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III.

Die Goldregenbüsche an der Ostseite des Sees standen dicht und regungslos und ließen ihre langen Blätterdolden tief in das Wasser hängen. Die Landschaft wölbte sich in sanfter Krümmung; rechts säumte ein Erlenbruch den Horizont; zwischen den dunklen Bäumen leuchtete das Grün der Schneeballsträucher. Auf dem Boden wucherten Pfennigkraut und Hopfen, die wie eine grüne Matte gegen das stelle Dunkel des Waldes standen.

An dieser Stelle ragte das Ufer landzungenartig in den See hinein. Rechts und links wucherte Schilf; dazwischen standen die langen, schmalen Blätter der Schwertlilie; hier und da drängten Wasserschierling und Merk ans Licht der Sonne.

Unter der Rotbuche, die die Landzunge in zwei fast gleiche schmale Hälften teilte, standen zwei Männer. Sie blickten den Näherkommenden mit jener ruhigen Sachlichkeit entgegen, die den Nordländer auszeichnet und die der Fremde so leicht für Gefühllosigkeit hält.

Man hatte den Toten ans Ufer gezogen und ihn sanft in die blühende Rosmarinheide gebettet. Irgend jemand hatte ihm ein Tuch über das Gesicht gebreitet; aus seiner Kleidung sickerte das Wasser auf den Erdboden und das weiße Oberhemd war verquollen und unkenntlich wie ein grobes Tuch.

Joe Jenkins trat näher; er winkte Jarl und seiner Frau ihm zu folgen. Die Überbringer der Unglücksnachricht blickten sich an und blieben in einiger Entfernung von dem Toten stehen.

Der Detektiv nahm das Taschentuch vom Gesicht des Ertrunkenen. Die beiden schauerten zusammen.

»Haben Sie ihn so gefunden?«

Die beiden Wächter sahen den Fragenden erstaunt an. »Gewiß, mein Herr«, antwortete der eine von ihnen verständnislos. »Wir haben ihn ans Land gezogen; weiter haben wir nichts getan.«

»Herr Waggeryd ist, wie ich sehe, ohne Hut und Mantel.«

Die Anwesenden stießen einen Ruf des Erstaunens aus.

Der Arbeiter zuckte die Achseln: »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen: wir haben ihn so gefunden und uns nicht von der Stelle gerührt.«

Joe Jenkins nickte. Er beugte sich nieder und bog das Heidekraut auseinander. Er untersuchte den Boden sorgfältig und ging ein paarmal mit genau gleichförmig abgemessenen Schritten die kleine Landzunge auf und ab.

Dann schritt er weiter, immer die Augen auf den Boden geheftet, als ob er eine Spur verfolgte, am Ufer entlang, hart an der Grenze, an der sich Schilf und Erde schieden.

Jarl holte ihn mit ein paar kurzen Schritten ein. »Was bedeutet das, Mr. Jenkins?« fragte er kopfschüttelnd. »Ohne Hut und ohne Paletot? Das sieht fast aus wie …«

Der Amerikaner machte eine abwehrende Bewegung mit der Linken und deutete auf eine kleine dichte Schilfkolonie, die halbinselförmig ins Wasser hineinragte und sich wie eine Fortsetzung des Erdreichs mit Gras und Unkraut vermischte.

Jarl folgte mit dem Blick der angedeuteten Richtung und stieß einen Ruf des Erstaunens aus:

In dem hohen Schilf lagen Hut und Mantel.

Der Detektiv watete unbekümmert um Beinkleider und Stiefel durch das moorige Wasser und erschien gleich darauf mit den beiden Kleidungsstücken wieder am Ufer.

»Sind das Hut und Mantel Ihres Schwiegervaters?«

»Ja.«

»Hm.«

»Wie erklären Sie das, Mr. Jenkins?« fragte Jarl, während die beiden nach der kleinen Landzunge zurückgingen. »Er hat also Hut und Mantel ausgezogen, bevor er ins Wasser ging. Das sieht doch akkurat so aus, wie reifliche Überlegung. Oder nennen wir das Kind schon beim rechten Namen: wie Selbstmord

Joe Jenkins wiegte die Achseln.

