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Zweites Buch
Das Leben der Angelina Pietri

I

Um jene Zeit lebte Angelina Pietri unter dem niederen und namenlosen Gesinde des kaiserlichen Hofes. Sie entstammte einem Geschlecht, das in seiner korsischen Heimat Ansehn und Ehre genoß. Allein der Vater Angelinas war ein armer Fischer gewesen; und fünfzehn Jahre war sie alt, als er starb. Viele junge Menschen, Jünglinge und Mädchen, verließen damals die Insel Korsika. Nach Frankreich gingen sie, wo der größte aller Korsen herrschte: der Kaiser Napoleon.

In Paris wohnte eine Tante Angelinas, Veronika Casimir, erste Wäscherin am kaiserlichen Hofe, kinderlos, gütigen Herzens und eine Meisterin im Wahrsagen aus den Karten. Von ihr ging in Ajaccio die Sage um, daß sie dem großen Kaiser selbst den Ausgang seiner Schlachten prophezeie.

Ein Freund, der alte Benito, brachte Angelina auf seinem winzigen Segler nach Marseille. Er bezahlte ihr die Post nach Paris und begleitete die Kleine zum Postwagen. Feierlich und wehmütig nahm er Abschied von ihr; und so laut, daß auch alle andern Passagiere es hören mußten, sagte er:

»Du wirst ihm einen treuen Gruß vom alten Benito ausrichten. Ich habe seinen seligen Vater gut gekannt. Wenn er dich fragt, warum ich nicht selbst nach Paris komme, so sagst du ihm, daß ich zu alt bin. Wäre ich jünger, ich wäre längst gekommen, um mit ihm zu kämpfen und die Welt zu erobern. Mein Sohn ist statt meiner unter die Soldaten gegangen. Sie kennen sich beide sicherlich gut, er dient bei den Sechsundzwanzigern – – ein prachtvolles Regiment! – So! – Fahr mit Gott, und vergiß nichts von alledem, was ich dir aufgetragen habe!«

Dies ließ der alte Croce dem Kaiser persönlich ausrichten.

Angelina kam freilich nicht dazu, den Auftrag auszuführen. Der Kaiser war unerreichbar. Und vom Kaiser träumte sie. Sein Konterfei hing in allen Stuben, das gleiche Konterfei, das sie in Korsika in allen Stuben gesehen hatte. Es stellte den Kaiser dar, wie er, nach einer gewonnenen Schlacht, auf schneeweißem Roß, seine gelichteten Truppen mustert. Sein Pferd schimmert, sein Auge blitzt. Er hält die Rechte ausgestreckt und zeigt irgendwohin, in eine unerforschliche Richtung. Er ist herrlich anzuschauen: Weit und nah zugleich ist er, herzensgut ist er und gleichzeitig furchtbar.

Angelina unterstand der Befehlsgewalt der Veronika Casimir. Sie gehörte also zu der Abteilung der sechsunddreißig Diener und Dienerinnen, denen es oblag, die Wäsche der Damen und Herren des Hofes zu säubern und die Badezimmer in Ordnung zu halten.

Sie wusch die himmelblauen, die rosafarbenen und die weißen Hemden aus Seide, die batistenen Taschentücher, die Kragen, die Manschetten, das zarte Linnen der Betten, in denen die Herrschaften schliefen, und die edlen Strümpfe, in denen sie einhergingen. Frühmorgens, im grauen Dunst der Waschküche, zwischen Bottich und Kessel, wrang und bürstete sie die Stücke, hieb kräftig mit dem hölzernen Pracker auf die nassen, zusammengerollten Bündel, entrollte sie wieder und hängte sie über die Schnüre, die zahllos, dicht und regelmäßig den Raum überspannten, ein seltsames Netz, ein zweiter, ein zarterer Plafond aus Seilen. Am Nachmittag lagen die Stücke auf dem breiten Tisch, getrocknet, gebauscht und verknittert, und erwarteten ihre Auferstehung. Dann nahm Angelina, wie sie es zu Hause gelernt hatte, einen Mund voll Wasser und spritzte aus vollen Backen auf Seide, Leinen und Batist. Hierauf schwenkte sie mit starken Armen das Bügeleisen, auf dessen Grunde die Holzkohlen glommen. Sie legte, um die Wärme zu prüfen, einen angefeuchteten Finger an den Boden des Eisens und freute sich, wenn es zischte. Sie begann zu bügeln: das starke Leinen zuerst, hierauf die zarte Seide, endlich den Batist, zuletzt die vielgefältelten Kragen und Manschetten. Und es war ihr, als käme sie den Damen und Herren und dem Kaiser selbst immer näher, je emsiger sie arbeitete. Dieses Hemd, das sie eben bügelte, konnte vielleicht morgen schon der Kaiser anziehen. Seine blendenden weißen Hosen rieb sie mit einer besonderen, fetten, unlösbaren Kreide ein. Dank ihrem Eifer schimmerten sie wie frischer Schnee.

Es gab Tage, an denen Veronika Casimir plötzlich zu ungewohnter Stunde in einer ungewohnten Tracht erschien. Dann hörten auf einen Schlag die jungen Wäscherinnen zu singen auf. Man wußte, daß Veronika einer hohen Persönlichkeit soeben aus den Karten geweissagt hatte. Sie trug ihre schwere, schwarze, seidene Robe und am Hals, an einer wuchtigen, goldenen Kette, den giftgrünen Zauberstein aus Jade, ein Geschenk der Kaiserin Josephine. Fleischig, schwerfällig und feierlich stand sie da, im Dunst der Waschküche, vor den weißgekleideten jungen Mädchen, eine wahre dunkle Priesterin des großen Kaisers. Welch gewaltiges Geschehen mochte sie eben prophezeit haben? – Welchem Teil der Welt hatte sie eben das Schicksal vorausgesagt?

Zweimal in der Woche war Angelina befohlen, die Badezimmer im Schloß zu besorgen. Sie kam zuerst in das Badezimmer des Kaisers. Die frischen Spuren seiner nassen Füße sah sie auf dem Boden. Sie roch den Geruch seines Körpers in den feuchten Tüchern und verharrte eine lange Weile auf der Stelle, reglos, betäubt und pflichtvergessen. Manchmal aber brachte sie einen ungeheuren Mut auf: Sie preßte ein Tuch an ihr Herz, sie drückte einen Kuß auf das Leinen, flüchtig und verstohlen, und obwohl sie allein war, errötete sie. Sie liebte noch die geringste der kaiserlichen Spuren. Angst hatte sie, dem Kaiser durch Zufall zu begegnen. Aber bittere Enttäuschung im Herzen, als hätte er selbst ihr versprochen zu kommen und als hätte er sein Wort nicht gehalten, verließ sie endlich sein Bad. Vernichtet war sie und gleichzeitig beseligt.

 

Eines Tages fiel ihr eines der einfachen soldatischen Taschentücher in die Hand, die der Kaiser manchmal benutzte wie jedermann in seiner Armee. Es war ein großes Taschentuch aus hartem Leinen. Die roten breiten Ränder umrahmten eine hellblaue Mitte, die eine Landkarte darstellte. Hier waren alle Orte, an denen der Kaiser gekämpft hatte, mit roter Farbe gekennzeichnet. Es war die Landkarte der einfachen kaiserlichen Soldaten.

Andächtig betrachtete Angelina dieses Tuch. Es enthielt grünliche Spuren des Tabaks, den der Kaiser geschnupft hatte. Sie sah ihn wieder wie auf den Bildern, auf weißem Roß, die Rechte ausgestreckt in eine unerforschliche Ferne.

Mit der ganzen Liebe ihres jungen, heftigen und törichten Herzens begann sie, das Tuch zu behandeln. Eine besondere Botschaft des Kaisers schien es ihr. Am Abend lag es glatt gebügelt vor ihr, und sie fuhr zärtlich darüber hin mit ihren roten, guten, jungen Fingern. Sie verbarg es unter dem Kleid, an der Brust, und allmählich, während sie so das wunderbare Tuch am Herzen fühlte, begann sie zu glauben, ihr gehöre es bereits. Man war nicht gewohnt, dergleichen gewöhnliche Stücke unter der kaiserlichen Wäsche zu sehn. Es hatte sich gewissermaßen eingeschlichen, es war von selbst zu Angelina gekommen, ein Gruß, eine Botschaft – – was konnte man wissen? Wahrscheinlich war es auch schon zerknittert an ihrem Busen und in einem Zustand, in dem man es nicht mehr abliefern konnte. Vielleicht auch gelang es ihr, es morgen oder übermorgen, oder bei Gelegenheit einmal, abzugeben – – obwohl alle Stücke gezählt wurden. Die kleine Angelina hatte große Angst. Sie stand da, pünktlich um acht Uhr, in der militärisch ausgerichteten Reihe der Dienerinnen und Diener, der gestrengen Veronika harrend, den Wäschepack auf ausgebreiteten Armen, wie alle andern sechsundzwanzig Stück; das siebenundzwanzigste trug sie am Herzen.

Veronika Casimir begann zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – – – Sie hielt ein langes, schmales Buch in einer Hand, in der andern ein Binokel, wie es die Herrschaften gebrauchten. Jetzt hob sie das Glas. »Ein Stück fehlt, Angelina!« sagte sie.

Angelina rührte sich nicht.

»Ein Stück fehlt!« wiederholte Veronika.

Angelina sah bereits, wie man sie entkleidete und untersuchte. Lakaien betasteten mit neugierigen Händen ihren Körper. Man fand das Tuch. Man jagte sie, die nackte, aus dem Schloß, aus der Stadt, aus dem Lande.

Sie schwieg dennoch.

»Antworten, Angelina!« befahl Veronika Casimir.

In diesem Augenblick erfüllte eine große Kraft die kleine Angelina Pietri, und sie sagte fest und ruhig:

»Es waren sechsundzwanzig Stück!«

Sie log zum erstenmal in ihrem Leben.

In der Nacht, im Gesindezimmer, in dem noch zwei andere Mädchen schliefen, wartete Angelina, bis das Licht ausgelöscht war. Dann entkleidete sie sich und breitete das Tuch des Kaisers über das Kissen. In dieser Nacht schlief sie nicht, zum erstenmal in ihrem jungen Leben. Sie ergab sich einer seligen Wachheit, die zärtlicher noch und friedlicher war als ein guter Schlaf . . .

II

Jeden Tag und jede Stunde konnte sich das Wunder ereignen, daß Angelina den Kaiser erblickte. Es war eigentlich kein Wunder, wenn sie es genau überlegte, sondern ein selbstverständliches Ereignis, das bestimmt eintreten mußte. Am Sonntag begleitete sie die Tante Veronika zu zahlreichen Freundinnen. Es waren ausgezeichnete Frauen, in besonderen Stellungen. Ihre Männer waren niedere Hof- und Staatsbeamte: ein Wachtmeister der Gendarmerie, der Portier des Elysée, ein kaiserlicher Förster, ein Spitzel des Polizeiministers, ein Schreiber des Rathauses, der Profos vom Militärgefängnis, ein Sequester von der Steuerbehörde. So sehr alle diese Frauen auch von ihrer gesellschaftlichen Wichtigkeit überzeugt waren, so wagte doch keine, die unheimliche Bedeutung der Veronika Casimir zu bestreiten. Jedes Haus, das sie besuchte, gab sich dem Glauben hin, es empfinge eine Vertraute der irdischen und auch der himmlischen Gewalten. Mit splendider Großmut verteilte Veronika Ratschläge und Weisungen. Die Ratschläge erwiesen sich als kostbar, die meisten Weissagungen trafen ein. Wie sollte es auch anders sein? Wußte sie doch sogar den Ausgang der kaiserlichen Schlachten!

Manchmal prophezeite sie auch der kleinen Angelina die Zukunft. Nicht an Sonntagen, sondern am Freitag zwischen elf und zwölf Uhr nachts. Da saß Angelina am langen Tisch im großen Gesindezimmer, ihrer Tante gegenüber, die mageren Ellenbogen auf der Tischplatte. Ihre roten, verlegenen Hände fuhren hilflos über ihr flammendes Gesicht, nestelten am schwarzen Leibchen und an der weißen Schürze, der Livree der kaiserlichen Wäscherinnen. Grauen und Neugier erfüllten ihr Herz. Ringsum an den Wänden und unter dem Plafond des geräumigen Saales wallten und wogten geheimnisvoll die Schatten, die von den zwei Wachskerzen auf dem Tisch, rechts und links von den ausgebreiteten Karten, nicht etwa verjagt, sondern nur noch verstärkt und verdichtet wurden. Dazu kam, daß Veronika, einer geheimen Zaubervorschrift gemäß, das Wachs der Kerzen mit Weihrauch getränkt hatte. Der Raum war völlig verändert, nicht mehr der große, gewohnte Speisesaal, in dem alle jeden Tag aßen, sondern eher etwa eine geräumige Gruft, in der die Schatten der ringsum an den Wänden Begrabenen umhersegelten.

Der jungen Angelina sagten die Karten immer das gleiche: Ihr zu Füßen lag ein schöner Mann mit Bart und in Uniform. Ein Kind, ein Knabe, tauchte auf in den bereits etwas gelichteten Nebeln der nächsten Zukunft. In den weniger durchsichtigen der fernen aber wartete der Tod, seltsamerweise in einer nicht zu leugnenden Beziehung zu einem blutigen Krieg. Geld – und plötzliches gar – war weit und breit nicht zu sehen. Krankheit kam auch nicht in Betracht. Ruhm kündigte sich irgendwo rätselhaft an, war aber selbst von dem scharfsinnigen Aug' der Veronika nicht genau zu unterscheiden. – Mit dünner und hohler Stimme schlug endlich die Mitternacht. Man hörte draußen die halblauten Kommandos der Posten, die sich ablösten, und das gedämpfte Geräusch der präsentierten Waffen. – Da erhob sich Veronika, bündelte die Karten und schritt, Angelina voran, die zwei flackernden Kerzen in beiden Händen, hinaus. »Gute Nacht, Kind!« sagte sie. – Angelina knickste, und die Tante küßte sie auf die Stirn, die Leuchter in beiden ausgestreckten Armen.

Bitterlich enttäuschte die ewig unabänderliche Stimme der Karten die kleine Angelina. Jeden Freitag erwartete sie einen neuen Klang, sie ahnte wohl, was für einen, und sie getraute sich nicht, ihn zu gestehen. Eine bestimmte Art von Gerüchten beherrschte oftmals die Gespräche unter dem Gesinde, und Angelina verstand nicht alles, sie erriet nur das Wichtigste. Manchmal hörte sie Lakaien und Diener sagen: »Gratuliere, Pierre! Deine Caroline war gestern nacht verschwunden!« Oder: »Guten Morgen, lieber Freund, nimmst du sie zurück, oder duellierst du dich mit dem Kleinen?« Und sie sah an dem schamlosen, offenen und dennoch Geheimnis verhüllenden Lächeln der Männer, daß es sich um Liebesnächte handelte, und sie erriet, daß es die Liebesnächte des Kaisers waren. Sie kannte diese Caroline, jene Babette, die Cathrin und die Arlette. Wie hochmütig rauschten sie unter dem Gesinde plötzlich einher, in ihren gewohnten und dennoch wie durch Zauber verwandelten Dienstkleidern! War der Mächtige so gering in manchen Stunden, daß er nach Mägden begehrte? Und war er nicht so groß, daß ihm alles in der Welt gehörte? Die Berge, die Täler, die Flüsse gehörten ihm, die Könige, ihre Länder, ihre Kronen, ihre Töchter, ihre Frauen, die hohen Generäle und die gemeinen Soldaten. Alles, alles gehörte ihm, das Hohe und das Niedrige, das Großartige und das Einfache. Warum nicht auch die Mägde? – Es war selig, seine Magd zu sein, von ihm erniedrigt, von ihm erhoben zu werden! Das kleine Herz Angelinas flatterte und zappelte, ein gefangenes Vögelchen. Das Blut wallte ruhelos und sehnsüchtig. Sie konnte nicht mehr dem wunderbaren Drang widerstehn, sich in jedem der zahlreichen Spiegel zu betrachten, die in den köstlichen Badezimmern aufgestellt waren. Es war einfach über sie gekommen. Es begann mit einem furchtsamen Mißtrauen gegen die eigene Anmut und mit einer schrankenlosen Anerkennung für die Vollkommenheit der anderen Mädchen. Sie lernte ihren Hals, ihre Brust, ihre Hände und Füße mit den Hälsen, Brüsten, Händen und Füßen der anderen vergleichen. Sie begann, in der Nacht nach den fremden Leibern zu spähen, bewundernd zuerst und später mit Neid. Eines Tages – in dem einfachen Leben der kleinen Angelina Pietri aber hatte dieser Tag eine besondere Bedeutung – verließ eine der Hofdamen das Bad später als gewöhnlich. Angelina sah sie noch nackt. Sie erschrak vor dieser stolzen, unbekümmerten Nacktheit. Sie vergaß sogar, einen Knicks zu machen. Eine schreckliche Bewunderung lähmte sie. Es war, als sei die Dame nicht ganz nackt, sondern gehüllt in eine Art völlig durchsichtiger Schönheit. Ihr Körper war preisgegeben den Augen Angelinas, aber dennoch sehr weit und sicherlich unberührbar. Und wenn sie gewagt hätte, ihn zu fassen, hätte er sich wahrscheinlich angefühlt wie Stein. Die Dame lächelte freundlich. »Du kannst ruhig anfangen, Kind!« sagte sie. Angelina errötete und erblaßte in der gleichen Sekunde. Auf einmal fühlte sie eine nie gekannte Empörung. Zum erstenmal glaubte sie, eine Kränkung zu erfahren. Die schöne Frau hatte das Recht, »Kind« zu ihr zu sagen. Es war Angelina in diesem Augenblick, als bedeutete dieses zärtliche Wort Verachtung und als wäre es ein Urteil, das sie zur ewigen Unansehnlichkeit verdammte.

Die Kammerfrau kam und umkleidete ihre nackte Herrin mit einem blauen Mantel. Angelina blieb allein.

Zum erstenmal roch sie wollüstig und zugleich gehässig den großartigen Duft des Badezimmers. Zum erstenmal betrachtete sie die gelben, saphirgrünen, rubinroten Flakons mit Parfüm, die Seifen, die Schwämme, die Mandelmilch und die indischen Salben. Sie schöpfte langsam das milchige Wasser aus der Wanne, begann mit Wut und Andacht zu säubern, hauchte gegen den Spiegel heftig ihren Atem, als schleuderte sie dem Glas eine böse Beschwörung entgegen – und rieb es hierauf nachdrücklich, wie um es zu zerdrücken. Ihr junges Angesicht leuchtete ihr gefällig entgegen. Ja, zum erstenmal erschien sie sich selbst gefällig und, nach einer Weile, hübsch sogar. Sie war ein rothaariges und sommersprossiges Mädchen, ihre Stirn war zu hoch, zu stolz, hätte man sagen können, wäre sie nicht von Sommersprossen übersät gewesen. Die Augen waren viel zu klein und von grauer Farbe. Ihre Lippen waren voll und bildeten einen zierlichen, nach unten gekrümmten Bogen. Im Kinn nistete ein Grübchen. Leider war es, nach der Meinung Angelinas, durch eine Sommersprosse entstellt und fast unsichtbar.

Ein sinnloses Verlangen erfaßte sie, auch ihren Körper zu prüfen. Sie streifte die Schürze und das Kleid ab. Ihr Hals war schmal und fest, ihre hilflosen, jungen Schultern erschienen ihr ebenmäßig und vollkommen, ihre Brust zu klein. Es gab immerhin Mittel, Sommersprossen verschwinden zu lassen. Sie war entschlossen, hübsch zu werden. Sie war es bereits.

Seit diesem denkwürdigen Tage prüfte sie jeden Tag aufs neue ihren erwachenden Körper. Vor dem Spiegel hielt sie verliebte, stumme Zwiesprache mit ihm, mit ihrem Gesicht, mit den Lippen, den Augen, den Brauen. Man riet ihr zu einer bestimmten Salbe gegen Sommersprossen, aber sie dachte nie mehr daran, auch ihre kleinen Fehler hatte sie bereits liebgewonnen. Sie war gläubig und fromm, und sie wußte, daß sie eine Sünde beging. Und sie nahm sich vor zu beichten.

Eines Tages aber erlag sie sogar dem Spiegel im kaiserlichen Badezimmer. Lange genug hatte sie ihm widerstanden, aus Angst und Ehrfurcht. Nun zwang er sie mit doppelter Gewalt. Mit einer jähen Gebärde trat sie vor ihn, riß die Schürze herunter, öffnete den Kragen. Ihre langen, weißen Schürzenbänder schleiften am Boden. Plötzlich ging die Tür hinter ihrem Rücken auf. Im Spiegel sah sie, wie der Diener des Kaisers eintrat. Sie hatte keine Zeit mehr, die Schürze und das Kleid zu ordnen. »Wo ist die Dose?« fragte der Diener. »Hast du die Tabaksdose nicht gesehn?« Seine Augen flogen flink und mürrisch durchs ganze Zimmer. Sie erstarrte und erwiderte nichts. Sie stand da, immer noch dem Spiegel zugewandt. Im Spiegel sah sie, wie der Diener näher herankam. Schon stand er dicht hinter ihrem Rücken. »Umwenden!« befahl er. Sie schlug beide Hände vor den entblößten Hals und wandte sich dem Mann zu. Ihre Schürzenbänder schleiften immer noch am Boden.

»Was hast du hier gemacht? Was versteckst du da?« fragte er.

»Nichts, nichts!« hauchte sie.

Ihre Augen flatterten nach rechts und nach links, sie versuchten, die stämmige Gestalt und das breite Gesicht des Dieners zu fliehen.

Plötzlich erblickte sie die Dose. Sie lag, zierlich und silbern, auf einem kleinen Tisch neben der Wanne. Sie streckte den Arm aus und sagte: »Dort, dort!«

»Gesteh sofort, was du gemacht hast!« sagte der Mann mit flüsternder Stimme, die stärker, gefährlicher und bedrohlicher klang, als wenn er geschrien hätte. »Gestehe, gestehe, gestehe«, wiederholte seine tonlose Stimme, und zugleich kam er Angelina immer näher, immer näher – er ging auf den Zehenspitzen, sein leiser Schritt war noch gefährlicher als sein Geflüster.

