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VIII.

Also mein lieber Herr Morck,« sagte Joe Jenkins, als die beiden aus dem Auto stiegen, »ich habe Sie nicht zu Ihrem Vergnügen aus der Haft befreit. Sie sollen dafür etwas leisten, denn eine Liebe ist der andern wert. Also passen Sie einmal genau auf. Sie sind ja ein tüchtiger und umsichtiger junger Mann und werden Ihre Mission schon so durchführen, wie ich es von Ihnen erwarte. Zunächst werden Sie mit dem Mittagszuge nach Sollihögda zurückfahren und Ihr altes Quartier im Gasthof zur Eisenbahn wieder beziehen – bei Herrn und Frau Andersen, und in der Gesellschaft des Herrn Tryde. Haben Sie keine Angst: niemand in Sollihögda weiß von Ihrer Verhaftung. Den Herrn Polizeichef habe ich auf alle Fälle durch seine vorgesetzte Behörde nach Christiania rufen lassen, und Ihre Rückkehr von diesem Halbtagsausflug ist daher für Sollihögda nichts als eine Selbstverständlichkeit. Sie können also allen Leuten gerade in die Augen sehen. Warten Sie – es wird am einfachsten sein und zugleich am sichersten – wenn ich Sie persönlich an den Westbahnhof begleite und Sie wie man bei uns in Amerika so schön sagt: ›in den Wagen sehe‹. Kommen Sie – dort fährt ein Auto.«

Joe Jenkins löste drei Billets, wovon er eins dem Ingenieur gab. Auf dessen fragenden Blick setzte er hinzu: »Ich habe ebenfalls die Absicht, im Laufe des Tages einen Ausflug nach Sollihögda zu machen.«

»Und das dritte Billet?« fragte Morck.

»Das dritte Billet …« wiederholte Joe Jenkins wie nachdenklich, »… ja, dafür habe ich auch noch einen Passagier … à propos – … sollten Sie irgendwo auf der Landstraße von Sollihögda vom Fenster Ihres Hotels aus zufällig eine junge Dame namens Gudrun Myrdal erblicken, so verhalten Sie sich gefälligst ruhig und verraten Sie nicht, daß Sie da sind. Und nun steigen Sie ein – der Schaffner schließt schon die Tür.«

Morck kletterte in den Wagen und öffnete das Fenster.

Joe Jenkins setzte den Fuß auf das Trittbrett. »Dann noch eins: mit dem Zuge 9,25 heute abend kommen zwei Herren in Sollihögda an, die Sie wahrscheinlich auf den ersten Blick als Engländer erkennen werden. Haben Sie die Güte, sie an der Bahn zu erwarten und an sie die Frage zu richten, ob Sie die Ehre mit Herrn Forest und Herrn Clarke haben. Bejahendenfalls werden Sie sie auf ihre Zimmer im Eisenbahnhotel führen, die ich auf alle Fälle für sie telephonisch habe reservieren lassen. Dann werden Sie die Güte haben, den Herren nach guter alter englischer Sitte heißes Wasser aufs Zimmer zu schicken. Und dann gehen Sie gefälligst wieder auf Nummer Fünf und warten das Weitere ab.«

Eben setzte sich der Zug in Bewegung, als noch eine junge Dame mit Koffern und Paketen erschien, die der Zugführer gewandt in ein Abteil Erster Klasse spedierte.

»Das war doch Frau Waggeryd?« fragte Morck erstaunt.

Joe Jenkins nickte. »Sie siedelt heute nach Sollihögda über.«

*

Am Nachmittag desselben Tages fuhr Joe Jenkins mit Fräulein Gudrun Myrdal am Herrenhaus von Sollihögda vor und ließ sich bei Frau Waggeryd melden.

Karin kam dem Amerikaner mit höflicher Aufmerksamkeit entgegen und blickte erstaunt auf seine Begleiterin.

»Wissen Sie, wer diese Dame ist?« fragte Joe Jenkins lächelnd. »Nein, das werden Sie sich nicht denken können.«

Karin blickte die Besucherin an – mit jenem feindselig musternden Blick, mit dem Frauen sich anzusehen pflegen. »Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte sie kühl und gleichgültig.

