selige Kaiserin Josephine hatte sie mitgebracht. Wie alles, was von ihr kam, war auch die alte Veronika Casimir gut. Er erinnerte sich genau an die dicke Alte. Er wartete zuversichtlich.

XVIII

Ihre Herrin, die gottselige Kaiserin Josephine, die ihr oft im Traum erschien, hatte Veronika Casimir in dankbarer und ehrfürchtiger Erinnerung. Eine einfache Wäscherin war sie einmal gewesen, aber seit ihrer frühen Jugend schon eine ungewöhnliche Kartenlegerin. Noch als der große Kaiser Konsul gewesen war, hatte Veronika Casimir aus den Karten gelesen, daß er bestimmt sei, eine Krone zu tragen. Seitdem waren ihr zahlreiche Ehren zuteil geworden; und selbst höhere, so meinte sie, als irgendeinem der Würdenträger, der Minister und der Marschälle. Sie durfte dem Kaiser gelegentlich weissagen. Sie war die erste Wäscherin des kaiserlichen Hofes. Ihr oblag die Sorge um die blauseidenen Hemden und die Spitzentaschentücher der ersten Kaiserin, um die solideren, weißseidenen Hemden und die batistenen Taschentücher der zweiten. Die Geschicke des kaiserlichen Hauses las sie aus den Karten und manchmal auch aus der Wäsche, die man ihr jeden Abend übergab. Vierunddreißig Wäscherinnen und Badedienerinnen standen unter ihrem strengen Befehl. Sie liebte militärischen Gehorsam, und sie hatte in den langen Jahren ihres Dienstes gelernt, Schweigsamkeit und Verschwiegenheit zu üben, obwohl sie redselig und sogar geschwätzig von Natur war.

Jeden Abend, bevor sie sich schlafen legte und nachdem sie die Wäschestücke an die ihr untergeordneten Frauen und Männer verteilt hatte, setzte sie sich an den großen Tisch, der um diese Stunde einsam und feierlich in dem still gewordenen Eßzimmer stand . . . denn sie brauchte sehr viel Platz für ihre Karten, und sie arbeitete mit mehreren Päckchen verschiedener Karten nach einem verwickelten System. Manchmal versammelten sich auch die Dienstboten zu später Stunde. Der schwarze Tisch aus Ebenholz, lang, schmal, mit glänzender polierter Fläche, war düster, unheimlich, fast ein Katafalk. Da saß Veronika Casimir und legte Karten. Man hörte die Mitternacht von verschiedenen Türmen schlagen. Da hielt sie inne und wartete, bis alle Glocken verklungen waren. Endlich raffte sie die verschiedenen Kartenpäckchen zusammen, umwickelte sie mit einer alten, fettigen Schnur und erhob sich, ohne ein Wort zu sagen. Man fragte sie auch nicht. Sie verriet selten die Geheimnisse der Überwelt, zu der sie so innige Beziehungen unterhielt.

Seit der Heimkehr des Kaisers hatte sie gewartet, zu ihm gerufen zu werden. Jetzt begann sie, die Karten nicht mehr nach dem Schicksal des Kaisers zu befragen, sondern nach ihrem eigenen, das heißt: ob sie der Kaiser während seiner Abwesenheit nicht vergessen hätte. Nein! sagten die Karten.

