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Drittes Buch
Der Untergang

I

In dieser Stunde erkannte der Kaiser, daß er die Schlacht von Waterloo verloren hatte. Hinter einer bösen violetten Wolkenwand verbarg sich die Sonne, kurz bevor sie untergehen wollte. Eiliger als sonst hatte sie es an diesem Abend unterzugehen. Aber ohnedies achtete kein Mensch auf die Sonne. Alle Männer, die sich auf dem Schlachtfeld befanden, die Freunde wie auch die Feinde, achteten lediglich auf die Garde des Kaisers. Stetig und festlich und in einem erhabenen Rhythmus schritten die Gardisten des Kaisers vorwärts, durch den Boden, den der Regen aufgeweicht hatte und der sich bei jedem Schritt an ihre Stiefel heftete, zäh und glucksend. Von der Anhöhe aus, gegen die des Kaisers Gardisten also anrückten, schossen die Feinde ohne Unterlaß. Und es fielen die Grenadiere des Kaisers, die Schrecken der Feinde, die Auserwählten des Volkes von Frankreich, die Brüder des Kaisers und seine Söhne.

Sie glichen einander wie Brüder.

Wer sie so vorrücken sah, glaubte, zwanzigtausend Brüder sehe er vorwärtsmarschieren, zwanzigtausend von einem einzigen Vater gezeugte Brüder. Sie waren einander ähnlich wie zwanzigtausend Schwerter, in der gleichen Werkstatt gezeugt. Groß geworden waren sie alle auf den gleichen Schlachtfeldern, im goldenen, im blutigen und auch im tödlichen Schatten des Kaisers. Der mächtigste ihrer Brüder aber, einer, der jeden einzelnen dieser zwanzigtausend zu Fuß und berittenen viertausend hundertmal berührt oder geküßt oder angehaucht hatte, war nicht der Kaiser, sondern ein weit stärkerer Kaiser noch als der Kaiser Napoleon: nämlich der Kaiser Tod. Nicht seine hohlen Augen fürchteten sie. Dem Druck seiner stets empfangsbereiten knöchernen Arme gingen sie mit dem festen Vertrauen entgegen, mit dem Brüder zum Bruder kommen. Sie liebten den Tod genauso, wie er sie liebte. Die Liebe zum Tode machte sie alle einander ähnlich. Und da sie einander so ähnlich waren, war es, sobald einer fiel, als stünde er sofort wieder auf, während in Wahrheit nur ein gleicher Bruder an seine Stelle getreten war. Es schien also, als sähe man immer zuerst nur die gleichen Männer vorrücken. Die feindlichen Soldaten schossen nur um des seligen Entsetzens willen, das in ihnen immer wieder erwachte, nach jedem Schuß, sobald sich der Rauch verzogen hatte und sie den unverwandelten Schritt der gleichen Männer erblickten. Bald aber bemerkte man, daß ihr Karree immer enger wurde. Und nun erfaßte die Feinde einen Augenblick lang ein noch stärkeres Entsetzen: Denn also vollbrachten die Grenadiere des Kaisers ein größeres Wunder als jenes billige aus den Märchen, das darin besteht, gegen den Tod gefeit zu sein. Nicht gefeit waren die Grenadiere des Kaisers gegen den Tod, sondern geweiht selbst waren sie dem Tode. Und seitdem sie erkannt hatten, daß sie ohnmächtig waren gegen den überzähligen Feind, gingen sie auch gar nicht mehr dem Feinde entgegen, sondern ihrem vertrauten Bruder, dem Tod. Um aber ihrem anderen, ihrem irdischen, großen Bruder zu beweisen, daß sie ihn in der letzten Stunde noch liebten, riefen sie mit dröhnenden Stimmen, aus gewaltigen Kehlen, die mehr Kraft hatten als die Schlünde der Kanonen, weil die Treue selbst aus diesen ihren Kehlen schrie: »Es lebe der Kaiser!« – Und so gewaltig war dieser Ruf, daß er den läppischen und sinnlosen Groll der Kanonen übertönte. Am lautesten aber riefen jene, die soeben getroffen worden waren. Aus ihnen schrie nicht nur die Treue, sondern auch der Tod: »Es lebe der Kaiser!«

Der Tod selbst war es also, der die Kanonen übertönte.

Als der Kaiser diese Rufe hörte und da er sah, daß alle seine zwanzigtausend Brüder zu Fuß und seine viertausend Brüder zu Pferde – und selbst diese Pferde noch waren ihm in diesem Augenblick Geschwister – verloren waren, ergriff auch ihn ein unwiderstehliches Heimweh nach dem Tode, und er mengte sich unter seine Brüder, war jetzt an ihrer Spitze, gleich darauf an der und jener ihrer Flanken, hierauf in ihrem Rücken, dann wiederum an ihrer Spitze und schließlich wieder in ihrer Mitte. Sein Kreuz schmerzte ihn, fahlgelb war sein Angesicht, sein Atem keuchte, und wie er so vernahm, daß seine Gardisten riefen: »Es lebe der Kaiser!«, zog er den Degen, streckte ihn dem Himmel entgegen, einen stählernen, beschwörenden, gleichsam sechsten Finger, und schrie durch den Tumult aus heiserer Kehle: »Es sterbe der Kaiser! Es sterbe der Kaiser!« Aber der Tod achtete weder auf seinen beschwörenden Degen noch auf seinen Ruf. Zum erstenmal in seinem stolzen Leben begann der Kaiser zu beten, atemlos, mit weit geöffnetem Mund, immer hin und her galoppierend, aus tonloser Kehle. Er betete nicht zu Gott, den er nicht kannte, sondern zum Tode, seinem Bruder: denn von allen überirdischen Mächten hatte er nur diesen gesehn und oftmals gefühlt: »O Tod, süßer guter Tod!« – so betete er atemlos und tonlos, »ich erwarte dich, komm! Mein Tag ist erfüllt wie der Tag meiner Brüder. Komm bald, solange noch die Sonne am Himmel steht! Auch ich war einst eine Sonne. Ich will nicht, daß sie vor mir untergehe! Vergib mir diese törichte Eitelkeit! Ich hatte ihrer viele; auch hatte ich Weisheit und Tugenden; alles hab' ich genossen: die Macht und die Übermacht, die Tugend, die Güte, die Sünde, den Übermut und den Irrtum! Ich habe gelebt, Bruder Tod! Ich habe alles genug gelebt! Komm und hol mich, bevor unsere Schwester, die Sonne, untergeht!«

Der Tod aber holte den Kaiser nicht. Der Kaiser sah die Sonne untergehn. Er hörte seine verwundeten Soldaten röcheln. Die Feinde gewährten ihm eine kurze Rast, Zeit genug, damit er ratlos, krank und mit dem treulosen Tode hadernd, zwischen den Toten und Verwundeten umherwandle. Ein Soldat führte sein Pferd am Zaum, sein Adjutant hinkte hinter ihm einher. Noch begriff er nicht, daß alles untergegangen und verloren war und daß er allein noch lebte. Vorgestern noch hatte ihn einer seiner Generäle verraten. Töricht war ein anderer gewesen, leichtsinnig ein dritter. Der Kaiser aber haderte nur mit dem größten aller Generäle und mit dem größten seiner Brüder: mit dem Tode. Zugleich rief er mit einer fremden Stimme, die er einmal – lang war es her! – besessen haben mochte und die ihm heute nicht mehr zu gehören schien, den Soldaten zu, die rings um ihn und an ihm vorbei flüchteten wie zerstiebende Gespenster: »Aufhalten! Aufhalten! Bleiben! Bleiben!« Sie hörten ihn nicht. Sie gingen weiter und zerstoben in der Nacht. Vielleicht hatten sie ihn gar nicht gehört. Vielleicht hatte er nur gedacht, er riefe etwas – und er hatte in Wirklichkeit gar nichts gerufen.

Ein Soldat begleitete ihn mit einem Windlicht, der Kaiser winkte es immer wieder herbei. Denn immer wieder schien es ihm, er müsse just diesen Toten oder jenen Verwundeten zu seinen Füßen erkennen. Ach, er kannte sie ja alle besser als ihn selber die lebenden und fliehenden Soldaten in dieser Stunde! Noch einmal winkte er den Mann mit dem Windlicht herbei. Er beugte sich über einen winzigen, merkwürdig winzigen, toten Soldaten. Es war einer der kleinen Tamboure der kaiserlichen Armee. Das Blut sickerte noch sachte aus seinen kindlichen Mundwinkeln und verkrustete sich zusehends. Der Kaiser bückte sich und kniete nieder. Der Soldat senkte das Windlicht, um dem Kaiser zu leuchten. Auf dem schmalen, armseligen Bauch des kleinen Toten lag sein Instrument, die Trommel. Einen Klöppel hielt er noch krampfhaft in der rechten Hand, der andere war ihm entfallen, der kleine Tote lag halb versunken im schwarzen, fetten Kot. Seine Uniform war von dem längst vertrockneten Kot bespritzt. Sein Tschako war vom Kopf gerollt. Der kleine Tote hatte ein blasses, mageres Angesicht, von Sommersprossen übersät. Rötlich, ein kleines, loderndes Feuerchen, standen seine Haare über der niederen Knabenstirn. Seine hellen, blauen, kleinen Augen waren offen und verglast. Er hatte keine sichtbare Wunde am Körper. Nur aus seinem Munde sickerte das Blut, immer neues Blut, immer neues Blut. Der Hufschlag eines Pferdes mochte ihn umgestoßen und getötet haben. Der Kaiser betrachtete den kleinen Leichnam äußerst sorgfältig. Er zog ein Taschentuch aus dem Rock und trocknete das rinnende Blut an den Mundwinkeln der Leiche. Er öffnete die Weste des Jungen. Ein rotblaues Taschentuch lag, vierfach gefaltet, an der Brust des Kleinen. Der Kaiser entfaltete es. Ach, er erkannte es wohl! Es war eines jener hunderttausend Taschentücher, die er einst, als er noch der General Bonaparte gewesen war, für seine Soldaten hatte herstellen lassen, zugleich mit den Taschenmessern und den Trinkbechern! Ach, er kannte es wohl, dieses Taschentuch! Es enthielt auf blauem Grund, zwischen roten Rändern, eine Landkarte, und blau-weiß-rote Kreise bezeichneten die Stellen, an denen er seine Schlachten geschlagen hatte. Dieser Junge – er mochte kaum vierzehn Jahre alt gewesen sein – war also wahrscheinlich der Sohn eines seiner ältesten Soldaten. Er breitete das Taschentuch auf seinen Knien aus. Das halbe Europa, das Mittelmeer und auch Ägypten waren auf diesem Tuch aufgezeichnet. Wie viele Schlachten fehlten noch! Niemals mehr, dachte der Kaiser, werden französische Soldaten derlei Taschentücher bekommen! Niemals mehr werde ich neue Schlachten einzeichnen können! So möge denn die letzte hier stehn! Er befahl Schreibzeug. Man reichte es ihm. Und er tauchte die Kielfeder in das silberne Tintenfaß, und er spannte das Tuch über seine Knie, zog einen festen Strich nach Norden, bis zu der Stelle, wo der rote Rand bereits anfing. An dieser Stelle zeichnete er ein großes, schwarzes Kreuz hin. Hierauf legte er sorgsam das Tuch über die Trommel des Kleinen, sah noch einmal in sein Angesicht, erinnerte sich plötzlich an einen sonnigen, strahlenden Vormittag, an dem er diesen Jungen angesprochen hatte, glaubte, noch den hellen Klang der Knabenstimme in den Ohren zu haben, und befahl, die Taschen des kleinen Toten zu durchsuchen. Man fand einen zerknitterten Zettel mit der Unterschrift: »Deine Mutter Angelina«. Auf diesem Zettel hatte ihm die Mutter mitgeteilt, daß er sie bestimmt am nächsten Sonntag in seiner Kaserne um vier Uhr nachmittags erwarten solle. Der Kaiser faltete den Zettel sorgfältig zusammen und gab ihn dem Adjutanten. »Erkundigen Sie sich!« sagte er, »und geben Sie mir gelegentlich Bescheid!« Dann erhob er sich. »Schnell!« befahl er. »Begraben Sie den Kleinen!«

Zwei Soldaten schaufelten flüchtig ein flaches Grab. Man legte den Knaben hinein, hastig, schon hörte man wieder verlorene, unregelmäßige Schüsse. Das Windlicht flackerte, der Wind erhob sich heftig von Zeit zu Zeit. Die Wolken verzogen sich, der Mond stieg auf, klar war die Nacht, grausam und kalt. So klein der Leichnam auch war, das hastig bereitete Grab konnte ihn nicht fassen. Der Kaiser stand da, stumm und fahlgelb, und hinter seinem Rücken wieherte trostlos der Schimmel. Es war wie ein heftiger Seufzer, auch klang es ein wenig wie eine menschliche Klage und wie ein menschlicher Fluch. Der Kaiser rührte sich nicht. Man schüttete die winzige Leiche wieder zu. Der Soldat erhob sein Windlicht. Er präsentierte es wie ein Gewehr.

Der Kaiser zog seinen Degen und senkte ihn über dem frischen, flachen Grabe. »Für alle! Für alle!« hörte man ihn murmeln. Sein Adjutant, der General, der hinter dem Kaiser stand, hatte keine Waffe. Er zog nur den Hut. Auf einmal waren auch die anderen Generäle des Kaisers da, Gouraud, Labédoyère, Drouot. Sie hatten ihn von ferne beobachtet: Sie näherten sich jetzt, betroffen, verworren und ehrfürchtig.

»Das Pferd!« befahl der Kaiser.

Sie ritten schweigsam, der Kaiser voran. Um fünf Uhr morgens, es war schon ganz hell, und die zärtlichen, bläulichen Nebel stiegen sachte von den dunkelgrünen, fetten Wiesen auf, machte er halt. Ihn fröstelte. – »Feuer!« befahl er – und man entzündete ein kümmerliches Feuerchen. Es brannte gelblich, schwächlich im silberblauen Glanz des erwachenden Morgens. Der Kaiser umwandelte unermüdlich das gelbliche, schwächliche Feuerchen. Er sah die Soldaten, seine Soldaten. Sie flüchteten von allen Seiten her, am Feuerchen vorbei, die Infanteristen, die Artilleristen, die Kavalleristen. Von Zeit zu Zeit hob der Kaiser den Kopf. Manche der vorbeiziehenden Soldaten erkannten ihn. Sie grüßten ihn schweigend, sie riefen nicht mehr: »Es lebe der Kaiser!« – Immer schwächer brannte das Feuerchen, immer stärker und siegreicher wurde der Morgen. Ein großes Schweigen war rings um den Kaiser. Es schien zu brennen, weit stärker als das Feuer. Es schien dem Kaiser, daß die fliehenden Soldaten seiner Armee immer weitere Kreise um ihn zogen. Eine ganze große Stille war rings um den Kaiser. Und die Soldaten, die vorüberzogen und ihn so stumm grüßten – die Offiziere mit den Säbeln, die Mannschaften mit starrem Blick –, schienen ihm nicht mehr lebendige Soldaten zu sein. Gefallene und Tote waren es vielmehr. Deshalb schwiegen sie eben. Deshalb hatten sie keine Stimme mehr.

Das Feuerchen erlosch. Siegreich erhob sich der Tag. Der Kaiser setzte sich auf einen Stein am Wegrand. Man brachte ihm Schinken und Ziegenkäse. Er aß hastig und achtlos, wie es seine Art war. Immer mehr flüchtende Soldaten zogen an ihm vorbei. Der Kaiser erhob sich. – »Weiter!« befahl er.

Er bestieg sein Pferd. Er hörte den Galopp der Generäle im Rücken und von fern her manchmal das Rollen der Räder seines Wagens, der weit hinten fuhr. Und er schloß die Augen.

Er schlief im Sattel ein.

II

Nach Paris! Es war der einzige klare Entschluß des Kaisers. Einer der Generäle ritt hart neben ihm. Obwohl alle in seinem Gefolge schon wußten, daß er beschlossen hatte, nach Paris zurückzukehren, sagte der Kaiser noch einmal: »Nach Paris, General!« »Zu Befehl, Majestät!« sagte der Offizier.