»Fräulein Myrdal – die Braut Ihres Gatten.«

»Was ist das …« wiederholte Karin Waggeryd, »die Braut meines Mannes?«

»Ja – hier ist die Verlobungsanzeige. Und hier sehen Sie das Verlobungsgeschenk, das Herr Waggeryd seiner Braut einige Stunden vor seiner Ermordung geschickt hat.«

»Das verstehe ich nicht. Wenn mein Mann sich mit dieser Dame verlobt hat, so kann es sich nur um einen Scherz gehandelt haben – oder aber auch um eine bewußte Täuschung dieser Dame, die vielleicht auf anderem Wege nicht zu erobern war. Doch nein – das würde eine Beschimpfung meines Mannes sein, die ich nicht gutheißen kann. Ich muß im Namen des Toten und im Namen der Gerechtigkeit dagegen protestieren, daß sich diese Dame als Braut meines Gatten bezeichnet – hier in Sollihögda passieren offenbar soviel Verbrechen und Seltsamkeiten, daß es auf einen Betrug mehr oder weniger schon nicht mehr ankommt.«

Gudrun Myrdal hob langsam ihren Blick zu Frau Waggeryd empor. »Sie haben eben selbst die Verlobungsanzeige gesehen.«

»Mein liebes Kind« – Frau Waggeryd lachte – »jeder Drucker der Welt druckt, was man ihm bezahlt. Wenn Sie keine weiteren Beweise für Ihr Verlöbnis haben, so steht Ihre Sache auf schwachen Füßen.«

»Der Schmuck …«

»Der Schmuck« – wieder lachte sie – »nun ja, der könnte ein Verlobungsgeschenk sein. Vielleicht könnte er aber auch … eine Bezahlung darstellen.«

»Ich sehe – die Damen sind sich nicht sonderlich sympathisch«, sagte Joe Jenkins. »Ich möchte Fräulein Myrdal das Werk und den See zeigen; auf Wiedersehen.«

Joe Jenkins ging mit seiner Begleiterin hinüber in die Frydenlunds-Gade und klingelte bei Jarls.

Thora war allein zu Hause. Sie empfing die beiden höflich, mit einem erstaunten Lächeln auf Fräulein Myrdal blickend.

»Die Braut Ihres Herrn Vaters«, stellte Joe Jenkins sie vor.

»Die Braut …« wiederholte Thora, »… und drüben in der Lillegade – die Frau? Eins von beiden kann wohl nur stimmen.«

»Ich habe die Verlobungsanzeige in der Tasche«, sagte der Detektiv.

»Und die Frau?«

»Ich habe auch ein Telegramm in der Tasche, in dem mir der Pfarrer Blackburn bestätigt, daß er Herrn und Frau Waggeryd geborene Heggblom am 18. Februar in der Trinity Church getraut hat.«

Thora faßte sich an den Kopf. »Mein Gott – dann muß ich fast glauben, daß mein Vater … daß er nicht mehr recht wußte, was er tat.«

»Fräulein Myrdal hat mich gebeten, ihr die Stelle zu zeigen, an der ihr Verlobter – Ihr Herr Vater – tot gefunden worden ist. Sie möchte auch gern das Werk sehen, von dem ihr Herr Waggeryd oft und oft erzählt hat. Alle diese Dinge haben jetzt nach dieser katastrophalen Wendung eine ganz andere Bedeutung für sie erhalten; Sie werden das begreifen.«

»Gewiß.«

»Wir kommen auf dem Rückwege noch einmal vor; hoffentlich habe ich dann das Vergnügen, auch Herrn Jarl zu sehen.«

»Er ist im Steinbruch; Sie werden ihm sicher begegnen.«

*

Joe Jenkins hatte mit Herrn und Frau Jarl und Gudrun Myrdal in dem kleinen Hause in der Frydenlunds-Gade das Abendessen eingenommen. Die Stimmung war gedrückt. Wieder und wieder irrten die Blicke des Ehepaares hinüber zu dem schönen jungen Mädchen, das aus dem Häusermeer der Großstadt aufgetaucht war und neue unbegreifliche Beziehungen ans Tageslicht gebracht hatte.