Thora Jarl kam den beiden entgegen. Ihr Blick fiel auf die Kleidungsstücke und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Er hat Hut und Mantel vorher abgelegt,« sagte Jarl erklärend. »Aber wieso um alles in der Welt ist er vorher am Ufer weitergegangen und hat die Gegenstände ins Schilf geworfen, an eine ganz andere Stelle? Das geht über mein Begriffsvermögen.«

»Mein Vater war zwar in allen Dingen sehr ordentlich«, nickte Thora Jarl, »aber selbst, wenn ich einen freiwilligen Tod annehmen wollte – nein so übertrieben gewissenhaft hätte er wohl doch nicht gehandelt. Aber auch im übrigen – ein Selbstmord ist ausgeschlossen. Mein Vater hatte wahrlich keinen Grund, das Leben von sich zu werfen.«

Der Detektiv hatte ein paar Worte auf ein Blatt seines Blocks geschrieben. »Hier – bringen Sie das zum Gemeindevorsteher.« Damit riß er den Zettel heraus und gab ihn einem der Arbeiter. »Und nun muß ich Sie bitten, mich einen Augenblick allein zu lassen, meine Herrschaften. Ich möchte den Toten untersuchen: daraufhin, ob Spuren irgendeines Verbrechens an ihm zu entdecken sind.«

Jarl nickte. »Wir wollen gehen, Thora«, sagte er mit tränenschwerer Stimme; »ich werde Morck ins Bureau bitten.«

»Mein Gott, was Herr Morck wohl sagen wird!«

Joe Jenkins blieb bei dem Toten allein; der zurückgebliebene Arbeiter hatte sich ein wenig entfernt; der Detektiv winkte ihn heran: »Bleiben Sie hier, bis Polizei und Gerichtsarzt kommen.«

*

Im Bureau stand mit ein großer, blonder breitschultriger junger Herr. »Dies ist Laurids Morck«, sagte Jarl. »Er ist der Technische Leiter der Waggeryd-Werke.«

Joe Jenkins reichte jenem die Hand: »Freut mich, Herr Morck. Bitte nehmen Sie Platz.«

Die Tür ging auf; eine junge Dame trat ein.

»Was wünschen Sie, Fräulein Christiansen?« fragte Jarl.

»Der Arzt ist da; er möchte Mr. Jenkins wegen des Befundes sprechen.«

Der Amerikaner blickte auf. »Tun Sie mir den Gefallen, Herr Jarl, und lassen Sie sich statt meiner von dem Arzt das Ergebnis mitteilen. Ich möchte mich nämlich mit Herrn Morck ein bißchen unterhalten.«

Jarl verließ mit der jungen Dame das Bureau.

»Fräulein Christiansen –« fragte Joe Jenkins, und blickte den beiden nach – »wer ist das?«

»Unsere Stenotypistin.«

»Haben Sie den Toten schon gesehen?«

»Nein, Mr. Jenkins. Jarl holte mich eben aus dem Steinbruch.«

»Was sagen Sie zu dem Unglück? Können Sie sich irgendeine Meinung darüber bilden?«

»Nein, Mr. Jenkins. Nicht die geringste. Ich kann nur sagen: mir geht alles in einem entsetzlichen Wirbel im Kopf herum. Gestern früh war er noch frisch und munter auf dem Posten und ordnete alles Nötige für heute morgen an, ein Beweis, daß er mit der Zukunft rechnete. Nicht wahr, daß er disponierte? Daß er Pläne machte, Hoffnungen hatte. Daß er am Leben hing und sich auf den nächsten Tag freute.«

»Ein Selbstmord scheint Ihnen demnach nicht wahrscheinlich, Herr Morck?«

»Nein. Ganz und gar nicht.«

»Sind Sie über seine Vermögensverhältnisse orientiert?«

»Gewiß. Sie sind die denkbar besten. Waggeryd ist Millionär.«

»Wissen Sie vielleicht von irgendeinem Feind, den er hatte?«

Morck lächelte. »Er war allgemein beliebt.«

»Wie sind die Familienverhältnisse – ich meine das Einvernehmen mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn?«

»In jeder Hinsicht gut.«

»Ist die Jarlsche Ehe glücklich?«

»Ja. Ich habe selten ein so harmonisches Zusammenleben gesehen. Ich glaube, die beiden sind ineinander verliebt wie am Tage ihrer Verlobung.«

»Hatte Waggeryd seinen Schreibtisch in diesem Raum?«

»Nein. Er arbeitete in seinem Privatkontor – dort nebenan.«

»Ich möchte es sehen.«

Die beiden traten in den kleinen mit sauberer Behaglichkeit ausgestatteten Raum. In der Frontwand und in der Wand zur Rechten war je ein großes Fenster; dazwischen, sodaß das Licht schräg von zwei Seiten kam, stand ein helleichener Rolljalousieschreibtisch. Die linke Wand wurde fast vollständig durch einen großen Geldschrank eingenommen; zwischen dieser linken Wand und der Eingangstür stand ein Klubsessel, davor ein Rauchtisch.