Der Kaiser schwieg eine Weile. Der junge Tag kündigte sich als ein strahlender an, ein triumphierender Tag. Man hörte aus der blauen Höhe den sorglosen Jubel der unsichtbaren Lerchen, aus der Ferne den gedämpften, schwachen Widerhall dahinziehender Soldaten. Man hörte ein wehmütiges Klirren der Waffen, ein sehnsüchtiges und müdes Wiehern der Pferde, das bald ersterbende und bald wieder erstarkende Gemurmel der Menschenstimmen und hie und da einen lauten und schnell verhallenden Ruf, viel eher einen Fluch. Links und rechts, mitten durch Wiesen und Felder, stampften die regellosen Truppen dahin. Der Kaiser senkte den Kopf. Er zwang sich, nichts anderes zu sehen als die wehende, silberne Mähne seines Tiers und das gelblich-graue Band der Straße, auf der er dahinritt. Er vertiefte sich geradezu in ihren Anblick. Aber gegen seinen Willen drangen alle die traurigen Geräusche zu beiden Seiten auf ihn ein, und es war ihm, als wimmerten die Waffen seiner Armee jämmerlich, als weinten sie, die guten, starken, geschlagenen, die beschämten, die erniedrigten Waffen. Er wußte auch, daß er niemals mehr, und hätte er noch hundert Jahre zu leben, dieses Weinen der Waffen und der Pferde und das Ächzen und Stöhnen der Wagen vergessen würde. Von den dahinwandernden Soldaten konnte er wohl den Blick abwenden. Das klirrende Wimmern der Waffen aber vernahm sein Herz. Um sich selbst und auch den andern vorzutäuschen, daß er dennoch irgend etwas zu unternehmen gedenke, befahl er, man solle Posten aufstellen, auf Deserteure achtgeben, Fliehende und vom Weg Abweichende packen und bestrafen. Er dachte aber gar nicht an seine überflüssigen Befehle, während er sie so geschäftig ausstreute. Er dachte an Paris, an seinen Polizeiminister, an die Abgeordneten, an alle seine wahren Feinde, die ihm in diesen Stunden noch gefährlicher erschienen als die Preußen und die Engländer. Zweimal ließ er halten, er hatte beschlossen, in der Nacht anzukommen. In Laon, vor der winzigen Poststation, standen die Menschen, Beamte und Offiziere der Nationalgarde und die neugierigen Kleinstädter mit den gutmütigen, bäuerlichen Gesichtern. Es war ganz still, der Himmel verdunkelte sich zusehends, vor der Post wieherten die Pferde an den Pflöcken, erfreut über den Hafer, den man ihnen darbot, eine Gänseschar zog schnatternd und emsig dem heimischen Stalle zu, aus der Ferne kam das friedliche Wiehern der Kühe, das fröhliche Knallen einer Hirtenpeitsche, ein süßer Duft von Flieder und Kastanien, vermischt mit dem beizenden von Dünger, Heu und Mist. In dem niederen Zimmer der Poststation dämmerte es schon dunkelgrau. Man entzündete die einzige, dreikerzige Laterne. Es war dem Kaiser, als würde es dadurch noch dunkler im Zimmer. Man brachte noch vier Windlichter mit Schutzgläsern. Vier Soldaten stellten sich in den vier Ecken des Zimmers auf und hielten reglos die Lichter. Die zweiflügelige, breite Tür der Poststation stand weit offen, ihr gegenüber saß der Kaiser auf der glattgehobelten Bank, die für Reisende und auf den nächsten Postwagen Wartende bestimmt war. Also saß er da, mit gespreizten Beinen, in den vielfach geschwärzten, fleckigen, weißen Hosen, in kotbespritzten Stiefeln; die Hände stützte er auf die prallen Schenkel, und den Kopf hielt er gesenkt. Das Licht fiel auf ihn von allen vier Seiten und von der Laterne in der Mitte. Er saß genau gegenüber der offenen Tür, und alle Einwohner von Laon standen draußen und sahen den Kaiser unverwandt an. Es war ihm, als hielten sie ein fürchterliches, stummes Gericht über ihn und als säße er auf der Bank der Angeklagten. Es war ihm, als müßten sie bald ein Urteil über ihn fällen, ein fürchterlich stummes Urteil, und als berieten sie schon tonlos, lautlos, dieses taube und stumme und schreckliche Urteil. Er sah lange auf das Stückchen Boden zwischen seinen Stiefeln, auf die zwei schmalen, schmutzigen Planken. Er dachte an Paris und an seinen Polizeiminister, und auf einmal erinnerte er sich an das zerbrochene Kruzifix, das er in seinem Schloß hinuntergeworfen hatte, und die zwei grauen, schmutzigen Planken verwandelten sich plötzlich in die schmalen, goldbraunen Parkettbretter in seinem Zimmer, und man meldete den Minister Fouché, und ein Stiefel verbarg die Trümmer des elfenbeinernen Kreuzes. Der Kaiser erhob sich, er konnte nicht mehr sitzen bleiben. Er begann, auf und ab zu gehn, auf und ab, auf und ab, durch das kleine, niedrige Zimmer der Poststation, er hörte keinen Laut von den vielen Menschen, die sich draußen vor der offenen Tür drängten, und er wartete dennoch auf irgendeine menschliche Stimme. Dieses Schweigen war fürchterlich, ein einziges Wort erwartete der Kaiser, keinen Ruf, keinen Jubel, nur ein Wort erwartete er, nur ein einziges menschliches Wort. Aber gar nichts kam. Er ging auf und ab, er tat, als wüßte er gar nicht, daß die Menschen vor der Tür ihn sahen, aber es tat ihm sehr weh, daß er gesehen wurde. Und das tödliche Schweigen, das die Menschen ausströmten, ihre Reglosigkeit, ihre unermüdlich starrende Geduld, ihre ruhigen Augen und ihre unermeßliche Trauer bereitete ihm einen nie gekannten Schrecken. Mit ihm hatte sich auch der schweigsame, hinkende General erhoben, sein Adjutant, sein Schatten. Genau drei Schritte hinter dem Kaiser hinkte er einher. Plötzlich wandte sich der Kaiser zur offenen Tür. Er blieb einen kurzen Augenblick stehn, als erwartete er den gewohnten Ruf: »Es lebe der Kaiser!« – den Ruf, den sein Ohr so liebte, den Ruf, der sein Herz so zärtlich streichelte. Der Kaiser trat an die Schwelle. Die Lichter des Zimmers beleuchteten seinen Rücken, sein Angesicht aber sahen die Leute nicht, die draußen warteten. Die Menschen draußen sahen nur das Licht im Rücken des Kaisers. Sein Angesicht, ihnen zugewandt, vermischte sich mit dem blauen Schwarz der stark einbrechenden Sommernacht. Es war, als würden die Menschen noch schweigsamer, die schon so still gewesen waren. Die nächtlichen Grillen zirpten ringsum ganz laut in den Feldern. Schon glitzerten die Sterne am Himmel, silbern und gütig. Der Kaiser stand an der offenen, zweiflügeligen Tür: Er wartete. Er wartete auf irgendein Wort. Er war an Rufe gewöhnt, an die Rufe: »Es lebe der Kaiser!« Jetzt aber strömte ihm die schwarze Stummheit der Menschen und der Nacht entgegen, und selbst die silbernen, gütigen Sterne schienen ihm verdrossen und feindlich. Knapp vor ihm sagte einer der Bauern in der ersten Reihe, barhäuptig, mit einfachem Gesicht, das die helle Nacht deutlich sichtbar machte, laut zu seinem Nachbarn: »Das ist der Kaiser Napoleon nicht! Der Hiob ist er! Der Kaiser ist es nicht!« Sofort wandte sich der Kaiser um. »Weiter! Vorwärts!« sagte er zum General Gouraud.

Und er bestieg den Wagen. »Hiob ist er! Hiob ist er!« klang es in den Ohren des Kaisers.

»Der Kaiser Hiob ist er!« antworteten die Räder.

Der Kaiser Hiob fuhr nach Paris.

III

Er saß allein im Wagen. Sein Rücken schmerzte entsetzlich. Der Wagen jagte die glatte Straße dahin. Der Wagen durchschnitt die Nacht, die ihren silberblauen Glanz, ihre süßen, sommerlichen Gerüche von Tau und Gras immer wieder zu beiden Seiten, durch die offenen Coupéfenster hereinschickte. Längst hatte der Kaiser seine fliehenden Soldaten überholt. Man hörte weit und breit nicht mehr den wimmernden Klang der geschlagenen Waffen. Man hörte nur den gleichmäßigen, raschen Hufschlag der Pferde auf Kiesel, Erde, hölzerne Brücken und das dunkle Rollen der Räder. Von Zeit zu Zeit schienen sie zu sprechen. Sie wiederholten öfters: »Hiob ist er, Hiob ist er, Hiob ist er!« Dann verstummten sie wieder, als hätten sie sich darauf besonnen, daß sie nur Wagenräder seien und kein Recht hätten, menschliche Reden zu führen. Da ihm der Rücken so weh tat, lehnte sich der Kaiser zurück. Aber wie er, fast gerade ausgestreckt, in den Polstern lag, erwachte plötzlich ein anderer, ein neuer Schmerz, fuhr wie ein Dolch durchs Herz, dauerte nur eine Sekunde, glitt plötzlich wieder aus der Brust, schien sich in eine zierliche Säge zu verwandeln und begann, fein und sachte die Eingeweide zu durchschneiden. Der Kaiser setzte sich wieder aufrecht hin. Er blickte durch die Fenster seines Wagens, rechts und links. Diese Sommernacht war unendlich. Weiter als je schien ihm heute die Stadt Paris. So schnell sie auch fuhren: Dem Kaiser schien es, die Pferde verringerten allmählich den Lauf, und er beugte sich zum Fenster hinaus und befahl: »Schneller! Schneller!« Schon knallte die Peitsche, ein flinker Schuß, und weckte ein länger knallendes feierliches Echo in der stillen Nacht. Da begannen die Räder mit ihrem alten, grollenden Lied: »Hiob ist er!« Und der getreue Schmerz kehrte wieder heim, in den Rücken des Kaisers.

Er dachte an den alten Hiob. Er hatte keine genaue Vorstellung mehr von den Geschichten, die in den göttlichen Büchern standen. Niemals hatte er den Wunsch gefühlt, sich einen der geschlagenen Knechte Gottes vorzustellen. Wenn er sich überhaupt jemals ein flüchtiges Bild von einem unter ihnen machte, so sah er ihn etwa in der Gestalt und in den weibischen Kleidern eines Priesters. Ja! eines Priesters! – In diesem Augenblick aber sah er zum erstenmal den alten Hiob ganz genau, er erinnerte sich sogar, daß er ihm einmal begegnet war, es war sehr lange her, unermeßliche Jahre lagen dazwischen. Jahre, die groß waren wie Ozeane. Und rot waren sie wie Ozeane aus Blut. Der Kaiser hatte einmal den alten Hiob selbst gesehn. Es war der schwächliche, gute, arme Greis, den man den »Heiligen Vater« nannte und den er, der Kaiser, einmal aus der heiligen Stadt geholt hatte, damit er ihn salbe. Den alten, traurigen Mann sah jetzt der Kaiser wieder: Es war, als säße er ihm gegenüber, demütig auf dem Rücksitz, wie er einst demütig auf dem Sessel im kaiserlichen Palast gesessen hatte. Mit den alten, geduldigen Augen sah er in die kühnen und ungeduldigen des Kaisers. Und so scharf und hellsichtig die Augen des Kaisers auch waren, so wußte er doch, daß der demütige und ohnmächtige Greis noch mehr sehen konnte als er selbst, der Kaiser. Ja, dieser Alte war Hiob gewesen, dachte Napoleon. Und einen Augenblick tröstete ihn dieser Gedanke. Gleich darauf aber schien es ihm, daß der Alte irgend etwas flüstere, sich vorneige, gleichsam, um besser verstanden zu werden, und daß er wiederhole: »Auch du bist Hiob! Wir alle sind eines Tages Hiob!« – Ja, so ist es, nickte der Kaiser.

Diese schnellen Hufe trommelten in diesem Augenblick hart auf eine hölzerne Brücke, und der Kaiser erwachte. Er sah zum Fenster hinaus. Es schien ihm, daß der Horizont schon erhellt sei von den Lichtern der nahen, großen Stadt, seiner Stadt Paris, in der sein Thron stand; und er dachte nicht mehr an den alten Hiob; und die Räder schienen ihn auch vergessen zu haben, denn sie sangen jetzt einen andern Text: »Nach Paris! nach Paris! nach Paris!« – Jetzt wird alles wieder gut, dachte der Kaiser. – Jetzt werde ich die Betrüger entlarven und bestrafen und die Advokaten züchtigen und die Soldaten sammeln und die Feinde schlagen. Noch bin ich der Kaiser Napoleon! Noch steht mein Thron! Noch kreist mein Adler! – Aber einige Minuten später, je näher er die Hauptstadt fühlte, befielen ihn wieder die Kümmernisse. Und es war, als sähe er zwar seinen Adler noch schweben, aber schon gefolgt und gleich darauf umgeben von vielen schwarzen Raben, die noch schneller flogen als er: Umkreist von Raben schwebte der kaiserliche Adler. Was war ein Thron? – Ach, er, der Kaiser, der so viele zerbrochen und so viele geschaffen hatte, wußte wohl, daß es ein Gerät war, vergänglich und durch einen Zufall zersplittert. Was war ein leerer Thron, ein Thron ohne Nachfolger? Was war ein Kaiser ohne Sohn? Ja, wenn sein Sohn noch in dieser Stadt lebte! – Für wen sonst als für diesen Sohn würde man die Betrüger entlarven, die Advokaten züchtigen, die Soldaten sammeln, die Feinde schlagen? Für die törichten und eitlen Brüder? Für das kleine Geschlecht, dem er entstammte und das in Wahrheit von ihm stammte, als hätte er es gezeugt und als wäre er nicht von ihm gezeugt worden? Für die schwachen und treulosen Freunde? Für die Weiber, die ihm anheimgefallen waren, wie es in ihrer Natur lag, und die genauso einem seiner braven, guten Grenadiere zugefallen wären? Für die Kinder, die er mit achtloser Leidenschaft vielleicht gezeugt hatte? Für die Armee? Ja, vielleicht für sie allein! Aber er selbst hatte sie ja vor ein paar Stunden erst vernichten lassen. Es gab keine Armee! Der Sohn und Erbe war weit und ohnmächtig! Nur der Thron stand in der Stadt Paris, ein leerer Thron, ein Sessel aus Holz und Samt und Gold! Im Holz nagten schon die Würmer. Im Samt fraßen schon die Motten. Nur das Gold harrte noch aus, der ständigste und der trügerischste aller Stoffe, die Treue des Teufels! Auf einmal erschien dem Kaiser der Lauf der Pferde zu schnell, das Rollen der Räder zu hastig, er wollte befehlen, man solle langsamer fahren. Plötzlich erfaßten ihn auch Furcht vor der Stadt Paris und vor dem leeren Thron und vor den Verrätern und vor den Advokaten. Er wollte noch eine Weile überlegen dürfen. Die Stadt aber näherte sich eiliger, immer schneller, als liefe sie ihm entgegen, um ihn auf halbem Wege noch zu erreichen, mit ihrem verweinten Angesicht und mit dem gespenstischen Thron. Er wollte eben rufen: Langsamer! Langsam! Aber da erreichten sie die ersten Gassen, schon ahnte er die Nähe der Rue du Faubourg Saint-Honoré. Er wollte fragen, wieviel die Uhr sei; denn er war bestürzt über die Dunkelheit in den Straßen. Es sah aus, als sei es spät nach Mitternacht. Nach seiner Berechnung aber konnte es kaum eine so vorgerückte Stunde sein. Alle Läden waren schon geschlossen. Alle Häuser waren starr. Aus den Fenstern grinste die hohle Finsternis. Er beugte sich einmal zum Fenster seines Wagens hinaus, er sah gar nicht, wer jetzt neben dem Wagen dahinritt. Er hatte fragen wollen, wieviel die Uhr sei. Aber er vergaß sich und fragte: »Was ist heute für ein Tag?« »Der zwanzigste Juni, Majestät!« schrie der Offizier neben dem Wagen.

Der Kaiser lehnte sich zurück, der alte Schmerz im Kreuz wurde viel heftiger. Er wußte nicht mehr, ob er falsch gefragt oder ob ihn der Mann draußen nicht richtig verstanden hatte. Der zwanzigste Juni! Genau am zwanzigsten März erst war er in seine Hauptstadt gekommen. Genau wie sein Schmerz und diesem ähnlich wie ein Bruder kehrte sein alter Aberglaube wieder in ihn ein und schreckte ihn. Am Zwanzigsten! Welch ein Datum! Am Zwanzigsten hatte er seinen Sohn bekommen, am Zwanzigsten hatte man einst, in seinem Namen, den Prinzen d'Enghien getötet, am Zwanzigsten war er zum erstenmal heimgekehrt! Ja, es war heute der zwanzigste Juni! Drei Monate waren es, im ganzen drei Monate! Damals – oh, er erinnerte sich genau, es war ein böser Abend, es rieselte kalt und tückisch vom Himmel – aber das Volk von Frankreich, das Volk des Kaisers, wärmte mit seinem Atem die Stadt. Es rief: »Es lebe der Kaiser!« Fackeln und Windlichter schienen ewig und stark zu sein wie die Sterne, die der Himmel hartnäckig verweigerte, und das Lied der Marseillaise, das zu ihm emporstieg, schien mächtig genug, um selbst die Wolken des Himmels zu vertreiben. Tausend nackte, weiße Hände streckten sich dem Kaiser entgegen, und jede Hand war wie ein Gesicht, und er mußte die Augen schließen, vor soviel Sieg, Licht und Gläubigkeit. Jetzt aber waren sogar die Fenster schwarz in der Stadt Paris. Die Sommernacht war gütig, blausilbern und gelinde. Stark und betäubend dufteten die Akazien. Die Sterne glitzerten doppelt hell, weil die Lichter in den Straßen fehlten. Gütig war heute die Nacht, da er geschlagen war, der Kaiser! Grimmig war sie damals gewesen, als er triumphiert hatte! Grausam war der unbegreifliche Gott, und mit welch hämischem Hohn bedachte er den Kaiser Napoleon!