Joe Jenkins fragte nach dem Erlebnis der letzten Nacht. Jarl erzählte zögernd und stockend von seiner zweiten Begegnung mit dem Schlittschuhläufer. – –

Das Dunkel sank schwer und undurchdringlich auf Sollihögda nieder. Die Lichter in den Häusern erloschen – der Lärm des Tages erstarb, und der Westwind strich raunend durch die dunklen Bäume.

»Bleiben Sie heute nacht hier, Mr. Jenkins?«

»Nein – ich muß nach Christiania zurück, denn ich habe morgen früh dringend bei der Polizei zu tun.«

»Haben Sie eine neue Spur gefunden?«

»Ich glaube.«

Thora seufzte. »Diese Aufregungen nehmen kein Ende – ja alles wird von Tag zu Tag dunkler und geheimnisvoller: jetzt dieses zweite Auftauchen des Schlittschuhläufers –«

»Das bedeutet wohl, wenn ich recht verstehe, einen neuen Todesfall?«

Jarl nickte stumm.

»Wer mag es diesmal sein?« flüsterte Frau Thora scheu und blickte zum Fenster, vor dem sich drohend das Dunkel spannte.

»Wir müssen fort,« sagte Joe Jenkins, »wenn wir den Zug 11,14 erreichen wollen – denn es ist der letzte.«

Frau Thora sah sich fröstelnd um. »Wir begleiten Sie an den Bahnhof. Kommst du mit, Brinjulf?«

Er sah auf die Uhr. »Ich habe noch ein paar wichtige Briefe zu schreiben – nein – Sie müssen mich schon entschuldigen, aber du weißt ja den Weg so gut wie ich, Thora. Komm bald wieder.«

Joe Jenkins ging mit den beiden Damen die Landstraße hinunter. Als sie am Gasthof vorüberkamen, sagte Frau Thora erstaunt: »Drei Fenster erleuchtet – Andersen scheint Zuwachs bekommen zu haben.«

Joe Jenkins nickte. »Sollihögda kommt in Mode.«

»Man sprach heute davon, daß Morck sistiert worden sei: die Polizei war im Steinbruch, um ihn zu holen. Hängt das mit der Mordsache zusammen?«

»Nein. Das müßte ich wissen«, antwortete Joe Jenkins und warf einen halben Blick zu Gudrun hinüber, die starr geradeaus sah. »Ich sah übrigens Morck vorhin. Es muß also ein Irrtum sein, was die Leute reden.«

Joe Jenkins zog die Karten aus der Tasche. »Wollen Sie uns auf den Bahnsteig begleiten?«

»Ich wollte, ich könnte mit nach Christiania fahren. Ich habe ein so seltsames Gefühl in mir – mir graut es in Sollihögda.«

»Wenn sich irgend etwas ereignet, rufen Sie das Hotel Belvédère an.«

»Gute Nacht, Mr. Jenkins.«

Der Zug fuhr pfeifend hinaus. Das grüne Blätterdickicht nahm ihn schweigend auf. Gleich darauf waren die beiden roten Schlußlaternen in der Finsternis verschwunden. – – –

Frau Thora wandte sich seufzend um. Wie ein finsterer Tunnel lag die lange Pappelallee, die vom Bahnhof aus zum See führte, vor ihr. Der Weg neigte sich ein wenig. Ihr war, als käme sie wider ihren Willen in ein Gleiten, das sie wie eine unsichtbare Hand in den Abgrund drängte. Sie schauderte zusammen. Dann, allen ihren Mut zusammenraffend, schüttelte sie den Kopf und lächelte.

»Nerven,« sagte sie vor sich hin, »es ist kein Wunder.«

Die Pappelreihe trat rechts und links zurück. Die dunkle Fläche des Sees starrte ihr schweigend entgegen. Sie warf einen scheuen Blick hinüber; dort, wo nördlich die schwarze Masse des Erdreichs in unsicheren Konturen mit dem Wasser verwuchs – das war die Stelle, wo man ihn gefunden hatte.

Unwillkürlich blieb sie stehen. Eine seltsam drückende Schwere lag über der Landstraße; ein paar Regentropfen klatschten irgendwo auf die Blätter; der Himmel war sternenlos und wie eine einzige undurchdringliche dunkle Fläche. Der Westwind hatte aufgehört; fern im Süden über Sundsvolden zuckte ein Wetterleuchten. Einen Augenblick glaubte sie einen Ton zu hören wie schleichende Schritte – aber das Geräusch verstummte; sie mußte sich geirrt haben.