Endlich stand er vor Angelina. »Der Kaiser ist noch hier«, flüsterte er, sein Atem zischte. »Ich rasiere ihn eben. Leise, leise, nicht schreien! Sag schnell!« Er streckte den Arm aus. Es schien, als machte er Anstalten, Angelina das Kleid vom Leibe zu reißen. Nicht schreien! – Nicht schreien! dachte sie. Da entrang sich schon ein schriller, betäubender Schrei ihrem Herzen. Zugleich sprang sie in die Richtung des Vorhangs zu ihrer Linken, der ihr Rettung zu versprechen schien. Sie wußte nicht mehr, was sie tat, sie streifte den Toilettentisch, und mit klirrendem Getöse stürzten Gläser und Flakons zu Boden.

Der Diener wich zurück, zur Tür, durch die er gekommen war, und verschwand. Durch die geschlossene Tür vernahm sie jetzt den zornigen Klang einer mächtigen Stimme. Die Worte konnte sie nicht verstehen, die Stimme erahnte sie wohl. Es war die scheltende Stimme des Kaisers. Dann wurde es still. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz flatterte. Sie bezwang sich, bückte sich und begann, mit leisen flinken Fingern die Scherben aufzusammeln. Dann wartete sie reglos. Sie hörte kein Geräusch mehr. Sie ging zur Tür, die in den Korridor führte, drückte behutsam die weiße Klinke nieder und trat in den Gang. In diesem Augenblick vernahm sie zartes Sporenklirren. Sie erzitterte. Da kam er schon, der Kaiser, an ihr vorbei. Sie stand auf, in der gerafften Schürze die Scherben der Gläser und der Flakons, gelähmt und aufrecht, und sah den Kaiser nicht, obwohl ihre Augen weit aufgerissen waren. Sie wußte nur: Es hatte einen ewigen Augenblick weiß geschimmert und silbern geklingelt. Nichts mehr behielt sie in der Erinnerung. Leer und wüst war ihr kleiner Kopf.

Sie lief, sie rannte, sie verirrte sich in den Gängen, fand endlich die Treppe, flatterte die Stufen hinunter und erreichte das Freie.

III

Man erfuhr nichts von ihren Verfehlungen, und sie schätzte sich glücklich. Sie betete inbrünstig, der Himmel möge ihre Sünden verzeihen. Sie küßte das Kruzifix, das über ihrem Bette hing, drückte es ans Herz und legte sich getrost schlafen. Aber ehe sie einschlief, zog sie das Tuch hervor, das sie zwischen Polster und Überzug verborgen hatte, und preßte es ebenfalls an die Brust. Das Kreuz beruhigte sie; aber das Tuch machte sie selig.

Eines Abends, beim Wäscherapport, als alle sechsunddreißig in tadelloser Reihe dastanden, sagte Veronika Casimir: »Angelina liefert zuerst ab. Hierher, Angelina! Man erwartet dich!«

Vor der Tür im schwach beleuchteten Korridor stand ein fremder Lakai, den sie noch nie gesehn hatte, in blauem Tuch; er schien zierlicher und schmächtiger als die anderen Männer aus dem Gesinde, die sie kannte; er trug eine feine Goldborte um den Kragenrand und am Rockaufschlag; er glich einem dunkelblauen, zart vergoldeten, sehr feierlichen Schatten.

»Folgen Sie mir, Fräulein!« sagte er. Zum erstenmal sagte man zu Angelina »Sie« und »Fräulein«. Ihr Mut sank mit jedem Schritt, den sie machte. Bei jeder Wendung des Korridors wuchs die Unheimlichkeit. Sie gelangten in den nächtlichen Garten, in einen unbekannten Teil des nächtlichen Gartens. Es waren kaum ein paar Minuten verflossen, aber es war Angelina, als wäre sie schon stundenlang hinter dem Lakaien einhergewandert. Sie betraten wieder das Schloß, und wiederum durch eine unbekannte Tür. Angelina hatte diesen Eingang noch niemals gesehn, auch nicht die Treppe, die sie eben folgsam hinaufschritt. Sie hielt sich am Geländer fest, sie ging auf dem schmalen Streifen, den der dunkelrote Teppich vom weißen Stein sichtbar ließ. Der Teppich schien ihr gefährlich und vertraut lediglich der schmale Steinrand. Sie kam in ein geräumiges Zimmer. Eine starke, grüne Portiere fiel über die Tür hernieder, in wuchtigem, seidenem Gefäll. Zwei Lehnstühle standen an einem kleinen Tisch. Auf dem Tisch sah sie Flaschen und Gläser, kaltes Fleisch und Käse auf Porzellantellern mit dem kaiserlichen Wappen. Der Lakai schob einen Lehnstuhl vor und sagte: »Setzen Sie sich, Fräulein!« Dann schüttete er aus der Karaffe goldfarbenen Wein ins kristallene Glas. Dann verschwand er hinter der Portiere, schmächtig, zierlich, dunkelblau. Schwer und lautlos schlugen ihre grünen Wogen hinter ihm wieder zusammen.

Angelina saß steif in dem breiten, weichen Fauteuil vor dem goldenen Weinglas. Mit leeren Augen sah sie die breiten Fenster, die feierlichen Bilder an den Wänden, die ihr nur wie bunte, goldgerahmte Flecke erschienen, den großen kristallenen Lüster in der Mitte, über dem Tisch, die schweren silbernen Armleuchter in allen vier Ecken des Zimmers. Von den brennenden Kerzen roch es nach Wachs und Veilchen. Zu ihrer Linken stand das breite Bett, halb verhüllt von einem goldgelben, von goldenen Bienen übersäten Vorhang. Aufrecht und starr saß sie da und bemühte sich vergeblich nachzudenken.

Alles war bekannt, alles war fremd. Vielleicht hatte sie all dies schon einmal geträumt, vielleicht träumte sie jetzt, in diesem Augenblick. Vielleicht kam jemand, um sie zu töten. Vielleicht kam jemand, nur um sie zu bestrafen. Ein Dutzend seltsamer Geschichten, die sie als Kind in der Heimat gehört hatte, fielen ihr jetzt ein. Es wurde ihr heiß, die Wärme, der Duft, die Angst und das Licht der Kerzen betäubten sie. Sie hätte aufstehn mögen und ein Fenster öffnen. Sie wollte aufstehn und die Kerzen auslöschen. Ihr Glanz war allzustark, er lärmte fast. Angelina dachte, daß sie hier ganz gerne sitzen würde, wenn es nur finster wäre. Ganz finster, wie es jetzt in ihrer Schlafstube war. Sie wagte nicht, sich zu rühren.

Allmählich wurde sie müde. Sie lehnte sich zurück und spürte die gütige Weichheit der Lehne und der Armstützen wie eine neue, noch größere Gefahr. Sie neigte sich wieder vor und griff nach dem Glas. Ihre Hand zitterte. Sie trank, lehnte sich zurück, tat noch einen Schluck und noch einen. Es war Wein, es war gleichsam mehr als Wein. Es war süß, herb, gefährlich, tröstend und verheißend. Es war das Getränk der Sünde. Sie versuchte, sich ein wenig aufzurichten, um das Glas wieder auf den Tisch zu stellen. Sie konnte nicht mehr. Zu spät, zu spät – dachte sie, und sie trank weiter.

Jetzt saß sie da, das geleerte Glas in der Hand. Schon fühlte sie sich heimischer, schon wurde ihr der fremde Raum vertraut. Sie wagte, mit einem kühnen Entschluß, aufzustehn, sie hatte bei sich beschlossen, wenigstens einmal rings ums Zimmer zu gehn. Sie blieb vor dem ersten Bild stehn: Es war der Kaiser, ein großes Porträt, es reichte bis zum Boden. Man mußte den Kopf heben, um sein Angesicht zu sehen. Man sah seine Stiefel zuerst, die Hosen dann, später erst den Rock und schließlich, wie in Wolken, hoch oben sein Antlitz.

Die kleine Angelina ging nicht mehr weiter. Sie flüchtete sich wieder zurück, in den Lehnstuhl, in die heimische Gefahr. Sie zitterte, sie fürchtete, das Glas fallen zu lassen, das sie immer noch in der Hand hielt, und sie stellte es also äußerst vorsichtig wieder auf den Tisch. Eine schreckliche, wunderbare, gewaltige Ahnung überfiel sie, eine feurige, eine gefährliche Ahnung, die von außen kam, aus dem Wein aufzusteigen schien, aus dem Bild des Kaisers zu strömen, aus dem Bett in der Ecke und aus den betäubend duftenden Kerzen.

Jetzt richtete sie den Blick auf die schweren, grünen Wogen der Portiere, und jeden Augenblick glaubte sie, eine Bewegung an ihr wahrzunehmen. Bald lauschte sie und glaubte, Stimmen zu hören. Bald war es ihr, als ginge der Vorhang auseinander, und der Kaiser erschien wie auf dem Bilde: Sein Kopf war unsichtbar unter dem Plafond, groß war er, immer größer wurde er. Sie neigte sich vor, schüttete sich ein neues Glas ein und nippte daran. Gleich darauf stellte sie es furchtsam und ehrfürchtig wieder auf den Tisch.

Jetzt glaubte sie genau zu wissen, weshalb man sie hierhergebracht hatte. Eine süße Furcht überfiel sie, und sie ergab sich ihr, wollüstig, träumerisch, kindlich und stolz. Sie trank noch einmal. Sie lehnte sich zurück und hielt krampfhaft das Glas in ihren roten, jungen Händen. Ihr Blick schweifte von den Wänden zu den Kerzen, von diesen zu den Fenstern und immer wieder zu der Portiere. Sie bemerkte, wie sich eine der Kerzen in der Ecke infolge der Hitze stark zu biegen anfing, und schon wollte sie aufstehen, um sie gerade zu richten; aber sie wagte es nicht. Mit dem pflichttreuen Ohr eines Mädchens aus dem Gesinde vernahm sie erschreckt das sachte, regelmäßige Tropfen des Wachses auf den Teppich. Ihr kindlicher Stolz erstarb, ihre wollüstige Furcht verdrängte nun eine andere, eine ganz gewöhnliche, die Furcht der Dienerin vor einer versäumten Pflicht. Dennoch vermochte sie sich nicht zu erheben. Und um die Kerze nicht mehr ansehn zu müssen, schloß sie die Augen.

Sie schlief sofort ein, das Glas aufrecht und brav in den törichten Händen und auf dem reglosen Schoß. Wirre Traumfetzen flogen an ihr vorbei. Sie hielt die Lippen geöffnet, sie lächelte, ein bißchen ängstlich, im Schlaf und atmete kaum; auch im Schlaf noch wagte sie nicht zu atmen.

Sie erwachte beim ersten sommerlichen Jubel der Vögel. Durch alle hohen und breiten Fenster strömte siegreich der Junimorgen, gedämpft von dem Grün der Bäume im Park. Angelinas gewissenhafter Blick suchte sofort die verbogene Kerze. Ein kleines, buckliges Stückchen Wachs nur war noch im Leuchter übriggeblieben; auf dem schönen Teppich aber hafteten jetzt der Kerze unheilvolle Reste, ein kleiner, trockener, gelber Teich aus Wachs. In der Luft stand der blaue, kalte Dunst der längst erstorbenen Lichter.

Ratlos und verloren war Angelina. Sie dachte nicht mehr an die Portiere. Sie sehnte sich weit weg, nach Hause, nach Ajaccio, zu den geliebten Netzen, dem steinigen Strand, den goldenen, silbernen und stahlblauen Fischen, nach dem Duft der Algen und der Muscheln. Sie hielt immer noch das Weinglas in der Hand; nun stellte sie es auf den Tisch und erhob sich.

Ein Geräusch von Stimmen und Schritten vernahm sie plötzlich. Eine Tür ging, ein Ruck riß gewaltsam die Portiere auseinander, der Kaiser stand da. Sein Haar war wirr, ein paar Knöpfe an seiner Weste waren offen, übernächtigt erschien er, älter und kleiner, als er sein mochte, im jungen Licht des Morgens. Mit einem lächerlichen, plumpen Ruck fiel Angelina in die Knie, als hätte man sie niedergestoßen. Sie senkte den Kopf, und nichts mehr sah sie als die schwarzen kaiserlichen Stiefel auf dem roten Teppich. Sie hörte, wie hinter dem Kaiser jemand lautlos eintrat, sie sah einen blauen Schuh und eine goldene Schnalle, und sie erriet, daß es der blaue Lakai von gestern war.

»Dummkopf!« sagte jetzt die Stimme des Kaisers – und: »Laß sie hinaus!«

Als sie den Kopf hob, war der Kaiser verschwunden. Vor der grünen Portiere stand der schmächtige blaue Lakai.

»Kommen Sie, Fräulein!« sagte er.

Im Garten ließ er sie stehen. Es schlug sechs von einem Turm. Um halb sieben begann die Arbeit.

Beschämt, verworren und betäubt lief sie durch die breite Allee. Dort schimmerte schon der heimische Trakt, den sie kannte. Als erste von allen Dienerinnen betrat sie heute die Waschküche.

 

Seit dieser merkwürdigen Nacht war das Herz der kleinen Angelina lahm und verwundet. Vergebens versuchte sie, sich einzureden, daß sie jene Nacht nur geträumt habe. Immer unerbittlicher stiegen in der Erinnerung alle Begebenheiten wieder auf, jede mit genauem Gesicht und grausamer Kontur. Sie weigerten sich entschieden, von Angelina für Träume und Schatten gehalten zu werden. Jene Nacht verfolgte Angelina hartnäckig. Immer noch roch sie den heißen Duft von brennendem Wachs und Veilchen; immer noch schmeckte sie das kühle, herbe und süße Gold des Weines; immer noch spürte sie den plötzlichen, schmerzlichen Schlag der Schande. Ihr erwachtes, ahnungsreiches Blut wußte, daß man es verschmäht hatte.

Mit einem dumpfen Haß begann die kleine Angelina die großen Damen zu verabscheuen, von denen sie glaubte, sie wären niemals verschmäht worden, auch nicht vom Kaiser. Ihre eben erblühte Eitelkeit erlosch und verwelkte, ein ärmlicher, kurzer Frühling, in der Scham, in der Schande und im Haß. Sie betrachtete nicht mehr ihr Angesicht, alle Spiegel der Welt waren auf einmal erblindet. In der Nacht betete sie nur noch flüchtig, und nur flüchtig küßte sie das Kreuz. Das Tuch des Kaisers lag verborgen auf dem Grunde ihres hölzernen Koffers.

Eines Sonntags, als sie ihre Tante wieder auf ihren Besuchsgängen begleitete, trat ihr im Hause des Profosen dessen Neffe entgegen, der großartige Wachtmeister Sosthène, dessen Herz sie in der ersten Stunde entzündete.

Nichts unterschied ihn von den meisten Wachtmeistern der kaiserlichen Kavallerie. Groß, kräftig, tapfer, ausgezeichnet und ein paarmal verwundet, war er wie die meisten seiner Kameraden. War Angelina einige Schritte von ihm entfernt, so sah sie ihn nur als eine Welt für sich, eine Welt mit Säbel, Sporen, Stiefeln, geflochtenen Schnüren, eine Welt in Blau-Rot; und auch sein Angesicht war ein Teil seiner Uniform. Es war eine Erscheinung, die nicht, wie alle anderen menschlichen Erscheinungen, aus Gliedmaßen und Körperteilen bestand, sondern eher aus Farben. Näherte er sich der Kleinen, so mußte sie, um ihm zu antworten, an ihm emporblicken wie an einem bunten Berg, und es dauerte eine geraume Weile, ehe sie oben auf dem Gipfel einen gewaltigen, furchtbar glänzenden, blauschwarzen Schnurrbart erblickte und über diesem zwei breite, schwarze, offene Nüstern wie Krater.

Es ließ sie gleichgültig – und sie gab sich nur den Anschein, zufrieden zu lauschen –, wenn er von seinen Schlachten erzählte und von den fremden Ländern, in denen er gekämpft, gelebt und geliebt hatte. Mit Wohlwollen und nicht ohne Kritik sprach er von der Strategie des Kaisers. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Kaiser hätte diese Schlacht verloren und wäre in jener glatt umgekommen, zumindest aber in Gefangenschaft geraten. Alle Leute, der Profos einbegriffen, die nur die Paraden des Kaisers kannten, hatten keinen Begriff von der Rolle, die der Zufall und das Glück in der Schlacht spielten. Vielleicht war es nur Zufall, daß der Oberst des Wachtmeisters nicht Kaiser geworden war. »Das kann nur Gott wissen!« sagte die Frau des Profosen.

»Gott gibt's nicht!« sagte der Wachtmeister entschieden. Und mit der gleichen Entschiedenheit und mit der galanten und geräuschvollen Verbeugung eines gewappneten Ungetüms lud er Angelina und ihre Tante ein, mit ihm am Abend zu essen.

Sie aßen in einem noblen Gasthaus gebratene Scholle, Rindfleisch mit grobkörnigem Salz, süßliche Karotten und zarte, junge Zwiebelköpfchen: ein soldatisches Mahl. Der Wachtmeister stieß den Säbel dreimal auf den Boden, und man brachte einen herben Wein aus der Rheingegend. Auch dort hatte der Wachtmeister die Deutschen gezähmt, und jeder Schluck entrang ihm bestimmte Erinnerungen. Kaffee und mehrere Cognacs trank man am Schluß. Hierauf erklärte die Tante, daß ihr Dienst sie riefe. »Einen Augenblick!« sagte der Wachtmeister, »ich begleite Sie, Madame!« Er beugte sich tief, die Tante reckte sich ein wenig, und also geriet er mit seiner mächtigen Faust an ihren Arm, erfaßte ihn und führte sie klirrend bis zur Tür. Er grüßte militärisch und kehrte, ein strahlender Fels, zu Angelina zurück.

An diesem Abend sollte sie noch ein gut Stück Welt kennenlernen: eine Wagenfahrt, einen Jahrmarkt, von unzähligen Windlichtern taghell erleuchtet, noch einen Cognac, schließlich ein kleines, rotgoldenes Zimmer, eine Flasche Champagner und die Liebe auf einem schmalen Sofa, das nicht größer war als eine geräumige Wiege. Der Kopf Angelinas hing wirr und betäubt über die Lehne, deren schmerzenden Druck sie im Nacken spürte. Es war ihr, als bestünde ihr Körper aus einzelnen unordentlichen Stücken wie in dieser Stunde ihre Kleider. Ein bunter, fremder Berg umarmte sie mit aller Kraft und war im Begriff, sie vollends zu zermalmen.

Draußen erst, unter dem grauenden Morgenhimmel, fand sie sich wieder, im Wagen ordnete sie Haar und Kleider und überzeugte sich allmählich, daß kein Stück von ihrem Körper fehlte. Der Bart des Wachtmeisters fegte noch einigemal über ihr Gesicht und ihren Nacken, als sie vor dem Schloß standen. Er ließ sie los, befahl ihr zu winken, sie gehorchte und sah, daß auch er winkte. Sie huschte die wohlbekannte Treppe hinauf ins Zimmer. Ihre Genossinnen schliefen. Sie betete heute nicht mehr, zum erstenmal in ihrem Leben.

Mit der dunklen Empfindung, daß das Leben sehr schwer und sehr unverständlich sei, ein gefährliches, außerordentliches Gewicht, versank sie in einen schweren Schlaf.

IV

Auf diese Weise erfüllte sich die Prophezeiung der Veronika Casimir: Ein bärtiger Mann in Uniform lag Angelina zu Füßen. Er wartete auf sie jeden Abend, nachdem ihr Dienst beendet war, vor dem Ausgang der höfischen Dienstboten. Pünktlich stand er da, mächtig und bunt. Lange noch bevor sie ihn erreichte, sah ihn Angelina durch das Gitter des Parks und das Grün der Bäume farbenprächtig schimmern. Am klaren Himmel erglommen schon die ersten silbernen Sterne. Und der glänzende Dragonerhelm mit der mächtig gebogenen Rippe und mit dem schwarzen Pferdeschweif schien sie fast zu berühren. Nicht aus Sehnsucht – aus Furcht und ängstlicher Ungeduld lief ihm Angelina entgegen. Er wartete starr, ein bunter Felsen, bis sie an ihn herantrat. Sie traute sich nicht, zu seinem Haupt aufzusehen, zu dem ragenden, glänzenden Gipfel. Ihr hellblaues Häubchen reichte gerade bis zum Knauf seines Säbels und bis zum untersten Knopf seiner Weste. Mit einem gewaltigen Arm, ohne sich auch nur um ein geringes zu bücken, hob er sie in die Höhe seines Angesichts, und während ihre Beine haltlos in der Luft zappelten, strich sein Schnurrbart wie eine zärtliche Bürste über ihre Stirn, ihre geschlossenen Lider und ihre sommersprossigen Wangen. Atemlos schwebte sie so zwischen Himmel und Erde, Ewigkeiten lang, so schien es ihr. Endlich durfte sie taumelig zu Boden gleiten. An seiner rechten Hüfte schwankte sie dahin, an seiner Linken schepperte der Säbel. Seine Sporen klirrten gefährlich und leise, aber scharf knirschten seine Stiefel. So gingen sie den Freuden des Abends entgegen.

Sein Urlaub wollte kein Ende nehmen. Offenbar hatte der Wachtmeister bei seinem Regiment sehr viel Einfluß. Offenbar auch war sein Bedürfnis nach der Liebe Angelinas noch lange nicht gestillt. Er konnte sich auch, er hatte es ein paarmal angedeutet, zu einem Kavallerieregiment nach Paris versetzen lassen. Daran dachte Angelina mit ehrlichem Entsetzen. Sie wagte nicht zu fragen, wann er wieder wegfahren würde. Wenn er seine Andeutung wiederholte, daß er ja ebenso in Paris wie in Lyon oder in Grenoble dienen könnte, fühlte sie wohl, daß er von ihr Zustimmung und Ermunterung erwartete. Sie nahm ihn hin und erkannte ihn an, wie man ein Schicksal hinnimmt. Wie eine farbige und klirrende Lawine fiel er jeden Abend regelmäßig, zu bestimmter Stunde, über sie nieder, und daß sie sich dennoch, gebrochen zwar und müde, aber mit heilem Körper wieder erheben durfte, schien ihr Gnade genug. Sichtlich war ihr dieser Mann bestimmt gewesen, vom Anfang der Zeiten. Auch die Karten hatten ihn vorausgesagt.