Dennoch war sie heute überrascht und fast erschrocken, als man sie zu ihm befahl. Sie stand im großen Waschraum, umgeben von ihrem Gesinde, es war die Stunde, in der sie ihre Untergebenen zu versammeln pflegte, sie erwartete die Diener mit den Wäschekörben, und sie hielt den Zettel in der Hand, auf dem ihre Aufträge, Befehle, Tadel, Ermahnungen aufgezeichnet waren. Nun eilte sie stracks in ihr Zimmer. Sie hatte eine halbe Treppe zu steigen. Jetzt nahmen ihre kurzen, fetten Beine zwei Stufen auf einmal. Sie hastete in ihr Zimmer, zu dem kleinen, ovalen Spiegel zwischen den zwei Leuchtern am Tisch, sie entzündete die Kerzen, sie zog eine frischgestärkte Haube an, setzte sich und begann, mit ihren kurzen, starken Fingern ihr gelbliches, sehr fleischiges Angesicht zu pudern. Sie spritzte ein paar Lavendeltropfen über die Brust, aus der geweihten Flasche, die ihr einst die erste Kaiserin, ihre Herrin Josephine, geschenkt hatte, und erhob sich, zufrieden, duftend, in einer leichten, weißen Wolke von Puder und ganz großartig. Aus dem Koffer holte sie ihre Kartenpäckchen, mit einem sicheren, heftigen, beinahe kriegerischen Griff, wie ein Soldat seine Waffen nimmt, wenn er zu plötzlicher Fehde gerufen wird. Jetzt war sie fertig. Sie stand nach langen Monaten wieder vor dem Kaiser. Er saß an seinem Tisch, vor seinen bunten, verwirrenden Karten, die sie schon ein paarmal gesehn hatte, wenn sie vor den großen Feldzügen die Gnade erfahren hatte, berufen und befragt zu werden. Sie versuchte den Knicks, den die Damen im Angesicht des Kaisers zu vollführen pflegten. Mit beiden Händen spreizte sie die Schöße, einen Fuß schob sie rückwärts, einen streckte sie vor, einen Schritt versuchte sie in dieser schwierigen Haltung vorwärts zu gleiten und hierauf ein Knie leicht zu beugen – und nachdem sie all dies in graziöser Weise vollzogen zu haben glaubte, blieb sie stehn, fett und stramm, mit schamhaft gesenkten Augen. Die Fenster waren offen. Der späte, goldiggrüne Dämmer des sommerlichen Abends drang in das Zimmer und wetteiferte mit den tiefgelben, unruhigen Flämmchen der drei Kerzen. Man hörte den leisen Atem des Windes und das laute, fleißige Wispern der Grillen.

»Hierher!« befahl der Kaiser. Sie beeilte sich, an seinen Tisch zu kommen. Sie wackelte heran, fett, würdig, unterwürfig. Wie hatte sie diese Stunde ersehnt! In dem ehrfürchtigen Schauer noch, der sie im Angesicht des Kaiser erfüllte, und im Anblick der verwirrenden Landkarten, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet waren, fühlte sie auch ihre eigene Bedeutung, einen Schauder vor sich selbst und vor dem geadelten und erhobenen Sinn ihres Werkzeuges, den Spielkarten. Ja, sie erschauerte vor dem Gedanken, daß ihre Karten nicht weniger wichtig, vielleicht noch wichtiger waren als die Landkarten des Kaisers, und vor ihrer eigenen Genugtuung darüber, daß der größte aller Kaiser der Welt von dem Geheimnis ihrer, der Veronika, Karten ebensowenig begriff wie sie von dem Geheimnis seiner geographischen. In dieser Stunde war sie berufen, die Geschicke der Welt vielleicht zu bestimmen, wie es sonst nur der Kaiser tat. Und also stand sie da, vor dem Kaiser ebenso schaudernd wie vor sich selber. Sie hielt den Blick gesenkt. Er fiel auf ihre beträchtliche Brust, tiefer konnte er nicht gelangen, und sie hätte gerne auf den Boden geblickt, aus Demut und Stolz und auch aus Verlegenheit. Durch die gesenkten Lider fühlte sie den spöttischen, lächelnden Blick des Kaisers. Wie ein Soldat hielt sie die Arme gesenkt an den fetten Hüften, tiefer konnten ihre Hände nicht reichen. Sie liebte – sie brauchte auch – glatte Tische, auf denen gar nichts liegen durfte, sie wollte den Kaiser bitten, seine verwirrenden Landkarten wegzuräumen, aber sie wagte es nicht.

»Also los!« sagte der Kaiser.