Sie wollte sich umdrehen – aber eine unerklärliche Macht ließ sie schon nach wenigen Schritten wieder stillstehen. Die dunkle Halbinsel dort drüben strömte ein Fluidum aus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Es war ihr, als ob das dunkle Schilf ihr mit unsichtbaren Händen winke, als ob diese trügerische gurgelnde Decke, die den sichern Tod unter sich barg, dunkle Arme nach ihr ausstreckte. Deutlich hörte sie das Flüstern des Schilfs – deutlich sah sie, wie die grünen Ähren wie züngelnde Flammen nach ihr griffen. Langsam, gegen ihren Willen, ging sie auf die Halbinsel zu.

Plötzlich hörte sie Stimmen – ganz in ihrer Nähe: eine männliche und eine weibliche. In der männlichen erkannte sie zu ihrem Erstaunen die ihres Gatten. Die der Frau vermochte sie nicht zu erkennen; sie wußte indessen, daß sie diese Stimme schon gehört hatte: diese wohlklingende, tiefe, wie auf Wirkung berechnete Stimme.

»Er ist fort«, hörte sie ihren Mann sagen. »Ich habe ihn selbst abfahren sehen.«

»Und das Frauenzimmer aus Christiania?« fragte die Frau.

»Mit ihm.«

»Als ich sie sah,« sagte die Frau wieder, »wußte ich, daß alles verloren war.«

Jarl gab eine ungeduldige Antwort. »Es wäre nie herausgekommen, wenn er nicht auf den verfluchten Gedanken gekommen wäre, sich zu verloben. Und dann dieser Morck! Wäre er nicht ein solcher Esel, so hätte er die Hunderttausend Kronen genommen und diese Gudrun Myrdal dazu und wäre abgedampft – nach Amerika. Dann wäre ihm geholfen gewesen und uns. Als Jenkins das Geld in der Uhr fand, wußte ich: jetzt geht es schief! Er wird natürlich nicht ruhen, bis er herausgebracht hat, woher diese Hunderttausend Kronen stammen. Und da er nicht auf den Kopf gefallen ist, hat er ein paar Tage später richtig ausbaldowert: Waggeryd war verlobt. Na ja – daß ein verheirateter Mann sich nicht noch obendrein verlobt, ist klar. Also muß entweder die Frau oder die Verlobte eine Schwindlerin sein.

Wenn diese verdammten Detektivs einmal angefangen haben zu recherchieren, dann hören sie nicht mehr auf – Narren können kein Maß halten, das ist eine alte Geschichte.«

»Du sagtest mir doch, Jenkins hätte aus London die telegraphische Bestätigung bekommen, daß die Ehe in Ordnung ist?«

»Hat er – hat er. Glaubst du, der beruhigt sich mit einem Telegramm?«

»Was will er machen? Die Papiere sind in Ordnung und die Eintragung in London ist in Ordnung.«

»Ich traue dem Frieden nicht. Dieser Besuch heute mit der Gudrun Myrdal ist einfach eine Gemeinheit. Er hat dadurch Thora gegen uns aufgehetzt – und hat sie dich bisher nicht als ihre Feindin betrachtet, so bist du für sie von heute ab nichts anderes als eine Schwindlerin.«

Die Frau lachte. »Was ereifern wir uns über Thora! Die wird bald ausgesorgt haben. Etwas viel Wichtigeres: wenn ich nur wüßte, wann eigentlich dein Schwiegervater dem Joe Jenkins von der Begegnung im Boulevard-Restaurant erzählt hat?«

»Am selben Abend – wann sonst?« brummte er. Ich sah ihn selbst vor dem Belvédère-Hotel vorfahren und hineingehen. Für eine Krone verriet mir der Boy, zu wem er ihn geführt hatte.«