Als der Wagen hielt, gab es keine jubelnden Rufe, nur eine fürchterlich friedliche, eine gehässig friedliche Sommernacht. Der Kaiser vernahm den ächzenden Ruf eines Käuzchens im tiefen Park des Schlosses. Es war ihm, dem der Rücken so weh tat, als hätte er selber gestöhnt, während man das Trittbrett herunterließ und er sich bereit machte, den Wagen zu verlassen. Er erblickte seinen alten Freund, den Minister Caulaincourt. Der gute Mann wartete allein auf der weißen, steinernen Treppe, unter dem silberblauen Glanz des nächtlichen Himmels, im Rücken den goldenen Widerschein des Lichts, das aus den Fenstern des Elysées strömte. Der Kaiser erkannte ihn sofort. Er umarmte ihn. Es war, als hätte der Minister seit Ewigkeiten hier auf dieser Treppe auf den Kaiser gewartet, allein auf den unglücklichen und jämmerlichen geschlagenen Kaiser gewartet. Der Minister hatte bei sich beschlossen, den heimkehrenden Kaiser mit einem ganz bestimmten, tröstlichen Satz zu empfangen. Majestät! – hatte er sagen wollen, es ist noch nichts verloren! Als der Kaiser aber vom Wagen stieg, erstarb dieser oft im stillen wiederholte Satz auf der Zunge des Ministers. Und da ihn der Kaiser umarmte, begann Caulaincourt zu weinen, und seine Tränen tropften auf den dicken Staub, der sich auf den Schultern des kaiserlichen Mantels seit vielen Tagen angesammelt hatte, hörbar, hart, deutlich; es war, wie wenn Kerzen tropften auf die Schultern des Kaisers. Der Kaiser löste sich schnell aus der Umarmung und ging rasch durch das Tor die Stiege hinauf. Und als wollte er die Treue dieses Ministers, den er in diesem Augenblick mehr liebte als einen seiner Schlachtengefährten, belohnen, berichtete er schnell und demütig, warum die Schlacht verloren wäre. Zugleich aber fühlte der Kaiser, welch eine jämmerliche und unselige Auszeichnung er seinem Freund erteile – und er schwieg plötzlich.

»Was sagen Sie?« fragte er, als sie im Zimmer waren.

»Ich sage, Majestät«, erwiderte der Minister, und er bemühte sich, die Stimme fest und klar zu machen und die Tränen nicht merken zu lassen, die seine Kehle würgten und die schon in seine Augen stiegen, »daß es besser gewesen wäre, wenn Sie nicht zurückgekommen wären.«

»Ich habe keine Soldaten«, sagte der Kaiser. »Ich habe keine Gewehre! Ich habe den Tod gesucht. Er hat mich verschmäht.« Er lag auf dem Sofa. Er erhob sich plötzlich, setzte sich auf, in einer törichten, trügerischen Hoffnung, die ihm eine Rettung zu bedeuten schien. – »Ein Bad!« befahl er. »Ein heißes Bad!« Er reckte die Arme. »Ein Bad sofort!« wiederholte er. Wasser, heißes, brühendes Wasser! dachte er – er hatte keinen andern Gedanken mehr. Heißes, siedendes Wasser schien ihm auf einmal die Fähigkeit zu haben, alle Rätsel, alle Rätsel zu lösen, das Gehirn zu läutern und das Herz zu klären.

Als er das Badezimmer betrat, gefolgt von seinem Minister Caulaincourt, erblickte er zuerst seinen Diener, der treu und starr neben der dampfenden Wanne stand, als bewachte er das trügerische Element des Wassers, das den Kaiser vielleicht verraten könnte, wie ihn ein General und seine Frau verraten hatten. Durch die zweite Tür, die aus dem Badezimmer des Kaisers zu dem Korridor der Bediensteten führte, sah er im gleichen Augenblick eine seiner Dienerinnen hinausgehn. Es schien ihm plötzlich, daß er die Pflicht habe, auch dieser noch, wahrscheinlich einer der letzten an seinem Hof, ein gutes Wort zu sagen, ein Wort des Abschieds vielleicht, und er gab seinem Diener einen Wink, sie zurückzuholen. Sie kehrte um, nun stand sie vor ihm. Nun fiel sie nieder und begann, laut zu schluchzen. Sie verbarg ihr Angesicht auch gar nicht. Sie lag auf den Knien und hob es zu ihm empor. Die Tränen überströmten es, ein heißer, nasser Schleier. Der Kaiser neigte sich ein wenig zu ihr nieder. Er erkannte sie. Er sah ihr mageres, sommersprossiges Antlitz, erinnerte sich an sie, an den Abend im Park, und zugleich sah er auch das Angesicht ihres Sohnes, des kleinen Tambours, wieder. »Steh auf!« befahl er. Sie erhob sich gehorsam. Er fuhr flüchtig und sachte mit der Hand über ihre Haube. »Du hast einen kleinen Sohn, nicht wahr, wo ist er?« fragte der Kaiser. »Er war mit Ihnen im Feld!« sagte Angelina. Durch den warmen, nassen Schleier ihrer Tränen sah sie ihn mit furchtlosen, klaren Augen an, und auch ihre Stimme war klar und klingend. – »Nun geh, mein Kind!« sagte der Kaiser. Und da sie noch eine Weile wartete, wiederholte er: »Geh nur, geh!« – Er faßte sie sanft an den Schultern und drehte sie sachte um. Sie ging. – »Man wird ihr sagen«, befahl der Kaiser, »daß ihr Sohn gefallen ist und daß ich selbst ihn begraben habe! Man wird ihr morgen fünftausend auszahlen. Du tust es!« fügte der Kaiser hinzu und wandte sich an seinen Diener. Er ließ sich auskleiden und stieg ins Bad. Er hatte gedacht, er würde hier allein bleiben können, allein in dem heißen Wasser, das er liebte und in dem er heimisch war. Aber es kamen sein Bruder Joseph und der Kriegsminister. Er ließ sie nahe an die Wanne treten, erzählte ihnen den Hergang der Schlacht, geriet in eine törichte Aufregung, die ihm selbst sinnlos erschien, die er aber nicht bezähmen konnte, klagte den Marschall Ney an. Hochmut erfüllte ihn und Scham, nackt saß er da im Wasser: Durch den Dampf sah er die Gesichter verschwimmen, er fuchtelte mit den nackten Armen, schlug mit der Hand auf das Wasser, es spritzte über die Wanne, hoch und weit, auf die Uniformen der Männer neben ihm und befleckte sie. Die Männer rührten sich nicht. Plötzlich schien es ihm wieder, alles sei verloren, und seine Munterkeit erlosch, und er hörte auf zu sprechen, und er lehnte sich zurück, und er verspürte mitten im heißen Wasser ein starkes Frösteln, und er fragte, nur um nicht merken zu lassen, daß er plötzlich schwach und hilflos geworden sei, und um es dennoch zu gestehen: was er tun solle?

Er wußte in diesem Augenblick aber, daß er nur das würde tun müssen, was nicht mehr von ihm noch von andern Menschen abhing, sondern was ihm ein fürchterlich unbekanntes, ein übermächtiges Gesetz längst vorgeschrieben hatte. – Ach! Er hatte gedacht, das gewohnte, hilfreiche Bad würde ihm Trost und Kraft bringen. Zum erstenmal aber fand er sich darin hilflos. Müde, wie er war, vom Unglück und von vielen durchwachten Nächten, erblickte er mit seinen großen Augen, die lediglich seine maßlose Trauer noch offen und wach erhielt, und trotz dem Dunst, den sein heißes Wasser im Zimmer ausströmte, ganz deutlich und zum erstenmal derart deutlich die Zeichen der Schwachheit in den Gesichtern seines Bruders und seiner Freunde. – Was sie mir sagen, dachte er, wird unsinnig sein, und raten können sie nur einem Menschen, der ihresgleichen ist. Andern Gesetzen habe ich gehorcht, als ich groß und stark war; andern Gesetzen auch muß ich gehorchen, da ich hilflos und geschlagen bin. Was wissen sie von mir? – Sie kennen mich nicht! – Sie kennen mich nicht, ebensowenig kennen sie mich, wie die Sterne von der Sonne wissen, von der sie leben und um die sie kreisen! – Zum erstenmal in seinem Leben hatte der große, immer wache Kaiser müde Augen; und zum erstenmal fühlte er, daß man mit müden und unglücklichen Augen deutlicher und weiter sehen konnte als mit frischen und scharfen. Noch einmal dachte er an den alten Hiob und an den alten Heiligen Vater und an die Freunde, die gekommen waren, den Geschlagenen zu trösten. Und er erhob sich und trat nackt wie Hiob vor seine Freunde. Einen Augenblick nur sahen sie so den Kaiser, seinen gelblichen, faltigen Bauch, die fettigen Schenkel, die sonst in den schneeweißen kaiserlichen Hosen so kräftig und muskulös erschienen, den kurzen, starken Nacken, den rundlichen Rücken, die kleinen Füße und die zarten Zehen. Dies dauerte nur einen Augenblick. Sofort kam der Diener und hüllte den kleinen Körper in den breiten, weißen Flanell. Die nackten Füße des Kaisers hinterließen auf dem Boden deutliche nasse Spuren nach jedem Schritt. Ein paar Minuten später kam Angelina wieder, wie es ihr Dienst vorschrieb. Sie sah die Spuren der kaiserlichen Füße, und während sie sich daranmachte, den Boden zu säubern, dachte sie, sie schände und beleidige die Spuren des Kaisers, weil sie gezwungen war, sie auszulöschen. Der Diener, der noch die Flaschen, die Seifen und die Tücher ordnete, kam an sie heran und sagte ganz leise: »Ich muß dir was Schlimmes sagen. Hörst du? Etwas ganz Schlimmes!« – »Sag's!« antwortete sie. »Dein Sohn –«, begann er. – »Er ist gestorben«, sagte sie ganz ruhig. – »Ja. Und der Kaiser selbst hat ihn begraben.« – Angelina lehnte sich gegen die Wand. Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Er war mein Sohn. Er hat den Kaiser geliebt. – So, wie ich ihn liebe –«

»Du bekommst fünftausend Goldstücke«, sagte der Diener.

»Ich brauche sie nicht. Kannst sie behalten«, erwiderte Angelina. »Geh«, sagte sie, »stör mich nicht! Ich muß arbeiten!«

Als sie allein war, fiel sie nieder auf die Knie, schlug das Kreuz, wollte beten und vermochte es nicht. Sie blieb lange Zeit so, eine Bürste in der Hand und auf den Knien. Es sah aus, als ob sie dem Boden diente, dieweil sie dem Himmel zugewandt war, ihrem toten Kind und dem Kaiser.

Ihr Herz war schwer, ihre Augen blieben trocken. Sie beweinte ihren Sohn, und sie beneidete ihn auch. Tot war er, tot! Aber begraben hatte ihn die Hand des Kaisers.

IV

Am nächsten Vormittag um zehn Uhr versammelten sich die Minister im Schloß des Kaisers. Die Generäle und die großen Herren des Reiches erwarteten ihn, reglos im Korridor aufgestellt in zwei Reihen, andächtig und ängstlich und traurig und ehrfürchtig sahen sie aus: In Wirklichkeit aber waren die meisten eher von der Furcht um das eigene Schicksal betroffen als von der Furcht um das Schicksal des Landes und des Kaisers; und einige waren sogar mehr von der Neugier bewegt als vom Schmerz. Andere wieder waren noch um die Wirkung besorgt, der sie ihren Ruf zu verdanken glaubten, von dem sie seit der Rückkehr des Kaisers gelebt hatten: Sie standen feierlich da und meinten, gerade sie seien die wichtigsten Bereiter der wichtigsten Geschicke. Fouché wartete schon im Saal. Sein Angesicht war noch blasser und gelber als gewöhnlich. Er neigte sehr tief seinen schmalen, langen Kopf, als der Kaiser eintrat. Der Kaiser aber sah keinen an. Er fühlte dennoch den verschleierten Blick seines Polizeiministers und gleichzeitig den unerbittlichen und aufrichtigen des alten Carnot. Er hatte es nicht nötig, der Kaiser, alle anzusehn: Jeden einzelnen kannte er längst. Im voraus wußte er, was sie dachten und was sie sagen würden. Er setzte sich. »Die Sitzung ist eröffnet!« begann er mit ruhiger Stimme. – »Ich bin zurückgekommen«, fuhr er fort, »um das Unheil aufzuhalten, das uns betroffen hat. Aber ich brauche eine Zeitlang absolute Gewalt.«

Alle senkten die Blicke. Fouché allein sah den Kaiser unverwandt mit seinen hellen Augen an. Inzwischen schrieb er unaufhörlich kleine Zettelchen, Gott weiß an wen; und der Kaiser sah es wohl. Der Polizeiminister schrieb, ohne auf die Blätter zu schauen. Er hielt seinen Blick ständig auf den Kaiser gerichtet, es war, als hätte seine unermüdlich kritzelnde Hand eigene Augen. Nun erhob sich der Kaiser: »Ihr wollt, ich spüre es, daß ich abdanke«, sagte er. »So ist es, Majestät!« antwortete einer der Minister. Der Kaiser hatte es gewußt. Er stellte jede Frage nur, um die Antworten zu bekommen, die er längst erwartet hatte. Dennoch sagte er – und es war ihm selbst, als spräche ein Fremder aus ihm: »Der Feind ist im Lande. Ich bin, was immer auch kommen möge, der Mann des Volkes und der Soldaten. Ein Wort von mir – und alle Abgeordneten sind erledigt. Hundertunddreißigtausend Mann bringe ich auch heute noch auf die Beine. Die Engländer und die Preußen sind ermattet. Sie haben gesiegt, aber sie sind erschöpft. Und die Österreicher und die Russen sind weit!« Alle Minister schwiegen. Noch einmal, zum letztenmal, fühlten sie alle die Erhabenheit der kaiserlichen Stimme. Sie lauschten ihr, aber der Stimme nur, dem Klang der Worte, und nicht ihrem Sinn. Der Kaiser selbst wußte wohl, daß er vergeblich sprach. Er hielt plötzlich inne. Jedes Wort war umsonst. Er wollte gar nicht mehr um seinen Thron kämpfen. Zum erstenmal in seinem Leben, seitdem er mächtig geworden war, fühlte er die Seligkeit, die der Verzicht gewährt. Mitten in seiner Rede überkam ihn die Gnade der Demut. Er fühlte plötzlich den Segen der Niederlage und eine ganz, ganz heimliche Genugtuung darüber, daß er jeden Augenblick, wenn er nur wollte, diese Minister, zu denen er jetzt sprach, jene Parlamentarier, die darauf warteten, ihn zu stürzen, abschaffen lassen konnte, gefangensetzen, ja sogar köpfen oder erschießen. Wenn er nur wollte!. . . Er wollte eben nicht. Es war ein wonniges Gefühl – er erlebte es zum erstenmal –, zu können und dennoch nicht zu wollen! Sein ganzes unendlich reiches und sattes Leben lang hatte er viel mehr gewollt und gewünscht, als einem Irdischen zu können gegeben war. Jetzt zum erstenmal und just in der Stunde seiner Schmach und seiner Niederlage fühlte er, daß er sehr viel Macht besaß, aber daß er sie gar nicht wünschte. Es war ein wonniges Gefühl. Es war, als hielte er in der Hand ein scharf geschliffenes Schwert, das ihn selig machte, und gerade deshalb, weil er es nicht gebrauchte. Er, der immer gedacht hatte, man müsse schlagen und auch treffen, erlebte die erste Ahnung von dem Glück, das die Schwäche bereitet, das die Ergebenheit beschert. Zum erstenmal in seinem stolzen und starken Leben ahnte er die edle Seligkeit der Schwachen, der Geschlagenen und der Verzichtenden. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er die Sehnsucht, ein Knecht zu sein und nicht ein Herr. Zum erstenmal in seinem Leben empfand er auch, daß er viel zu büßen hatte, weil er so viel gesündigt hatte. Und es war ihm, als müßte er um des Heils seiner Seele willen die Hand öffnen, in der er das geschliffene Schwert hielt, auf daß es hinfalle, ohnmächtig und demütig, wie er selbst in dieser Stunde war.

Dennoch lebte immer noch ein anderer in ihm, nämlich der alte Kaiser Napoleon, und dieser war es, der jetzt zu den Ministern aufs neue zu sprechen begann: Er könne in zwei Wochen eine neue Armee haben, er könne bestimmt die Feinde schlagen, so sagte er. – Aber schon wußte er, daß er die Abgeordneten nicht überzeugen konnte wie die Minister. Die Advokaten haßte er, wohl konnte er ihnen den Garaus machen, aber er verachtete sie zu sehr, um ihnen Gewalt anzutun, und außerdem liebte er, der allzeit Gewaltsame, in dieser Stunde nicht mehr die Gewalt. Genug der Gewalt hatte er ausgeübt! Abdanken wollte er. Er wollte nicht der Kaiser mehr sein. – Von Zeit zu Zeit, aus weiter Ferne, aber immer deutlicher, glaubte er, einen Ruf zu vernehmen, die lockende Stimme des Unglücks. Diese Stimme wurde allmählich lauter und deutlicher noch als die Rufe der Menschen vor dem Schloß: »Es lebe der Kaiser!« Denn immer noch riefen sie vor seinen Fenstern: »Es lebe der Kaiser!« – Arme Freunde, dachte er: Sie lieben mich, und auch ich liebe sie, und für mich starben sie, und für mich leben sie, ich aber konnte nicht für sie sterben. Sie wollen mich mächtig sehn, so sehr lieben sie mich! Ich aber, ich liebe jetzt die Ohnmacht. Die Ohnmacht liebe ich! Ich war so lange unselig groß: Ich will einmal klein und selig sein! . . .