»Ich möchte in diesem Zimmer einige Untersuchungen vornehmen. Ferner möchte ich einige Fragen stellen, zu deren Beantwortung ich des Herrn Jarl bedarf. Wollen Sie die Güte haben ihn zu holen.«

»Mit Vergnügen, Mr. Jenkins.« Morck verschwand und kam gleich darauf mit dem Doktor zurück.

Joe Jenkins zog ein längliches Buch aus der Tasche. »Dies ist wohl das Scheckbuch Ihres Herrn Schwiegervaters, Herr Jarl? Wenigstens fand ich es in seiner Fracktasche.«

Der Gefragte warf einen Blick auf das Heft und nickte.

»Wir wollen einmal alle Zahlungen durchgehen, über die dies Buch Aufschluß gibt. Ich nehme an, daß Sie in der Lage sind, mir die einzelnen Posten zu erklären?«

»Selbstverständlich.«

»Wir müssen eben jede Möglichkeit benutzen, die sich bietet, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Hier ist eine Zahlung von 14 388 Kronen an die Aktieselskabet Bruun & Brodersen …«

»Für Maschinen«, ergänzte Morck.

»1000 Kronen: Laurids Morck.«

»Vorschuß«, nickte Morck, ein ganz klein wenig rot werdend.

»1500 Kronen: F. K.«

»Eine Gabe an die Frelser-Kirke; mein Schwiegervater war Vorsitzender des Fürsorgekollegiums.«

»1000 Kronen: Laurids Morck.« Er blickte den Ingenieur mit einem halben Lächeln von der Seite an.

Dieser nickte. »Vorschuß«, sagte er, ebenfalls mit einem halben Lächeln.

»1200 Kronen: Svend Knudsen.«

»Frachten«, sagte Jarl. »Knudsen ist ein Spediteur.«

»100 000 Kronen …«

Die beiden Herren sahen erstaunt auf.

»Für wen?« fragte Jarl.

»Ein Name fehlt.«

»100 000 Kronen«, wiederholte Jarl kopfschüttelnd. »Wann sind die erhoben?«

»Am 14. August. Also gestern – halt – hier unten sehe ich mit Bleistift ein kleines M notiert. Ist das etwa auch ein Vorschuß für Sie, Herr Morck?«

Der Gefragte lachte: »Nein, Mr. Jenkins.«

»Hat Ihr Schwiegervater den Betrag selbst in Christiania kassiert?«

»Mein Schwiegervater ist erst nachmittags in Christiania eingetroffen – die Banken schließen aber um drei. Aber halt – da fällt mir ein, Fräulein Christiansen war gestern früh in der Stadt. Vielleicht kann sie nähere Auskunft geben.« Jarl ging an die Tür und rief die junge Dame herein.

»Können Sie uns Auskunft geben, mein Fräulein,« wandte sich der Detektiv an die Stenotypistin, »was ein Posten von 100 000 Kronen bedeutet, den ich im Scheckbuch des verstorbenen Herrn Waggeryd notiert finde?«

»Gewiß«, antwortete Fräulein Christiansen mit eifriger Geschäftigkeit. »Diese 100 000 Kronen habe ich gestern für Herrn Waggeryd von unserem Konto bei der Zentralbank in der Toldboldgade in Christiania abgehoben und Herrn Waggeryd übergeben.«

»Hier oder in Christiania?«

»Hier in Sollihögda. Ich war kurz vor zwei zurück.«

»Wann ist Herr Waggeryd nach Christiania gefahren?«

»2 Uhr 50.«

»Wissen Sie vielleicht, Fräulein Christiansen, ob er das Geld mitgenommen hat?«

Die junge Dame zuckte die Achseln: »Das weiß ich leider nicht.«

»Wo pflegte Herr Waggeryd seine Gelder aufzubewahren?«

»Hier im Geldschrank«, antwortete Jarl.