Hoch über ihrem Kopfe, so daß sie ihn kaum verstand, redete er unermüdlich daher. Sie vernahm grollende Laute, kleine Donner, und wenn er manchmal nieste, klang es wie ein kurzer Platzregen. Erst wenn sie einander am Tisch gegenübersaßen, begann sie, den Inhalt seiner Reden zu verstehen, wenn auch nicht vollkommen deren Sinn. Gebannt und nicht ohne Gehässigkeit, wie man zuweilen von etwas Verhaßtem und Häßlichem gebannt sein kann, sah die kleine Angelina die heftigen Bewegungen des mächtigen, männlichen Mundes, der zu kauen schien, wenn er sprach, die große, rote Unterlippe und den Schnurrbart, der unermüdlich durch die leere Luft fegte. Große und großartige Worte sprach der Wachtmeister. Wuchtig fielen sie auf Angelina nieder, wuchtig und langweilig. Sie wagte nicht einmal, ihren Blick von seinem Angesicht abzuwenden.

Obwohl sie das Gefühl hatte, daß er allein der Anlaß ihrer schwersten Sünden war, schien es ihr dennoch, als sei es noch mehr Sünde, ihm zu widerstehen und ihm nicht zu gehorchen. Also wurde sie ganz ratlos, und es schien ihr, daß sie verurteilt sei, von nun ab nie mehr wählen zu können zwischen Tugend und Sünde, sondern immer schwanken zu müssen zwischen zwei Arten von Sünden. Sie dachte daran, daß sie, seitdem dieser gewaltige Mann über sie eingestürzt und hereingebrochen war, nicht mehr nach alter, tröstlicher Gewohnheit die Kirche besucht hatte, aus Angst, sie könnte, ratlos und beschmutzt, wie sie sich vorkam, durch ihre Anwesenheit allein Gott selbst beleidigen. Sie sehnte sich nach den endgültig versunkenen Tagen ihrer kindlichen Reinheit zurück. Eines Abends auf dem Heimweg, als sie schon nahe dem Schlosse waren, hob der Wachtmeister den Finger, zeigte gegen das Schloß und sagte: »Glück hat er eben gehabt. Vielleicht mehr Glück, als er verdient!«

Es war schon spät am Abend, und die Straße so still, daß Angelina die Worte genau hören konnte, obwohl sie hoch über ihrem Kopfe dahinrollten. Sie verstand zuerst nicht, wen der Wachtmeister meinte. Aber sofort fühlte sie einen Widerwillen, und ehe sie noch recht begriffen hatte, wen der Wachtmeister meinen mochte, begann sie ihn zu hassen, und lediglich wegen dieses einen Satzes. – »Wer hat Glück gehabt?« fragte sie mit ihrer dünnen, zaghaften Stimme. »Er natürlich, der Bonaparte!« Es war ungewöhnlich, daß man den Kaiser mit diesem Namen bezeichnete, und Angelinas Haß gegen den Wachtmeister wurde noch größer. »Der Kaiser?« fragte sie. »Ja, er, gewiß!« sagte der Wachtmeister. »Sie dienen in seiner Armee!« sagte Angelina. Sie sprach diesen Satz mit einer großen Anstrengung, und ihre Stimme zitterte schon. »In seiner Armee«, sagte der Wachtmeister (und er betonte das Wort »seiner« mit Gehässigkeit), »dienen viele, die ihn nicht mögen. Aber davon verstehst du nichts, Kleine!« Sie waren vor dem Gitter angelangt, und in Angelina erwachte der Verdacht – es war der erste Verdacht in ihrem jungen Leben –, daß der Wachtmeister nur deshalb aufgehört hatte, über den Kaiser zu sprechen, weil ihn irgend jemand hätte hören können.

Nun hob er sie hoch wie jeden Abend beim Abschied, aber nicht mit einem Arm wie bei der Begrüßung; denn die Gardisten sahen nicht mehr zu, und es lohnte nicht, Kräfte zu verschwenden, wenn keine Zeugen da waren. Also hob er sie mit beiden Armen hoch, küßte sie laut, daß es in der stillen Nacht widerhallte, auf beide Wangen und ließ sie mit einem Ruck, weniger sanft als bei der Begrüßung, zur Erde nieder. Als sie wieder unten stand, sagte er: »Morgen feiern wir Abschied. Übermorgen ist mein Urlaub endgültig und unwiderruflich aus. Übermorgen früh muß ich einrücken. Wirst du traurig sein?«

»Ja, ich werde traurig sein!« murmelte Angelina.

Zum erstenmal, seitdem ihre Freundschaft mit dem Wachtmeister angefangen hatte, lief sie munter die Treppe hinauf, und seit langer Zeit war heute ihr Schlaf sanft und heiter und ohne schreckhafte Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie ebenso heiter, wie sie eingeschlafen war. Es war der letzte Tag ihrer qualvollen Liebe angebrochen, und sie fühlte sich wie einst als Kind am Vortag eines fröhlichen Festes. Am Abend, als der Wachtmeister pünktlich und schimmernd wie gewöhnlich vor dem Gitter erschien, lief ihm Angelina beinahe freudig entgegen. Zum erstenmal empfand sie eine Art von Dankbarkeit diesem Koloß gegenüber, und sie schämte sich ein wenig vor ihm. Zum erstenmal auch graute ihr nicht vor seinem Bart, der über ihr Angesicht zärtlich dahinfegte.

Später aber, als sie das Café »Zur ewigen Freude« betraten, verschwand ihre muntere Laune. Der Wachtmeister Sosthène hatte, um seinen Abschied zu feiern, mehrere Kameraden eingeladen, Unteroffiziere, zwei Profosen und einige Beamte. Als er mit Angelina eintrat, waren die meisten schon versammelt. Sie drängten sich an der blechbeschlagenen Theke. Hinter ihr hastete der Wirt einher, in grüner Schürze und in weißen Hemdsärmeln, rot und gedunsen und mit einem fröhlichen, schwarzen Schnurrbart, der den gleichen Glanz hatte wie seine Augen. Alle wandten sich, wie auf ein Kommando, den Eintretenden zu und riefen: »Es lebe Sosthène!« Mächtig und großartig blieb Sosthène an der Schwelle stehen, die offene Tür im Rücken, denn es dünkte ihm unpassend, sie in dieser Stunde selbst zu schließen. An seiner rechten Hüfte, viel kümmerlicher als sein Säbel an der Linken, haftete Angelina. Er erhob die Hand, er ließ dabei den Arm Angelinas los, so daß es ihr in diesem Augenblick vorkam, als verließe er sie vollends in der Stunde seines Triumphes, und er donnerte: »Da bin ich, Kameraden!«

Zu gleicher Zeit begann in einer Ecke eine Ziehharmonika einen der üblichen Armeemärsche zu spielen.

Alle begannen sie sofort zu essen, eilig, andächtig und schweigsam. Sie aßen gewaltige Bissen, mit großem Appetit, tranken dazu gewaltige Gläser und sahen beflissen auf ihre Teller. Angelina wollte nicht zu den anderen hinsehen, aber irgend etwas zwang sie dazu, jeden Augenblick, und sooft sie sah, wie einer der Gäste einen großen Bissen verschlang, nahm sie einen kleinen und immer kleineren, einen zierlichen und immer zierlicheren. Ihr war es, als würde dieser Abschiedsabend ewig dauern, und auch, als wären alle die hier versammelten fröhlichen Männer ihre Bräutigame und als wäre es also gleichgültig, ob ihr Wachtmeister Sosthène morgen seinen Urlaub beendet hätte oder nicht. Allen seinen Freunden war sie angelobt und preisgegeben.

Da erhob sich, nachdem man das Rindfleisch verzehrt hatte, ein Korporal der Artillerie, klopfte an sein Glas und begann eine Rede.

Er sprach von allen Heldentaten des Wachtmeisters Sosthène, und es war so, als hätte der Kaiser selbst keinem anderen als dem Wachtmeister Sosthène all seine Siege zu verdanken.

Nach dem Korporal erhob sich der Wachtmeister, und er bestätigte mit ein wenig veränderten Worten alles, was der Korporal gesagt hatte. Und alle klatschten ihm Beifall.

Als die Mitternacht schlug, waren die meisten Teilnehmer bereits betrunken und ihrer Sinne nicht mehr mächtig. Und sie begannen, über den Kaiser zu sprechen.

Als erster sprach der Wachtmeister Sosthène. »Jeder von uns, die wir hier sitzen«, sagte er, »hätte dasselbe Glück haben können.« – Aber er meinte in Wirklichkeit, daß nur er allein, der Wachtmeister Sosthène Levadour, dieses Glück hätte haben können, und kein anderer.

»Jeder von uns«, wiederholte der Korporal, der die Rede auf den Wachtmeister gehalten hatte.

»Er ist ein Glückspilz!« sagte einer der Profosen, die am Fest teilnahmen, ein grauhaariger Mann mit einem zusammengeschrumpften Gesicht.

»Er ist ein Schlauer!« sagte ein anderer.

»Er ist ein Unbedenklicher und Gewissenloser«, begann ein dritter. »Denkt daran, meine Kameraden, denkt daran, wie leichtfertig er das Volk verraten hat und die Freiheit des Volkes.«

»Des französischen Volkes!« warf ein vierter ein.

»Er hat die Freiheit des Volkes verraten«, sagte der Wachtmeister Sosthène, »jawohl, das hat er! Das muß ich sagen, obwohl ich sein Soldat bin, ein Soldat unserer glorreichen Armee.«

»Gewiß, Ruhm haben wir in Hülle und Fülle«, ließ sich da der Korporal der Artillerie vernehmen. »Und sicherlich hätten wir ohne ihn die Welt nie gesehn, und sie hätte auch nicht vor uns gezittert. Dennoch aber muß ich  sagen . . .« Der Profos vollendete den Satz des Korporals: »Dennoch aber muß ich sagen, daß wir ihm alles zu verdanken haben, unserm kleinen Korporal.«

Man stimmte ihm nicht durchwegs zu. Es blieb sogar eine Weile still nach diesen Worten. Allein der Wachtmeister Sosthène, trunkener als die anderen, sagte mit verbitterter Stimme und nicht mehr ganz sicherer Zunge: »Was mich und Kerle meiner Art betrifft, so hätten wir die Welt auch so erobert. – Nicht, meine Kameraden?« Er sah von einem zum anderen, seine Lippen lächelten noch unter dem gesträubten und feuchten Schnurrbart, seine schwarzen Augen in dem roten und heißen Angesicht glühten schon gehässig. Keiner antwortete ihm. Alle machten sich an irgend etwas zu schaffen. Einer hob sein Glas gegen die Kerzen und betrachtete es, als verdächtigte er es, irgendwelche Stäubchen zu enthalten. Ein anderer putzte die Gabel mit dem Tischtuch. Ein dritter lächelte verloren vor sich hin, als hätte er seit Stunden nicht mehr dem Gespräch zugehört. Ein vierter trank, mit auffälliger Langsamkeit, den Rest seines Weins zu Ende und tat so, als schmeckte er jeden Schluck mit der Zunge nach. Trotz seiner Trunkenheit merkte der Wachtmeister Sosthène, daß ihn die ganze Runde im Stich gelassen hatte. Er stützte seine beiden großen Fäuste auf den Tisch, erhob sich, und es sah aus, als stünde er eher auf seinen Armen als auf den Beinen. Und er sagte mit einem Blick auf Angelina an seiner Seite: »Kameraden! Was ist ein General ohne uns? – Was ist ein Kaiser ohne Soldaten? Wer ist größer: der Kaiser oder die Armee? Wer ist größer, frage ich? Wer ist größer, frage ich?«

Aber keine Antwort kam.

»Ich sage also«, fuhr Sosthène fort, »die Armee ist größer! Es lebe die Armee!«

Angelina hatte die ganze Zeit stillgesessen. Eine gewaltige Angst und eine große, nie gekannte Scham hielten ihr Herz gefangen. Sie glaubte, genau zu spüren, wie Angst und Scham ihr Herz umschlossen hielten, von beiden Seiten gleichsam, zwei eiserne Klammern. Sie wußte nicht, woher die Scham und woher die Ängste kamen. Sie fühlte sich beschmutzt in dieser Gesellschaft und auch schuldig, weil sie ihr ohne Widerspruch zuhörte. Plötzlich erfüllten sie auch Haß und Wut gegen alle Männer am Tisch und besonders gegen den Wachtmeister Sosthène. Ihr war, als müßte sie um Hilfe rufen. Mit ungeheurer Mühe hob sie die Hand aus dem Schoß – ihre rötliche, kleine, junge, hilflose Hand – und griff nach dem Glas. Sie trank einen kleinen Schluck – und auf einmal sah sie sich wieder im großen Saal, neben der wogenden, schweren grünen Portiere, vor der kristallenen Karaffe. Sie sah auch das Bild des Kaisers an der Wand. Sie fühlte sich auf einmal frei, stark und kühn. Eine große, fröhliche, heimische und vertraute Gewalt zwang sie, sich zu erheben. Sie stand auf. Ein freudiger Haß stärkte ihr Herz. Ein nie gekannter, gütiger, lieber Geist gab ihr mutige Worte ein: »Schämen müßt ihr euch«, sagte sie, »den Kaiser zu lästern. Nichts – weniger als nichts wäret ihr ohne ihn. Ihr hättet weder die Welt gesehn, noch auch wäret ihr eine Meile weitergekommen aus euren Dörfern oder Städtchen. Ihr hättet ohne den Kaiser keine Säbel, keine Helme, keine Schnüre, kein Geld, den Wein zu zahlen, den ihr trinkt! Schlachten habt ihr mitgemacht, nur, weil er euch geführt hat. Wenn einer von euch irgendeinmal Mut hatte, so habt ihr auch ihn nur Napoleon zu verdanken. Er allein gibt euch den Mut, und hierauf gibt er euch auch die Orden für Verdienste, die gar nicht die euren sind. Deshalb, hab' ich gesagt, solltet ihr euch schämen!«

Sie setzte sich wieder. Sie sah, wie aus weiter Ferne, obwohl der Wachtmeister Sosthène doch hart an ihrer Seite saß, daß er nach der Karaffe griff und sein Glas aufs neue füllte. Sie sah diese Hände, die sie so genau kannte, die feisten, kurzfingrigen, fleischigen, reichlich behaarten und muskulösen Hände – sie sah beide, obwohl der Wachtmeister nur mit einer nach der Flasche griff –, und sie erinnerte sich, tief erschrocken und beschämt, daß diese Hände nach ihrem Fleisch, ihrer Brust, ihren Armen und Schenkeln zu greifen gewohnt waren, schamlose, behaarte, lasterhaft behaarte Werkzeuge.

Es war allen plötzlich, als habe sich eine große Bangnis über den Tisch gebreitet. Es schien ihnen allen, als brennten die Kerzen schneller und eifriger und als verminderte sich hurtiger der Talg und als würde es zusehends düsterer im Raum und als dürften sie gar nicht mehr miteinander reden. Es war ein trauriges, ein mißlungenes Fest – kein Zweifel. Alle schwiegen.

Allein, in dem Augenblick, in dem sich die Gemüter aller Gäste unheilbar zu verfinstern drohten, wurde die Tür aufgerissen, und zugleich mit dem frischen Nachtwind, der die Kerzen aufflackern ließ, und gewissermaßen von ihm getragen, stürmte Veronika Casimir in den Raum. Sie kam gleichsam angeritten, in außerordentlich festlicher Kleidung, in voller Rüstung, das heißt mit nackten Schultern und wogendem Busen, in jener hellgrauen, seidenen Robe, die sie dem Gerücht nach von der Kaiserin Josephine persönlich erhalten hatte und die sie nur bei besonderen Festen anzulegen pflegte. Zwischen ihren übernatürlich weißen Brüsten, die eine zarte, mehlfarbene Puderwolke ausströmten, ruhte schwer und wuchtig und an den Rändern blitzend der von Diamanten umkränzte, große Jadestein, Geschenk der Kaiserin und ohne Zweifel Zauberstein erster Ordnung. Eine geraume Weile noch blieb die Tür offen, und der frische Luftstrom der Nacht bewegte immer noch die goldenen Kerzenflämmchen. Eilfertig stellte der Wirt einen Sessel an das Kopfende des Tisches. Und ehe man sich noch Rechenschaft über den ganzen glänzenden Vorgang gegeben hatte, saß Veronika bereits an der Spitze. »Ich sehe«, begann sie mit der sicheren Stimme der beruflichen Seherin, »daß ihr euch gezankt habt. Unter euch muß aber Frieden herrschen.«

Ihre weißen, fleischigen Finger bewegten sich redselig auf dem weißen Tischtuch, jeder einzelne Finger eine lautlose Zunge. Eine sachte, weiße Puderwolke wehte vor ihrem breiten Antlitz einher. Hinter dieser Puderwolke sahen die Gäste ihre schwarzen Augen leuchten. Alle schwiegen. Veronika war die Vertraute des kaiserlichen Hauses. Schlachten, Siege und Niederlagen hatte sie aus den Karten prophezeit. Eine Vertraute der Kaiserin war sie und, wer weiß, vielleicht auch eine Vertraute des Kaisers selbst.

Sie wußte wohl, was in den Männern vorging. Ihr handelte es sich vor allem darum, die Ehe ihrer Nichte mit dem Wachtmeister Sosthène zu sichern. Sie wußte, daß Angelina, wie alle Frauen des Landes, den Kaiser liebte und nicht den Wachtmeister Sosthène – – denn alle Frauen im ganzen Lande (und vielleicht auch in der ganzen Welt) liebten um jene Zeit den Kaiser und nicht ihre Männer. Wenn man lästerliche Reden über den Kaiser führte, so schien es der Veronika ebenso sinnlos, wie wenn man sich etwa gegen irgendeine Einrichtung der Natur aufgelehnt hätte. – In dieser Stunde jedenfalls handelte es sich um das Glück Angelinas. Mochte der Wachtmeister Sosthène zu jenen Jakobinern gehören: Er sollte eines Tages Angelina heiraten.

Und es tat auch der Veronika Casimir weh, wenn sie den Kaiser lästern hörte. Es geschah um jene Zeit nicht selten, es war sogar üblich unter den Dienern am Hofe, in manchen Regimentern, unter den Unteroffizieren, die unzufrieden waren. Ja, früher einmal, als der Kaiser noch Bonaparte geheißen hatte, war auch die Veronika Casimir, manchmal sogar in vertrauten Unterredungen mit seiner eigenen Frau, versucht gewesen, ein gestrenges Wort über den großen Mann fallen zu lassen. Die Erinnerung daran machte sie heute nur noch unerbittlicher gegen jene, die etwas Abfälliges über den Kaiser sagten.

In dieser Stunde beschloß sie, die Lästerer für eine spätere Gelegenheit wohl im Gedächtnis zu behalten und es sich im Augenblick nicht anmerken zu lassen. Bald aber schien es ihr, daß sich die Männer durch allerhand stumme und freche Zeichen, die sie für geheime und unkenntliche halten mochten, untereinander verständigten. Nur der Wachtmeister Sosthène saß riesig, unbewegt und anscheinend ohne Verständnis für das Gehaben seiner Freunde neben der kleinen Angelina. Er bot der Veronika Casimir Wein an. Sie trank sachte. Sie spreizte den kleinen Finger, wenn sie das Glas hob, ihre Ringe funkelten im Schein der Kerzen. Sie nippte nur am Glas, setzte es jeden Augenblick wieder ab und beobachtete mit gehässiger Klugheit die Verschwörung der Männer. Zugleich lauschte sie mit offenen, mit doppelt geschliffenen Ohren. Und plötzlich hörte sie den Korporal einem Wachtmeister zuflüstern: »Er wird eben ohnmächtig. Im Bett ist unsereins besser . . .!«

Die Veronika Casimir wußte im Nu, wovon die Rede war. Ach! – sie kannte alle heimlichen Gerüchte und Geschichten von des Kaisers Art, mit flüchtiger und schamloser Hast zu lieben. Dienstmägde und Wäscherinnen hatten diese Liebe erlebt, ebenso wie die Damen des Hofes und die Kaiserin auch. Dennoch waren alle die Frauen, die hochgestellten ebenso wie die niederen, dem Kaiser dankbar noch für seine hastige, achtlose und gleichgültige Umarmung. Sie vergaßen niemals, daß er ein Gott war, und es war die Art der Götter, hurtig zu lieben. Es war jene Zeit, in der die Frauen den Namen des Kaisers nur mit Haß oder mit Furcht oder mit Liebe aussprechen konnten, als erlebten die Frauen, die sich in seine Umarmung begaben, während der kurzen Minute, die seine Leidenschaft währte, alle Leidenschaften der ganzen Welt: den Haß und die Furcht und die Liebe. Es gab, Veronika Casimir wußte es, für die Frauen eine noch stärkere Lust als die leibliche, und das war der Ehrgeiz. Ungesättigt zwar, aber erhoben und geadelt kamen sie aus dem Zimmer des Kaisers. Schnell entließ er sie, schnell entschwand er ihnen. Mit einem ewigen Hunger verließen sie ihn und mit der dauernden Sehnsucht, zu ihm zurückzukehren. Er besaß alle Eigenschaften der Götter: Mächtig war er, schrecklich war sein Zorn, und sehr kurz währte seine Gnade: Die Götter sind flüchtig.