Aber immer wieder riefen die Menschen: »Es lebe der Kaiser!« – als ahnten sie, was in ihm vorging, und als wollten sie ihm weniger huldigen als ihn daran erinnern, daß er ihr Kaiser sei und daß er ihr Kaiser bleiben müsse. Es gab Augenblicke, in denen diese Rufe mitten in sein Herz drangen; und dann erkannte er, daß sein alter Hochmut noch darin lebte, in seinem Herzen; und dieser alte kaiserliche Hochmut antwortete auch auf die Rufe, unhörbar den Rufern, aber stark in der Brust des Kaisers. Sie rufen mir zu, also bin ich noch ihr Kaiser! sprach der alte Hochmut in seiner Brust. Aber bald darauf sagte eine andere Stimme: Ich bin mehr als ein Kaiser, ich bin ein Kaiser, der verzichtet. Ich halte ein Schwert in der Hand, und ich lasse es fallen. Ich sitze auf einem Thron, und ich höre schon die Holzwürmer in ihm klopfen. Ich sitze auf dem Thron, und ich sehe mich schon im Sarg liegen. Ich halte ein Zepter, und ich wünsche mir ein Kreuz – ja, ich wünsche mir ein Kreuz! . . .

V

In dieser Nacht schlief er nicht. Sie war schwül und trächtig. Zwar standen alle Millionen Sterne am silberblauen Himmel: Dem Kaiser aber war es, wenn er zu ihm emporsah, als seien es nicht die wirklichen Sterne, sondern nur die blassen, fernen Bilder von wirklichen Sternen. In dieser Nacht war es ihm wieder, als durchschaute er die falsch erhabenen Absichten des Lenkers der Welt. Noch hatte er Gott nicht erkannt, und schon glaubte er, ihn zu durchschauen. Er glaubte zu wissen, der Kaiser, Gott sei auch ein Kaiser, genauso wie er, klüger und vorsichtiger und infolgedessen beständiger. Er aber, der Kaiser Napoleon, war aus Großmut töricht gewesen, aus Großmut hatte er die Macht verloren. Ohne seine Großmut hätte auch er Gott sein können, das blaue Gewölbe des Himmels schaffen, den Glanz und den Lauf der Sterne regeln, das Geschick der Menschen und die Richtung der Winde regieren, den Zug der Wolken und den Flug der Vögel. Er aber, der Kaiser Napoleon, war bescheidener als Gott, aus Edelmut nachlässig und aus Großmut leichtfertig. Er öffnete die Fenster. Er hörte den freudigen, eintönigen Gesang der Grillen im Park. Er roch den satten, friedlichen Duft der sommerlichen Nacht, den betäubenden Flieder und die allzu süßen Akazien. All das machte ihn grimmig.

Er wollte keinen Thron und keine Krone und keinen Palast und kein Zepter mehr. Er wollte so einfach sein wie einer der vieltausend seiner Soldaten, die gestorben waren, für ihn und für das französische Land. Er verachtete die Leute, die ihn morgen oder übermorgen zwingen würden abzudanken; aber er war ihnen auch dankbar, daß sie ihn zwangen abzudanken. Er haßte seine Macht und zugleich auch seine Ohnmacht. Er wollte kein Kaiser mehr sein, und er wollte dennoch ein Kaiser bleiben. Heute um diese Stunde berieten sie im Haus der Abgeordneten, ob er Kaiser bleiben solle oder nicht.

Ratlos und rastlos ging er auf und ab, blieb einen Augenblick am offenen Fenster, machte wieder kehrt, setzte sich an den Tisch, öffnete die geheime Schublade, versuchte, seine Papiere zu ordnen, in drei Haufen. Die einen waren gleichgültig: Sie konnten bleiben; andere waren gefährlich: Sie mußten vernichtet werden; wieder andere wollte er behalten, auch mitnehmen. Ein paar Briefschaften hielt er an die goldenen Flammen der Wachskerzen. Die Asche verstreute er achtlos auf dem Tisch und auf dem Teppich. Auf einmal hielt er inne, legte die verurteilten Papiere wieder sachte hin und begann von neuem seine Wanderung. Es war ihm eingefallen, daß es vielleicht zu früh war, die Briefschaften zu vernichten – – und die Furcht, seine alte, abergläubische Furcht, erfaßte ihn, daß er vielleicht soeben leichtfertig dem Schicksal einen Wink, eine Richtung gegeben hatte. Dieser Gedanke machte ihn auch müde, und er versuchte, sich auf dem Sofa auszustrecken. Sobald er aber lag, war es ihm, als sei er noch hilfloser und als stießen die schwarzen Kümmernisse auf ihn hernieder wie finstere Raben auf einen Leichnam. Er mußte sich erheben. Er sah wieder nach dem Himmel, dann auf die Uhr: Diese Nacht nahm kein Ende. Wirre Bilder zogen an ihm vorbei, Bilder ohne zeitlichen und sinnvollen Zusammenhang stiegen auf, gleichsam aus ganz verschiedenen, plötzlich aufgeschlossenen Schubfächern der Erinnerung. Kraftlos ergab er sich ihnen, setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und schlief im Sitzen ein.

Der erste zage Ruf eines erwachenden Vogels weckte ihn. Der Tag graute, sacht bewegte ein guter Wind die Kronen der Bäume und die hohen Fensterflügel. Sie krächzten ein wenig in den Angeln, und sie erschreckten den Kaiser. Er verließ das Zimmer. Sein Diener, der draußen vor der Tür auf seinem Stuhl kauerte, sprang auf und machte sich bereit, ihm zu folgen. Der Wachtposten aber, vor dem Tor, schlief steif und starr, im Stehen, mit geschultertem Gewehr. Der Kaiser blieb vor ihm stehen. Es war ein ganz junger Bursche, über seinen Lippen, die sich bei jedem Atemzug öffneten und wieder schlossen, sproß das zarte, schwarze, flaumige Bärtchen, und die rundlichen, bäuerlichen Wangen waren ebenso gerötet, als hätte der Mann nicht im Stehen und mit dem Gewehr im Arm geschlafen, sondern im Bett daheim an der Seite seines Mädchens. – Einmal wird vielleicht mein Sohn so aussehn, dachte der Kaiser. Und ich werde es nicht sehen. Solch ein Bärtchen wird auf seiner Oberlippe sprießen, schlafen wird auch er im Stehen können, ich aber werde es nicht erleben. – Er streckte die Hand aus und zupfte am Ohrläppchen des jungen Mannes. Der Soldat erwachte und erschrak, er riß seine runden, goldbraunen Augen weit auf, er erinnerte an ein uniformiertes und erstarrtes Reh. Erst ein paar Sekunden später erkannte er den Kaiser, präsentierte mechanisch das Gewehr, halb noch im Schlaf und dennoch bereits in Furcht und Bangnis. Der Kaiser ließ ihn stehn und ging weiter.

Alle Vögel jubelten dem siegreichen Morgen zu. Der Wind war verstummt, in einem hellblauen, stillen Glanz standen die Bäume unbeweglich und wie für alle Ewigkeit gewachsen. Das ist der letzte Tag, an dem ich noch der Kaiser von Frankreich bin, dachte der Kaiser. Ja, es war schon gewiß. Der Morgen selbst schien es ihm zu sagen, die Vögel jubelten heute allzu boshaft und allzu schrill, die Sonne sogar, die sich schon hinter dem dichten, satten Grün ankündigte, hatte ein böses, gelblichrotes Angesicht. Den sommerlichen Frieden dieses Morgens fühlte der Kaiser nicht, er wollte ihn auch nicht fühlen. Dennoch empfand er, sekundenlang, während er im Gehen die Augen schloß, daß Gott und Seine Welt gut zu ihm sein wollten und daß andere Menschen, an seiner Stelle, in diesem Garten, zu dieser Stunde, im grün-blau-goldenen Schimmer des auferstehenden Tages dankbar, demütig und selig gewesen wären. Ihn aber verhöhnte der Morgen geradezu. Ja, die ewige Sonne Gottes ging auf, sie ging auf wie seit undenklichen Zeiten: als wäre nichts geschehen, als ginge seine, des Kaisers, Sonne nicht gerade heute unter. Nacht, Nacht hätte heute sein müssen! Und um den Tag nicht noch stärker werden zu sehen, kehrte der Kaiser plötzlich um. Er befahl, die Vorhänge zu schließen. Noch ein paar Stunden wollte er Nacht haben.

Er schlief ein, in Stiefeln, im Anzug. Er hatte verboten, daß man ihn wecke, und dennoch getraute man sich, es zu tun, und sein erster Gedanke beim Erwachen war, daß nicht einmal seine Lakaien mehr seine Befehle befolgten: Aber es war sein Bruder Lucien, der jüngste und liebste seiner Brüder. Er stand vor ihm, vor dem Sofa, durch die geschlossenen Gardinen sickerte schon kräftig, golden und voller Saft das Sonnenlicht, der Bruder Lucien aber stand noch da, blaß und fahl und übernächtigt, ein Stück der vergangenen Nacht.

»Sie wollen nicht!« sagte er nur.

»Ich wußte es!« erwiderte der Kaiser und erhob sich.

Schon erschollen vor dem Schloß die täglichen Rufe, die er kannte: »Es lebe der Kaiser!« Er setzte sich und sagte zu seinem Bruder: »Hörst du? Das Volk will, ich solle leben, die Vertreter des Volkes aber wollen meinen Tod. Ich glaube dem Volk nicht, und ich glaube auch den Vertretern nicht. Ich habe nur meinem Stern geglaubt. Und der ist untergegangen.«

Der Bruder schwieg. Er senkte den Kopf. Er war jung, und ihm war, als wäre er noch jünger und törichter durch das Unglück geworden, und zugleich auch, als hätte er die Pflicht, den Kaiser, seinen Bruder, der ihm wie ein Vater schien, auch jetzt noch zu kräftigen und zu retten. Und deshalb sagte er zaghaft: »Noch bist du der Kaiser! Noch bist du der Kaiser! Du darfst nicht abdanken!«

»Ich werde abdanken«, antwortete Napoleon. »Ich bin nicht müde, aber ich bin, mein lieber Bruder, liebster meiner Brüder: Ich bin verwandelt. Siehst du: Ich glaube nicht mehr an all das, woran ich immer geglaubt hatte: an die Gewalt, an die Macht und an den Erfolg. Deshalb, siehst du, werde ich abdanken. Noch kann ich zwar nicht an das andere glauben, an die Macht, die wir nicht kennen. Aber dazwischen stehe ich eben heute, siehst du, mein Bruder! An die Menschen glaube ich nicht mehr, und an Gott glaube ich noch nicht. Ich fühle ihn aber schon, ich beginne schon, ihn zu fühlen.«

Er sprach für sich hin, und er wußte wohl, daß ihn sein Bruder nicht verstand. Und in der Tat, sein Bruder Lucien verstand ihn nicht und meinte, der Kaiser sei müde und rede irre.

Er war gut und brav und treu, und er hatte keine Ahnung von den Wirrnissen des Kaisers, von seinen Reden und von seiner Trauer. Der Kaiser wußte es wohl. Aber er sprach dennoch, weil er eine ganze, unendlich lange Nacht geschwiegen hatte, und deshalb auch, weil er wußte, daß Lucien, der liebste und einfältigste seiner Brüder, ihn nicht verstand.

Lucien hielt den Kopf gesenkt. Er begriff in der Tat gar nichts. Nur ein Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken: Bald werden sie kommen! Bald werden sie kommen!

VI

Sie kamen auch, um zehn Uhr vormittags. Sie hatten feierliche, traurige und verzweifelte Gesichter. Der Kaiser betrachtete sie, wach und aufmerksam, einen nach dem andern: den alten Caulaincourt, seinen Bruder Joseph, den lieben Regnault. Andere warteten nebenan, im Saal des Ministerrats. Man meldete Fouché, den Minister der Polizei. »Er soll kommen«, sagte der Kaiser, »und sofort!«

Er trat ein. Er verneigte sich tief und blieb in dieser Haltung so lange, daß es scheinen konnte, er hätte ehrliche Mühe, seinen Rücken wieder geradezustrecken und seinen Kopf wieder zu erheben. Er trug in der Rechten eine schmale Mappe aus dunkelgrünem Saffian, in der Linken den Ministerhut. Aufmerksamer noch und genauer als vorher die anderen betrachtete der Kaiser den häßlichsten seiner Feinde. Es war, als wollte er sich für die Zeit seines übrigen Lebens die Gestalt dieses Mannes genau, mit allen ihren Einzelheiten, einprägen; als hätte er ihn lediglich zu diesem Zweck bestellt. Es war, als weidete er sich mit der Wonne eines Künstlers, der ein vollkommenes Objekt gefunden hat, an dem häßlichsten seiner Minister. Noch fürchtet er mich, dachte der Kaiser. – Noch könnte ich ihn stören, stören zuerst, dann vielleicht vernichten. In seiner grünen Mappe dort trägt er mein Todesurteil, aber ich allein bin imstande, es zu unterzeichnen, und er hat Angst, ich wollte noch immer nicht. Er kennt mich nicht, und wie sollte er auch! So wenig kennt der Teufel den Herrn! Ich werde ihn noch eine Weile warten lassen! Welch ein vollendetes Exemplar! Welche Harmonie zwischen Gesicht, Händen, Haltung und Seele! Ich habe ihn leben und gewähren lassen, wie Gott den Teufel leben und gewähren läßt. Jetzt aber, da ich kein Gott mehr bin, lebt er von seinen eigenen Gnaden; morgen aber schon von der Gnade der Engländer, der Österreicher, der Preußen und des Königs.

»Sehen Sie mich an!« sagte der Kaiser.

Fouché hob den Kopf. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nichts hervorbringen, als er dem Blick des Kaisers begegnete. Vor diesem Blick hatte er oft nur gezittert. Jetzt aber, zum erstenmal, lähmte ihn dieser Blick auch. Er hatte plötzlich trockene, spröde Lippen, durch die kein Wort schlüpfen konnte, er benetzte sie unwillkürlich mit der schmalen, blassen Zungenspitze. Welche Harmonie! dachte der Kaiser.– Er läßt nicht die geringsten Bewegungen aus, die man an der Schlange kennt.

Wie wahr ist sie, die banale Symbolik!

»Schreiben Sie den Herren, die darauf warten, ein Wort, daß ich bald soweit bin. Sie können zufrieden sein!«

Fouché näherte sich dem Tisch des Kaisers. Er legte den Hut auf einen Sessel, behielt aber die Mappe, nahm ein leeres Blatt mit behutsamen Fingern vom Tisch, legte es auf die Mappe und schrieb so, im Stehen. Der Kaiser sah ihn nicht mehr an. Er wandte sich seinem Bruder zu und befahl: »Schreiben Sie!« – Und er begann zu diktieren: ». . . Ich biete mich dar als ein Opfer des Hasses, den die Feinde Frankreichs gegen mich hegen. Möchten ihre Erklärungen aufrichtig sein und sie nur meine Person verfolgt haben . . . Einiget Euch alle für das allgemeine Wohl, auf daß Ihr eine unabhängige Nation bleibet! . . .«

Soweit kam er. Rings um ihn standen seine alten Freunde und Diener. Durch die offenen Fenster drang die blendende, sommerliche Hitze ins Zimmer, in heftigen, betäubenden, wuchtigen Wogen. Nichts rührte sich. Die Menschen und die Dinge waren erstarrt, selbst die zarten Vorhänge aus gelblichem Musselin vor den Fenstern hingen da in reglosen, gleichsam versteinerten Falten. Man hätte glauben können, auch draußen sei die Welt erstarrt, Paris atmete nicht mehr unter der Last der Hitze, deren Gold schwerer war als Blei; und ganz Frankreich dämmerte mitten im strahlenden Glanz, es dämmerte dahin und wartete; die Dörfer und die Städte schliefen, indessen sich ihnen die Feinde schon vom Norden näherten; das Gras auf den Wiesen dämmerte und wartete darauf, zertreten zu werden; und die Ähren auf den Feldern wußten schon, daß sie umsonst gewachsen waren; kein Korn würde in diesem Jahr mehr gemahlen und gebacken werden; und man fühlte die reglosen, toten Mühlen, verstreut im ganzen Lande. Die toten Steine allein in den Straßen und Gassen atmeten noch: Aber auch ihr Atem war nur tote Hitze . . .