»Wenn er es also nicht mitgenommen hat, so müßte es hier sein?«

»Vielleicht ist es in seiner Brieftasche.«

Der Detektiv zog ein feuchtes Portefeuille aus der Tasche und öffnete es. »Diese Brieftasche enthält etwas über 800 Kronen.«

Jarl steckte den Schnapper ins Schloß des Geldschrankes und zog die schwere Tür auf. Er nahm eine kleine grüngittrige Kassette heraus. »Drei Pack à Tausend Kronen«, sagte er. »Nein, diese 100 000 Kronen sind nicht darin.«

»Fräulein Christiansen,« wandte sich der Amerikaner von neuem an die junge Dame, »auf dem Kupon des Schecks, den Sie gestern in Christiania auf der Zentralbank präsentiert haben, befindet sich der Buchstabe M. Haben Sie eine Ahnung, was das zu bedeuten hat?«

Fräulein Christiansen dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie sich den Scheck angesehen, den Sie gestern eingelöst haben? Man pflegt den Empfänger des Geldes darauf zu vermerken.«

»Da wir selbst die Empfänger waren,« antwortete die junge Dame wichtig, »so war das nicht nötig.«

»Sie haben recht, mein Fräulein,« nickte der Detektiv anerkennend, »es war nicht nur nicht nötig, wie sie höflich bemerken – es wäre sogar falsch gewesen. Ich hoffte nur, auf diese Weise irgendeinen Anhalt zu gewinnen.«

»Der Scheck enthielt keinen Namen. Herr Waggeryd hat mir auch mündlich nichts darüber mitgeteilt.«

»Auch aus den Korrespondenzen geht nichts über diesen Scheck hervor?«

»Nein«, sagte die junge Stenotypistin. »Ich selbst habe mich über die große Summe, die ich von der Bank geholt habe, ein bißchen gewundert.«

»Haben Sie vielleicht versucht, sich irgendeine Meinung über die Verwendung des Geldes zu bilden?«

Sie nickte. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen. Ein geschäftlicher Zweck scheint mir ausgeschlossen. Herr Waggeryd muß das Geld für irgendeine Privatsache gebraucht haben.«

»In was für Geldsorten haben Sie den Betrag bekommen?«

»Die Bank zahlte mir hundert Tausendkronennoten aus.«

»Irgend etwas Auffälliges, was auf die Spur der Noten führen könnte, haben Sie nicht bemerkt?«

»Es waren ganz neue Noten – ungeknifft, anscheinend frisch von der Staatsdruckerei geliefert.«

»Haben Sie die Nummern notiert?«

»Nein.«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Christiansen – und auch Ihnen, meine Herren. – Sagen Sie mir, Herr Jarl, wo ist Ihre Frau?«

»Soviel ich weiß, vorn im Herrenhaus.«

»Ich möchte sie noch einiges über ihren Vater fragen. Auf Wiedersehen.«

*

Thora Jarl selbst öffnete.

»Frau Jarl, ich möchte das Wohnzimmer Ihres Herrn Vaters noch einmal gründlich durchsuchen.«

Thora Jarl versteckte ihr Taschentuch in das kleine Handtäschchen und sah dem Amerikaner ins Gesicht. »Ich dachte mir, daß Sie kommen würden, Mr. Jenkins. Ja, um es zu sagen – ich habe mich danach gesehnt. Denn Sie können es kaum ermessen, wie er in meinem Innern aussieht. Wie ich auch die Dinge deuten mag – es bleibt gleich schrecklich. Ein Mord – nein, es ist nicht auszudenken. – Und ein Selbstmord – das ist fast noch schrecklicher. Nur Gewißheit! Ein bestimmtes unverrückbares ›So ist es gewesen!‹ Aber – vielleicht haben Sie sich Ihre Meinung längst gebildet. Vielleicht sind Sie gekommen, um mir zu sagen: das und das hat sich ereignet. Ich will es ja geduldig hinnehmen; nur helfen Sie mir aus dieser entsetzlichen Ungewißheit.«

Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Es würde leichtfertig sein, Frau Thora, wenn ich im Augenblick auch nur den Versuch machen würde, Ihnen eine Antwort zu geben. Ich will nicht leugnen, daß mir Vermutungen durch den Kopf gehen – aber ich pflege meine Gedanken nicht auszusprechen, bevor ich sie nicht dreimal und mehr gesiebt und gesichtet habe; denn ich bin mir der Verantwortung, die ich mit meinem Wort trage, natürlich bewußt. Sie sollen mir aber helfen, eine Antwort auf alle Ihre Fragen zu finden.«

Die beiden waren inzwischen in den ersten Stock hinaufgestiegen und Frau Thora hatte die Tür aufgeschlossen. Ihr Blick fiel auf eine dunkle Masse, die auf der Chaiselongue lag. Sie schauderte zusammen. »Einer der Arbeiter hat Mantel und Hut meines Vaters gebracht«, sagte sie leise.