Deshalb erhob sie ihr Glas mit einer raschen Gebärde, trank den Rest aus, mit einem einzigen männlichen Zug, und sagte mit jener harten und militärischen Stimme, mit der sie gewohnt war, ihr Personal zu befehligen: »Meine Herren!« Diese Anrede unterbrach das freche Geflüster der Männer. Alle blickten auf. »Meine Herren!« wiederholte sie. Sie blieb sitzen, aber ihr Gesicht zeigte so viel Erhabenheit, daß alle den Eindruck hatten, sie sei von ihrem Sitz aufgestanden. »Sie scheinen«, sagte sie, »nicht gewohnt, auf Damen Rücksicht zu nehmen. Sie müßten außerdem wissen, daß ich zum Hofe gehöre und meine Nichte auch.« (Sie sagte »Hof« und nicht etwa »Gesinde«.) »Ihre Gespräche, die Sie sich so furchtsam zuflüstern, sind vielleicht in der Kaserne angebracht, obwohl ich weiß, daß sie auch dort nicht üblich sind. Ich verlasse Sie, meine Herren! Einen vergnügten Abend! Und Sie, Herr Wachtmeister Levadour, bringen Sie mir die Kleine rechtzeitig nach Haus! Ich werde sie erwarten. Du sprichst noch bei mir vor!« sagte sie zu Angelina. »Gute Nacht!« sagte sie und hatte sich schon erhoben. Und ehe man sich versah, galoppierte sie hinaus, ebenso plötzlich, wie sie hereingeritten war – und auch jetzt blieb eine geraume Weile die Tür hinter ihr offen, und der Wind blähte die Enden des Tischtuchs auf und ließ die Kerzen aufflackern.

Alle schwiegen. Es war ihnen allen ein paar Augenblicke so, als hätte sie ein Vorgesetzter getadelt. Sehr kläglich sahen sie jetzt aus, in ihren bunten Kleidern.

Jetzt glaubte Angelina zu fühlen, daß sie arm sei, verlassen, verraten. Sie sehnte sich nach den guten heimatlichen Ufern und dem väterlichen Haus in Korsika und nach ihrer armen und milden Kindheit. Auf einmal begriff sie auch, daß sie dem fremden, farbigen Felsen gegeben hatte, was ihm nicht zukam. Es schien ihr, daß sie, bis zu diesem Augenblick, fern ihrem eigenen Körper gelebt hätte; und als hätte sie ihn fortgegeben wie einen beliebigen Gegenstand. Sie ahnte das große und strenge Gesetz, das die Natur den Frauen vorgeschrieben hat, und sie wußte, daß sie gegen dieses Gesetz verstoßen hatte. Erhaben, schön und unerbittlich, befahl es den Mädchen, dem Geliebten zu gehören und sich dem Ungeliebten zu widersetzen. Sie dachte an das Zimmer mit den wogenden, grünen Portieren und dem Bild des Kaisers an der Wand. Und plötzlich fiel die Scham von ihr ab, und es war ihr, als wenn sie ihre große Sünde bereits gesühnt hätte. Sie fühlte, daß sie lieben dürfe, den einzigen, den es gab – und diese Liebe allein, die Fähigkeit und die Bereitschaft, ihn zu lieben, war ein so großes Ereignis, daß Sünde, Verfehlung, Irrtum und Scham gar keine Bedeutung mehr hatten.

Jetzt hob sie die Augen, jetzt zum erstenmal waren ihre Augen stolz und gleichgültig. Und also sah sie, daß der bunte Berg an ihrer Seite sich nur deshalb so steif und stumm hielt, weil er die Besinnung verloren hatte. Es war offenbar seine eigene, eine besondere Art der Trunkenheit. Sie war noch schrecklicher als die lärmende und gewöhnliche. Reglos saß er da, der Wachtmeister, offen starrten seine schwarzen, kleinen Augen. Er war eher versteinert als betrunken. Die kleine Angelina tippte sachte an seinen steinernen, blauen Ärmel. Sosthène rührte sich nicht. Sie sah nach den Männern. Keiner beachtete sie. Ein paar waren aufgestanden, sie spielten an einem anderen Tisch Würfel und Karten. Einer der Profosen, der Korporal und zwei Wachtmeister erzählten einander flüsternd Geschichten, und nach jeder Geschichte brachen alle vier in ein törichtes Kichern aus. Angelina erhob sich. Sie entfernte sich, ohne ein Wort, mit sanften Schritten vom Tisch. Nicht einmal der Wirt bemerkte sie.

Sie stand draußen, sie hob den Blick zum Himmel. Sie hatte vergessen, im Restaurant nach der Uhr zu sehn. Es schien ihr, es sei längst nach Mitternacht, und sie hob den Blick nach den Sternen, in einer plötzlichen und süßen Erinnerung an manche Nächte ihrer längst versunkenen Kindheit, wenn sie mit dem Vater aufs Meer hinausgesegelt war und der Alte nach dem Himmel gesehen hatte, um die Stunde zu erkennen. Heute gab es nur wenige Sterne zu sehen. Zwischen den schwarzen Wolken, die trotz ihrer gewichtigen Schwere mit einer verblüffenden Schnelligkeit unter dem Himmel einherjagten, blitzten da und dort ein paar silberne Fünkchen auf und verschwanden wieder. Der Wind wehte scharf, er schien aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Die Straßen waren leer, und die späten Laternen flackerten unstet, unglücklich und verlassen. Auf einmal zuckte über den Häusern ein blasser, ferner Blitz auf, und ein sehr entfernter, heimatloser Donner folgte ihm grollend. Die kleine Angelina fürchtete sich. Sie hüllte sich fester in ihre Mantille. Sie beschloß, unbekümmert auszuschreiten, obwohl sie die Richtung, die sie einzuschlagen hatte, nicht genau kannte. Als sie endlich an eine Ecke gelangte, wo sie den reichen Lichterschein einer großen Straße zu sehen glaubte, fingen die ersten, schweren Tropfen zu fallen an, und im nächsten Augenblick spaltete ein sehr greller und naher Blitz die Wolken. Immer schneller ging Angelina. Sie erreichte eine weite und dichter beleuchtete Straße, es regnete schon schwer und heftig, und sie stellte sich in das Portal eines großen Hauses, aus dessen Fenster volle Lichter strömten und die Regenschnüre vergoldeten und vor dem einige herrschaftliche Wagen warteten. Dieser Aufenthalt schien Angelina angenehm. Es war ihr überhaupt auf einmal alles, was sich heute ereignete, angenehm: der Regen, die Blitze, die Kutschen, das vornehme Haus und das gütige Portal. Eine große Heiterkeit erfüllte sie und machte alles ringsum heiter: auch den Blitz, auch den Donner, auch den Regen.

Es mußte schon spät sein. Der livrierte Schweizer kam die Treppe herunter, öffnete beide Flügel des mächtigen Haustors und warf einen gebieterischen Blick auf Angelina. Als hätte man sie gerufen, erwachten alle Kutscher auf einmal und krochen aus dem Innern der Wagen, stellten sich an den Schlägen auf und ließen die Trittbretter herunter. Munter ging Angelina fort, die Straße entlang, in die Richtung, die das Herz ihr wies. Sie ging gleichmäßig, nicht langsam und nicht schnell, obwohl ihre Mantille, ihr Kleid, ihre Schuhe naß waren.

Als sie das Schloß erblickte, wurde der Regen gerade sanft, und der Morgen wurde zusehends stärker. Der Wachtposten schlummerte in seinem Häuschen, er sah Angelina nicht; sie ging, zum erstenmal, seitdem sie im Dienst in Paris war, ohne Bangnis durch das schmale Gittertor, das sich glatt, lautlos, beinahe gastlich öffnete. Sie ging die Treppe hinauf. Es war still und friedlich, durch die hohen, schmalen Fenster an den Absätzen der Treppe schimmerte der feuchte Morgen, und aus der Ferne kam der zaghafte erste Ruf der erwachenden Vögel. Angelina holte aus dem Koffer das Tuch des Kaisers, das sie lange nicht mehr angeschaut hatte, drückte es ans Herz und hierauf an die Wange, entkleidete sich und schlief schnell und leicht ein, das bunte Tuch unter dem Hemd, am beseligten Herzen . . .

V

Überall im Lande und in der Welt liebten die Frauen den Kaiser. Angelina aber schien es, daß es eine besondere, eine geheimnisvolle Kunst sei, den Kaiser zu lieben; angelobt fühlte sie sich ihm, dem erhabensten Herrn aller Zeiten. Ständig lebte er in ihr. So groß er auch war, er hatte doch Platz genug in ihrem kleinen Herzen: Es hatte sich geweitet, um ihn in seiner ganzen majestätischen Pracht aufzunehmen . . .

Sehr schnell vergaß sie den Wachtmeister Sosthène. In ihrer Erinnerung tauchte er manchmal auf wie ein riesiger Schatten aus verschütteten Träumen. Er ließ übrigens seit Wochen nichts von sich hören: kein Wunder, denn der Kaiser bereitete einen neuen Feldzug vor, seine Regimenter wechselten jede Woche ihren Standplatz, und nur wenige Soldaten schrieben in diesen Tagen ihren Bräuten und Frauen.

Eines Tages ereignete sich etwas Merkwürdiges mit Angelina, etwas Erschreckendes, Gefährliches und vollkommen Unverständliches. Während sie ihr offenes Bügeleisen mit kräftigem Arm schwenkte, um die Kohlen zu entfachen, flog es plötzlich aus ihrer Hand, entrissen wie von einer unsichtbaren Gewalt. Sie konnte noch sehen, daß es gegen die Mauer flog, mit der Spitze einschlug und hierauf mit seinem offenen, rötlich glühenden Rachen zu Boden fiel. Dann war es ihr, als fiele sie selbst in eine unermeßliche, tiefe Finsternis.

Sie erwachte wieder in ihrem Bett. Man hatte Veronika Casimir herbeigerufen. Jetzt saß sie neben Angelina, eine gute, vertraute Frau. Angelina erwachte mit der deutlichen Erinnerung an das Bügeleisen und an die merkwürdige Gewalt, die es ihr aus der Hand gerissen hatte. »Es ist also soweit!« hörte sie Veronika Casimir sagen. Es waren die ersten Worte, die sie vernahm, seitdem sie in die Welt zurückgekehrt war. Dieser Satz erschreckte sie. »Was ist soweit?« fragte sie.

Und sanft und gleichmütig antwortete ihr Veronika: »Du bekommst ein Kind, Angelina! – Ich werde dafür sorgen, daß Herr Levadour es erfährt. Hab nur keine Angst! Wir werden ihn schon kriegen!«

»Ein Kind?« fragte Angelina. »Wozu?«

»Das ist der Wille Gottes!« sagte leise Veronika, warf einen Blick auf den Plafond, ließ ihn dort haften und bekreuzigte sich. »Wir werden ihn schon kriegen«, wiederholte sie.

»Wen werden wir kriegen?« fragte Angelina.

»Nun, den Wachtmeister Sosthène Levadour, selbstverständlich!« erwiderte Veronika.

»Wozu sollen wir ihn kriegen?« fragte Angelina.

»Damit du einen Mann hast!« sagte Veronika.

»Ich brauche keinen Mann«, sagte Angelina, und sie dachte dabei an die allabendlichen Überfälle, die sie erlebt hatte, auf dem kleinen, roten Plüschsofa, den drückenden, harten Polster im Nacken.

»Natürlich brauchst du einen Mann!« sagte Veronika. »Vor allem brauchst du einen Mann, der ein Vater deines Kindes ist!«

»Ich will kein Kind«, sagte Angelina. »Ich brauche kein Kind und keinen Mann!«

»Du brauchst sie beide!« sagte Veronika Casimir leise.

Angelina schloß die Augen, als könnte sie so vermeiden, den großen Schrecken zu sehn, der jetzt auf dem Sessel Veronikas zu sitzen schien, neben dem Bett. Aber unter den geschlossenen Lidern sah sie ihn noch stärker und näher. Er nahm die kolossalen Formen des Wachtmeisters Sosthène an, der plötzlich aus einem Schatten wieder eine wirkliche Gestalt geworden war, mochte er auch irgendwo jetzt in einer fernen Garnison sein und vielleicht – hoffentlich – selbst entschlossen, von Angelina nichts mehr zu wissen. Was half's? Sie soll ein Kind bekommen, und es war ein Kind des Wachtmeisters. In ihr selbst war er, der Koloß, und er regte sich in ihr. Mit ihren schwachen Kräften konnte sie ihn keineswegs aus ihrem schwachen Leibe reißen. Sie beschloß, die Augen wieder zu öffnen, denn die Gefahr schien immer näher und größer zu werden. Aber sie hatte keine Kraft, auch nur diesen Entschluß auszuführen.

Dies dauerte nur wenige Minuten. Veronika zeigte jetzt ein feierliches Gesicht, das Angelina noch mehr Angst bereitete. Es erschien ihr wie eine Art gefährlichen, dennoch äußerst heiteren Sonntags. Sie hörte nicht jedes Wort der Veronika, aber sie fühlte deutlich, daß sie gerade das am meisten fürchtete, was man ihr als Trost versprach. Sehr müde war sie, und es schien ihr, daß alles, was sich mit ihr heute und vor Wochen ereignet hatte, bereits sehr weit zurückliege und sich in einem anderen, früheren Leben abgespielt habe. Jetzt bereitete sich ein ganz neues, ganz unbekanntes und sehr gefährliches vor. Sie schloß die Augen und wartete darauf, daß die Tante sie verlasse und daß der Schlaf über sie komme. Aber der Schlaf kam nicht, und nur eine große, weise Milde erfüllte Angelina, ein großes Mitleid mit sich selbst, mit der Tante, mit dem Wachtmeister Sosthène sogar. Sie träumte mit wachen Augen ein gewaltiges Schlachtfeld, eines von den Schlachtfeldern des Kaisers. Glühende, rote Kugeln flogen durch die Luft, es knatterte und grollte, zuckte, blitzte, donnerte von allen Seiten. Den Kaiser selbst sah sie nicht, und sie hatte doch eine große Sehnsucht, ihn zu erblicken. Sie rief seinen Namen: »Napoleon!« schrie sie, »Napoleon!« Aber kraft- und klanglos erstarb ihre Stimme im gewaltigen Getümmel. Sie befand sich weit von den Kämpfenden entfernt, und dennoch war es so, als befände sie sich mitten unter ihnen. Auf einmal erblickte sie, neben sich, schwankend im Sattel, den Wachtmeister Sosthène. Gleich darauf fiel er vom Roß. Er streckte beide Arme zum Himmel und rief: »Angelina!« Sie aber kümmerte sich nicht um ihn. Sie empfand nur, daß er im nächsten Augenblick sterben müsse – und obgleich sie sich dessen schämte, wünschte sie ihm dennoch mit aller Kraft den Tod.

Sie erwachte, erinnerte sich an den Traum und schämte sich noch mehr. Zugleich aber durchströmte sie ein nie gekanntes, seliges Gefühl, ein sehr warmes und kühlendes; sie spürte keine Angst mehr.

VI

Sieben Monate später gebar sie einen Sohn im Hause der Hebamme Barbara Pocci aus Korsika, einer guten Bekannten der Veronika Casimir. Im breiten und hochgepolsterten Bett, in dem seit vielen Jahren viele ledige Mütter schon geboren hatten, wartete Angelina, geborgen, selig und ohne Angst. Vom Bett aus konnte sie manches Heimische und Vertraute sehn, das sie an Korsika und an die Kindheit erinnerte. Bunt und hölzern, lächelnd und hilflos stand im Zimmer der Hebamme die kleine Statue des heiligen Christopherus auf einem schwanken, langfüßigen Tischchen. Einen ebensolchen Heiligen hatte es im Hause Angelinas in Ajaccio gegeben. Daneben glänzte auf der Kommode die großbauchige Flasche, in die ein braver Schiffer, der Bruder der Hebamme, mit viel müßiger Gewissenhaftigkeit ein winziges Segelschiff gebaut hatte, eines der üblichen Kunststückchen seefahrender Leute. Auch im Hause Angelinas in Ajaccio gab es so eine Kommode und solch ein Segelschiff in einer Flasche. Über der Tür hing statt eines Vorhangs eines jener dichtgesponnenen Netze, wie sie die Fischer für den Fang der Kleintiere zu benützen pflegten. All diese gütigen Gegenstände strömten, obwohl sie längst ihre heimatliche Insel verlassen haben mochten, heute noch einen vertrauten, bittersüßen Geruch aus, einen Geruch von Tang, Algen und Meer, von perlmutternen Muscheln und braunschwarzen Seeigeln, und man sah die dunkelblauen Sturmwolken über den empörten Wogen der gewitterschwangeren See.

Eines Tages brachte Veronika Casimir Papier, Feder und Tinte an das Bett und sagte: »Ich habe seine Adresse!«

Angelina begriff, daß es sich um den Wachtmeister Sosthène handelte. Sie machte noch einen kümmerlichen Versuch, dem Unentrinnbaren zu entrinnen, und fragte: »Wessen Adresse?«

»Sosthènes Adresse!« antwortete Veronika. »Jetzt mußt du ihm schreiben!«

»Ich habe ihm nichts zu sagen«, sagte Angelina.

»Du mußt! Ich befehle es dir!« sagte Veronika. »Hier, schreib!« – Und sie legte das Papier auf die Bettkante, tauchte die Kielfeder ins Tintenfaß, trat bedrohlich nahe an den Bettrand und hielt die Feder dermaßen gebieterisch vor das Angesicht ihrer Nichte, daß Angelina gehorchte. Sie schrieb.

»Mein Herr, meine Tante, Fräulein Veronika Casimir, gebietet mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich vor zwei Tagen ein Kind geboren habe. Es ist ein Junge. Ich grüße Sie, Angelina Pietri.«

Veronika nahm das Papier, las es, schüttelte den Kopf und sagte: »Gut! Das andere werde ich hinzufügen, mir wird er nicht entgehen!«

Sie kannte seine Adresse. Der Kaiser hatte eben eine große Schlacht gewonnen, die Truppen standen noch in Österreich. Veronika kannte nicht nur die Adresse des Wachtmeisters Levadour, sondern auch die Frau des Obersten, der sein Regiment befehligte.

Zwei Wochen später kam in der Tat der Wachtmeister Sosthène Levadour. Er hatte einen Urlaub erhalten, einen außergewöhnlichen Urlaub, und er beschloß, ihn auf eine außergewöhnliche Weise zu benutzen. Der große Sieg des Kaisers und der Umstand, daß er an einem denkwürdigen Gefecht teilgenommen hatte, von dem er annahm, es hätte den kaiserlichen Sieg entschieden, machte ihn noch hochmütiger, bunter gleichsam und kolossaler. Riesig nahm er sich in der niederen Stube aus, in der Angelina und das Kind wohnten. Er begrüßte sie mit seiner schneidigen und massiven Zärtlichkeit, er hob sie mit beiden Händen hoch, und es schien ihr in diesem Zimmer, sie schwebte in noch höheren Gegenden als damals an den Abenden im Sommer, als röche der Schnurrbart Sosthènes noch stärker, als fegte er noch heftiger und rauher über ihr Angesicht. Hierauf stellte er sie wieder vor sich hin, trat einen Schritt zurück, machte zwei gewaltige Schritte wieder nach vorn, erreichte das Bett, in dem sein Sohn lag, und beugte sich über ihn. Der Kleine winselte jämmerlich. Sosthène hob das eingewickelte Bündel hoch, es sah in seinen Armen beinahe schmählich aus, und fragte: »Wie heißt er? Wie habt ihr ihn genannt?« »Antoine Pascal«, sagte Angelina, »wie mein Vater!« »Freut mich, freut mich!« donnerte Sosthène. »Der wird ein Soldat, Soldatenblut hat er.« Und er legte das weiße Päckchen quer über das Bett.

Er zwängte sich in den viel zu engen Lehnstuhl aus rotem Plüsch, rückte mit ihm ein wenig im Zimmer herum und merkte, daß es schwer sein würde, seinen massigen Leib wieder aus den Klammern der beiden Lehnen zu befreien. Er fühlte dabei ein wenig Qual und ein wenig Scham, und da er gerade jetzt etwas sehr Wichtiges zu sagen hatte, wurde er auch zornig, und sein Angesicht lief rotblau an. Jetzt sah es aus wie eine bunte Krönung seiner bunten Uniform. Er suchte eine Weile nach einem gehörigen Anfang, dachte an die freundlichen Drohbriefe, die ihm Veronika Casimir geschrieben hatte, und daran, daß er jetzt durch dieses jämmerliche Klümpchen in dem Wickelkissen gezwungen werden sollte, ein rothaariges, sommersprossiges Mädchen zu heiraten. Für einen Augenblick erhellte sein schweres und dämmriges Gehirn – der ferne Widerschein einer Erkenntnis von Schicksal, Verfehlung und Sühne. Aber auch diese schwache Regung seines tauben Herzens vergrößerte nur noch seinen Zorn. In diesem Augenblick hätte er sogar an Gott glauben mögen, lediglich, um auch ihm zu zürnen und um irgendein Wesen zu haben, dem alle Schuld zugeschoben werden könnte. Allein, er glaubte nicht an Gott, und er bedachte also mit seinem Zorn nur das, was er sehen konnte.

Er dachte mit Bitterkeit an die flüchtigen und mannigfaltigen Frauen, die er nach Dragonerart besessen hatte, und es schien ihm, daß sich Angelina mit keiner einzigen vergleichen ließ, was Schönheit betraf. Und er wurde nur immer zorniger und bitterer, der Wachtmeister Sosthène. Von den Wachtmeistern seines Regiments war nur einer verheiratet, ein gewisser Renard, der zählte aber auch schon mehr als fünfzig Jahre, und seine törichte Handlung lag also so weit zurück, daß sie kaum noch lächerlich genannt werden konnte. Er aber, der Wachtmeister Sosthène Levadour, konnte noch Karriere machen und sogar Oberst werden. Ein Mann wie er mußte Geld haben, um selbst zu leben und die anderen leben zu lassen. Außerdem hatte er gerade in Böhmen eine großartige Müllerin kennengelernt, aufreizend widerspenstig, von allen anderen heiß begehrt, gehorsam nach der Liebe wie ein Hund und zugleich gewaltsam wie eine Schlacht. Welch ein Weib! Mit ihr verglich er Angelina, die jetzt ihm gegenüber auf dem Bett saß, das Kind an der Seite, mit niedergeschlagenen Augen, mit kleinem, gramvollem und blassem Angesicht, an dem die Sommersprossen noch stärker sichtbar waren als früher im Sommer. Oh, welch ein Jammer, großer Sosthène!

»Ich werde dich nun heiraten!« sagte er endlich.