Da auf einmal drang der schrille Schrei einer Frau von der Straße her durch die Fenster: »Es lebe der Kaiser!« Dieser Schrei fuhr in das brütende Schweigen des Sommers wie ein greller Funke in dürren, stummen Zunder. Die Menschen im Zimmer des Kaisers begannen, hörbar zu atmen. Ihre Augen öffneten sich weit und lebendig und richteten sich auf den Kaiser. Jemand bewegte sich leise, als prüfte er, ob seine Starre wirklich schon gewichen sei, andere wiederholten diese Bewegung. Noch war der gellende Schrei der Frau nicht verklungen, und schon folgte ihm der dumpfe Donner aus tausend männlichen Kehlen von der Straße her: »Es lebe der Kaiser!« Einer der Männer im Zimmer öffnete die Lippen, als wollte auch er in den Ruf einstimmen; der Kaiser sah es, und seine Augen geboten ihm dermaßen bedrohlich zu schweigen, daß der Mund des Freundes eine Weile offen blieb und alle fast zu sehen glaubten, wie seine Huldigung zwischen Zunge und Zähnen erstarb. Noch einmal, ein drittes, ein zehntes Mal donnerte es draußen: »Es lebe der Kaiser!« – Der Kaiser diktierte nicht mehr. Er wandte sich nicht um. Er saß mit dem Rücken zu den Fenstern, durch welche die Rufe kamen, es war, als wandte er mit Absicht und Unwillen diesen Rufen den Rücken. Sie machten ihn aber in Wirklichkeit traurig und zugleich auch stolz. Er dachte noch an den letzten Satz, den er eben diktiert hatte: »Einiget Euch alle für das allgemeine Wohl, auf daß Ihr eine unabhängige Nation bleibet!« – Diesen Satz hatte er gestern und vorgestern schon gedacht, er hatte schon lange, dieser Satz, in seinem Herzen gelebt. Nun, da er ihn ausgesprochen und lebendig gemacht hatte, war es, als hätte die Frau aus dem Volke draußen den Satz bereits gehört und das ganze Volk ebenfalls. Ja, es war sein Volk, es waren seine Franzosen! So sprach er zu ihnen immer das rechte Wort in der rechten Zeit, und hätte er es selbst nicht gesprochen, sie hätten es erahnt und gewußt, wie eben jetzt. Er kannte all die Menschen draußen, das Volk aus den Vorstädten, die Unteroffiziere und die Offiziere, die Frauen mit den roten Tüchern, viele mit Veilchen geschmückt, all die Kinder des Vaterlandes, und die süßen Trommeln der Marseillaise zitterten durch den großen Paukendonner, den sie draußen ertönen ließen. Es war plötzlich auch ein alter, lieber, vertrauter Geruch im kaiserlichen Zimmer, wie ein lieber Gast kam er durch die Fenster: der Geruch der Soldaten, der Geruch des Volkes, des Pulvers, der dampfenden Suppe im Biwak, des knisternden angezündeten Reisigs, und auch der Geruch des warmen menschlichen Blutes: ja, auch er, der Dunst des warmen menschlichen Blutes.

Der Kaiser fühlte einen ungekannten Stolz in sich aufsteigen, einen ganz andern als jenen, den er am Abend nach den siegreichen Schlachten empfunden hatte, nach einer Begegnung mit hochmütigen und geschlagenen Feinden, die ihn um Frieden baten: Es war ein neuer Stolz, ein ferner und sehr adliger Bruder jenes Stolzes, den er so gut gekannt hatte. In der Stunde, in der er sich selbst auslöschte und gering machte, erhob ihn und erhielt ihn das Volk von Frankreich selbst. Die Krone, die er sich selbst aufgesetzt hatte, legte er jetzt nieder; da setzte ihm das Volk eine neue auf, eine unsichtbare, aber eine echte, eben jene, die er immer ersehnt und nie zu erreichen verstanden hatte. Solange er dieses Volk von Frankreich beherrscht hatte, war es ihm unsicher und wankelmütig erschienen. Nun aber, da er sein Zepter zerbrach, wurde er der wirkliche Kaiser von Frankreich. Immer noch rief man draußen: »Es lebe der Kaiser!« Im Zimmer verrieten die Versammelten eine noch größere Unruhe. »Schließt die Fenster!« befahl der Kaiser. Man schloß sie, und die Rufe kamen dennoch immer noch fern und gedämpft herein.

In diesem Augenblick schluchzte einer der Männer laut auf, es war ein heftiger Ton, schnell wieder gebändigt, wie in der Mitte zerschnitten, aber stark und erschütternd genug, so daß den andern die Tränen in die Augen stiegen. »Ich kann nicht weiterschreiben«, sagte der Bruder des Kaisers ganz leise. Er flüsterte fast, aber in der Stille hörten es alle deutlich. Sie kennen mich nicht, auch jetzt noch nicht, dachte der Kaiser. Ich bin stolz und gleichgültig, die Trauer habe ich eben kennengelernt, die Wehmut tut mir wohl, ich könnte sagen, ich sei glücklich. Und sie weinen, meine Freunde! Jeder Grenadier hätte mich verstanden . . . Und unwillig befahl er: »Fleury de Chaboulon, setzen Sie sich hin, und schreiben Sie weiter:

Mein politisches Leben ist zu Ende. Ich ernenne meinen Sohn, unter dem Namen Napoleon der Zweite, zum Kaiser der Franzosen.«

Alle schwiegen. Die Feder kratzte hurtig und unwirsch. Plötzlich hörte man einen starken Tropfen auf das Papier fallen. In dieser Stille klang es hart, wie wenn ein Tropfen Wachs von einer Kerze aufs Papier gefallen wäre. Aber es war kein totes Wachs, es war eine lebendige Träne. Sie fiel aus dem Auge des Schreibers aufs Papier, die nächste hielt er schnell mit dem linken Ärmel auf, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.

Der Kaiser riß ihm das Papier aus der Hand. Er unterschrieb, mit fliegender Schrift, wie es seine Art war. Und während des kurzen Augenblicks, den seine Unterschrift brauchte, lag ein großer, starker und hehrer Glanz in seinen gesenkten Augen, die niemand sah, und seine Lippen krümmten sich ein wenig. Seinen Mund sahen alle, und sie hielten dafür, daß der Kaiser leide. Er aber litt nicht: Er verachtete nur. Er stand auf, umarmte den Schreiber und verabschiedete alle. Er hatte abgedankt. Und ihm war, als hätte man ihn jetzt erst zum erstenmal gekrönt.

VII

Er blieb allein bis zum Abend. Nur sein Diener kam, der junge Mann, den er liebte. Er brachte ein Essen, wie es der Kaiser mochte, wenn er allein war: ein schnell verzehrbares, ein mit Ungeduld zu verzehrendes. Die sanften Augen des jungen Mannes waren verschleiert, auch hielt er die Lider halb geschlossen, sein sonst gesund gebräuntes und straffes Angesicht war gelblich und plötzlich von vielen Falten gezeichnet. Er sah aus, als käme er aus einem großen Schrecken oder von einer weiten, harten Wanderung oder aus einem wüsten Traum. »Bleib hier!« sagte der Kaiser. »Setz dich hin, nimm jenes Buch dort«, er wies auf das kleine Tischchen, auf dem Bücher und Karten aufgehäuft lagen. »Lies mir vor, Anfang oder Mitte, es ist gleich!«

Der Diener gehorchte. Er setzte sich und begann zu lesen. Es war ein Buch über Amerika, und er begann von der ersten Seite an zu lesen, aus Hochachtung vor dem Buch und auch vor dem Kaiser. Er las fleißig, aufmerksam, eintönig, wie er einst als Knabe in der Schule gelesen hatte, er prägte sich alles ein, die Art des Bodens, der Pflanzen, der Menschen, er las viele Seiten, wagte nicht, die Augen von den Seiten zu erheben, fühlte nur, daß der Kaiser nicht immer zuhörte, bald aufstand und zum Fenster trat, dann wieder an den Tisch zurückkehrte, ahnte, daß der Kaiser bald anfangen würde zu sprechen, wurde unruhig und las immer schneller. »Genug!« sagte der Kaiser. »Sieh mich an!« – Mitten in einem Satz unterbrach sich der Diener. Er sah den Kaiser an. »Hast du auch geweint, mein Sohn?« fragte der Kaiser.

»Jawohl, Majestät!«, und schon fühlte er, daß er wieder weinen müsse. »Siehst du«, begann der Kaiser, »du bist jung, du bist noch nicht in Ordnung gekommen mit der Welt und den Gesetzen des Lebens. Merk dir, was ich jetzt sage, aber wiederhol's nicht vor aller Welt – und vor allem schreib's niemals auf. Denn eines Tages, ich weiß es, wirst auch du deine Erinnerungen aufschreiben wollen, das wollen wir alle, die wir etwas erlebt haben. Also behalt es für dich, was ich dir sage: Alles gehorcht unbegreiflichen, aber ganz bestimmten Gesetzen: die Sterne, die Winde, die Zugvögel, die Kaiser, die Soldaten, alle Menschen, alle Pflanzen. Das Gesetz, nach dem ich gehandelt habe, ist erfüllt. Jetzt will ich endlich versuchen zu leben. Verstehst du?« – Der Diener nickte. »Sag«, fragte der Kaiser, »weinst du über mein Unglück? Hältst du mich für einen Unglücklichen?« Der Diener erhob sich, er konnte nicht antworten. Er öffnete den Mund, zögerte, senkte die Augen und sagte: »Majestät, ich weiß nur, daß ich selbst sehr unglücklich bin!« »Also, geh!« befahl der Kaiser. »Ich will allein sein!«

Jetzt, da kein Laut mehr im Zimmer zu hören war, vernahm er wieder die unermüdlichen Rufe des Volkes vor dem Schloß. Der Abend näherte sich schon, nur das Volk, sein Volk, nur das Volk von Frankreich war so beharrlich in der Liebe. Sie wußten schon, daß er kein Kaiser mehr war, aber sie kümmerten sich nicht um seine Abdankung, sie riefen, sehnsüchtig, wie damals an jenem Abend, als er wieder heimgekommen war: »Es lebe der Kaiser!« – als hätte er nicht die größte aller Schlachten und das Leben aller Soldaten verloren. Nicht aller, dachte er plötzlich. Sein soldatisches Gehirn begann auf einmal, gleichsam gegen seinen Willen, noch einmal – ach, zum wievieltenmal schon – zu rechnen, daß er noch 5300 Gardisten hatte, 6000 Infanteristen, 700 Gendarmen, acht Kompanien Veteranen, die Armee des Generals Crouchy war noch vorhanden – und im Nu vergaß der Kaiser den ganzen verflossenen Tag, seine Abdankung, seine Pläne; er hörte nur noch die Rufe: »Es lebe der Kaiser!« – die beharrliche Werbung des Volkes, und er war wiederum der Kaiser Napoleon, ging schnell an den Tisch, schlug hastig die Karten auf, nie – so schien es ihm – hatte sein Kopf so schnell und sicher gearbeitet, Fehler, die er begangen hatte, schienen ihm kindisch, lächerliche Verirrungen, er begriff nicht mehr, warum er so blind gewesen war, auf einmal fühlte er, daß er geradezu erleuchtet sei, wie eine Gnade kam es über ihn, zu erraten, ja, besser noch: zu wissen glaubte er die Pläne seiner Feinde, er überlistete, lockte, verriet, verstrickte, schlug und verdarb sie, befreit war endlich das Land, er schlug sie noch weiter, die Feinde, weit über die Grenzen, schon erreichte er die Küste, England floh auf seinen Schiffen den sichern Ufern der Insel zu – wie lange war sie selbst noch vor dem Kaiser sicher? Eines Tages überquert man auch das Meer, das ewig feindliche, manchmal aber auch gnädige Element und nahm Rache, Rache! Oh, süße Rache!

Es wurde schon dunkel, der Kaiser aber las so eifrig in den Karten, daß er es kaum bemerkte – ja, er las gar nicht in der Karte, er sah die lebendigen Dörfer, die Weiler, die Wege, die Hügel, das Schlachtfeld, alle möglichen, alle künftigen Schlachtfelder, viele Schlachtfelder, tausend Schlachtfelder, und auf einmal auferstanden sie auch alle, die geliebten Kampfgenossen seiner Jugend, die gefallenen Brüder, die Generäle und die Grenadiere, der Tod gab sie ihm wieder, keinen, keinen brauchte er mehr, mit den zurückgekehrten Toten allein siegte er. Es war die größte Schlacht seines Lebens, die wunderbarste, die kunstreichste, der Sieg war ein Spiel, anmutig beinahe in seiner ganzen Furchtbarkeit.

Es klopfte, er wachte auf. Man meldete ihm den Minister Carnot. Man brachte zwei Armleuchter mit brennenden Kerzen. Man entzündete den Kronleuchter. Man ließ den Minister ein.

»Sie haben mich gestört!« sagte der Kaiser.

»Ich bitte um Verzeihung, Majestät!«

»Ich verzeihe. Aber Sie haben mir die schönste Schlacht zerstört. Ich kann siegen. Ich kann sie bis zu den Grenzen jagen. Ich brauche nicht mehr Soldaten, als mir zur Verfügung stehen. Ich kann siegen!«

»Es ist zu spät, Majestät. Man wird Ihnen den Aufenthalt hier verbieten. Sie sind gefährdet, wenn die Feinde kommen. Die Minister können nicht für Ihr Leben haften. Sie müssen fort!«

Es wurde plötzlich sehr heiß im Zimmer, der Kaiser öffnete selbst eines der Fenster, und mit unendlicher Wucht donnerte ihm der Ruf der Menschen entgegen: »Es lebe der Kaiser!«

Er wandte sich nicht um, er sagte laut (den Rücken wandte er dem Minister zu, seine Ohren atmeten den liebenden, geliebten, tosenden Ruf der Menge ein): »Ich muß also fort! Ich muß also dennoch fort!«

VIII

Es war ein warmer, goldener Sommer. Er sah aus wie die letzte, strahlende Huldigung des Landes, der Erde Frankreichs, des französischen Himmels. Es schien, als sprächen der französische Himmel und die französische Erde: »Du wirst niemals mehr einen französischen Sommer sehen, Kaiser Napoleon! Nimm hier die Erinnerung an den schönsten mit, den wir dir geben können!«

 

Er war kein Kaiser mehr, er war ein Gefangener, im Schloß Malmaison, im Schloß seiner ersten Frau, der toten Kaiserin Josephine. Ihre Tochter Hortense wohnte hier. Manchmal erinnerte sie ihn an die tote, geliebte, jetzt doppelt geliebte Mutter. Die Art, wie sie den Nacken beugte, die Speisen zerschnitt, wie sie sich zurücklehnte, ein ganz bestimmtes Lächeln zeigte, wenn man etwas sagte, was sie nicht begreifen konnte und auch nicht zu begreifen wünschte: dies hatte sie von der Mutter, und deswegen war sie dem Kaiser teuer. Zugleich fühlte er auch eine kleine, eine ganz winzige Eifersucht gegen sich selbst: Seine Frau, die Kaiserin Josephine, sollte die einzige Frau bleiben, die er geliebt hatte, ebenso wie er der einzige Kaiser des Volkes von Frankreich gewesen war.

Ach, es gab nichts mehr zu tun, als sich den Erinnerungen an diese Frau hinzugeben. »Hier bin ich mit ihr gegangen«, sagte er in der und jener Allee, als wäre es gerade nur diese Allee, in der er mit ihr gewesen war. – »Sehen Sie«, sagte er zum Minister Carnot – und er merkte gar nicht, daß er, mitten im Erzählen, in einen anderen Weg eingebogen war – »hier, ich wollte es Ihnen längst sagen, hat sie mein Sohn besucht. Sie hat ihn geküßt. Welch eine Frau. Sie hat das Kind geliebkost, das Kind der anderen, und eigentlich dieses Kindes wegen hatte sie doch aufgehört, Kaiserin zu sein. Hören Sie, Carnot!«

»Jawohl, Majestät!« sagte der Minister.

Dieser Minister war, solange er lebte, ein Feind des Kaisers, einen Verräter an der Freiheit nannte er ihn; oh, ein hartes und eindeutiges Herz zeichnete diesen Minister aus. Jetzt aber, im goldenen Abend, während sie so dahingingen, während er dem Kaiser zuhörte, seinen Erzählungen, die die Wahrheit liebevoll entstellten, seinen Irrtümern, seinen Kümmernissen, die er preisgab, begann er, zum erstenmal, sachte nur, aber ganz deutlich zu erkennen, daß es noch andere Gesetze in der Welt gab als jene, nach denen er selbst lebte, andere Gesetze als die der starren Überzeugung und des Gewissens, der Treue und des Verrats. »Majestät«, sagte er, mit der groben Offenheit eines alten Jakobiners, »ich frage mich, wenn ich Sie so sprechen höre, weshalb ich so lange geglaubt habe, ich müsse Sie für einen Verräter halten. Heute – aber es ist leider zu spät – halte ich Sie für den treuesten Mann auf dieser Welt!«

»Dafür ist es nie zu spät«, sagte leise der Kaiser.