Der Detektiv nickte. »Es geschah auf meine Veranlassung. »Bitte sorgen Sie dafür, daß die Sachen unberührt liegen bleiben. Und nun haben Sie die Güte, mir den Schlüssel zu diesem Schreibtisch zu geben. Wenn ich recht vermute, enthält er Privatsachen Ihres Herrn Vaters?«

»Sie dürften wenig Dinge von Wichtigkeit finden.«

Joe Jenkins schloß auf. Das Mittelfach war leer. In der linken Schublade lagen ein paar belanglose Privatkorrespondenzen: Ansichtskarten, Reiseandenken, Briefmarken. In der rechten Schublade ein abgegriffenes, sichtlich stark benutztes Neues Testament, ein Petschaft nebst Siegellack – daneben ein zusammengefalteter Briefbogen.

Joe Jenkins entfaltete den schmalen elfenbeinfarbenen Bogen. »Kennen Sie diese Handschrift?«

Frau Thora schüttelte den Kopf.

»Von einer Frau.«

Der Detektiv überlas den Inhalt und sah Thora Jarl erstaunt an. »Wir sprachen vorhin über Beziehungen Ihres Vaters zu Frauen; ich hatte dabei das Malheur, Ihr Mißfallen zu erregen. Ich muß – so leid es mir tut – nochmals auf dies Thema zurückkommen. Dieser Brief läßt darauf schließen, daß ich mit meinen Vermutungen recht hatte und daß Sie sich irren.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Darf ich ihn lesen?«

»Ich werde ihn vorlesen:

 

Ich habe dies Versteckspiel satt. Ich verlange endlich den Platz, der mir zukommt.

K.«

 

Über den Korridor kam ein fester Schritt. Doktor Jarl trat ein. »Eben ist eine Dame aus Christiania gekommen, die deinen Vater sprechen wollte. Ich erzählte ihr von dem Unglücksfall. Zu meinem Entsetzen wurde sie fast ohnmächtig. Dann verlangte sie nach dir; sie müsse dich notwendig in einer dringenden und streng privaten Angelegenheit sprechen.«

»Wer ist die Dame?« fragte Thora mit leiser, betroffener Stimme?«

»Hier ist ihre Karte.«

Statt der jungen Frau nahm Joe Jenkins den kleinen Karton in die Hand.

 

Karin Heggblom

 

stand darauf.

»Kennen Sie diese Dame?«

Die beiden schüttelten den Kopf.

»Hast du ihr gesagt, daß ich in einer Verfassung bin, die es mir unmöglich macht, Besuch zu empfangen?«

»Ich habe es ihr natürlich gesagt. Trotzdem bestand sie darauf dich zu sprechen. Sie sagte, sie habe dem Toten nahe gestanden; näher als du.«

Thora Jarl wechselte einen erstaunten Blick mit dem Detektiv.

»Ich denke, wir lassen das Fräulein Karin Heggblom eintreten«, sagte dieser.

Jarl öffnete die Tür und kam gleich darauf mit einer jungen schönen hellblonden Dame zurück. Sie trat mit ernster Gemessenheit ein und sagte, indem sie auf Thora Jarl zuging:

»Ich habe mit Bestürzung die Todesanzeige in der Aftenposten gelesen. Ich bin gekommen, um ihn noch einmal zu sehen.«

Thora Jarl trat einen Schritt zurück. Es ist sehr liebenswürdig, Fräulein Heggblom, daß Sie mit dem Schicksal meines Vaters einen so innigen Anteil nehmen.«

Die Besucherin sah die junge Frau einen Augenblick schweigend an. Dann sagte sie in ruhigem Ton, indem sie die Tür hinter sich schloß:

»Der Anteil, den ich an dem Tode Ihres Vaters nehme, ist, wie ich denke, der berechtigste, den es auf der Welt gibt.«

Thora Jarl sah sich im Kreise um und legte die Hand an die Schläfe. »Ich bin nicht in der körperlichen Verfassung, Fräulein Heggblom, um Rätsel zu raten. Sie werden das begreifen – mein Vater liegt tot am See, die Polizei ist in meinem Hause, und fremde Menschen gehen ein und aus, die mir vollends den Kopf verwirren und mir den letzten Rest der Besinnung rauben. Was sind das für berechtigte Interessen, von denen Sie sprechen, – was wollen Sie, Fräulein Heggblom – und wer sind Sie?«

Karin Heggblom tat einen tiefen Atemzug. Dann sagte sie leise:

» Ich bin seine Frau


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