»Wozu heiraten?« sagte Angelina, ohne den Blick zu heben und so, als spräche sie zu irgend jemand Unsichtbarem zu ihren Füßen.

Der Wachtmeister Sosthène begriff nicht sofort. Er fühlte nur undeutlich, daß man seiner Großmut wehe tat und seinen Wünschen wohl. Er fühlte undeutlich irgendeine Kränkung und gleichzeitig irgendeine Erlösung.

»Ich will Sie nicht heiraten!« sagte Angelina.

Er starrte sie an, unfaßbar war sie, gefährlich und dennoch eine Art Rettung. Vor einer Weile noch hatte er die ganze niederträchtige Schwere dieser Heirat gefürchtet, jetzt aber war es ihm, als geschähe ihm ein Schimpf, wenn er nicht heiratete. Vor einer Weile noch hatte er an die böhmische Müllerin mit wollüstigem Heimweh gedacht, nun aber erschien ihm Angelina begehrenswert. Er war sehr erstaunt über diese nie gekannten, unerhörten Vorgänge in seinem Innern. Ein schrecklicher Verdacht erwachte in ihm, und obwohl dieser Verdacht ihm sehr weh tat, hielt er ihn doch fest mit aller Kraft, denn er half ihm wenigstens, alles Ungewöhnliche zu erklären, das jetzt in ihm vorging.

»Du hast mich also betrogen?« fragte er.

»Ich habe dich betrogen!« log sie. »Es ist nicht dein Sohn!« Die Worte klangen fremd in ihren Ohren, als hätte sie eine andere Frau neben ihr gesprochen.

»Aha!« sagte Sosthène, nach einer Weile.

Dann stützte er sich mit seinen starken Fäusten auf die beiden Lehnen des Sessels, die ihn einriegelten, und befreite sich mit einem mächtigen Ruck von seinem Sitz. Er nahm seinen Helm, der neben ihm auf dem Boden lag wie ein zauberhaftes, blinkendes Tier mit gewaltigem, schwarzem Roßschweif, und setzte ihn auf sein Haupt. Jetzt erreichte er die Decke. Jetzt stand er da, mächtiger noch als vorher, nicht nur aus Stolz, sondern auch aus Verachtung mächtig. Angelina saß, winzig und kümmerlich und dennoch verwegen, auf dem Bettrand.

»Sag mir die Wahrheit!« donnerte Sosthène.

»Ich sag' die Wahrheit!« sagte Angelina.

Sie sah zu ihm auf. Sie legte eine große Strecke mit den Augen zurück – ihr war, als würden auch ihre Füße müde von dieser Bergwanderung, die ihr Blick vollführte. Der Gedanke, daß er sie jetzt (und niemals wieder) hochheben und küssen würde, machte sie glücklich.

Plötzlich wandte er sich um, erreichte mit einem seiner gewaltigen Schritte die Tür, maß ihre Höhe, fand sie zu gering, bückte sich ein wenig, und ohne sich noch einmal umzusehn, schlug er sie heftig zu. Angelina hörte noch, wie er draußen ein paar grollende Worte zu der Hebamme sprach. Sie beugte sich über das schreiende Kind und lallte Worte, die ihr selbst unverständlich waren, die sie aber fröhlich machten. »Du bist mein«, sagte sie, »er ist es nicht, sei still, du bist mein, mir gehörst du . . .«

So redete sie sanft und lange zu ihrem Kinde.

Der Wachtmeister Sosthène Levadour aber machte sich, ohne seine Freunde in Paris gesehen zu haben, noch am selben Tage auf den Weg zu seinem Regiment nach Böhmen. Er traf es unterwegs. Es befand sich bereits auf dem Rückmarsch nach Frankreich. Als er ankam, erzählte er seinen Kameraden, daß er einen herrlichen Sohn habe. Es war ein prachtvoller Kerl und, obwohl kaum drei Wochen alt, bereits von soldatischem Aussehen und Gehaben. Ferner erzählte der Wachtmeister Sosthène, daß er dank seiner Schlauheit die Mutter des Kindes nicht geheiratet habe.

VII

An den Kaiser dachte Angelina immer. Aber auch er, der Einzige und Gewaltige, war nicht mehr, wie früher, ein lebendiger Mensch, dessen Atem glücklich, dessen Stimme und Blick selig machten und dessen nasse Fußspuren auf den Fliesen des Bades man einst mit demütiger Sorgfalt betrachtet hatte. Jetzt war er wirklich der große Kaiser von den Bildern, er selbst wie ein Abbild seiner eigenen Porträts, ja, noch ferner als diese. Fern war er den kleinen Menschen seines Landes. Vom Schlachtfeld eilte er zur Unterhandlung und von hier kehrte er zu den Schlachten zurück. Und unbegreiflich wie seine Siege waren auch seine Verhandlungen. Längst war er nicht mehr der Held der Geringen. Man begriff ihn nicht mehr. Es war, als ob die Gewalt, die er ausströmte, ihn selbst ringsum einschlösse, eine durchsichtige, aber undurchdringliche Kugel aus blankem Eis. In dieser Kugel lebte er, erhaben eingeschlossen, fürchterlich, feierlich. Er schickte die Kaiserin weg, er heiratete die Tochter eines großen, fernen und fremden Kaisers, als ob es im Lande nicht genug Frauen gegeben hätte. So, wie er bestimmte Waren aus den Ländern kommen ließ, die ihm gehorchen mußten, hatte er einst den Papst aus Rom bestellt; ebenso bestellte er nun die Tochter eines fremden Kaisers; und wie er den Donner der Kanonen in vielen Teilen der Welt befehligte, so befahl er jetzt den Glocken in Paris und im Lande zu dröhnen; und wie er den Soldaten befahl, seine Schlachten zu schlagen, ebenso gebot er ihnen, seine Feste zu feiern; und wie er Gott einst herausgefordert hatte, ebenso befahl er jetzt, zu ihm zu beten. Die geringen Untertanen des Kaisers spürten seine gewaltsame Ungeduld, und sie sahen, daß er groß und klein, töricht und klug, gut und böse handelte wie sie alle selber. Aber um soviel gewaltiger waren seine Tugenden und seine Schwächen als die ihrigen, daß sie ihn nicht verstanden.

Angelina allein liebte ihn, obwohl sie zu den Geringsten zählte. So sehr liebte sie ihn, daß sie manchmal den dummen Wunsch hegte, den Großen klein und geschlagen zu sehn, vertrieben aus allen Ländern und auf einer schmählichen Heimkehr nach Korsika. Jetzt war er beinahe so gering wie sie, ohne den Glanz, den er immer wieder aufs neue seinen eigenen Abbildungen verlieh.

Den Verfügungen gemäß, die das Leben der Leute aus dem kaiserlichen Gesinde regelten, kehrte Angelina drei Monate nach ihrer Niederkunft zu ihrem Dienst zurück. Der Frühling floß bereits in großen, starken Strömen durch die verjüngte Stadt. Voll und stolz schimmerten die Kerzen der Kastanien an den Rändern der Straßen. Angelina begegnete vielen Müttern mit Kindern; auch die armselig gekleideten Mütter, auch die blassen und kränklichen Kinder lächelten und leuchteten. Bei jeder dieser Begegnungen wollte Angelina umkehren, um nur noch für einen Augenblick wenigstens ihren Sohn wiederzusehn. Als sie vor dem Gitter stand, vor dem sie kaum ein Jahr früher der bunte Berg mit dem flatternden Helmbusch allabendlich erwartet hatte, blieb sie eine Weile stehn, wie vor einer gewaltigen Entscheidung. Immer noch konnte sie umkehren und ihren Sohn sehn und ein wenig später wiederkommen. Im Garten des Schlosses erhoben die Drosseln einen betäubenden Jubel, und aus dem Park – aus der Luft selbst – antworteten ihnen ebenso betäubende Gerüche, die Stimmen der Akazien, des Flieders und des Holunders. Weiß wie Sonntage leuchteten die Westen der Schildwachen, und das dunkle Grün ihrer Röcke erinnerte an satte Wiesen. Der reglose Wachtposten sah sie an. Sie glaubte, den Mann zu erkennen, und auch, daß sie von ihm erkannt wurde. In seinem gläsernen, dienstlichen Blick leuchtete ein winziges Fünkchen auf, es war, wie wenn Glas lächelte, und Angelina nickte. Dieser flüchtige Glanz im gläsernen Auge des Soldaten gab ihr Mut; und sie ging mit schnellen Schritten, als hätte sie Angst, sie könnte ihn wieder verlieren, auf das Gitter zu.

Sie arbeitete nur mehr im Waschraum. Getreulich und fleißig wie früher schwenkte sie das Eisen mit kräftigem Schwung, bespritzte sie aus vollen Backen, mit gespitzten Lippen, Seide, Leinen und Batist, schwang sie den hölzernen Pracker mit geübter Hand, glättete sie zärtlich die Hemden, die Kragen, die vielgefälteten Manschetten. Wenn sie an ihren Sohn dachte, wurde sie wehmütig und fröhlich zugleich. Auch am Mittwoch, ja am Dienstag schon, schien der nächste Sonntag fast so nahe wie der heutige Abend. Der Montag aber, ein Tag, nachdem sie im Hause der Pocci gewesen war, war der traurigste Tag der Woche; und der Samstag der heiterste. Am Samstagabend schon, nach dem Rapport im großen Saal, packte sie alles zusammen, Nützliches und Überflüssiges. Sie brachte Salben und Puder, Windeln, Milch, Sahne und Brot, rote Korallenschnürchen gegen den bösen Blick, Ranunkelwurz gegen Fraisen, Helldorn gegen Scharlach, und einen Kräutertee, von dem man ihr gesagt hatte, er verhüte die Pocken. Sie machte sich um sieben Uhr morgens auf den Weg. Unterwegs überfiel sie die Furcht, sie könnte ihren Sohn krank vorfinden. Sie blieb eine Weile stehn, ohnmächtig, einen Fuß noch vorzusetzen, und zerschmettert, als wäre ihre fürchterliche Vorstellung bereits eine grausige Gewißheit. Dann wieder beflügelte Zuversicht ihre Schritte. Als sie endlich im Zimmer der Pocci stand und sich über ihr Kind beugte, begann sie, heftig zu weinen. Ihre Tränen tropften heiß und schnell auf das lächelnde Angesicht des Kleinen. Sie hob ihn hoch, wanderte mit ihm durchs Zimmer und sagte ihm sinnlose Reden. In dem Maße, in dem ihr kleiner Sohn wuchs, kräftiger wurde und sich veränderte, merkte sie allein den unaufhaltsamen Lauf der Monate und der Jahre. Es war, als ob sie vorher in der Meinung gelebt hätte, die Zeit ginge nicht vorwärts, sondern rollte gewissermaßen im Kreise.

Ihr Wunsch erfüllte sich, der Kleine sah keineswegs dem Wachtmeister Sosthène ähnlich, sondern seiner Mutter. Er hatte rötliches Haar und Sommersprossen, war mager, kräftig und behende. Es war ihr Sohn, kein Zweifel! Dennoch schien es ihr, daß er schon früh anfing, ihr zu entgleiten, und daß er ihr von einem Sonntag zum anderen immer fremder wurde. Ja, manchmal glaubte sie, daß er lediglich aus kindischer Scheu ihre Zärtlichkeiten gelten ließ und daß er gleichsam jeden Kuß verkaufte für eines ihrer Geschenke. Er war ihr Sohn, er war rothaarig und von Sommersprossen übersät, sie brauchte ihn nur anzusehn, und es war, als sähe sie sich selbst im Spiegel. Dennoch entschwand zuweilen das Spiegelbild, verflüchtigte sich, veränderte sich plötzlich. Es gab Sonntage, an denen sie den Kleinen nicht zu Hause traf. Er trieb sich mit seinen Gefährten – die sie haßte – in unbekannten Gegenden herum, sie hatte Mühe, ihn zu finden, und fand sie ihn, so entwich er ihr bald, ihren Zärtlichkeiten und ihrer Sorge.

Als er sieben Jahre alt war, ergriff den Kleinen eine heftige Leidenschaft für alles Militärische – wie übrigens viele Kinder jener Zeit. Er strich um die Kasernen herum, befreundete sich mit den Wachtposten, exerzierte mit den Kameraden, stahl und sammelte Schlachten- und Kaiserbilder, gelangte bald in die Kasernenhöfe, aß aus den Menageschalen gutmütiger Soldaten, lernte von ihnen Soldatenlieder, Hörnerblasen, Gewehrgriffe sogar und das Trommelschlagen; und als er eines Tages einen jener kleinen Knaben-Tamboure sah, deren es viele in der kaiserlichen Armee gab, entschloß er sich, ebenfalls Tambour zu werden. Er wußte, daß er das Kind eines Soldaten war, er verstand wohl alles, was zwischen seiner Mutter Angelina, der Hebamme, der Veronika Casimir an manchen Sonntagen gesprochen wurde. Und er machte sich von seinem unbekannten Vater eine ganz besondere, unübertreffliche Vorstellung.

Also blieb er eines Tages, von einem etwas angeheiterten und den Knaben wohlgesinnten Feldwebel in seinem Entschluß bestärkt, über Nacht in der Kaserne des Zweiundzwanzigsten Infanterieregiments. Er erfuhr manche Zärtlichkeiten, die ihn erschreckten und von denen er glaubte, sie gehörten zum soldatischen Leben, und wurde erst zwei Wochen später dank den Nachforschungen der einflußreichen Veronika Casimir entdeckt. Nunmehr war der Kleine Soldat der kaiserlichen Armee, und Angelina ging an Sonntagen in die Kaserne des Zweiundzwanzigsten Infanterieregiments.

Das erstemal kam sie verwirrt, erschrocken und beleidigt zurück. Ihr Sohn erinnerte sie jetzt, obwohl er ihr so ähnlich sah, an den Wachtmeister Sosthène. Sie hatte sein winziges, sommersprossiges Angesicht kaum sehen können – der viel zu große Tschako mit dem jähen Dachschild verdeckte es fast, der viel zu weite Uniformrock flatterte um die schwachen Hüften des Kleinen, die Hosen waren zu lang und die Stiefel grausam gewaltig. Sie sah, daß ihr Sohn verloren war, für immer. Zu Hause schaute sie in den Spiegel, nach langer Zeit wieder aufmerksam spähend nach den Spuren der Zeit und den Zeichen der Schönheit und der Jugend, wie einst in den ersten Jahren. Sie fand den ewigen und einzigen Trost, den die Natur den Frauen geschenkt hat: Sie begann, auf neue Wunder zu warten. Das Wunderbare ereignete sich auch am nächsten Sonntag, nachmittags, als sie die Kaserne der Zweiundzwanziger verlassen wollte. Vor ihr stand ein Mann in der Uniform eines Intendanturbeamten, diese Uniform schien ihr den Weg zu versperren. Als sie den Kopf hob, erblickte sie ein lächelndes, blondes, schnurrbärtiges Angesicht, das ihr vertraut und zugleich unangenehm vorkam. Sie lächelte aus Ratlosigkeit. Der Mann blieb stehen. »Fräulein Angelina«, sagte er und grüßte. – Erst an seiner Stimme erkannte sie ihn sofort. Es war der galante Artilleriekorporal, Gast bei ihrer Verlobungsfeier mit dem Wachtmeister Sosthène. – »Woher kommen Sie?«

»Ich habe meinen Sohn besucht!« sagte Angelina.

»Und Ihr Mann? Mein lieber Kamerad? Was macht er?«

»Ich habe nicht geheiratet. Er ist nicht mein Mann. Ich habe nur meinen Sohn!« antwortete Angelina.

»Auch ich«, begann der frühere Korporal – und so, als hätte sein Schicksal irgendeine Ähnlichkeit mit dem der Angelina, »auch ich habe Veränderungen durchgemacht . . .«, und er wies auf seine Uniform. »Ich bin jetzt bei der Intendantur. Ich habe seine Feldzüge satt . . .« – und bei dem Wort »seine« zeigte er mit ausgestrecktem Daumen über die Schulter, als stünde hinter ihm der Kaiser leibhaftig. »Ich habe eine schwere Verwundung am Bein, nichts als Unheil! Nichts als Unheil! Ich habe mich rechtzeitig gerettet. Ich warte in Ruhe die Ereignisse ab. Oh, ich erinnere mich, Fräulein, an Ihren großen Zorn damals bei der Verlobungsfeier! Sie müssen jetzt zugeben, daß Sie nicht ganz recht hatten! Sie müssen doch wissen, was vorgeht!«

»Ich weiß nicht, was da vorgeht!« flüsterte Angelina. »Ich weiß nur, daß die Reste dieses Regiments da in Bereitschaft sind.« Und sie deutete auf die Kaserne. »Und ich habe Angst um meinen Sohn«, fügte sie hinzu.

»Mit Recht!« sagte der Intendanturbeamte. »Wir sind geschlagen! In zwei Tagen sind sie in Paris, die Feinde. Der Kaiser kommt morgen. Mich kümmert das nicht. Ich habe ihm jahrelang treu gedient. Jetzt warte ich ab, was die Großen beschließen werden. Ich bin ein Philosoph, Fräulein!«

Obwohl Angelina die Stimme, das Lächeln und die Reden des früheren Korporals unangenehm waren, nickte sie doch, sobald er seinen Satz beendet hatte, und sie wußte nicht, warum. Diese Begegnung bekümmerte und freute sie zugleich. Sie spürte, obwohl sie die Augen niedergeschlagen hatte, den wohlgefälligen und zärtlichen Blick des Mannes. Daß er, wie er gesagt hatte, ein Philosoph sei, eine Verwundung habe, der Kaiser morgen komme, Frankreich geschlagen sei, die Feinde in zwei Tagen in Paris wären, die »Großen« irgend etwas beschließen würden: all dies beunruhigte sie ebenso heftig wie sein wohlgefälliger und peinlicher Blick.

Er schlug ihr vor, »irgendwohin zu gehen«. Dieser Vorschlag verwunderte sie nicht: Sie hatte ihn erwartet und vielleicht sogar gewünscht. Sie hätte jetzt keineswegs nach dem Schloß, zu ihren Gefährtinnen in ihr Zimmer zurückkehren können. Sie fragte auch nicht, wohin er sie führen wollte. Sie setzte sich sofort in Bewegung. Nach ein paar Schritten nahm er ihren Arm. Ein leises, ein wenig schauerliches, ein wenig auch wohltuendes Zittern ging von seinen strammen Muskeln aus. Es war ein gebieterisches, ein männliches Beben, sie fühlte es im Arm, im ganzen Körper, es beleidigte sie, aber es tröstete sie auch. Es war ihr, als bestünde sie jetzt aus zwei Teilen. Es waren zwei Angelinas: die eine hochmütig und voller Abscheu vor dem Mann an ihrer Seite und die andere hilflos und diesem Mann dankbar für irgendeine namenlose Art von Rettung, die er darbot. Sie schwieg, während er redete. Er sprach von der Politik, von der Welt, von den Schwierigkeiten und von den Fehlern des Kaisers. Er führte sie sehr lange durch die Stadt, so schien es ihr. Ein anderer dachte für sie, ein anderer hatte ihr ein Ziel bestimmt. Es war schändlich, aber angenehm. Man war so einsam und so verraten! Der Mann war ein Fremder, aber er versprach irgendeine Zuflucht, immerhin eine Zuflucht. Man mußte nicht nach Hause gehn. Man wurde müde. Es war eine gütige Müdigkeit. Es war ein kühler Tag im Herbst. Violette, böse Wolken wehten knapp über den Dächern einher, und an den Kreuzungen blies der Wind gleichzeitig aus allen vier Richtungen. Manchmal trat der Fuß auf ein hartes, gelbes, aus irgendeinem Garten verwehtes Blatt. Es zerbrach unter dem Tritt mit dem trockenen, toten Laut, der eher an zertretene Knochen als an zertretene Blätter erinnert. Sehr schnell fiel die Dunkelheit ein; längst sprach der Intendanturbeamte nicht mehr.

 

Sie ließen sich in einem bunten, von Lichtern, Ziehharmonikas, Unteroffizieren und Dienstmädchen erfüllten Haus in Vanves nieder. Lange hatte Angelina nicht mehr so viel und so hastig getrunken. Sie saß auf dem weichen, roten Sitz aus Plüsch neben dem Mann. Der Sitz war weich, die gleichfarbige Lehne aber war trügerisch und hart, ein rot überzogenes Holzbrett, das eine sanfte Güte vortäuschte. Wie um den Rücken der Angelina vor dieser tückischen Lehne zu bewahren, streckte der Intendanturbeamte seinen rechten Arm aus und legte ihn um ihren Nacken. Mit der Linken schüttete er neuen Wein in die Gläser. Er neigte sein rosiges, freundliches, blondes Haupt über Angelinas Angesicht. Sie fühlte es kommen, durch einen dünnen, graublauen Dunst. Sie schämte sich, und sie wehrte sich nicht. Sie küßte den süßlichen sanften Schnurrbart. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie schlug die Augen auf. Es war ihr eingefallen, daß sie nicht einmal den Namen des Mannes kannte. Und als würde, wenn sie nur seinen Namen wüßte, alles ordentlich und selbstverständlich und vor Gott und aller Welt zu verantworten, fragte sie: »Wie heißt du?« »Charles!« sagte der Mann. »Das ist gut!« sagte Angelina. Und ihr schien, daß jetzt alles in Ordnung und gut sei.

Diese Nacht verbrachte sie mit dem Intendanturbeamten Charles Rouffic. Zwar nahm sie zuerst mit einigem Schrecken wahr, daß er gleichsam die Fähigkeit hatte, sich von Stunde zu Stunde – und sogar in noch kürzeren Zeitabständen – zu verändern. Zuerst, als er den Rock ablegte, war er ein zweiter Charles, ein Charles in einer Weste, mit Hemdsärmeln; als er die Weste auszog, war er ein dritter Mann, noch fremder als der zweite; und als er sich über sie beugte und sie zu liebkosen begann, glaubte sie, es sei ein schrecklich fremder vierter. Nach einigen Stunden weckte er sie, frisch, munter, mit gebürstetem und pomadisiertem Schnurrbart, und sein Angesicht glich einem runden, güldenen, rosa durchsonnten Morgenwölkchen. Er war vollkommen angekleidet, der Degen hing treu an seiner Hüfte, als wäre er niemals von seiner Seite gewichen. Nun war's wieder ein fünfter Mann, noch fremder als die früheren.