Der Diener kam ihnen entgegen. Er meldete die Gräfin Walewska. Lange, so schien es dem Kaiser, hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie stand da, ihr Kind, sein Kind, an der Hand, das Angesicht halb verschleiert und im schwarzen Kleid, er erschrak eine Sekunde lang und stockte, er hatte die Empfindung, sie sei zu seinem Begräbnis gekommen, er sei schon eine Leiche. Vielleicht bemerkte sie sein Erschrecken, sie kam ihm entgegen, beugte sich über seine Hand. Er nahm ihren Arm und führte sie in das Zimmer, das er einst für sich hatte herstellen lassen, nur um die Kaiserin Josephine zu trösten und um sie glauben zu machen, er wolle sich häufig hier aufhalten. Er gab dem Knaben die Hand, lächelte und stand lange stumm da vor der Frau. Er zeigte ein paarmal mit der Hand auf das Sofa. Aber sie blieb stehen. »Ich wollte Sie noch sehen«, sagte sie. Vor kurzem noch war ihr Angesicht schmal und fein gewesen, wie vor Jahren, als er sie kennengelernt hatte. Jetzt erschien es hager, wüst und abgehärmt. Wie schnell verwandelten sich die Frauen, und besonders die liebenden und die leidenden! Ein zarter, silberblonder Flaum hatte einst ihre weißen, schmalen Wangen bedeckt, ein süßes Moos, sein Mund hatte einst darauf geruht. Jetzt waren die Wangen nackt, kahl und eingefallen. Die Lippen bildeten einen schmalen, strengen Spalt.

»Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten, Majestät«, sagte dieser sparsame Mund.

»Keineswegs, keineswegs, wofür, wozu?« rief der Kaiser.

»Doch«, sagte die Gräfin, »deswegen bin ich gekommen, ich muß es Ihnen sagen. Ich muß es Ihnen sagen«, wiederholte sie.

»Ja, bitte!« sagte der Kaiser, fast ungeduldig. Er wußte alles, was sie ihm sagen wollte.

Sie schwieg, erschreckt durch seine Ungeduld. Alles hatte sie sich genau zurechtgelegt, jetzt waren alle Worte verschwunden und ausgelöscht. Nicht einmal weinen konnte sie.

Der Kaiser trat an sie heran, legte sachte beide Hände an ihre Arme, die großen, hellen Augen näherte er ihrem Angesicht und sagte: »Sie wollten mir gestehen, daß Sie mich nicht immer geliebt haben. Ich weiß es längst. Sie haben nur Polen geliebt, Ihr Vaterland. Sie haben meine Liebe angenommen, um Polen frei zu machen. Hierauf erst lernten Sie ein klein wenig den Kaiser lieben. Nicht wahr? Dies wollten Sie mir sagen?«

»Es ist nicht alles!« sagte sie.

»Was sonst?«

»Ich liebe Sie heute, Majestät!« erwiderte sie und hob das Angesicht, trotzig beinahe. »Ich liebe Sie heute, Sie allein, nicht mehr mein Vaterland, nicht mehr den Kaiser. Wohin Sie auch gehen, ich will Ihnen folgen.«

Der Kaiser trat zurück. Er schwieg eine Weile, dann sagte er hart und klar, mit jener Stimme, mit der er gewohnt war, zu Soldaten zu sprechen: »Gehen Sie, Gräfin! Es ist wenig Platz neben mir. Gehen Sie, bitte. Ich liebe Sie immer. Ich werde Sie nie vergessen. Ich liebe Sie immer.«

Er sah ihr zu, wie sie hinausging, stolz und fest, auf den schlanken, starken Beinen, die er liebte, mit dem kühnen Schritt, der den ganzen Körper bewegte und noch die zarten, schwachen Schultern straff, stark und königlich machte.

Er dachte daran, daß er hart gewesen war. Aber es war die einzige Frau, von der er wußte, daß sie ihn begriff, seine Härte liebte sie. Und sie verstand wohl auch, daß er mit ihr nicht länger hätte bleiben können. Er lauschte eine Weile. Er hörte ihr Schluchzen draußen hinter der Tür und die tröstende Stimme seiner Tochter Hortense.

Eine große Ungeduld erfaßte ihn, er wollte keine Stunde mehr bleiben. Er hatte sein Gesetz erfüllt, schon eilte er neuen Horizonten entgegen. Er ließ seinen Bruder kommen, seine Freunde Bassano, Flahaut, Lavalette. »Ich will fort!« rief er. »Wo wartet das Schiff? Wo sind die Pässe? Wohin darf ich endlich? Ich will fort, ich will fort!«

»Die Feinde sind da«, erwiderte ganz ruhig der General Lavalette.

»Die Preußen sind in Bourget.«

»Und die Engländer?«

»Man hat noch keinen gesehn!« erwiderte der General.

Der Kaiser verließ plötzlich das Zimmer. Stumm und bestürzt sahen sich die vier Männer an. Ehe noch einer etwas sagen konnte, trat er wieder ein, mit dem Degen, gestiefelt und gespornt, in der Uniform der Gardejäger.

»Ich werde sie aufhalten!« schrie er, so laut, daß der Kronleuchter klirrte. »Laßt die Pferde satteln! Ich werde sie aufhalten! Alles kann ich, alles können die französischen Soldaten! Geht hin und sagt den Herren, ich wünsche Vollmacht, die Preußen aufzuhalten. Ich brauche keine Krone mehr. Ich bin kein Kaiser mehr. Ich brauche eine Division! Ich bin ein Divisionär!«

Jetzt schwieg er. Alle waren stumm und starr, nur der Kronleuchter zitterte und klirrte. Da ertönte draußen der Gesang der vorbeiziehenden Soldaten. Man hörte deutlich das Halt-Kommando des Offiziers und den jähen Aufschlag der Stiefel. Die Soldaten machten Front zum Schloß: »Es lebe der Kaiser!« riefen sie.

»Also, morgen reiten wir!« befahl der Kaiser.

IX

Nein! Sie ritten morgen nicht. Kaum hatten die Männer das Zimmer verlassen, so wußte der Kaiser auch schon, daß man ihm nicht einmal gestatten würde, ein Divisionär zu werden. Er schnallte seinen Degen ab und schleuderte ihn auf den Tisch. Er rief nach seinem Diener. Er ließ sich die Stiefel und die Uniform ausziehen. Er kam sich selbst sehr lächerlich vor, knabenhaft war sein Elan gewesen, ach, es war wie ein alter Traum gewesen, ein eitler Traum; wer eine große Schlacht als Kaiser verloren hatte, gewann keine kleine mehr als Oberst oder als General. Er sah es ein, er schwieg, als man ihm berichtete, daß es ihm verboten sei, die Stadt zu verteidigen. Paris erwartete schon die Feinde, er wußte es längst, obwohl sie draußen immer wieder riefen: »Es lebe der Kaiser!« Paris erwartete sie schon, die Feinde und den König, und die Rufe draußen hatten keinen wirklichen Klang mehr, sondern einen historischen. Sie waren wie Rufe im Theater. Sie galten gar nicht mehr ihm, dem lebendigen Napoleon, sondern bereits dem toten, dem verewigten.

Er hatte nur noch Abschied zu nehmen und dann zu gehen, weit weg, irgendwohin sollte ihn irgendein Wind verwehn, ein gnädiger oder ein gehässiger. Er war bereit, sich dahintragen zu lassen, er wartete sogar sehnsüchtig darauf. Nur schnell Abschied nehmen, vom Bruder, von der Tochter, von den Freunden. Nun blieb der schwerste Abschied, der Abschied von der Mutter.

Er bestimmte für diesen Abschied das dunkelste Zimmer im Hause, die Bibliothek. Schwach und lichtscheu wurden seit langem schon die Augen seiner Mutter. Sie kam am Vorabend, gestützt von zwei Hofdamen, gefolgt vom Diener des Kaisers, im schwarzen Kleid, ohne Schmuck. Als sie eintrat, war es, als verdunkelte sich der Raum noch mehr. So groß erschien sie, so stark, obwohl sie sich stützen ließ, so gewaltig, obwohl ihr Angesicht schmal war, blaß und abgehärmt, daß sie sofort den ganzen Raum erfüllte mit dem düstern Atem ihrer betrübten Würde. Schatten verbreitete sie. Es sah aus, als käme sie nicht, vom lebenden Sohn Abschied zu nehmen, sondern bereits, einen toten zu bestatten. Das zartbraune Gold der Bücherrücken ringsum an den Wänden erlosch, das ohnehin verdunkelte Zimmer, vor dessen Fenstern die dunkelgrünen Portieren zugezogen waren, verfinsterte sich zusehends. Nur das blasse Angesicht der Mutter schimmerte, nur ihre dunklen, großen, schwachsichtigen Augen leuchteten. Sie machte eine Bewegung, der Diener verschwand, die Frauen folgten ihm. Der Kaiser selbst stützte die Mutter. Er hatte sie kaum fünf Schritte zu führen, bis zum breiten, dunkelgrünen Lehnstuhl, aber er wünschte, dieser Weg würde immer weiter und weiter werden, bei jedem Schritt blieb er stehen, schwächer noch war er als die Mutter, seine Knie wankten, und sein Arm zitterte. An seinem rechten Arm ging sie, mit der Linken faßte er nach ihrer linken Hand und küßte sie bei jedem Schritt. Es war eine große, kräftige Hand, mit langen, starken Fingern, mit winzigen Runzeln an den Kuppen und erschreckend weißen Nägeln, entspringend einem knochigen und muskulösen Handgelenk, mit dicken, blauen Adern am Rücken. Wie oft hatte ihn diese Hand gezüchtigt und auch geliebkost und auch in der Züchtigung noch geliebkost. Ein kleines Kind war er wieder, ausgelöscht waren die stürmischen und blutigen Jahre seines Ruhms und seiner Furchtbarkeit, der Anblick der mütterlichen Hand allein machte ihn klein und jung, jetzt erst dankte er ab, jeden Augenblick, jeden Augenblick, in dem er die Hand seiner Mutter aufs neue an die Lippen führte. Als er sie sachte in den Lehnstuhl bettete, rührte sein Ellenbogen einen kurzen Augenblick an ihre volle Brust, ein guter Schauer durchrann seinen Arm, gelangte von hier in sein Herz, er zitterte leicht, es war ein wonniges Zittern, wie einst, das wonnige Zittern des Kindes an der Brust der Mutter. Sie überragte ihn, er kam sich ganz klein vor, er schob einen Sessel nahe an den Lehnstuhl, aber ihm war, als müßte er auf einem Schemel Platz nehmen, zu ihren guten Füßen. Jetzt saß er ihr ganz nahe gegenüber, ihre Knie berührten sich fast, immer größer, stolzer, erhabener schien sie in ihrem Lehnstuhl zu werden, immer kleiner machte sich der Kaiser, er duckte sich geradezu, und sein Kopf sank auf die Brust. »Sieh mich an«, sagte die Mutter mit ihrer tiefen, starken Stimme, und sie streckte die Hand aus und hielt die Finger unter das Kinn ihres Sohnes, um es emporzuheben. Er gehorchte, hob einen Augenblick den Kopf, ließ ihn aber sofort wieder sinken, seine Schultern bebten. Die Mutter breitete die Arme aus, da fiel er vornüber mit dem Kopf in ihren Schoß. Ihre Finger begannen, sein glattes Haar zu streicheln, langsam zuerst, dann immer heftiger und schneller, sie kämmte die Haare mit den Fingern, fühlte mit mütterlicher Wollust, wie sie sich sträubten, und glättete sie wieder, streichelte den Scheitel, beugte sich nieder und küßte den Kopf ihres Sohnes. Dabei hielt sie ihn an den Schultern fest, als fürchtete sie, er könnte ihr entweichen. Er wollte es gar nicht, er wollte ewig so liegen, im guten Schoß der Mutter, auf dem schwarzen, schwarzen Kleid. Ihre Hände wanderten über seinen Kopf, zehn gute, mütterliche Finger, hoch oben sagte ihr Mund etwas, in der alten Sprache seiner Heimat, er hörte nicht genau den Sinn, er wollte es auch nicht, ihm genügte der altvertraute Klang der Stimme, der Sprache seiner Mutter, der Muttersprache. Oft, sehr oft, dachte er, hätte man so daliegen müssen, den Kopf im Schoß der Mutter! Wozu hatte man in allen Sätteln gesessen, wozu war man durch alle Länder gegangen, gut, gut war der Schoß der Mutter, böse, bös sind die Sättel und die Schlachtfelder, die Throne auch, und die Kronen tun weh, in den Schoß der Mutter gehört der Kopf des Sohnes. Aus diesem Schoß war er gekommen, wie lange war es her, sechsundvierzig Jahre, über die Welt hatte er geherrscht, könnte er doch jetzt sofort sterben, so, wie er dalag, gleichsam in den Schoß der Mutter zurückkehren. Seinetwegen, des Kaisers wegen, waren Vieltausende gestorben, vieltausend Söhne hätten jetzt, wie er, sich betten können im Schoß ihrer Mutter. Er rührte sich nicht, er lag ganz still da, seine Mutter erschrak einen Augenblick, sie sagte: »Steh auf, steh auf, Nabulio!« »Nabulio«, sagte sie, wie sie ihn als Knaben genannt hatte. Er erhob sich rasch, gehorsam, seine Augen waren ganz trocken und glänzten stark und blank, wie erfüllt waren sie von gefrorenen Tränen.

»Ich gehe«, sagte die Mutter. »Ich werde dich nicht verlassen, mein Kind! Ich folge dir überallhin, schönstes, liebstes meiner Kinder!«

»Ich gehe allein, Mutter«, sagte der Kaiser, stark und laut. Und da er schon fürchtete, er sei zu hart gewesen, sagte er: »Sei gewiß, Mutter, ich kehre zurück, wir sehen uns wieder!« Er log, sie wußten es beide, die Mutter und der Sohn.

Sie erhob sich, ging zur Tür, sah sich noch einmal um, umfaßte den Nacken des Kaisers, küßte ihn auf die Stirn. Die Tür öffnete sich, sie ging hinaus, der Kaiser folgte ihr bis zur Treppe, aber sie wandte sich nicht mehr um, von dem Augenblick an, in dem die Hofdamen herangetreten waren. Wie er sie so die Treppe hinuntersteigen sah, mit starkem Rücken, aufrecht, mit herrschaftlichen Schultern und sicherem Schritt, rief er laut: »Adieu, Mutter!«

Sie blieb stehn, wandte sich auf der vorletzten Stufe um und sagte: »Adieu, mein Sohn!«

Er kehrte schnell um, ging ins Zimmer der toten Kaiserin, ins Zimmer mit dem himmelblauen Plafond, vor dem breiten Bett stand er eine geraume Weile. Es war fast so gütig wie der Schoß der Mutter; nur diese beiden Seligkeiten gab es, den Schoß der Mutter, das Bett der Geliebten – und noch eine dritte vielleicht, die kannte man noch nicht, die wird man schon kennenlernen, die Umarmung des Todes, des alten, guten Bruders. Es war späte Nacht, der Morgen graute schon, da ging er in sein Zimmer, legte seine Uniform ab, zog einen braunen Rock an, einen runden Hut, eine blaue Hose, gürtete den Degen um und verließ das Schloß durch eine Hintertür. Draußen vor dem Portal wartete das Volk und schrie unermüdlich, unerbittlich: »Es lebe der Kaiser!« Er blieb noch einen Augenblick stehen. Die Rufe donnerten, die beharrlichen Rufe des beharrlichen Volkes. Eine leere Kalesche wartete vor dem Hauptportal, damit das Volk glaube, dort wolle der Kaiser einsteigen. Die nächtlichen Grillen zirpten noch schwach und immer schwächer, der Morgen brach wuchtig und siegreich an. Die ersten Vögel zwitscherten schon. Als flöhe er vor der Sonne, stieg der Kaiser hastig in den Wagen. Jetzt sah er sich nicht mehr um. Er zog selbst die Vorhänge vor die Fenster des Coupés. »Vorwärts!« rief er mit fester Stimme. Und sie fuhren.

Die Räder knirschten zart und wehmütig, und die Achsen stöhnten wie menschliche Stimmen.