»Du bist ihm also an jenem Abend nachgestiegen?«

»Versteht sich. Hätte ich sonst solche Eile gehabt, ihn noch in derselben Nacht zu erledigen? Wenn Joe Jenkins erst mal hier war und die ganzen Verhältnisse kennengelernt hatte, hättest du nie und nimmermehr hier als seine Frau auftauchen können – das hätte dir Jenkins einfach nicht geglaubt.«

Thora stand an den dunklen Stamm einer Buche gelehnt und starrte in das Dunkel, aus dem das Flüstern kam. Die Gedanken kreisten ihr wie feurige Räder im Hirn. Frau Waggeryd – eine Betrügerin … Brinjulf – ihr Helfershelfer … sie – seine langjährige Freundin und Komplizin … Brinjulf – der Mörder ihres Vaters … und sie selbst allein, schutzlos in dieser Einsamkeit, über der das undurchdringliche Dunkel lag, in dem neues Verbrechen brütete, aus dem neues Unheil langsam auf sie zukroch, wie steigendes Wasser – eisig und erbarmungslos – sie fühlte, wie es höher und höher stieg, wie es sie umspülte – und nirgends gab es eine Rettung. Der einzige, der ihr Freund war – den trug das rollende Rad mit jedem Atemzuge weiter fort von ihr. Mein Gott, nirgends ein Halt, nach dem sich ihre verzweifelnden Hände ausstrecken konnten!

Das Flüstern erstarb. Sie glaubte sich entfernende Schritte zu hören; ein gleitendes Geräusch, das in ein Summen überging, kam durch die Nacht. Einen Augenblick meinte sie, leises Lachen zu hören – oder waren es ihre Nerven, die ihr alle diese Dinge vortäuschten? Dann auf einmal fühlte sie zwei Hände an ihrer Schulter; gleichzeitig wurde sie mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts gedrängt, dem Wasser zu.

»Hilfe!«

»Laß das dumme Schreien – es nützt dir doch nichts.« Es war die eisige Stimme Brinjulf Jarls, die verächtlich diese Worte sprach. »Wir beobachten dich schon eine ganze Zeit – so wie du uns.« Damit packte er sie fester und drängte sie vorwärts; der Boden wurde moorig; ihre Füße sanken ein; mit dem unwillkürlichen Willen zum Leben stemmte sie sich gegen den schlüpfrigen Morast, der ihr schon bis an die Knöchel reichte. Aber der andere war stärker als sie.

Schon fühlte sie das eiskalte Wasser, das kichernd die willkommene Beute umschmeichelte.

»Hilfe!«

»Zum Donnerwetter, laß das Plärren.«

»Joe Jenkins!«

Jarl lachte. »Der sitzt vergnügt in der Eisenbahn; morgen früh wird er in der Zeitung lesen, daß der Schlittschuhläufer von Sollihögda ein neues Opfer in den See gezogen hat.«

»So? Glauben Sie wirklich?« kam aus dem Dunkel eine lachende Stimme. Lichter blitzten auf; drei Männer traten aus dem Dickicht des Sees auf die Gruppe zu.

»Jenkins?« schrie Jarl auf. »Bin ich blödsinnig geworden? Ich habe Sie doch selbst in den Zug steigen sehen!«

»Sie sind durchaus nicht blödsinnig, mein verehrter Herr Jarl. Darüber kann ich Sie beruhigen. Was Sie nicht sehen konnten, das ist, daß ich auf der andern Seite des Kupees sofort wieder ausgestiegen bin. Denn ich ahnte, daß Sie für heute abend einen neuen ›Unglückfall‹ geplant hatten. Ich muß Ihnen attestieren: Sie haben Ihre Sache nicht ungeschickt gemacht. Der Tod Ihres Schwiegervaters hat in ganz Nordland den Eindruck eines Unglücksfalles erweckt – dafür haben Sie gesorgt durch Ihre Erzählung von der Erscheinung des Schlittschuhläufers. Sie wußten nur zu wohl, daß diese Spekulation auf den Mystizismus Ihrer Landsleute der sicherste Kreditbrief war, den Sie sich ausstellen konnten. Als Sie mir gestern von Ihrer zweiten Begegnung mit dem Schlittschuhläufer sprachen, da war es für mich kein Zweifel mehr, daß der Moment gekommen war – daß es einem Zweiten an den Kragen gehen würde. Dieser Zweite konnte nur Ihre Frau sein.