Tagsüber vergaß sie ihn, und wenn er ihr zuweilen dennoch in den Sinn kam, gelang es ihr, sein Bild schnell zu verscheuchen. Sie schämte sich seiner, weil er ein Fremder war und weil sie ihn dennoch brauchte, und auch, daß sie einen Fremden brauchte, verursachte ihr noch tiefere Scham. Aber schnell näherte sich die Stunde, in der sie versprochen hatte, ihn wiederzutreffen. Er näherte sich ihr nun, wurde immer deutlicher, immer vertrauter und schließlich wahrhaftig lebendig.

All dies ereignete sich mit Angelina in den letzten Tagen vor der großen Verwirrung im Lande. Und vielleicht war auch die Verwirrung, in der sie sich befand, die Folge jener allgemeinen Schrecken, die damals wie böse, tiefhängende Gewitterwolken über das Land dahinzogen. Noch ehe der wirkliche Donner der feindlichen Kanonen in der Stadt Paris hörbar wurde, schien es aller Welt, als hörte man schon die Vorboten der feindlichen Kanonendonner. Noch ehe man wußte, daß der Kaiser geschlagen war und daß er mit den Resten der Armee der Hauptstadt entgegenflüchtete, ahnte man bereits, daß er geschlagen sei und daß er flüchtete. Und diese Ahnung war schrecklicher als ein paar Tage später die Gewißheit. (Die bösen Ahnungen verwirren die einfachen Herzen der Menschen, die böse Gewißheit aber schwächt und bekümmert sie nur.)

Angelina gehorchte diesen Gesetzen. Verworren lebte sie in der allgemeinen Verwirrung und erschrocken im allgemeinen Schrecken.

Eines Tages verschwand Charles, der Intendanturbeamte. Ein paar Tage lang war seine Anwesenheit am bestimmten Platz zu bestimmter Stunde eine schmähliche, aber sichere Zuflucht gewesen. Heute wartete Angelina vergebens. In der kleinen Schenke saß sie, umrauscht von den Klängen der Ziehharmonika, umzingelt von den Blicken der Wirtsleute, die sie kannten und die selber den Intendanturbeamten Charles Rouffic zu erwarten schienen. Ringsum sprach man schon vom Unglück des Kaisers, vom Unglück des Landes. Angelina ging endlich.

VIII

Viele Menschen in Frankreich lebten damals, im Herbst des Jahres 1814, in einer stürmischen Trübsal. Die Feinde kamen. Sie kamen, wie Feinde kommen, mit dem ganzen höllischen Gefolge des Siegers: mit der Rachsucht, mit der Willkür und mit der Wollust, zwecklosen Jammer zu bereiten. Zahlreich waren die Feinde Frankreichs und untereinander sehr verschieden; aber alle verbreiteten sie den gleichen Schrecken, und alle schufen sie auf die gleiche Art Kummer und Unheil. Größer noch als im Lande und in der Stadt Paris war die Verwirrung am Hofe des Kaisers, und stärker noch als unter den hohen Herren, die in seinen Diensten standen, herrschte sie unter dem niederen Gesinde. Denn immer sind es die Einfachen und die Geringen, die das Unheil zuerst nahen fühlen, und sie zuerst macht es zittern. Die Einfachen und Geringen sind unschuldig an den Fehlern, den Irrtümern, den Sünden und den Schicksalen der Großen. Und dennoch leiden sie mehr als die Namhaften. Die Stürme vernichten die armen und schwächlichen Hütten; an den steinernen und starken Häusern aber rauschen sie vorbei.

Zwei Tage noch bevor der Kaiser die Stadt und das Land verließ, begannen die Geringen, ihn selbst zu verlassen. In ihren einfachen Herzen lebte jetzt nichts mehr als die Angst um das Leben, die Angst vor einer Gefahr ohne Angesicht, also einer schrecklichen Gefahr. Man floh ohne Sinn nach verschiedenen Richtungen. Die Männer und Frauen aus dem Gesinde begaben sich zu Freunden, ebenfalls Dienern des Kaisers, aber Diener in anderen Schlössern, als wären jene, die nicht unter einem Dach mit dem Kaiser gelebt hatten, sicherer und als wäre die tägliche Begegnung mit ihm, dem großen Kaiser, bereits eine Gefahr verheißende Schuld. Indessen entfernten sich auch die Bedienten der anderen kaiserlichen Schlösser, auch sie ratlos, ziellos und töricht. Auch Veronika Casimir ging. Man sah sie, die einst so Großartige, vorsichtig ausgerüstet mit viel Gepäck, im geräumigen Wagen davonrollen, in dem sogar ihre Gestalt, die einst so viel gewichtige Würde verbreitet hatte, sich im Augenblick der Abreise verringert zu haben schien.

Angelina nahm einen betrübten Abschied von ihr. Allein blieb sie im feindlichen Schloß. Neue Bediente tauchten auf, in königlichen Livreen, die sie noch nie gesehen hatte. Tag für Tag wartete sie auf ein Zeichen ihres Sohnes. Es gab keine Arbeit mehr, kein Bügeleisen zu schwenken, keinen Batist, keine Seide. Es gab nur feindliche, neue Gesichter. Vielleicht war auch der Sohn schon tot. Sie erinnerte sich an die Stunde, in der sie ihn geboren hatte – lang war es her, die Schneeflocken fielen damals sacht und gütig vor den Fenstern. Sie erinnerte sich an sein erstes Lallen und sein erstes Lächeln und an den seligen Sonntag, an dem sie zuerst gesehn hatte, daß er richtig gehen konnte – und an jenen anderen furchtbaren Sonntag, viel später, an dem sie zuerst gemerkt hatte, daß er ihr fremd war, der Sohn seines Vaters. Jener, den sie geboren und gesäugt hatte, war lange schon verloren gewesen. Der kleine Tambour war fremder noch als der Wachtmeister Sosthène.

Eines Tages, drei Tage nachdem der gutmütige und kaltherzige König wieder eingezogen war, erschien unter dem höfischen Gesinde eine neue Befehlshaberin, die Nachfolgerin der Veronika Casimir. Hart und mager, hager und häßlich, erinnerte sie an einen Eiszapfen. Da sie aber weiße Lilien im Haar, an der Brust und an der Hüfte trug, gemahnte sie gleichzeitig an einen Friedhof.

Diese Frau sagte zu Angelina, sie möchte das Schloß des Königs verlassen.

Angelina ging zu der einzigen Frau, die sie kannte, zur Hebamme Pocci. Ihr armseliger Koffer aus geflochtenem Stroh, mit dem sie einst munter in Paris angekommen war, wurde schwer, wuchtig sogar. Bald schleppte sie sich nur noch dahin, stellte ihre Last an den Rand des Bürgersteigs und setzte sich. Sie glaubte, alle Not und die ganze Verlassenheit kämen nur von der Müdigkeit ihrer Füße. Da sie aber saß, fühlte sie nach einigen Augenblicken eine Unrast, noch größer als ihre Schwäche. Seltsame Gefahren schienen sich ihr zu nähern, an der nächsten Ecke lauerten sie schon. Sie blickte empor und sah dicht über den Dächern böse Wolken dahinwehen. Aus einer nahen Straße kamen die verworrenen Rufe des triumphierenden Volkes, das den König feierte und den geschlagenen Kaiser verdammte. Die Menge kam näher, jetzt hörte sie deutlich die Rufe: »Es lebe der König!« Die Tränen kamen ihr in die Augen. Sie hatte Angst, man würde sie weinen sehen, auch das konnte eine schreckliche Gefahr bringen. Der Lärm verzog sich wieder. Angelina ging jetzt langsam und regelmäßig, mit besonnenen Schritten. Sie war einsam, furchtsam und geschlagen – wie der Kaiser: so dachte sie. Dieser Gedanke minderte ihren dunklen Schmerz. Es war ihr, als ginge sie so trostlos durch die Straßen für ihn, für den Kaiser. Unsichtbar ging auch er die furchtbarste aller Straßen dahin. Wer weiß, vielleicht war es auch gar nicht wahr, daß sie ihn verschickt hatten: Verkleidet, als einfacher Soldat zum Beispiel, lebte er noch in seiner Hauptstadt, und man konnte ihm begegnen und ihm verschiedene Dinge sagen.

Der Abend dämmerte, da stand sie vor dem Hause und blickte zu dem vertrauten Fenster hinauf. Es war dunkel, vielleicht war auch die Hebamme Pocci geflohen. Angelina wartete eine Weile, aus Angst vor einer viel zu schnellen Gewißheit und mit der zagen Hoffnung, daß jemand aus dem Hause treten würde, um sie hineinzuführen. Zugleich aber hatte sie Angst, daß es der polnische Schuster sein könnte, der tagsüber vor seiner Tür im dunklen Hausflur arbeitete. Sie kannte ihn seit zwei Jahren, aber sie fürchtete sich vor ihm. Sie hatte sich vor ihm vom ersten Augenblick an gefürchtet. Mit seinem Stelzbein, das einen unheimlichen Lärm auf den Fliesen des Hausflurs und auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus verursachte, mit seinem fremdartigen, aschfarbenen Schnurrbart eines polnischen Legionär-Ulanen, mit seiner fremden, harten Zunge, die die Worte zermalmte, statt sie auszusprechen, mit dem grollenden Blick eines gefährlich scheinenden Kriegers, mit den vom Leder geschwärzten Händen flößte er Angelina eine ungenaue, aber große Furcht ein. Seinen fremden Namen vergaß sie immer wieder; auch hatte sie Bedenken, ihn auszusprechen. Dadurch wurde der Schuster noch unheimlicher.

Indessen täuschte sie sich; ebensowenig, wie sein Name schwer auszusprechen gewesen wäre – denn der Schuster hieß Jan Wokurka, und sein Name stand mit rotem Lack auf einem schwarzen Täfelchen an der Haustür deutlich geschrieben –, ebensowenig war sein Charakter finster oder gar gefährlich und unheimlich. Alles an ihm war sanft und still, nur sein Holzbein klapperte. Er war ein freiwilliger Legionär gewesen, hatte den unseligen Feldzug des Kaisers mitgemacht und war nach seiner Verwundung nach Paris gekommen, wo er die Pension gesichert glaubte und wo er obendrein mit mehr Aussicht auf Gewinn als in seinem heimatlichen Dorf seinen alten Beruf ausüben konnte. Er hatte auch die Pension und den erhofften Gewinn. Aber er sehnte sich dennoch nach seiner Heimat. Denn er war sehr einsam, obwohl er mit allen Nachbarn lange, genau, aber den meisten ganz unverständlich zu sprechen liebte. Er verstand alles, was die Leute sagten, und er glaubte deshalb, sie verstünden auch ihn. Sobald ihn aber die Leute verließen, merkte er immer wieder mit bitterer Gewißheit, daß sie ihn nicht verstanden hatten. Und nach jedem Gespräch wurde es stiller um ihn, und seine Einsamkeit wuchs und sein Heimweh auch, und die linke Hüfte tat noch mehr weh als zuvor, und selbst sein Bein, das irgendwo an der Oder begraben sein mußte, schmerzte ihn noch.

Deshalb war er entschlossen, Geld zu sparen und nach Polen zurückzukehren. Er wartete nur noch auf eine »runde Summe« – wie er sagte. Sobald einmal eine Summe sich »gerundet« hatte, tat es ihm wieder leid, und er verschob seine Abreise. Dazu kam noch, daß er, trotz seinem Gebrechen, eine Frau zu finden wünschte, die ihn liebte – und da er auch als unversehrter Mann noch schüchtern gewesen war, wurde er jetzt vollends verzagt. Um so heftiger sehnte er sich nach den Frauen. Er bürstete seinen kühnen Bart, legte einen kriegerischen Glanz in seine gutmütigen, hellen Augen und verliebte sich ehrlich und schnell.

Angelina gefiel ihm, weil sie ein scheues Gesicht und schüchterne Gebärden hatte. Ihr aber jagte er nur Furcht ein. Auch jetzt, da sie verloren und verlassen dastand und zum Fenster emporblickte, hatte sie mehr Angst vor dem Schuster als vor der Nacht, die unerbittlich hereinfiel. Bei der Hebamme Pocci brannte immer noch kein Licht. Sie ging dennoch hinüber, hinein ins Haus. Munter hämmerte, wie gewöhnlich, der Schuster. Schon hatte er sie erblickt. Da er ihren Korb sah, erhob er sich, sein Stelzbein streckte sich erstaunlich weit vor, und wunderbar schnell stand er neben ihr und ergriff ihren Koffer. Das volle Licht seiner dreikerzigen Laterne huschte durch die zauberhafte, große, baumelnde Schusterkugel über den schattigen Flur und über sein Angesicht. Er humpelte die drei Stufen hinunter, die in seine Stube führten, stellte den Koffer hin und war bewundernswert schnell wieder im Flur. Vergebens streckte Angelina ihre Hand nach dem Koffer aus. Wokurka nahm ihre Hand und sagte, rasch und also noch weniger verständlich, als er sonst zu sprechen pflegte: »Alle sind sie fort! Frau Pocci heute morgen. Frau Casimir war gestern abend noch hier. Alle fürchten sich sehr. Ich nicht. Kommen Sie, Fräulein!« Er ließ ihre Hand los, ergriff aber ihren Arm und drängte sie in die Stube. Angelina ging hinunter. Sie hatte das Gefühl, daß sie zu ihrem Koffer gehöre.

Sie sank sofort in den einzigen, engen Sessel vor dem Tisch. Der Schuster Wokurka rückte sie links, rechts, vorwärts, als könnte der Sessel dadurch bequemer werden. Hierauf, als er glaubte, er habe seinen Zweck erreicht, ging er zum Herd, blies die glimmenden Kohlen an und begann, einen Rotwein mit Wasser zu kochen. Indessen spähte er immer wieder zu Angelina hinüber. Da es ihm schien, daß sie die Augen geschlossen hatte, erfüllte ihn eine jähe Freude, und er blies mit Wonne in die Glut.

Angelina hielt die Augen nicht geschlossen, sondern sie beobachtete den Schuster, seine Handlungen und alle Gegenstände im kleinen Zimmer. Ganz sachte bewegte sich die große, gläserne Kugel vor der sonderbaren Laterne, die an einen gläsernen Käfig erinnerte, ihrer kupfernen Verzierung wegen. Wie ein Käfig war sie, in dem drei eingefangene Kerzenflämmchen flatterten. Ein dunkelgrüner Vorhang, hinter dem man die Schlafstätte Wokurkas ahnte, erweckte in Angelina die ferne Erinnerung an jene traumhafte Nacht vor zehn Jahren – aber es schien ihr, als läge sie schon hundert Jahre zurück – und an die schweren Wogen der mächtigen kaiserlichen Portiere. Ja, und auch an die kristallene Karaffe von damals dachte sie in dem Augenblick, in dem der Schuster eine Tasse mit heißem, duftendem Rotwein vor sie hinstellte. Die Tasse zeigte, von einem grünen Lorbeerkranz umrahmt, das Bild des Kaisers, das bekannte, heimische und stolze Bild, und es erinnerte Angelina an das große Porträt an der Wand des geheimnisvollen Saales. Überhaupt schien es ihr, es sei jetzt alles unwirklich, wie es auch damals gewesen war. Alles, was sie hier sah, die kümmerlichen, gefangenen Kerzen, der armselige Vorhang, der billige Wein, das bunte Miniaturbild des Kaisers, war gleichsam verwandt mit den kostbaren und erhabenen Gegenständen, die sich im kaiserlichen Raum befunden hatten. Vielleicht waren es sogar dieselben Gegenstände, aber im Lauf der vielen, vielen, der unzähligen Jahre und durch das Unglück, das ihren Herrn und Gebieter betroffen hatte, verkümmert und heruntergekommen.

Der Schuster Wokurka stand ihr gegenüber. Er stützte sich mit einer Hand am Tischrand und blickte sie an, ohne ein Wort. Sein Kopf mit dem reichen, zurückgekämmten, graublonden Haar berührte fast die sachte, baumelnde Kugel und empfing von ihrem zauberhaften Licht einen unwirklichen Schimmer. »Trinken Sie!« sagte Wokurka endlich – und die sanfte Eindringlichkeit seiner Stimme zwang sie ebenso wie der heiße verführerische Duft, der aus der Tasse aufstieg, sich vorzuneigen und einen Schluck zu tun. Es wurde warm in ihrem Herzen, sie erhob den Blick und sah die grauen, großen Augen des Schusters. Es waren ganz andere Augen als jene, die sie so lange schon zu kennen geglaubt hatte. Es war keine blanke Gier in ihnen, sondern ein lächelndes Licht. Und auch der mächtige Bart war nicht fürchterlich mehr, sondern hing wie friedliches, haariges Schutzfell über dem unsichtbaren Munde des Mannes.

»Trinken Sie nur!« sagte dieser unsichtbare Mund. »Es wird Ihnen guttun!« – Sie trank mit vergnügtem Eifer und lehnte sich wieder zurück.

Der Schuster Wokurka wandte sich um und schlug den grünen Vorhang zurück, da wurde tatsächlich sein Bettgestell sichtbar. Er setzte sich darauf, sein Holzbein ragte empor und berührte fast die Tischkante, aber auch das Holzbein erschreckte Angelina nicht mehr.

»Ja«, begann Wokurka, »alle sind vor dem König geflohen wie vor der Pest. Ich begreife nicht, was sie so fürchten, aber ich weiß wohl, was der Schrecken anrichten kann. Er verwirrt den Verstand auch der Vernünftigen. Frau Pocci zum Beispiel war eine vernünftige Frau. Gott weiß, wohin sie gegangen ist. Fräulein Casimir, Ihre Tante, ich kenne sie gut, hat sogar an hohen Stellen aus den Karten gelesen. Die Zukunft konnte sie erkennen, die Gegenwart nicht. Und so sind Sie eben allein geblieben, liebes Fräulein!«

Er wartete eine Weile. Da Angelina nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich fürchte, Sie verstehen mich nicht genau. Ich weiß, daß ich nicht ganz verständlich sprechen kann.«

Diesmal aber hatte ihn Angelina genau begriffen. Sie sagte: »Doch, ich verstehe vortrefflich.« »Da Sie nun so allein sind, liebes Fräulein«, fuhr er fort, »bitte ich Sie, vorläufig hierzubleiben. Ich werde Sie nicht stören. Sie können ruhig abwarten, liebes Fräulein! Die Welt wandelt sich schnell heutzutage! Wer hätte das noch vor einem halben Jahr geglaubt? Der Kaiser war groß, und ich war sein Soldat, und ich hab' ihn geliebt. Aber, sehn Sie, wir Kleinen bezahlen unsere Liebe zu den Großen teuer.« Ihm fiel, während er so sprach, ein Vergleich ein, den er für sehr glücklich hielt, und er sagte: »So habe ich mein Bein zum Beispiel verloren, und Sie Ihre Stelle. Und es sind vergebliche Opfer. Wir Kleinen sollten unser Leben nicht von den Großen bestimmen lassen. Wenn sie siegen, leiden wir, und wenn sie besiegt werden, leiden wir noch mehr. Nicht wahr, Fräulein?«

»Ja«, sagte sie, »Sie haben recht.«

Er griff nach der Weinflasche, die über dem Kopfende seines Bettes auf einem Brettchen stand, tat einen tiefen Schluck aus der Flasche, stellte sie wieder hin und wartete eine Weile. Es war, als erwartete er den Mut, den der Schluck in seinem Herzen erzeugen sollte. In der Tat, er fühlte ihn jetzt, und er sagte beinahe übermütig, und sein buschiger Schnurrbart bewegte sich seltsam und verriet, daß sein unsichtbarer Mund lächelte:

»Ich kenne Sie schon lange, Fräulein Angelina, und ich kenne auch Ihr Leben!« Er machte noch eine kurze Pause, holte Atem und fuhr leise fort: »Ich kenne auch den Vater Ihres Kindes, den Herrn Levadour. Und ich habe Ihrer Tante gesagt, daß Sie recht hatten, ihn nicht zu heiraten.«

»Wissen Sie, ob mein Sohn noch lebt? wo er ist?« fragte Angelina. »Ich weiß es nicht«, sagte Wokurka. »Aber morgen früh werde ich mich auf den Weg machen, und ich werde ihn suchen. Fast in jeder Pariser Kaserne habe ich gute Freunde.« Er log, und er freute sich, daß sie ihm vertraute.

»Ich danke Ihnen«, sagte Angelina. In der Tat stieg eine unermeßliche Dankbarkeit in ihrem Herzen auf, und es war ihr, als wäre sie nach langen Irrfahrten zu Hause, wie einst daheim in ihrem väterlichen Hause. Ihre Augen fielen zu, sie schlief ein, so wie sie saß. Wokurka hob sie aus dem Sessel, legte sie auf das Bett, schob den Vorhang wieder vor und setzte sich, selig zum erstenmal, seitdem er sein Bein verloren und das Heimweh angefangen hatte, seine Seele zu quälen, in den engen Lehnstuhl neben den Vorhang. Die Kerzen in seiner Laterne erstarben, eine nach der andern, mit friedlichem Geflacker. Von fernen Straßen her hörte er die Rufe der unermüdlichen Königstreuen, die den König hochleben ließen und den verbannten Kaiser verfluchten. Der Schuster Wokurka aber befand sich auf einer glücklichen Insel, unabhängig von den wechselnden Geschicken der Welt. Was ging ihn der Kaiser an, was ging ihn der heimgekehrte König an? Was ging ihn das Volk an, das draußen Tumult machte? Er träumte davon, daß er bald heimkehren würde, mit der Frau, die hier, hinter dem Vorhang, schlief. Es kam gar nicht mehr auf runde Summen an. Jede Summe war rund. Er hörte den sanften Atem Angelinas hinter dem Vorhang. Sie war zu ihm gekommen, und von selbst! So, wie er da saß, schlief er ein, mit dem beglückenden Entschluß, morgen in der Frühe den Sohn Angelinas zu finden.