Es wurde zusehends dunkler im Zimmer – eine Art makabren Lichts verbreiteten die spärlichen Kerzen jetzt und verstärkten den Mut und den Glauben der alten Veronika an ihre prophetische Sendung. Sie wagte nun, die Augen zu erheben. Sie sah das wächserne Angesicht des Kaisers, ein erstarrtes Lächeln auf seinem Angesicht – die Leiche eines Lächelns. Und sie begann, zuversichtlich und ohne Respekt, ihre fettigen Spielkarten über die bunten Landkarten des Kaisers zu legen. Sie gab sich Mühe zu vergessen, daß sie vor dem gewaltigsten aller Kaiser stand, und sie dachte daran, daß sie hier im Dienst der Überwelt stehe, und sie flüsterte: »Dreimal abheben bitte, Majestät!« Der Kaiser hob dreimal ab. In den dunkelblauen, glatten Rücken der Karten spiegelten sich die unsteten Flämmchen der Kerzen. »Was vor mir liegt«, murmelte sie nun, »was vor mir fliegt, was mich angeht und was mir verweht, was mich liebt, was mich betrübt!« Sie mischte schnell, mit kurzen, flinken Fingern, deren Hurtigkeit den Kaiser oft verblüfft hatte. »Bitte noch sechsmal abheben, Majestät!« sagte sie. Und der Kaiser hob sechsmal ab. Er dachte dabei an seine erste Frau, die tote Josephine, und an die Abende, an denen sie versucht hatte, ihr Geschick, das seine, das Schicksal des Landes und der Welt aus den fettigen Karten dieser Frau Veronika zu lesen, mit geringer Kenntnis und mit ihren langen, schlanken, geliebten Fingern. Er dachte nicht mehr an die Karten. Er verlor sich in süßen Erinnerungen an seine tote Frau. Er lächelte. Er hörte nicht, wie Veronika murmelte: »Pique zur Rechten, das geht zum Schlechten; Treff-Schwarz zur Linken bedeutet Sinken; Caro-Schwarz ist nah, die Gefahr ist da; Coeur-Rot ist weit, die Liebe ist schneller als die Zeit; Treff-Dame ist drüber, vorüber, vorüber; Treff-Acht, Treff-Acht . . .« Sie hörte auf. Sie raffte plötzlich die Karten zusammen. Sie sah den Kaiser an. Er hatte einen fernen Blick, er schien durch ihre massive Gestalt hindurchzudringen, in die Welt vielleicht, vielleicht auch in das Grab, in dem die teure Kaiserin Josephine jetzt verdorrte und zerfiel. Veronika schwieg, krampfhaft preßte sie ihre Karten mit der Linken an die Brust.

Der Kaiser sah sie jetzt an, spöttisch und lächelnd. »Nun, Veronika?« fragte er, »gut oder schlimm?«

»Gut, gut, Majestät!« sagte sie eilfertig. »Lange Jahre sind noch Eurer Majestät beschieden. Lange Jahre!«

Der Kaiser öffnete eine Schublade. Darin standen kleine Säulchen aus Goldstücken, säuberlich, schimmernd, Türmchen aus Gold. Von einem dieser Türmchen hob der Kaiser zehn Münzen ab, es waren lauter Napoleons. »Hier, zum Andenken!« sagte der Kaiser.

Man öffnete die Tür. Die Frau Veronika zog sich zurück, eilfertig, rückwärts schreitend, krampfhaft bemüht, ihren schweren Atem zurückzuhalten. Als sie im Rücken die Nähe der offenen, rettenden Tür verspürte, versuchte sie noch einmal ihren schwerfälligen, lächerlichen Knicks. Draußen war sie, die Tür schloß sich. Sie knickste zum drittenmal vor der verschlossenen Tür. Dann wackelte sie, würdig und eilig, die Treppe hinunter. Auf der vorletzten Stufe aber mußte sie einhalten. Sie fühlte, zum erstenmal in ihrem Leben, eine Ohnmacht nahen. Das Geländer der Treppe, an das sie sich zu retten gedachte, schien vor ihr zurückzuweichen. Sie fiel plötzlich nieder, schwer, mit plumpem Aufschlag. Zwei Gardisten hoben sie auf. Man trug sie in den Park. Sie erwachte, sah die Soldaten, richtete sich auf und sagte: »Gott helfe uns allen . . . und ihm besonders . . .!«

Dann hastete sie keuchend hinüber, in den großen Speisesaal des Gesindes. Es war spät. Man trug schon das Essen auf.