Geradezu bewundernswürdig aber ist Ihr Auftreten im Boulevard-Restaurant – in einer Maske, um die Sie ein Fregoli beneiden könnte – in jedem Zoll eine genaue Kopie Ihres Gegenübers. Ihre Berechnung war nicht schlecht: Sie stimmten Herrn Waggeryd dadurch im höchsten Grade nachdenklich und machten ihn empfänglich für das Kommende – ließen ihn sozusagen spielend vom Leben hinübergleiten in den Tod. Ich selbst wurde irre, als mir der Kellner versicherte, er habe keinen Doppelgänger am gleichen Tische sitzen sehen – wirklich sind mir einen Augenblick lang mystische Spekulationen durch den Kopf gegangen – allerdings auch alkoholische. Bis mir am letzten Sonntag der Kellner gegen Hundert Kronen verriet, daß er mir die Unwahrheit gesagt hatte: es war ein Doppelgänger gekommen! Der hatte ihm versichert, es handelte sich um einen Scherz; wenn man ihn frage, möge er sagen, er habe niemanden gesehen!

Und dann das Zeitungsinserat – die Todesanzeige! Die mußte Ihrem Schwiegervater völlig den Rest geben.

Die Fortsetzung ist – wie ich vermute – ungefähr so gewesen: Sie haben Ihren Schwiegervater in derselben Nacht in Ihrer wahren Gestalt auf der Landstraße von Sollihögda erwartet. Im Lichte der Scheinwerfer hat er Sie mitten zwischen den Tannen stehen sehen, und der ohnehin nervös und mystisch Gestimmte sah in Ihrem Gesichtsausdruck und in Ihrer Haltung, daß etwas Besonderes geschehen sein müsse. Nun erzählten Sie ihm wahrscheinlich: sie hätten eben den Schlittschuhläufer gesehen; im Laufe der Unterhaltung führten Sie ihn an die Stelle, wo er Ihnen ›erschienen war‹ – und eine Minute später kämpfte er mit den Wellen. Dann nahmen Sie dem Toten Mantel und Hut ab und gingen so in seiner Kleidung in seine Wohnung – um mich anzutelephonieren. Der Diener war schlaftrunken; die Täuschung gelang. Ja – sie gelang doppelt: auch ich mußte den Eindruck gewinnen, daß Herr Waggeryd mitten in der Nacht sein Haus nochmals verlassen hat – das aber deutet auf mystische Anklänge – auf irgendeine Schicksalsangelegenheit – auf Selbstmord.«

»Das ist alles Wahnsinn«, sagte Brinjulf Jarl. »Welches Interesse sollte ich an dem Tode meines Schwiegervaters gehabt haben?«

»Wir wollen einmal sehen. Ich habe hier die Ehre, Sie mit den Herren Forest und Clarke bekannt zu machen – den Zeugen bei der Trauung des Herrn Waggeryd mit Fräulein Karin Heggblom. Bitte, meine Herren, sehen Sie sich doch dies verehrte Paar einmal an – nicht wahr – dies ist Fräulein Heggblom, die unter Ihrer Assistenz eine Frau Waggeryd geworden ist?«

»Ja«, sagten die beiden.

»Und diesen Herrn kennen Sie wohl nicht?«

»Doch,« sagte Herr Forest, »den kennen wir genau so gut.« Und Herr Clarke setzte hinzu: »Das ist doch Herr Waggeryd, ihr Mann!«