X

Er schlief ein in der Kalesche. Die Sonne erhob sich, wie an allen vorhergehenden Tagen, wuchtig und golden. Schon der Morgen war heiß wie ein Mittag. Die Räder der Kalesche knirschten, und die Achsen stöhnten. Die drei Begleiter des Kaisers schwiegen. Sie sahen auf das schlafende Antlitz des Kaisers. Es war blaßgelb, manchmal öffneten sich die Lippen, ließen die blanken, gleichmäßigen, blitzenden Zähne frei, stießen einen leisen Seufzer aus, schlossen sich wieder. Man ließ sachte die Fenster herunter, die Hitze im Wagen war unerträglich. Vom frischen Windzug erwachte der Kaiser. Er schlug seine großen, hellen Augen auf, fuhr mit der Hand über seine Stirn, sah einen Augenblick fremd und ratlos seine Begleiter an, als erkenne er sie nicht wieder. Hierauf lächelte er ihnen zu, wie um sie zu versöhnen, fragte, ob er lange geschlafen habe und wo sie sich befänden. »Bei Poitiers«, sagte der General Bekker. – Poitiers – es war noch weit von der Küste! Der Kaiser war sehr ungeduldig, er wollte schnell die Küste erreichen. »Beeilen wir uns, meine Herren!« sagte er, »ich habe Sehnsucht nach dem Meer. Ich will das Meer sehn, ich will das Meer sehn! . . .«

Sie blieben stumm, erstaunt und auch ein wenig erschrocken. Sonderbar erschien ihnen die Rede des Kaisers, sie tauschten untereinander ein paar unruhige Blicke. Der Kaiser bemerkte die Unruhe seiner Begleiter. Er lächelte. »Wundert euch nicht«, begann er, »daß ich mich nach dem Meer sehne. Ich habe genug von der Erde. Das Schicksal hat wahrhaftig billige Einfälle, wie ein billiger Dichter. Ich bin mitten im Meer geboren, ich möchte es wiedersehn. Ich möchte auch Korsika wiedersehn, aber dazu wird es nicht kommen. Das Meer aber, meine Herren, jedes Meer erinnert mich an Korsika.«

Keiner von seinen Begleitern begriff deutlich, was er sprach, aber sie hatten alle feierliche, lauschende Gesichter. Er sah wohl, daß sie ihn keineswegs verstanden. Wie weit bin ich schon von den Menschen entfernt! dachte er. – Vor einer Woche noch verstanden sie einen Wink meines Fingers, einen Blick, jede Bewegung meiner Lippen, nun aber verstehen sie nicht mehr meine deutlichen Worte. Man muß ihnen, dachte er weiter, ganz einfache Sachen sagen. Und obwohl ihn im Augenblick gar nicht danach gelüstete, sagte er aus Gefälligkeit: »Bitte Schnupftabak!«

Man reichte ihm eine offene Dose, er nahm eine Prise, zog sie langsam ein und mit gespieltem Genuß und schlug den Deckel zu. Er wollte schon das Kästchen zurückgeben, da fiel sein Blick auf den Deckel. Er enthielt das Miniaturporträt der Kaiserin Josephine, das lächelnde, liebe Angesicht, die bräunlichen, breiten Wangen, den großen, edlen, roten Bogen des Mundes. Schlank und kräftig leuchtete der Hals, lockend, zierlich und neugierig lugten die Brüste aus dem Ausschnitt. Der Kaiser betrachtete die Dose genau, fuhr mit der Hand über den Deckel, führte ihn ganz nahe an die Augen, hierauf an die Lippen und sagte: »General, darf ich sie behalten?« Der General verneigte sich stumm. Der Kaiser behielt die Dose in den gefalteten Händen. Er schloß die Augen. Er schlief wieder ein.

Am frühen Abend erreichten sie Niort. Er stieg im Hotel »Zur goldenen Kugel« ab. Man erkannte ihn nicht. Der Wirt kam, dick, rundlich, lautlos auf ihn zu, er selbst eine Kugel, eine sanfte Kugel aus rotem Gummi, er bewegte sich so, als hätte ihm irgendein unsichtbarer Spieler einen Stoß gegeben, damit er seinen jeweiligen Zielen zurolle. Er rollte sogar auch die Treppe empor, öffnete das Zimmer, versuchte eine Verbeugung, die vollkommen mißlang, und sagte, aus verzweifeltem Respekt und verwirrt von dem Glanz der Kalesche und der vornehmen Herren: »Euer Hochwürden, hier ist das Zimmer!« – zum Kaiser. »Diesen Titel hätten Sie Herrn Talleyrand sagen können!« murmelte der Kaiser. Als der Wirt Anstalten machte, die Treppe wieder hinunterzurollen, hielt ihn der Kaiser am Rock fest und befahl: »Bleiben Sie!«

Der Kaiser warf den runden Hut auf das Bett, der Wirt erblickte seine Stirn, die schwarze Haarsträhne, das helle Aug' – und er erschrak gewaltig. Unten in seiner Gaststube hing das Bild des barhäuptigen Kaisers. Auf alle Teller gemalt, auf alle Messergriffe graviert war dieses Angesicht, unvergeßlich eingeprägt auch dem Hirn der Menschen. Dieser Herr sah aus wie der Kaiser – und der Wirt rollte einen Schritt zurück zur Tür. Zwischen dem Drang, auf die Knie zu fallen, und der Furcht, die ihm riet, das Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen, schwankte er noch eine Weile; und der Kaiser, der den Jammer des Mannes erkannte, lächelte und sagte noch einmal: »Bleiben Sie! Haben Sie keine Angst!«

Ja, jetzt wußte der Wirt genau, vor wem er hier stand. Er wollte niederknien, aber seine fette Gestalt erlaubte ihm nur niederzufallen, und also lag er nun vor den Füßen des Kaisers und stammelte unverständliche Sätze. »Stehn Sie auf!« befahl der Kaiser, und überraschend schnell erhob sich der Mann, schon stand er nahe an der Tür, sein fetter, rundlicher Rücken berührte sie, und seine schwarzen, großen, hervorstehenden Augen rollten (auch sie wie Kugeln) nach allen Richtungen, jammervoll und ratlos.

Durch das Fenster drangen in diesem Augenblick die fröhlichen und wehmütigen Stimmen wiehernder Pferde, das laute Sprechen und das rauhe Lachen der Männer. – Sofort trat der Kaiser ans Fenster. Unten auf dem Platz vor der Herberge sah er Soldaten, seine Soldaten, seine Pferde. In einem Augenblick vergaß er alles: seine Abdankung und das Meer, nach dem er sich soeben gesehnt hatte, nur die Soldaten sah er noch. Er vergaß sogar den Wirt, der noch an der Tür lehnte, jetzt gleichsam eine gelähmte Kugel. Auf einmal hob einer der Soldaten den Kopf zum Fenster, erblickte und erkannte den Kaiser, und im nächsten Augenblick standen alle Soldaten in einem Haufen da, hart unter dem Fenster, mit sehnsüchtig emporgestreckten Gesichtern, und aus ihren weitgeöffneten Mündern kam der alte Ruf: »Es lebe der Kaiser! Es lebe der Kaiser!«

Er wandte sich um, da stand der Wirt an der Tür, und auch er schrie: »Es lebe der Kaiser!« – so laut und schallend, als schrie er unter freiem Himmel und als stünde der Kaiser nicht ein paar Schritte vor ihm. Da klopfte es, und man brachte dem Kaiser die Nachricht, daß die Feinde vor Paris seien und daß ein Artilleriefeuer begonnen habe. »Schreiben Sie sofort nach Paris!« befahl der Kaiser. Der General setzte sich, der Kaiser diktierte: »Wir hoffen, daß Paris sich verteidigen wird und daß die Feinde Euch inzwischen Zeit genug lassen werden, den Ausgang der Verhandlungen zu übersehen, die Eure Gesandten eingeleitet haben . . . Über Euren Kaiser könnt Ihr verfügen als über Euren General, der einzig von dem Wunsch beseelt ist, dem Vaterland nützlich zu sein . . .«

Kaum aber hatte der General mit der Botschaft das Zimmer verlassen, da überfielen den Kaiser wieder das bereits vertraute Unglück, der Jammer, die Ungläubigkeit und die Reue über den Brief, den er soeben hatte abschicken lassen. Er war kein Kaiser mehr. Er hatte abgedankt. Wie hatte er einen Augenblick glauben können, er könnte noch ein General sein? Das Land brauchte ihn nicht! Es schickte ihn fort. Von der Küste aus hatte er es gewonnen. Es schickte ihn wieder an die Küste zurück! Er wußte es. »Weiter, weiter«, befahl er, und: »Das Meer! Das Meer!«

XI

Jetzt war das Meer da, nach dem er sich so gesehnt hatte, das ewige Meer. Jetzt saß er in einer engen Stube, im ersten Stock eines kleinen Hauses auf der Île d'Aix. Das Bett, der Tisch und der Schrank waren schwarz wie Särge aus Ebenholz. In der Nacht erwachte der Kaiser oft, das Meer ließ ihn nicht schlafen. Es war lange her, seit der Zeit, in der er hatte selig schlafen können, beim Gesang des Meeres. Jung war er damals gewesen; es war auch ein heimatliches Meer gewesen, das Meer rings um Korsika. Selbst wenn es sich empörte, zeigten seine schäumenden Wogen noch eine Art liebender Wollust mitten im Zorn, und mit ihren gischtigen Kämmen stürmten sie nicht die Küste an, sondern liebkosten sie vielmehr stürmisch. So schien es dem Kaiser heute in der Nacht, da er nicht schlafen konnte, das Fenster öffnete und den gleichmäßigen, über Gebühr tosenden Anschlag der Wellen an die Küste hörte. Ach, wie gütig war das heimatliche, das korsische Meer einst gewesen! Dies hier aber war kein französisches Meer, es war, als sprächen seine Wogen Englisch, die Sprache des Feindes, des ewigen Feindes. Ein paar Meilen weiter konnte man vom Fenster aus die Lichter sehn. Es wartete schon das englische Schiff, »Bellerophon« hieß es, Maitland hieß sein Kapitän. Diese Namen, dachte der Kaiser, werden durch mich ewig werden, sie verdienen es nicht! »Bellerophon« und »Maitland«! Nach Jahrhunderten wird man von ihnen sprechen – das Schiff wird versunken sein, oder man wird seine Bestandteile zu einem neuen gebraucht haben; dieser Kapitän wird auf dem Grunde des Wassers liegen oder auf einem der englischen Friedhöfe. Ich selbst werde tot sein und in einem solideren Sarg liegen wahrscheinlich! Aber auch den werden die Würmer eines Tages zernagen. Solch ein Sarg wird es sein, wie dieser schwarze Schrank aus Ebenholz hier im Zimmer, wie dieses schwarze Bett, in das ich mich lege und das jetzt schon aussieht wie ein Katafalk. Ihre Namen aber wird man kennen, »Maitland« und »Bellerophon«, »Bellerophon« und »Maitland« . . .

Es kam der Bruder des Kaisers, Joseph. Der Kaiser hatte ihn längst erwartet. Als er eintrat, dachte Napoleon: Du hättest früher kommen können. Aber er sagte: »Gut, daß du da bist!« Sie umarmten sich, kurz und kalt. »Nun?« fragte der Bruder. Es war, als forderte er Rechenschaft. »Ich weiß, was du meinst«, sagte der Kaiser. »Du meinst, ob ich mich entschlossen habe, vor den Engländern zu fliehen. Nein! Ich habe mich entschlossen, mich den Engländern zu ergeben!«

»Du hast alles genau bedacht?«

»Nein. Nicht bedacht. Ich überlege längst nicht mehr, seitdem ich erfahren habe, daß mein armer Kopf versagt. Ich überlasse mich meinem Herzen. Ich weiß, ich weiß, so erscheint man undankbar, undankbar, ich weiß. Ein paar edle Menschen haben genaue Pläne, sie wollen mich entführen, sie können es wahrscheinlich. Ich will aber nicht, hörst du? Ich will nicht! Manchmal, wenn ich nicht schlafe – ich kann nur selten schlafen –, sehe ich Leichen, Leichen; all die Leichen, die auf meinem langen Wege liegen. Häufte man sie übereinander, es wäre ein Berg, mein Bruder; breitete man sie aus, sie wären wie das Meer. Ich kann nicht! Wieviel Kanonen hat man meinetwegen abgeschossen? Kannst du die Schüsse zählen, nur die Geschütze? Ich will nicht mehr, daß meinetwegen ein einziger Schuß noch abgefeuert wird. Verstehst du?«

»Dir droht Gefahr«, sagte der Bruder. »Sie können dich töten.«

»Dann werde ich noch ein Leben verlieren«, erwiderte der Kaiser. »Ich habe schon so viele verloren!«

Er legte sich auf das schwarze, hochgepolsterte Bett, neben dem auf einem Tischchen aus Ebenholz ein dreiarmiger Leuchter stand, er schloß die Augen, die flackernden Kerzen warfen böse, unstete Lichtflecke über sein Gesicht. Dem Bruder schien es, der Kaiser sei schon tot und liege hier aufgebahrt.

Mein Bruder sollte wegfahren, dachte der Kaiser, allein, mit dem Geld, das er erworben und gerettet hat. Was will man noch von mir? »Laßt mich endlich, alle!« sagte der Kaiser. »Kümmert euch nicht um mich, mein Schicksal erfüllt sich selbst. Geh hin, in die neue Welt, fang ein anderes Leben an!« Den leisen Verdacht, der ihn selbst bekümmerte, spürte der Kaiser wieder: Sie wollten ihn alle retten, und sie liebten ihn auch, aber auch an sein Unglück noch hefteten sie ihre Namen, genauso, wie sie sich früher an sein Glück geklammert hatten.

»Laßt mich endlich!« wiederholte er. »Ich habe das Schicksal des Themistokles. Auch er war allein. Ich gehe zu den Feinden. Ich habe dem englischen Prinzregenten geschrieben. Ich gebe mich in seine Hände.«

»Ich muß dich noch einmal warnen«, sagte der Bruder. »Sie werden dich gefangennehmen. Sie werden dich in einem Käfig halten wie ein gefährliches Tier. Ich habe vertrauliche Berichte. Der Kapitän Maitland hat den geheimen Befehl vom Admiral, dich auf sein Schiff zu bringen, auf jede Weise, mit List oder Gewalt.«

»Er wird weder diese noch jene brauchen. Morgen oder übermorgen gehe ich freiwillig zu ihm.«

»Also nehmen wir Abschied!« sagte der Bruder kalt, feindlich fast, und er erhob sich. Der Kaiser sprang auf. Er breitete die Arme aus. Sie küßten sich zweimal, auf die Wange und auf die Stirn.

»Wir sehn uns niemals wieder!« sagte der Kaiser. Er wartete. Er hoffte, daß der Bruder jetzt, jetzt sagen würde: Nimm mich mit dir! Ich verlasse dich nicht!

Aber der Bruder sagte nur: »Du wirst wiederkommen. Wir werden dafür kämpfen und arbeiten.«

»Armer Kämpfer!« murmelte der Kaiser. Und »Leb wohl!« sagte er laut und hart. Er wandte sich um, dem Fenster zu, und er lauschte dem grollenden, gleichmäßigen Anschlag der Wogen, denen er sich morgen oder übermorgen ergeben wollte; einem feindlichen Schiff und den feindlichen Wogen.

XII

Er legte sich zeitig aufs Bett, in den Kleidern. Die sommerliche Sonne sank eben langsam, groß und wuchtig ins Meer, warf ihren roten, lodernden Widerschein gegen die Fenster und spiegelte sich in den schwarzen Möbeln. Die weißen Kissen, auf denen der Kaiser ruhte, waren wie getaucht in eine Art goldenen Blutes. Auf dem schlafenden Angesicht des Kaisers schwebte lange Zeit der rote Schimmer und verwandelte es in ein bronzenes Angesicht. Ein paar Schritte weit vom Bett, steif auf einem der steifen, schwarzen Stühle, saß der Diener des Kaisers. Pünktlich zur Mitternacht wollte der Kaiser geweckt werden.

Der rote Widerschein verblaßte, es wurde silbergraues Licht im Raum, der Leuchtturm blinkte in der Ferne und schickte einen flinken, verhuschenden Schimmer durchs Fenster, man hörte nichts, nur den stillen Atem des schlafenden Kaisers und den grollenden des ewig wachen Meeres. Der Diener rührte sich nicht. Es wurde dunkel, und er machte kein Licht. Von Zeit zu Zeit blickte er auf die kleine Standuhr am Kaminsims. Die Zeit ging langsam, die Stunden flossen nicht dahin wie sonst, obwohl die Uhr fleißig und gleichmäßig tickte wie alle Tage. Auch hörte man vom Kirchturm her die tiefe Glocke. Aber zwischen einem Glockenschlag und dem nächsten lagen Ewigkeiten, erfüllt von düsterer Stille, tiefschwarze Ewigkeiten.

Der Diener saß steif da, er fürchtete, er könnte einschlafen, er stand endlich vorsichtig auf, ging auf den Zehenspitzen durchs Zimmer, aber so sacht er auch war, der Kaiser erwachte doch sofort, richtete sich auf und fragte: »Wie spät?« – »Noch nicht Mitternacht, Majestät«, erwiderte der Diener. – »Wird alles bereit sein?« fragte der Kaiser. – »Gegen elf Uhr wird alles verladen sein, Majestät!« – »Es ist gut!« sagte der Kaiser. Er blieb noch lange liegen, mit offenen Augen.

Auf einmal schien es ihm, daß die Tür aufgehe. Er wollte rufen, aber er konnte nicht einen einzigen Laut hervorbringen. Er wußte wohl, daß er dalag, ausgestreckt und ohnmächtig, aber zugleich sah er sich aufrecht, gestiefelt und gespornt durch das große, rote Zimmer im Schloß der Tuilerien herumgehen. Die Tür schloß sich wieder, es war nicht mehr die Tür des kleinen, armseligen Zimmers, in dem er dalag, ausgestreckt und ohnmächtig, sondern die zweiflügelige, große, mit goldenen Leisten verzierte im Schloß der Tuilerien. Herein trat mit zaghaften Schritten unter unaufhörlichen Verbeugungen ein Greis, angetan mit einer langen, roten Soutane, unter der seine glatten Schnallenschuhe schamhaft sichtbar wurden. Der Kaiser stand vom Bett auf, auf einmal war er wach und jung, gestiefelt und gespornt, er ging durch das Zimmer, dem Greis entgegen, und bei jedem Schritt klirrten seine Sporen stark, allzu stark, obwohl sie der dichte Teppich hätte dämpfen müssen, und der Degen schlug mit ungeziemlichem Laut an den harten Lack der Stiefel.