XIX

An dem Abend, an dem der Kaiser seine Residenz verließ, um in den Krieg zu fahren, wölbte sich der Himmel klar, tiefblau und reichbestirnt über der Stadt. Auf der Straße vor dem Park warteten Neugierige und Begeisterte. Das Gesinde versammelte sich, in respektvoller Entfernung, neben dem kaiserlichen Wagen. Der Kaiser trat rasch aus dem Tor, früher, als es vorausgesehen war. Die Diener waren noch damit beschäftigt, Papiere, Karten, Feldstecher in den Wagen zu laden. Ein Lakai stürzte herbei, eine brennende Fackel in der Hand. Die Nacht war klar genug, sie verströmte ein gutes, blausilbernes Licht. Die dunstige, rötliche Flamme der Fackel sah zwecklos aus und hatte dennoch etwas Schreckliches. Sie war nur die Folge einer ganz bestimmten Hausordnung, ein unschuldiges Gerät. In diesem Augenblick aber war es, als versuchte sie einen grausamen Einbruch in die nächtlich bestirnte Stille. Zutraulich tuschelten die Bäume im Park. Lautlos zuckten ein paar Fledermäuse über die Köpfe der Menschen hin, mitten durch den Lichtschein, der aus den Fenstern brach. Es war ganz still, trotz den Bewegungen und den halblauten Reden der Menschen und dem Geräusch, das Pferde und Wagen verursachten. Die Stille dieser Nacht war mächtiger als jedes Geräusch. Die Fackel aber empfand man als einen lauten, ja ungehörigen Einbruch, man vernahm deutlich das Knistern ihrer Flamme, man roch das verbrennende Harz, als wäre es der Geruch der Gefahr selbst. Der Kaiser schien müde. Er hatte bis zu diesem Augenblick gearbeitet. Die versammelten Diener wurden still, als er erschien. Alle wandten ihm ihre Blicke zu. Im blausilbernen Schimmer dieser Nacht erschien ihnen sein Angesicht besonders bleich. Übrigens dachten sie alle an die Ohnmacht der Kartenlegerin Veronika.

Der Kaiser blieb eine Weile auf der letzten Stufe stehen. Er blickte lange zum Himmel hinauf, es war, als suchte er unter den unzähligen Sternen den seinen. Gespenstisch hell leuchteten seine weißen Hosen. Sein schwarzer Hut erinnerte an eine kleine Wolke, die einzige, die es unter diesem klaren Himmel zu sehen gab. Er stand unbeweglich wie eines seiner vielen Bildnisse, allein in der großen, stillen Sommernacht, obwohl man knapp hinter ihm die Herren seiner Suite sehen konnte, auf den oberen Stufen. Allein war er und einsam; und er suchte seinen Stern.

Er wandte sich um, winkte den Adjutanten heran, sprach ein paar Worte. Dann verließ er die Treppe. Er ging schnell die paar Schritte zum Wagen. Da riefen die Diener: »Es lebe der Kaiser!« Sie winkten ihm zu, mit den Händen, mit nackten Händen. Der Ruf überraschte ihn. Er wandte sich um, er war schon im Begriff, den Wagen zu besteigen. Er trat einen Schritt vor. Die Frauen unter der Dienerschaft fielen in die Knie. Zögernd folgten ihnen die Männer. Das sind sie gewohnt, wenn der König abreist! dachte der Kaiser. – So dürften sie gekniet haben, als er vor mir floh. »Aufstehn!« befahl er, und alle erhoben sich. – Er mußte noch etwas sagen, er gehorchte dem theatralischen Gesetz, das ihn immer befehligte, nicht minder als er seine Armee. Was hatte er Lakaien, Dienern, Sklaven zu sagen? – »Es lebe die Freiheit!« rief er. Und alle erwiderten: »Es lebe der Kaiser! Sieg! Sieg!«

Er wandte sich schnell um. Er stieg schnell ein. Die Wagentür fiel mit ungewöhnlich lautem Schlag zu. Neben dem Kutscher flackerte die Fackel. Noch ein leises, fast kosendes Schnalzen der Peitsche, ein paar bläuliche Funken unter den Hufen der Pferde. Schon liefen sie, schon flogen sie aus dem Park.

Noch ein Wagen rollte heran. Hier stiegen die Begleiter des Kaisers ein. Es ging hastig zu und in kalter Geschäftigkeit.

Als sie alle eingestiegen waren und noch ehe sich ihr Wagen in Bewegung gesetzt hatte, kehrte der Lakai die Fackel um – er bohrte das Feuer geradezu in die kühle, feuchte, nächtliche Erde. Dann trat er noch mit dem Fuß auf die noch mühselig glimmenden Reste der Fackel. Es war allen, die ihm zusahen, als hätte er soeben eine ganz andere Flamme begraben.

Unter den Dienerinnen im Park befand sich damals auch die Magd Angelina Pietri.


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