Joe Jenkins nickte. »So ungefähr hatte ich es mir gedacht. Getraut ist wirklich worden. Auch die Papiere waren echt. Nur schade: sie waren auf eine Stunde ›ausgeliehen‹ – der Mann, der sich unter dem Namen Hjalmar Waggeryd trauen ließ, hieß in Wirklichkeit Brinjulf Jarl. Ich habe mich inzwischen ein bißchen über Frau Karin erkundigt und habe erfahren, daß sie eine langjährige innige Freundschaft mit Ihnen, Herr Jarl, verbindet. Das brachte mich zuerst auf den Gedanken, auf Sie ein Auge zu werfen – denn Sie hatten Frau Karin bei ihrem Auftreten in Sollihögda mit einer so echten, schneidenden Abweisung behandelt, daß meine Entdeckung, daß diese Frau in Wirklichkeit Ihre langjährige Bekannte war, nur einen sehr wichtigen kriminellen Hintergrund haben konnte. Nachdem Ihnen nun noch die Kleinigkeit gelungen wäre, sich auch Ihrer jetzigen Gattin zu entledigen, stand Ihrem Glück nichts mehr im Wege; Sie wären dann im Verein mit Ihrer verehrten Freundin Karin Waggeryd unumschränkter Gebieter der Waggerydwerke geworden und hätten wohl zum Schluß Frau Karin zum zweitenmal geheiratet – was alle Welt bei einem so geschickten Sachwalter ganz natürlich gefunden hätte. Und nun darf ich die Herrschaften wohl bitten mich zu begleiten. Ich habe für Sie Quartier machen lassen. Da Sie Mann und Frau sind, so begehe ich ja wohl keinen Fauxpas, wenn ich Ihnen einen gemeinschaftlichen Raum anweise. – – –«

*

Die schwere Tür schloß sich hinter den beiden. Joe Jenkins steckte den Schlüssel in die Tasche und blickte schweigend auf seine Begleiter: Frau Thora Jarl und Morck. »Ich würde Ihnen vorschlagen, Frau Jarl, für heute nicht in Ihre Wohnung zurückzukehren. Herr Andersen wird sicher gern bereit sein, Ihnen ein Zimmer zu geben; in einer halben Stunde werden Sie bei einer Flasche Wein und einem guten Abendessen ganz anders über manche Dinge denken, als jetzt – in dieser Minute, in dieser dunklen Nacht – angesichts dieses Sees, der tausend traurige Dinge in Ihnen wachruft. Herr Morck wird uns, wie ich hoffe, Gesellschaft leisten.«

Das helle Fenster des kleinen blitzsauberen Restaurants schimmerte auf. »Dort sehe ich auch Herrn Levsen. Und ferner Herrn Tryde. Das ist schön. Sie wissen vielleicht, daß Herr Tryde ein ebenso amüsanter wie liebenswürdiger Gesellschafter ist, der uns sicher zunächst einmal beweisen wird, daß überhaupt kein Mord, sondern Selbstmord vorliegt – im Laufe des Abends aber, nachdem er erfahren haben wird, daß doch Mord vorliegt, wird er uns überzeugen, daß Selbstmord von vornherein ausgeschlossen war, und daß kein normaler Mensch je an Selbstmord geglaubt hat.«

Morck öffnete die Tür; ein goldener Lichtstrom schlug den Eintretenden entgegen und flutete freundlich in die dunkle Nacht hinaus.

Frau Andersen stand am reichlich besetzten Buffet und sah mit erstaunten Augen auf die neuen Gäste; als sie der Frau Thora Jarl ansichtig wurde, machte sie einen geschmeichelten Knix. Als sie aber Joe Jenkins erblickte, griff sie schweigend nach der Aquavitflasche.

»Sorgen Sie für Abendbrot, Frau Andersen,« sagte der Detektiv, »und stellen Sie zwei Flaschen Bordeaux warm. Wir werden uns inzwischen oben ein bißchen restaurieren.«

Damit gingen die drei die Treppe hinauf. Die letzten Spritzer einer lebhaften Unterhaltung schlugen wie Wellenschäume hinter ihnen her. »Seien Sie doch kein Kind«, sagte eben Herr Tryde. »Rosmersholm sollte bekanntlich zuerst ein Lustspiel werden.«

Joe Jenkins nickte. »Jetzt hat er Ibsen beim Wickel«, sagte er. »Ja so – noch eins. Herr Morck – Sie können ein Auto lenken, nicht wahr?«

»Versteht sich« sagte dieser erstaunt.

»Ausgezeichnet. Dann nehmen Sie das meinige – es steht nebenan in der Garage. Fahren Sie die paar Kilometer bis nach Tanum. Dort, auf dem Bahnhof, werden Sie eine gewisse junge Dame treffen, die mir versprochen hat, in Tanum auszusteigen. Holen Sie sie her – über das weitere werde ich inzwischen mit Frau Andersen reden.«

 

Ende

 


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