IX

Es gelang Wokurka auch, den Kleinen zwei Wochen später zu finden. Während dieser Zeit humpelte er jeden Tag ein paar Stunden durch die Stadt, besuchte er alle Kasernen, die er erreichen konnte. Als er ihn endlich ausfindig gemacht hatte, hinkte er eilig heim, ihm schien es, auch sein hölzernes Bein sei beflügelt. »Morgen können wir ihn sehen!« sagte er und schlug die Augen nieder, denn er schämte sich, Angelinas Glück zu sehn. Es dauerte lange, ehe sie etwas sagte. Es dunkelte schon, als sie zu sprechen anfing, als hätte sie sich geschämt, im hellen Tageslicht zu sprechen. »Wo und wann werden wir ihn sehn?« »Um sieben Uhr«, sagte er, »abends, nach dem Rapport. Der Unteroffizier vom Dienst ist mein Freund.«

Am nächsten Abend sah Angelina ihren Sohn wieder. Sein Regiment wohnte in einer anderen Kaserne, dezimiert, geschlagen, gedemütigt, wie es von der Niederlage heimgekehrt war. Zwei Unteroffiziere aus früherer Zeit waren noch da, sie erkannten Angelina auch, und ihr war, als begegnete sie wohlvertrauten, lieben Gespenstern. Sie trugen nicht mehr den Adler des Kaisers, sondern die Lilien des Königs. Sie waren nicht mehr die Soldaten des Kaisers, sondern die Untertanen des Königs. In düstere Scham gehüllt erschien Angelina auch der kleine Pascal. Zuerst breitete er die Arme aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. Und als Angelina zu weinen anfing, ergriff er ihre Hand und küßte sie. Er war schon so groß wie sie, wenn er seinen Tschako aufhatte. Nun aber, in einem plötzlichen Anfall von Zärtlichkeit und Heimweh, nahm er den Tschako ab, und er reichte Angelina bis zur Schulter. Und sie sah sein dichtes, rotes Haar, und es war, als hätte er seiner Mutter beweisen wollen, daß er ihr Sohn sei und keines anderen. Sie begann, noch heftiger zu weinen. Sie dachte an ihre Kindheit, ihren töricht und sinnlos verschenkten Körper, an den widerwärtigen Sosthène, an den zufälligen Korporal, an die beschämende Nacht im traumhaften Gemach, an die schweren Wogen der Portiere, an den frühen Tod ihres Vaters, an ihre kindischen und schamlosen Entblößungen vor den fremden Spiegeln – – und alles, alles erschien ihr unendlich traurig, schlimmer noch, nämlich trostlos und dumpf. Sie wußte auf einmal genau, daß sich alles Sinnlose und Törichte, das ihr geschehen war, gleichsam im gnadenreichen Schatten des großen Kaisers ereignet hatte. Sein Schatten noch hatte alles sinnlose Geschick vergoldet; nun war er fort, sein gnadenreicher, goldener Schatten! Jetzt erst wurde das Törichte töricht, das Unglück wurde gemein. Sie weinte nicht mehr aus Rührung darüber, daß sie ihren Sohn wiedergefunden hatte, sondern über eine ganze tote Welt, an deren ewigen Bestand sie geglaubt hatte. Nichts mehr war vorhanden seit der Abfahrt des Kaisers. Sie wußte auf einmal, daß ihre Liebe zu ihm größer und mächtiger war als eine gewöhnliche Liebe. Sie weinte nicht wegen ihres Sohnes, sondern wegen der Lilien des Königs, der weißen Fahne der Bourbonen, die vor dem Eingang der Kaserne hing, und wegen des Untergangs des Kaisers. Sie vernahm und verstand dennoch, was ihr der Kleine erzählte: Sein Vater, der Wachtmeister Sosthène Levadour von den Dreizehner-Dragonern, wäre gekommen, um seinen Sohn zu suchen. Der Wachtmeister hätte sich auch nach Angelina erkundigt; er hätte gesagt, er würde bald wiederkommen. Dies alles betraf sie nicht. Sie sagte nur: »Ja, er ist dein Vater! Ich liebe ihn aber nicht. Ich werde dich wieder besuchen. Ich liebe dich, mein Kind!« Sie küßte seine roten Haare, seine sommersprossigen Wangen und seine blauen, kleinen Augen.

In der Straße faßte sie den Arm des Schusters Wokurka. Sie weinte immer noch. Sie bemühte sich, mit dem Hinkenden Schritt zu halten, und es schien ihr zuweilen, als müßte sie sich schämen, weil sie zwei gesunde Beine hatte und er nur eines. Dennoch war es ihr auch, als wäre sie schwächer auf ihren gesunden Beinen als der Mann an ihrer Seite auf seinem einzigen, und sie faßte seinen Arm, um sich an ihm zu halten. Sie gingen so, Arm in Arm, sehr lange durch die Straßen. Sie sprachen gar nichts auf dem langen Weg. Erst als sie vor der Tür standen, spürte sie, daß er ihr etwas sagen wolle. Er hielt ihren Arm fest. Sie sah von der Seite zu ihm auf. Das armselige Licht einer verlorenen Laterne, der einzigen in dieser Gasse, fiel auf das bekümmerte und hohle Angesicht Wokurkas. Ihr war, als erblicke sie ihn jetzt zum erstenmal, als hätte das trübselige, ölige und unstete Licht der Laterne seine Züge deutlicher gemacht und den ganzen Kummer, der in seinem Angesicht wohnte. In einem einzigen Augenblick wurde ihr klar, daß er ihr längst kein unheimlicher Fremder mehr war, sondern ein vertrauter, stiller Genosse; daß er sie lieben mußte, wie sie noch niemand geliebt hatte; und daß er lange Nächte ihretwegen wachte, in seinem engen Sessel, mit seinem hölzernen Bein. Sie senkte den Kopf. »Ich will Ihnen etwas sagen«, begann Wokurka leise. – Er wartete. Sie sagte nichts. »Wollen Sie mich anhören?« fragte er und sah sie an. Sie nickte. »Nun«, fing er wieder an, »nun, ich habe mir gedacht, ich könnte Sie fragen – Sie fragen – ob Sie bei mir bleiben wollen?« »Ja!« sagte sie, mit einer klaren Stimme, die sie selbst verwunderte. »Sie haben mich vielleicht nicht verstanden«, begann er, »ob Sie mit mir bleiben wollen? Mit mir?« »Ja!« wiederholte sie, mit der gleichen klaren Stimme.

Sie gingen ins Haus. Sie entzündete selbst die Lichter in der Laterne, zum erstenmal, seitdem sie bei Wokurka wohnte. Sie machte sich zu schaffen, an den Töpfen, am Herd. Sie fühlte den ständigen Blick des Mannes und vermied es, ihn anzuschauen. Mit Angst dachte sie an die Nacht, die jetzt heranschlich, die Liebe, die sie barg, und auf einmal erfaßte sie Entsetzen vor dem Holzbein des Mannes, als käme sie jetzt erst auf den Gedanken, daß es nicht ein natürlicher Teil seines Körpers war.

Sie aßen schweigsam und verlegen, wie an allen Abenden vorher, die Milchsuppe mit Kartoffeln, die Wokurka liebte und die sein Heimweh ein wenig linderte. Sie tranken dann, und sie bemerkte jetzt, daß Wokurka den Wein nicht aus einer gewöhnlichen Flasche einschenkte, wie an den Abenden zuvor, sondern aus einer kristallenen Karaffe. Auch diese Karaffe zeigte ein kleines, glattes Oval just vorne, unter dem geschwungenen Schnabel und in der Mitte ihrer pompösen Wölbung. Im Oval war der Kaiser Napoleon zu sehn, in seiner gewohnten Tracht, ein gläserner Kaiser, gefärbt und gleichsam durchblutet vom roten Wein, ein Napoleon aus Glas, Stein und Blut. In dem Maße, in dem sich die Karaffe leerte, wurde der Kaiser blasser, ferner und wirkliches Glas, und es war Angelina, als sähe sie ihn sterben, Stück für Stück seines Körpers, den Kopf zuerst, dann die Schultern, den Oberkörper, die Schenkel und zuletzt die Stiefel. Sie sah unermüdlich auf dieses Oval, ihr fröstelte, sie wollte die Karaffe wieder gefüllt sehen. »Haben Sie noch Wein?« fragte sie. »Eine schöne Karaffe!« »Ja, ein gutes Stück«, sagte Wokurka. »Unser Graf Chojnicki hat es mir einmal geschenkt. Er hat uns damals ausgerüstet, uns Legionäre, meine ich. Wir waren auf seinem Schloß, er selber exerzierte mit uns. Der Kaiser kannte ihn gut. Er ist gefallen, an dem Tage, an dem mir mein Bein abhanden kam. Aber ich habe noch Wein, ich trinke aus dieser Karaffe nur bei besonderen Festen. Und es ist heute für mich ein besonderes Fest, Angelina, nicht wahr?« Er war aufgeräumt, beweglich, erhob sich schnell, füllte die Karaffe aufs neue, schenkte ein. Seine Wangen waren rötlich, seine Augen blank, und sein Schnurrbart schien zusehends blonder zu werden, als wüchsen ihm unversehens neue, blonde, buschige Härchen und überwucherten die zahlreichen früh ergrauten. Er wurde redselig, erzählte von Schlachten und Kameraden, spottete über das Bein, das er verloren hatte, sagte, es hätte zum Unterschied vom anderen ohnehin niemals viel getaugt, verspürte aber in diesem Augenblick einen heftigen Schmerz an der Hüfte und im halben Schenkel, der ihm noch verblieben war, und verstummte plötzlich. Er erinnerte sich nicht genau an alles, was er erzählt hatte, wußte nicht mehr, ob Angelina ihm geantwortet oder ob sie ihm auch nur zugehört hatte, und fühlte nur, sobald er sie ansah, ein unbändiges Verlangen nach ihr, ein Verlangen, das der Schmerz keineswegs betäubte, sondern noch zu steigern schien. Er saß wie gewöhnlich am Bettrand, ihm gegenüber war Angelina. Er erhob sich plötzlich, stützte sich auf den Tischrand, setzte sich in Bewegung, auch Angelina erhob sich. Sie wartete auf ihn zitternd, sie wußte genau, was nunmehr kommen mußte, es war nicht zu ändern, sie wünschte plötzlich, das Unabänderliche möchte nur sehr schnell geschehen, sie ging ihm sogar entgegen. Sein Atem roch nach Glut und Wein, auch Güte leuchtete in seinen blanken Augen, sein Bart sträubte sich, er erweckte viel Angst, ein wenig Widerwillen und sehr viel Mitleid. Jetzt lag sie da, sie schloß die Augen, und sie hörte deutlich, wie er die Krücke ablegte, das leise Geräusch des aufschnellenden Leders und das zarte Klirren der metallenen Spangen.

X

Sie gewöhnte sich an die Nächte, an die Tage und an den Mann. Als der Winter kam, fühlte sie sich bei ihm schon heimisch und beinahe glücklich. Je kürzer die Tage wurden, desto heftiger wurde auch das Heimweh Wokurkas. Er begann, immer häufiger davon zu sprechen, daß man heiraten müßte und nach Polen zurückkehren und alles vergessen und ein neues Leben anfangen. Daheim in Polen, in seinem Gora Lysa, war jetzt dichter, guter Schnee, ein klirrender, gesunder Frost, es gab große, runde Brote mit schwarzbrauner Rinde, und man bereitete sich schon für Weihnachten vor. In dieser Welt hier regnete es auch im Dezember, der Wind blies feucht und gehässig, der Wind und der heimgekehrte König und die Feinde Frankreichs und Polens waren Bundesgenossen, weit war der große Kaiser, der allein imstande gewesen wäre, Wokurkas Heimweh auszulöschen. Aber er selbst, der Kaiser, mochte jetzt noch größeres Heimweh haben als der Schuster Wokurka. Die Zeitungen schmähten den Kaiser jeden Tag, sie erzählten von dem großen Kongreß in Wien, lobten den Verräter Talleyrand und den guten heimgekehrten König, der Wokurka die Pension nicht bezahlte. Alle Mächtigen, die einst Napoleons Freunde gewesen waren, verrieten und verleugneten den Kaiser. Was hatte der Schuster Wokurka aus Gora Lysa noch in diesem Lande zu tun? Hier und da besuchten ihn ein paar Polen, frühere Legionäre wie er, Soldaten, die keinen anderen Beruf hatten, die, ohne Pension, ohne Brot und ohne Obdach und obwohl mit heilen Gliedern versehen, noch verstümmelter waren als der Schuster. Sie zogen als Bettler durch die Stadt.

Einige träumten davon, soviel Geld zu bekommen, daß sie den gefangenen Kaiser erreichen könnten; und jeder von ihnen war überzeugt, daß nur er und gerade er dort fehle und daß er allein dem Kaiser sagen könne, wie man Frankreich wiedererobert, die Welt aufs neue besiegt und Polen wieder auferstehen läßt. Der einfache Jan Wokurka aber wußte, daß sie alle törichte Reden führten; er hatte einen schlichten Beruf, seine Arbeit machte ihn bedenklich, geduldig und vernünftig, und sein Gebrechen behütete ihn vor leichtsinnigen Träumen. Er bereitete die Abreise vor. Er sagte Angelina, sie müßte ihn begleiten. Sie ließ ihren Sohn zurück. Aber war es noch ihr Sohn? Wurde er nicht fremder, jedesmal, wenn sie ihn besuchten? Ach, es war wohl so! Der Kleine war Soldat, er hatte schon das Feuer der Schlacht ertragen, er hatte nur eine Mutter, das war die Armee. Der König von Frankreich lebte mit aller Welt in Frieden, in der Armee war Platz genug für einen kleinen Pascal Pietri und auch Aussicht genug für eine friedliche Zukunft des Jungen.

So sprach Wokurka zu Angelina. Sie war dreißig Jahre alt, und ihr war, als wäre sie sehr schnell gealtert, jedes ihrer Jahre hatte so viel Verwirrung und Pein enthalten. Betäubt und müde war sie. Und sobald Wokurka von seiner Heimat erzählte, begann auch sie zu glauben, daß jenes sonderbare Land den Frieden beherberge. Ferne war es allen Übeln und Verwirrungen. Sanft war es wie der Schnee, der es bedeckte, in einem sanften Unglück lebte es, in unendlicher, weißer Trauer um den verlorenen Kaiser. Sie sah das Land als eine sanfte, um den Kaiser trauernde, weiß verschleierte Witwe. Allmählich erwachte auch in ihr eine gute, gelinde Sehnsucht nach diesem Lande. Allmählich auch verlöschte ihre mütterliche Zärtlichkeit für ihren Knaben. Allmählich glitt sie ganz in die Welt des Schusters Wokurka hinüber. Wokurka feierte Weihnachten in seiner Weise, nach seiner heimischen Sitte. Er brachte einen gewaltigen Tannenbaum herbei, der die ganze enge Stube ausfüllte. Er schaffte alle Werkzeuge fort, den Schemel, auf dem er im Flur zu hocken pflegte, und sogar die Kugel, die ihn an seine harten Wochentage erinnerte. Er schenkte einen seidenen Schal, Ohrgehänge aus böhmischem Glas und Pantoffeln, die er selbst hergestellt hatte, Pantoffeln aus weißem Leder. Es wurde auch Angelina sehr leicht ums Herz. Wokurka umarmte sie feierlich, herzlich und dankbar. Sein Gesicht roch nach Seife, Pfeife und Schnaps. Er schwankte ein wenig, merkwürdigerweise schien er lediglich an seinem Holzbein noch einen Halt zu finden. Er hatte ein rotes, strahlendes Angesicht und festliche Augen. Sie setzten sich an den Tisch, hart bedrängt von den Zweigen und Kerzen des Tannenbaums. »Hast du deinen Sohn gefunden?« fragte Wokurka. »Nein!« sagte Angelina. »Er war schon fort.« »Schade, schade!« sagte er. »Es wäre hübsch gewesen, wenn wir ihn hier gehabt hätten!« Aber er sagte das nur, um Angelina gefällig zu sein. Er dachte an seine Heimat und ihre gemeinsame Abreise.

Er begann selbst, die Speisen aufzutragen, die er bereitet hatte. Es waren die Speisen seiner Heimat und seiner Jugend. Sie hatten den Duft seines heimatlichen Dorfes, sie rochen wahrhaftig nach Gora Lysa: die Suppe aus roten Rüben und Sahne; der Speck mit Erbsen; und der weiße Käse. Auch Schnaps hatte er beschafft. Man trank keinen Wein in Gora Lysa. Er sang mit einer unsicheren und heiseren Stimme seine heimatlichen Weihnachtslieder. Die Tränen traten in seine festlichen, blanken Augen. Er mußte abbrechen und wieder ansetzen.

»Dies ist das letzte Weihnachtsfest, das ich in Paris erlebe«, sagte er, nachdem er geendet hatte. »Von heute übers Jahr sind wir zu Hause!« Und er klopfte an die lederne Kapsel seiner Krücke.

Wie sie ihn so sprechen hörte, fühlte Angelina einen jähen Schmerz, obwohl sie sich längst schon auf die Reise vorbereitet hatte. Niemals hatte sie gewagt, an eine bestimmte Woche, an einen bestimmten Tag, an eine bestimmte Stunde dieser Abreise zu denken. Es war einfach, gut und schön, mit Wokurka in seine Heimat zu fahren, aber einmal, man konnte nicht wissen, wann, zu einer Zeit, die irgendein unbekannter Zufall bestimmen würde. Da sie nun hörte, daß nicht jener Zufall, sondern Wokurka selbst den Zeitpunkt bestimmte, erfüllte sie Angst vor allem, was sie in dem weiten, fremden Lande erwartete, und Schmerz um alles, was sie hier zurückließ. Sie begann heftig zu weinen, sie mußte das Glas hinstellen, das sie eben an die Lippen hatte führen wollen, um mit dem Mann, wie er ausgerufen hatte, auf eine »glückliche Fahrt ohne Wiederkehr« zu trinken. »Ohne Wiederkehr!« Dieser Ausdruck erweckte in ihr eine Kette schneller, fürchterlicher Vorstellungen: Nie mehr sollte sie ihren Sohn sehn, die Stadt und diese Straße, in der sie ihn geboren hatte, das Schloß, in dem sie jung und töricht, glücklich und unselig, heiter und heillos verworren gewesen war. Sie hatte keinen deutlichen Begriff von den wirklichen Entfernungen, die Frankreich von Wokurkas Heimat trennten; also schien ihr diese Heimat in einer wüsten, kaum erreichbaren Weite zu liegen. Sie legte die Arme auf den Tisch, den Kopf auf die Arme und schluchzte heftig und bitterlich. Der Dunst der erlöschenden Kerzen an den Zweigen des Baumes, der Schnaps, den sie getrunken hatte, die Erinnerung an den vergeblichen Gang in die Kaserne zu ihrem Sohn, eine plötzliche, besorgte Zärtlichkeit für den Kleinen, die Reue darüber, daß sie sich diesem Mann ohne Bedenken versprochen hatte, und auch noch darüber, daß sie ihn jetzt mit ihrem Schmerz betrübte und mit ihrer Angst enttäuschte: all das verwirrte sie, fiel über sie nieder, verschüttete sie gleichsam. Wokurka streichelte ihr sprödes, rötliches Haar. Er ahnte alles, was sich in ihr zutrug. Er fühlte auch, daß ihre Verzweiflung sie taub machte für alle Tröstungen und Versprechungen. Es blieb ihm nichts anderes übrig als die stumme Zwiesprach zwischen seiner zärtlichen Hand und ihren roten Haaren. Nach einer Weile hob sie ihm ihr nasses, bleiches Angesicht entgegen. »Ich verstehe, Angelina!« sagte er. »Es geht vorbei, glaub mir, es geht vorbei! Alles geht vorbei!« Sie begann zu lächeln, ein folgsames Lächeln, das ihr Angesicht noch trauriger machte. Es war ein dankbares und zugleich ein vorwurfsvolles Lächeln, ein ergebenes, der schmerzliche und ehrwürdige Glanz, der auf den Gesichtern der Schwachen liegt, die sich aufgeben.

XI

Schon hatte sie alles aufgegeben. Schon begann sie, mit der gewissenhaften Entschlossenheit, die den endgültig Ergebenen ebenso wie den Starken eigen ist, ihre Vorbereitungen zu treffen. Es war beschlossen worden, daß sie im Januar heiraten und einen Monat später wegfahren sollten. Es waren also noch lange Wochen bis zu dieser Abreise. Angelina aber schien es, das gewaltige Vorhaben Wokurkas lösche die Gesetze der Zeit aus. Weil sie fürchtete, ihre Entschlossenheit wieder zu verlieren, glaubte sie, es sei kein Tag länger zu verlieren.

Sie dachte nach, was sie ihrem Sohn hinterlassen hätte – denn sie war sicher, daß sie ihn niemals mehr wiedersehen würde. Das Kreuz, das sie aus der Heimat mitgebracht, das Tuch, das sie aus törichter Liebe zum Kaiser gestohlen hatte: Beides konnte sie ihrem kleinen Pascal schenken. Sie stellte sich genau vor, was sie ihm sagen wollte. Es seien geringe, aber für sie, seine Mutter, wichtige Sachen und sie gebe sie ihm, damit er immer an sie denke. An sie, aber auch an den Kaiser.

Also packte sie das Tuch aus dem Koffer, hakte das Kreuz ab, das sie über dem Bett Wokurkas aufgehängt hatte, und ging in die Kaserne.

Wokurka begleitete sie. Er hatte ein Paar Stiefel für den Sohn Angelinas verfertigt, feste, gute Stiefel, wie sie sich für einen Tambour geziemten.