»Setz dich, Heiliger Vater!« sagte der Kaiser, und er wies dem Greis einen breiten Sessel aus rotem Plüsch an, und er wunderte sich darüber, daß er dem Greise du sagen konnte.

Der Greis setzte sich und ordnete sorgfältig die Falten seiner Soutane über den Knien. Geschämig versuchte er, seine Schnallenschuhe zu verbergen. Er faltete die Hände im Schoß, und der Kaiser sah, daß es weiße, magere, von tausend blauen Äderchen durchzogene Greisenhände waren.

»Majestät«, sagte der Greis – und seine bläulichen Lippen zitterten –, »wozu haben Sie mich kommen lassen?«

Der Kaiser blieb hart vor dem Alten stehen und erwiderte: »Weil ich der Kaiser Napoleon bin! Ich brauche die Krone und den Segen des Himmels. Mir steht es nicht an, nach Rom zu pilgern. Ich habe den Himmel selbst bezwungen. Ich habe den Himmel auf die Erde gebracht. Mir steht es nicht an, nach Rom zu pilgern! Was ist Rom gegen den Himmel? Die Sterne sind meine Freunde! Was ist der Stuhl Petri gegen die Sterne? Ich will die kaiserliche Krone. Ich will, daß sie gesalbt sei. Die Sterne selbst haben mich gesegnet, die göttlichen Sterne. Damit die Menschen es mir auch glauben, habe ich dich kommen lassen, Heiliger Vater!«

»Du bist nur ein Kaiser«, sagte der Greis. »Nichts verstehst du von den Sternen! Gewalt hast du mir angetan. Gewalt tust du allen an! Alle gehorchen dir, aber der Gehorsam der Gewaltsamen ist anders als der meine. Denn ich bin kein Gewaltsamer! Ich bin der einzige Gewaltlose, der dir gehorcht – und daran wirst du untergehen. Nur Gewaltsame hast du bis jetzt bezwungen. Ich allein, ich habe keine Waffen, keine Soldaten, und ich gehorche dir, weil ich ohnmächtig bin. Und nichts ist einem Gewaltigen gefährlich, so gefährlich wie der Gehorsam der Ohnmächtigen. Der Schwache wird den Starken besiegen!«

»Ich werde«, sagte der Kaiser, »die Kirche Christi groß und mächtig machen!«

»Die Größe und die Macht der Kirche kann der Kaiser Napoleon nicht sichern«, erwiderte der Greis. »Die Kirche braucht keine gewaltsamen Kaiser. Du hast mich kommen lassen, nicht umgekehrt! Die Kirche ist ewig, der Kaiser ist vergänglich.«

»Ich bin ewig!« rief der Kaiser.

»Du bist vergänglich«, sagte der Greis, »wie ein Komet. Du leuchtest allzu stark! Dein Licht verzehrt sich selbst, indem es leuchtet, während es leuchtet. Aus dem Schoß einer irdischen Mutter bist du geboren!«

In diesem Augenblick war es dem Kaiser, als verwandelte sich die Gestalt des Greises in die Gestalt seiner Mutter. Er sank auf die Knie und verbarg seinen Kopf in ihrem Schoß. »Nabulio!« sagte sie zu ihm. Sie trug das rote, wallende Gewand des Heiligen Vaters, und sie sagte: »Ich vergebe dir alles! Ich vergebe dir alles! Nabulio, liebstes meiner Kinder!«

Er erhob sich, da schlug es Mitternacht von den Türmen der stillen Stadt.

 

Es schlug Mitternacht vom Turm, mit schweren, dröhnenden Schlägen. Ihnen erwiderte mit zartem, silbernem Glöckchen die kleine Standuhr auf dem Kamin. »Licht!« befahl der Kaiser. Er erhob sich schnell. Er trat vor den Spiegel, ordnete die Haare und rief: »Meine Uniform! Meinen Degen! Meinen Hut!«

Der Diener kleidete ihn um. Er stand da, vor dem Spiegel, betrachtete unentwegt sein Gesicht, hob willenlos den Fuß und das Bein, sah zu, wie man ihn verwandelte. Die weißen Hosen, frisch mit Kreide eingerieben, leuchteten ihm fast schallend entgegen, die Stiefel blinkten, sie selbst schwarze Spiegel. Die Schärpe schimmerte. Der Griff des Degens funkelte. »Ist der Rock eigentlich blau?« fragte er. Er hatte niemals die Farben genau unterschieden, er dachte in diesem Augenblick eigentlich gar nicht an den Rock und an dessen Farbe, sondern daran, daß ihm manchmal dünkte, Rot sei nicht vom Grün verschieden. An einem Tage, er wußte nicht mehr genau, wann und wo, hatte er das Blut aus der Wunde eines Toten über das grüne Gras der Wiese fließen sehen, und es hatte ihm geschienen, das Blut des Menschen hätte die Farbe des Grases angenommen. Und er war erschrocken gewesen. Er hatte dieses lächerliche Ereignis längst vergessen, jetzt fiel es ihm wieder ein, da er den Rock anzog. »Blau?« fragte er. »Der Rock Eurer Majestät ist grün«, sagte der Diener. Der Kaiser sah genauer in den Spiegel. Ein paar Sekunden lang, während er sich gründlich im Spiegel betrachtete, kam es ihm vor, als lebte er gar nicht wirklich, als wäre alles gespielt, heute und immer. So, er hatte es oft beobachtet, pflegte sein Freund, der Schauspieler Talma, in den Spiegel zu sehen, vor einer seiner großen Szenen. Der wirkliche Kaiser Napoleon war verborgen, tief drinnen, im letzten Winkel seines Herzens, der wirkliche Kaiser kam niemals zum Vorschein. Alles auf Erden war Spiel und sinnloser Schauplatz, und er selbst, der Kaiser Napoleon, spielte jetzt die Rolle des Kaisers Napoleon, der sich in die Hände der Feinde begibt. Deshalb hat er die zivilen Kleider abgelegt und die Uniform angezogen; genauso, wie er auf den vielhunderttausend Bildern gezeigt ist, die ihn in der ganzen Welt darstellen, will er sich zum Feind begeben. »Zwischen Grün und Blau«, sagte der Kaiser, als spräche er zu seinem Spiegelbild, »habe ich niemals genau unterscheiden können.« – Dem Diener schauderte. Er hatte niemals den Kaiser so sprechen hören. »Und einmal«, fuhr der Kaiser fort, »habe ich auch gedacht, das Blut der Menschen sei gar nicht rot.« »Jawohl, Majestät!« sagte der Diener verlegen und schaudernd.

Stimmen wurden draußen laut, unter dem Fenster. Man verlud unten das Gepäck des Kaisers und das des Gefolges. Er ging zum Fenster, sah hinaus, rührte sich nicht. »Mein Freund«, sagte er nach langer Zeit und wandte sich um, »dies ist meine letzte Nacht in Frankreich.«

»Dann soll es auch meine letzte Nacht sein – wenn es so ist«, stammelte der Diener.

»Komm her!« sagte der Kaiser. »Sieh sie dir gut an!« Der Diener trat zu ihm. Sie standen beide lange so, stumm und reglos, nebeneinander am Fenster.

Der Himmel lichtete sich, ein silberner Schleier wogte über dem Meer, ein Wind erhob sich, und leise und zärtlich klirrten die Fenster.

»Es ist Zeit!« sagte der Kaiser. »Wir gehen!«

Sie gingen. Der Kaiser voran, mit starkem Schritt, den Kopf aufrecht, in den blendenden weißen Hosen, in den blitzenden, blanken Stiefeln, bei jedem Schritt klirrten wimmernd seine Sporen. Die frühen Fischer der Insel standen vor ihren Hütten, barhäuptig und reglos. Der Kies knirschte unter den Schritten des Kaisers und seiner Gefolgschaft. Man hörte die Füße der Menschen, die Antwort des Kiesels und manchmal den Schrei einer Möwe. Es wartete schon das Boot, mit geblähten Segeln. Der Kaiser betrat es. Er sah sich nicht um.

Die Brise war schwach. Man sah das Schiff »Bellerophon«.

Als die Schaluppe ankam, um den Kaiser zu holen, tauchte zur Rechten die Sonne aus dem Meer, rot und gewaltig rollte sie langsam am klaren Horizont empor. Ein dichter Schwarm weißer Möwen erhob sich von den Molen und flatterte mit Gekreisch über dem Boot in unermüdlichen Schwärmen.

Nichts mehr war zu hören als das Kreischen der Möwen und das zärtliche Anschlagen des Wassers an das Boot. Auf einmal riefen die Matrosen: »Es lebe der Kaiser!« Sie warfen die Mützen in die Luft und schrien: »Es lebe der Kaiser!« Die Möwen flogen erschreckt in die Weite.

Dies ist das letzte Mal, dachte der Kaiser, daß ich diesen Ruf höre. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch gehofft, er spiele, wie in der Nacht, vor dem Spiegel; er sei nicht der Kaiser Napoleon selbst, sondern ein Komödiant, der ihn darstelle. Aber die Matrosen, die da gerufen hatten: »Es lebe der Kaiser!« – sie hatten nicht gespielt. Ach, es war keine Szene! Er war der Kaiser, der wirklich dahinging, um zu sterben, und die Matrosen riefen aus voller Brust: »Es lebe der Kaiser!«

Da er nun an Bord der »Bellerophon« trat, fühlte er, daß ihm die Tränen kamen. Er durfte sie aber nicht sehen lassen. Der Kaiser Napoleon durfte nicht weinen. »Die Lorgnette!« rief er. Man reichte sie ihm. Er kannte sie gut! Durch diese Gläser hier hatte er viele Schlachtfelder betrachtet, Feinde erspäht, ihre Pläne errechnet. Jetzt führte er sie schnell an die Augen. Seine heißen Tränen rannen in die schwarzen Höhlungen, trübten im Nu die Gläser, und er tat so, als blickte er angestrengt aufs Meer. Er wandte sich rechts und links, und alle, die ihn damals ansahen, glaubten, er blicke auf die See oder auf die Küste. Er aber sah gar nichts durch das Glas, nichts sah er, er fühlte nur die heißen Tränen, und jede einzelne Träne schien ihm so groß zu sein wie das ganze Meer. Er preßte die Gläser fest gegen die Augenhöhlen, senkte den Kopf, der Hut beschattete sein Angesicht. Er strengte sich gewaltig an, um die Tränen zu ersticken. Er setzte das Glas ab. Nun sah er die Küste Frankreichs, stark und heiter schien sie ihm, anmutig und voller Wonnen. »Zurück!« sagte er ganz leise – und wußte dabei, daß er niemandem mehr befehlen dürfe. Auf der stillen Fläche des Meeres spielte in Millionen winzigen Wellen der silberne Glanz der Sonne. Weit war das Meer, weiter als alle Schlachtfelder gewesen waren. Weiter war es auch als das Schlachtfeld von Waterloo. All die weiten Schlachtfelder des Kaisers reihten sich jetzt aneinander, über dem grenzenlosen Spiegel des Meeres. Es war dem Kaiser, als erblickte er alle seine Schlachtfelder auf der weiten, schimmernden Oberfläche des Meeres hingelagert, und viele Tote auch, aus deren offenen Wunden das Blut rann. Das Meer war grün wie eine Wiese, Tote lagen auf den Wiesen, ganz vorne unter ihnen ein kleiner Tambour, ein Knabe noch, das Gesicht zugedeckt mit dem rot-blauen Tuch, das der Kaiser einst allen Soldaten seiner Armee geschenkt hatte und auf dem alle seine Schlachtfelder verzeichnet waren.

Der Kapitän des Schiffes kam heran. Er grüßte, drei Schritte vor dem Kaiser blieb er stehen.

»Ich begebe mich unter den Schutz Ihres Fürsten und Ihrer Gesetze«, sagte Napoleon. Und während er diesen Satz sagte, dachte er einen andern, der lautete:

Ich begebe mich in Ihre Gefangenschaft!

XIII

Die Matrosen präsentierten die Gewehre. Ach! – Anders präsentierten sie die Gewehre als die französischen Soldaten, als die Männer von Frankreich! Englische Soldaten waren es, besiegt hatten sie den Kaiser, aber exerzieren konnten sie nicht! Und in dem Kaiser erwachte plötzlich die alte, die einfache, die kindliche Lust des Soldaten, den Männern zu zeigen, wie man ein Gewehr präsentiert. In diesem Augenblick vergaß er, daß er ein großer und geschlagener, daß er der größte geschlagene Kaiser war; ein kleiner Instruktionsoffizier war er, der die Leute französisches Exerzieren lehrt, und er nahm einem der Matrosen aus der tadellos ausgerichteten Reihe das Gewehr aus der Hand und zeigte ihm, wie man in der französischen Armee die Waffen präsentierte, und sagte: »So, mein Sohn! So präsentiert man bei uns das Gewehr!« Er dachte, während er diese einfache Bewegung ausführte, an einen, an irgendeinen namenlosen Soldaten seiner großen Armee, und er hörte dabei das große, unsterbliche Lied der Marseillaise, das seine Militärkapellen zu spielen pflegten, während man die Gewehre präsentierte.

Er gab dem Matrosen das Gewehr zurück und ließ sich vom Kapitän in die Kabine führen, die man für ihn vorbereitet hatte. Als er sie betrat, sagte er: »Laßt mich allein!« – so heftig und so laut, daß sie alle erstaunt und erstarrt einen Augenblick stehenblieben – und sich dann erst bis zur Tür zurückzogen. Der Kaiser blieb allein und betrachtete seine Kabine. Sie war geräumig und hatte zwei runde Fenster, ein Zimmer mit zwei Augen, zwei Augen eines Wächters. Durch diese Augen, dachte der Kaiser, wird mich tagelang, wochenlang, das Meer bewachen, das feindliche Meer. Immer war es mein Feind gewesen! Welch ein Feind! – Es wird mich nicht begraben, es wird mich nicht verschlingen! Hintragen wird es mich zu einer Küste, die noch feindlicher ist als es selbst!

In diesem Augenblick begann die kleine Standuhr auf dem Tisch, die achte Stunde zu schlagen, und kaum waren ihre acht wehmütigen Schläge verklungen, so ertönte aus ihrem Innern das Lied der Marseillaise, eine sehr dünne, sehr zarte, beinahe zitternde Marseillaise. Es war, als weinte die kleine Uhr die mächtigste und männlichste aller Melodien der Welt. Dünn und zaghaft kam das Lied aus dem Innern des Instruments, es klang so, als beweinte die Melodie sich selbst, es klang, als tönte die Melodie aus dem Jenseits wider, eine tote Marseillaise, die noch immer singt. Dennoch vernahm der Kaiser, während er ihr zuhörte, den allmächtigen Gesang aus vielhunderttausend Kehlen, dazwischen die Rufe: »Es lebe der Kaiser!«, die allmächtigen Rufe aus vielhunderttausend lebendigen Herzen, das Lied des Volkes von Frankreich, das Lied der Schlachten und das Lied der Freiheit: Wer es allein, für sich singt, wird der Genosse der Millionen, und wer es gemeinsam mit den andern singt, wird ihnen allen gleich und der geborene Bruder der Millionen. Es ist das Lied der Einfachen, und es ist das Lied der Stolzen. Es ist das Lied des Lebens, und es ist das Lied des Todes. Das Volk von Frankreich, das Volk des Kaisers, sang es, wenn es in die Schlachten ging, in seine Schlachten, und wenn es aus seinen Schlachten heimkehrte. Auch die Niederlagen noch verwandelte dieses Lied in Siege. Es besiegte auch die Toten noch, und es belebte die Lebendigen. Es war das Lied des Kaisers, wie das Veilchen seine Blume war, wie die Biene sein Tier war. – Als er die zaghafte, dünne Stimme aus der Uhr tönen hörte, erschrak er zuerst, blieb stehen, schlug endlich die Hände vor das Angesicht, wünschte sich, weinen zu können, und konnte es nicht. Lange noch, nachdem die Spieluhr aufgehört hatte, blieb er so, mitten in der Kabine, angeglotzt von den zwei toten, runden Fenstern. Mit einer erstickten Stimme rief er nach seinem Diener, den er draußen, vor der Tür, wußte. »Marchand«, rief er, »stell die Uhr ab! – Ich kann die Marseillaise nicht mehr hören.« – »Majestät«, sagte der Diener, »ich höre keine Marseillaise.« – »Ich aber höre sie«, sagte der Kaiser leise. »Ich höre sie. Sei still, Marchand! Horch zu! – Dann hörst du sie!«

Und obwohl die Uhr schon lange schwieg und obwohl man nichts anderes hören konnte als den zärtlichen, plätschernden Anschlag der Wellen an die Wände der »Bellerophon«, tat der Diener Marchand so, als ob er lauschte, und nach einer Weile sagte er:

»Jawohl, Majestät, man hört die Marseillaise.«

Und er ging an die kleine Standuhr heran, machte sich an ihr zu schaffen und meldete hierauf:

»Majestät! Sie spielt nicht mehr!«

Eine Möwe schlug in diesem Moment ans Fenster.

»Öffnen!« befahl der Kaiser.

Der Diener machte eines der runden Fenster auf. Der Kaiser stellte sich davor und sah hinaus. Er sah nur noch einen schmalen, silbernen Streifen von der Küste Frankreichs.


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