Sie fanden den Kleinen, sie gingen mit ihm in die Kantine. Er ließ sich von seiner Mutter umarmen, von Wokurka die Hand drücken, nahm die Geschenke entgegen, zeigte Freude über das Tuch und die Stiefel, und was das Kreuz betraf, sagte er: »Ich brauche das nicht. In unserm Regiment braucht man das nicht!« Er gab es seiner Mutter zurück und sagte: »Du brauchst es, glaube ich!« Und er hatte in diesem Augenblick die grollende Stimme seines Vaters, des Wachtmeisters Sosthène. Die Kantine war voll von lärmenden Soldaten. Hinter dem Büfett an der Wand, über der Etagere mit den vielfarbigen Flaschen, hing, von einem durchsichtigen Schleier überdeckt, der Adler des Kaisers, allzugroß und deutlich über ihm das Porträt des heimgekehrten Königs. Sein gutmütiges und gleichgültiges Angesicht, seine hängenden, fetten Wangen, seine halbgeschlossenen Augenlider erschienen ferner noch und undeutlicher als der verschleierte Adler aus blankem Messing. Es war, als verschleierte sich das Porträt des Königs von selbst; und als sei der Schleier über dem kaiserlichen Adler nur ein vorüberziehender Nebel.

Ringsum an allen Tischen sprachen die Soldaten, die nüchternen und die angeheiterten, vom Kaiser; die trunkenen aber riefen sogar von Zeit zu Zeit: »Es lebe der Kaiser!« Der kleine Pascal breitete das Tuch vor sich aus und sagte mit einer erkünstelten tiefen Stimme: »Alle sagen, daß er wiederkommt, der Kaiser! Wir pfeifen auf die Bourbonen!« Und er wies mit seinem kleinen Finger auf das Porträt des heimgekehrten Königs an der Wand.

»Er wird nicht wiederkommen«, sagte der Schuster Wokurka. »Und ich wollte dir sagen, daß du, wenn du willst, mit uns gehen kannst, mit deiner Mutter und mit mir in meine Heimat.«

»Wozu?« fragte der Kleine. »Der Kaiser kommt bald zurück. Alle sagen es!«

Angelina schwieg. Sie hörte die Soldaten ringsum vom Kaiser reden. Der Kaiser war nicht tot und vergessen, lebendig war er in den Herzen der Soldaten, jeden Tag erwarteten sie ihn. Nur sie erwartete ihn nicht mehr, sie allein durfte ihn nicht mehr erwarten.

Und sie merkte, daß ihr der Mann fremd war und der Sohn auch, sobald sie an den Kaiser dachte. Ja, daß ihr der Sohn lediglich deshalb vertraut erschien, weil er vom Kaiser mit Liebe gesprochen hatte. Und aus Angst, sie könnte ihre Verworrenheit verraten und ihren Entschluß aufgeben müssen, Wokurka zu folgen, sagte sie: »Gehn wir!«, stand auf, küßte ihren Sohn auf die Wangen, die Stirn und die roten Haare und wandte sich zum Gehen, noch ehe Wokurka Zeit gefunden hatte, sich zu erheben.

Unterwegs sprach er zu ihr, ein wenig furchtsam, unsicher und gelinde. Er sagte ihr, daß die Soldaten sich täuschten, die Welt der großen Politik nicht kannten und infolgedessen glaubten, der Kaiser müsse heimkehren. Aber wolle sie selbst annehmen, die Soldaten hätten recht und der Kaiser käme zurück, so dürfte all dies sie beide, Angelina und den Schuster Wokurka, nicht hindern, ein neues Leben, im fernen Lande, weitab von den Verwirrungen, die von den Großen in dieser Welt angerichtet werden, nur damit die Kleinen leiden, zu beginnen.

»Ja, ja«, sagte sie, aber sie glaubte nicht mehr daran.

Zu Hause sah sie die Einwohner, kleine Handwerker, Kutscher und Lakaien, vor dem Tor stehen. Es war etwas Ungewöhnliches geschehen: Die Hebamme Pocci war zurückgekommen und mit ihr Veronika Casimir. Doch hatten beide jedwede Auskunft verweigert, sich nur nach Angelina erkundigt und ganz allgemein und sehr feierlich verkündet, sie seien zurückgekommen, weil »eine ganz neue Zeit anbreche«.

Sie hatte sich nicht geändert, die Veronika Casimir, ebensowenig wie die Hebamme Pocci. Wo sich die beiden Frauen so lange aufgehalten hatten, wagte man nicht zu fragen. Man sah nur, daß sie beide auf den ersten Blick wiederzuerkennen und durchaus nicht verändert heimgekehrt waren: die Hebamme Pocci mit ihrer unversehrten, knochigen, bedrohlichen und dennoch Zutraulichkeit ausströmenden Hagerkeit; Fräulein Casimir in ihrer ganzen, unversehrt gebliebenen, rundlichen und dennoch behenden Fülle.

»Das werden Sie nicht tun«, sagte sie zum Schuster Wokurka. »Sie verlieren jedes Anrecht auf die Pension, wenn Sie gehen und der Kaiser zurückkommt. Und so wahr ich Veronika Casimir heiße, so wahr ich, was alle Welt noch weiß, dem Kaiser Schlachten, Siege, Niederlagen prophezeit habe: Jetzt sehe ich es, er kommt bald zurück, und es ist nichts daran zu ändern.«

Sie sprach all dies nicht so leichtfertig daher, die Veronika Casimir. Sie bewies es auch. Sie bewies es, in Anwesenheit aller Einwohner des Hauses, herbeigerufener oder herbeigeeilter Nachbarn aus dem Viertel und vieler Fremder, die sich in der Stube des Schusters andächtig, gläubig und hoffnungsfroh versammelten, auch den Flur noch füllten und manchmal auf der Straße warten mußten. Sie bewies es durch die unwiderleglichen Karten. Sie wiederholte jeden Abend: »Der Kaiser bereitet seine Abreise vor. Elfhundert Mann begleiten ihn. Sie haben viele Gefahren erwartet, aber alle diese Gefahren zerstieben und zerstäuben vor dem Kaiser. Alle Tore öffnen sich ihm. Das Volk jubelt ihm zu. Er siegt, er siegt! Er kommt, er kommt!«

»Und dann?« fragte manchmal der Schuster Wokurka, »und was wird dann sein?«

»Das sehe ich nicht«, antwortete Veronika Casimir. Und sie packte ihre Karten zusammen und rollte hurtig hinaus, durch das Spalier der ehrfürchtigen Zuhörer.

XII

Eines Abends (der Frühling hatte sich schon längst angekündigt, war aber schnell wieder von einem unbarmherzigen, neugeborenen Winter unterdrückt worden) vernahm Angelina das Holzbein des heimkehrenden Wokurka heftiger und hurtiger und lauter auf dem Pflaster vor dem Hause als an allen anderen Tagen.

Er trat ein, er war außer Atem. Es hagelte draußen, er hatte nasse, kleine Körnchen auf den Schultern, und von seinem einen Stiefel rann das Wasser auf den Fußboden und bildete eine große, schwarze Lache. Er legte die Mütze nicht ab. Er blieb an der Tür stehn und sagte: »Angelina, es ist soweit! Morgen kommt er! Der König flieht!«

Sie stand auf. Sie hatte auf dem Schemel gesessen, Kartoffeln schälend, die Früchte fielen zu Boden, mit lautem Gepolter. »Er kommt?« fragte sie. »Morgen? – Und der König flieht?«

»Er kommt!« wiederholte Wokurka. Und obwohl er in diesem Augenblick wußte, daß er Angelina verloren hatte, sagte er zum drittenmal, den Glanz des Glücks im Angesicht und den Klang des Glücks in der Kehle: »Er kommt! Es ist gewiß!«

An diesem Abend kam Veronika Casimir nicht mehr. Die Bewohner des Hauses, die Nachbarn, die Fremden kamen und fragten nach ihr. Sie kam nicht. Auch die Tür der Hebamme Pocci blieb verschlossen.

»Ist es wirklich wahr, daß er kommt?« fragte Angelina.

»Morgen kommt er, ganz bestimmt morgen!« sagte Wokurka.

Sie aßen schweigsam. Sie waren beide selig und unselig zugleich, befreit und zugleich gequält, glücklich und zugleich unglücklich. Und sie hätten nicht sagen können, weshalb sie selig und unselig, befreit und gequält, glücklich und unglücklich waren.

Sie legten sich schlafen. Aber sie schliefen nicht ein. Jedes von beiden blieb wach und hoffte und glaubte, das andere schliefe.

Als sie den Morgen grauen fühlte, erhob sich Angelina leise. Sie glaubte, sie weckte Wokurka nicht. Er aber hatte gar nicht geschlafen. Er sah wohl, daß sie sich erhob. Er sah, daß sie sich hastig wusch und anzog. Sie kam noch einmal ans Bett und küßte ihn. Er fühlte, daß es der letzte Kuß war, aber er bewegte sich nicht. Zwischen halbgeschlossenen Lidern sah er, wie sie dahinging, und er wußte, daß sie nicht mehr wiederkommen wollte.

Er rührte sich nicht. Er war tot. Er hatte einst sein Bein verloren für den Kaiser; nun verlor er eine Frau für den Kaiser.

Sechs Wochen später erfuhr er von der Hebamme Pocci, Angelina sei wieder im Schloß des Kaisers. Er machte sich sofort auf den Weg zu ihr. Er traf sie, sie kam ihm entgegen, er erwartete sie vor dem Gitter. »Guten Tag«, sagte sie, »es ist gut, daß du mich wiedersehen willst!« Sie trug die Livree des kaiserlichen Gesindes, das dunkelblaue Kleid, die weiße Schürze und die blaue Haube. Sie erschien ihm schön und fremd. Er sagte: »Ich bin gekommen, Angelina, um dich noch einmal zu fragen, ob du mit mir gehen willst!«

»Nein!« sagte sie, als hätte sie ihm niemals »Ja, ich will« gesagt.

Sie sagte es genauso heiter, wie sie damals »Ja, ich will« gesagt hatte. Er erkannte sie wohl, es war Angelina. Sie war niemals seine Frau gewesen: Sie hatte immer dem Kaiser gehört: immer dem Kaiser.

Es begann, sachte zu regnen, dann immer stärker. Es war ein warmer, guter, beinahe schon sommerlicher Regen. Er sah, wie die Kleider Angelinas naß wurden, er hörte den Regen immer stärker rauschen, er sah, wie sie ratlos dastand, er wußte, daß sie einander nichts mehr sagen konnten. »Adieu, Angelina!« sagte er nur. »Wenn du mich wieder brauchst – ich fahre nicht heim, ich warte, bis du mich wieder brauchst.«

Sie gaben sich die Hände. Beider Hände waren naß vom Regen, es war gar keine Wärme mehr in diesen Händen. Es war, als tauschten sie Regen aus. Angelina sah ihn mühsam und vorsichtig davonhumpeln und im Regen verschwinden.

XIII

Große Aufregung herrschte im ganzen Lande, eine noch größere aber, wenn auch eine ganz andere, herrschte im Schloß, unter den Damen und Herren des Kaisers und auch unter dem Gesinde. Alle großen Ereignisse, die sich damals in der Welt zutrugen, und die noch gewaltigeren, die sich schon vorbereiteten, hatte der Kaiser Napoleon selbst verursacht und hervorgerufen. Er war groß und plötzlich, aber die Welt wollte klein und bedächtig bleiben, wie sie war. Die Diener des Kaisers wußten nichts von den Schrecken, die er in der Welt verbreitete. Sie kannten lediglich die Schrecken, die er im Hause zu bereiten pflegte. Gewiß waren die Diener geringer in der Nähe des großen Kaisers als die Könige, seine Feinde. Aber die Diener lebten rings um ihn, vernahmen jeden Tag seine Stimme, empfingen seinen gnädigen oder strafenden Blick, eine zärtliche Auszeichnung und einen grimmigen Fluch. Also nannten sie seinen zufälligen Blick, seine gute Laune und sein böses Wort die wichtigen Ereignisse – im Gegensatz zur Welt. Die Welt nämlich rüstete schon zum Krieg, aus Furcht vor dem Großen und Plötzlichen. Das Hofgesinde aber rüstete zur Übersiedlung des Kaisers aus den Tuilerien ins Elysée. Bedeutender erschien den Männern und Frauen des Hofgesindes die Übersiedlung, die der Kaiser beschlossen hatte, als der Krieg, den ihm die Länder der Welt schon zu bereiten anfingen. Ja, hätte die längst in alten Rang und alte Würde wieder eingesetzte Veronika Casimir den nahenden Krieg nicht aus den Karten prophezeit, die Männer und Frauen vom Gesinde des Kaisers hätten sich keinerlei Gedanken über die Welt, die Gefahr, über Tod und Leben gemacht. Aber den Weissagungen der Veronika Casimir zum Trotz und obwohl das Unheil schon seine düsteren Fittiche über dem Hause des Kaisers ausbreitete, fühlten seine Diener es nicht kommen, und sie fuhren fort, das Unheil nur dann nahe zu fühlen, sobald der Kaiser grollte, und fern, sobald er eine angenehme Laune verriet. Mit redlichem Eifer begannen sie, die Übersiedlung vorzubereiten. Und allerlei unzutreffende Gründe wußten sie für den Entschluß des Kaisers zu übersiedeln anzugeben. Einen Abend, bevor sie das andere Schloß beziehen sollten – zwölf Stunden vor der Abreise des Kaisers –, versammelten sie sich zu einem gründlichen Rapport im Saal vor Veronika Casimir. Zwölf Wagen warteten schon unten auf Gepäck und Gesinde. Zum letztenmal – und sie ahnten nicht, daß es zum letztenmal geschehe – aßen sie in diesem großen Saal. Sie sprachen von nichts anderem als von dieser Übersiedlung. Einer wollte bestimmt wissen, der Kaiser übersiedele, weil seine Frau übermorgen aus Wien komme und sich in den Tuilerien nicht sicher genug fühle; hierauf äußerte ein anderer, dies sei nicht richtig, sondern der Kaiser habe ohne Zweifel nur die Absicht, so zu tun, als ob er übersiedelte, und zwar, um die Spitzel des tückischen Ministers der Polizei, den er hasse, irrezuführen; ein dritter behauptete, er wisse es ganz genau, und zwar vom Kammerdiener des Kaisers selbst, daß Napoleon weder in diesem noch in jenem Schloß zu leben gedenke, sondern nach Malmaison gehen wolle, ein für allemal, um fortan nur noch in der Erinnerung an seine erste Frau zu leben. Man widersprach dem ersten, dem zweiten und dem dritten. Veronika Casimir, an der Spitze der langen Tafel, gebot Schweigen; man möchte derlei Unsinn nicht reden; man wisse nicht, wer sicher sei, wer unsicher, überall habe Fouché seine Spitzel.

So war es auch. Es war längst nicht mehr wie an jenem ersten Tage des Frühlings, an dem der Kaiser wieder sein Land, sein Schloß, seine Diener zu beherrschen begonnen hatte. Kaum eine Woche später waren neue, unbekannte Menschen aufgetaucht, Diener, Handwerker, Wäscher und Barbiere, jeder mit dem treuherzigen Gesicht und dem falschen Blick, den beiden wichtigsten Eigenschaften der Spione, ausgestattet. Es gab Zwietracht, Mißtrauen, Lüge und Doppelzüngigkeit. Längst Vertraute trauten einander nicht mehr, alte Freunde belauerten einander. So war es im Schloß, und so war es im Lande.

Unter den Dienern des Kaisers gab es damals wenige Aufrichtige und Furchtlose; und zu ihnen gehörte Angelina. Sie schwieg; was auch hätte sie zu sagen gehabt? Einsamer noch als früher lebte sie und selbst von ihrer Tante getrennt durch die Erinnerung an die Monate, während derer Veronika unsichtbar, unerreichbar geblieben war. Hart und stumm war Angelina. Ihr Sohn gehörte ihr nicht mehr, den Schuster Wokurka hatte sie verlassen, den großen Kaiser allein liebte sie, verloren hatte sie sich selbst, Sünden lasteten auf ihr, in der Verwirrung hatte sie gelebt, schwach und nachgiebig, töricht und leicht ergeben. Verloren und vertan war sie. Dem großen Kaiser gehörte sie. Er wußte gar nichts von ihr. Winzig war sie und gering, geringer als eine der geringen Fliegen, die durch die Zimmer des Kaisers summten, unbemerkt und gar lästig. Unbemerkt und gar lästig: Wie sie auch sein mochte, sie liebte ihn. Heiß, zart und jung war ihr Herz. Manchmal, wenn sie eines seiner vielen Porträts inbrünstig betrachtete, fühlte sie sich selbst einer der winzigen Fliegen ähnlich, die oft bedachtsam, ja inbrünstig, wie sie selbst, und gering und abscheulich an einem der Bilder des Kaisers entlangkrochen.

Ihr aber gebot das Herz, in seiner gnadenreichen Nähe zu bleiben, gering und mißachtet, wie sie war: In dem goldenen Schatten zu leben, den er allein, unter allen Menschen der Welt, seinen Dienern spenden konnte, war Seligkeit. Von ihm nicht einmal bemerkt zu werden, jede seiner Bewegungen aber, die man erspähen konnte, zu verfolgen, mit Liebe, Andacht und Inbrunst, war Glück. In seiner Nähe war man gering und stolz. Sein Schatten war golden und strahlender als das Licht der anderen. Ihm diente man, und er wußte es nicht. Ihm untertan sein war Stolz.

Ja, man sprach allerorten vom Krieg, und man fürchtete ihn. Krieg brachte der Kaiser! Er schien zu groß, um Frieden zu halten. Er kam nicht daher wie ein Mensch, er brauste ins Land wie ein Wind. Schon begann man, ihn zu hassen. Blanke Schwerter schienen ihm auf all seinen Wegen voranzuschweben, über seinem Haupt kreiste der kriegerische Adler. Wenn er Feste feierte, dröhnten seine Kanonen durch Städte und Dörfer. Angelina liebte seine Schwerter, seinen Adler, die dröhnenden Donner seiner Feste. Ja, da sie ihn liebte, liebte sie auch den Krieg. Seine Feinde waren auch ihre Feinde. Seine Größe sollte noch gewaltiger werden, ihre Kleinheit noch geringfügiger. Sie allein sehnte sich nach dem Krieg, vor dem sich alle anderen fürchteten. Längst hatte sie ihren Sohn preisgegeben. Als sie von ihm Abschied nahm, im großen, mitleidlos besonnten Hof der Kaserne zwischen vielen fremden Frauen und Soldaten, war ihr Herz eingeschlossen in Eisen und Stein. Ihre Augen waren trocken und hart, und sie blickte gleichsam durch eine blanke, durchsichtige Schicht aus gefrorenen Tränen auf ihren armen, kleinen Sohn. Sie weinte nur an jenem Abend, an dem sie den Kaiser wegfahren sah, nachdem der Lakai die Fackel ausgetreten hatte. Ein plötzlicher Schrecken stieg in ihr auf, beklemmte ihr Herz, würgte in der Kehle. Sie fiel auf die Knie und begann zu beten.

Ein paar Tage später, als die Glocken den ersten Sieg des Kaisers verkündeten, betrat sie nach langen Jahren zum erstenmal wieder eine Kirche. Es war die kleine Kirche des heiligen Julian, in der man ihren Sohn getauft hatte. Sie war allein. Niemand betete für den Kaiser und seine Soldaten, nur hoch oben, auf dem Gestühl, die befohlenen Glocken. Es war später Abend. Im goldenen Schimmer der gütigen Wachskerzen, vor dem rubinroten Ewigen Licht, umbraust von den Glocken, deren starker, goldener Gesang die schwarzen Bänke und den kleinen, hellen, heiteren Altar erzittern ließen, umgeben von der atmenden Einsamkeit des Raumes und umweht von seiner lebendigen und frommen Leere, begann Angelina, die längst nicht mehr gesagten Worte des Vaterunser zu beten und »Gelobt seist Du, Gebenedeite«. Sie betete, sündhaft und gefangen in ihrer großen Liebe, für den Tod all der Feinde des Kaisers. Sie sah, mit einer sündigen Wollust, vieltausend zerfetzte Leiber; die Leiber der Engländer, Preußen, Russen; bunte Uniformen durchlöchert, aus denen Blut sickerte; zerspaltene Schädel; hervorquellendes Hirn und verglaste Augen. Über all dieses Grausen galoppierte der Kaiser dahin, mit blankem Degen, auf schneeweißem Pferd, und ihm nach jagten die völlig unversehrten Franzosen, über unübersehbare Felder. Diese Bilder machten Angelina glücklich, und sie betete immer inbrünstiger. In einem besonderen Gebet wünschte sie den schrecklichsten aller Tode auf die Kaiserin Maria Louise herab, und sie sah wahrhaftig, wie die Kaiserin starb, umgeben von allen vorzeitig erschienenen Schreckgestalten der Hölle, gemartert von den Gespenstern, die ihr böses Gewissen gebar, verflucht von dem Sohn Napoleons, der zornig und rachsüchtig am Bett der Sterbenden stand.

Angelina bekreuzigte sich und dankte dem Herrn aus vollem Herzen für alles Übel, das er den Feinden des Kaisers antat, und trat hinaus. Immer noch dröhnten die Glocken, die den Sieg verkündeten. In den Straßen begegnete sie lauter hellen und glücklichen Gesichtern. Leichte, weiße Flaumwölkchen zogen unter dem dunkelnden Himmel dahin wie muntere, triumphierende Fähnchen. Silbern erschimmerten die ersten Sterne, die Sterne des Kaisers; alle Sterne des Himmels waren heute seine Sterne. Die Zeitungen, die frisch und feucht an den Wänden klebten, verkündeten Sieg, den Sieg des Kaisers über die ganze Welt.

Angelina lief ins Schloß. Es war ein weiter Weg von der Kirche des heiligen Julian bis zum Elysée, und sie legte ihn rasch und freudig zurück; es schien ihr, daß ihr der Weg selbst entgegenkomme. Der stürmische Jubel der Gruppen, die sich vor den Zeitungen an den Wänden versammelten und die den Sieg des Kaisers begrüßten, beflügelte ihren Schritt. Sie ging dahin, vom Jubel getragen und selig in dem Glauben, ihr Gebet habe dem Kaiser geholfen.

Ach! Sie wußte nicht, daß der große Kaiser um die gleiche Stunde unselig und ratlos, gezüchtigt und dennoch erhaben unter den toten Resten seiner letzten Armee umherirrte. Es war die Stunde, in der Paris über den Sieg jubelte. Auf dem Schlachtfeld von Waterloo aber jammerten die Sterbenden, es heulten die Verwundeten, und es flohen die Geschlagenen.


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