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V.

Die feuchte Wärme eines sonnigen Spätsommermorgens lag über der Stadt Christiania. Vom Fjord her kam ein leichter frischer Wind und fuhr in lustigem Spiel durch das dichte Laub des Schloßparks; er strich durch die Ulmen und Linden der Karl Johansgade und fuhr in neckischem Wirbel den Holmenkollen herauf.

Das geschäftige Leben des Vormittags pulste durch die Stadt. Vom Hafen kamen hochbepackte Lastwagen, die trugen in ihrer Fracht das fremdartige Parfüm ferner Erdteile herüber in diese Stadt des Fleißes und der Arbeit.

In den ziegelroten Kontorhäusern des Hafenviertels wurde es lebendig; die Treppen und die Korridore hallten von dem eifrigem Geklapper geschäftiger Schritte und aus den Bureaus vernahm man den kraftvollen Auftakt der Morgenarbeit: das Klappern der Schreibmaschinen, das Klingeln der Telephone. Vom Hafen her gellten die Signale der Schleppdampfer, und von der Dronningens-Gade kam das gedämpfte Klingeln der Straßenbahnen. Die verschlafenen Hafenkneipen öffneten ihre Kellertüren; die ersten Gäste trafen sich zu einem flinken Trunk mitten zwischen zwei geschäftlichen Gängen: die Stauer der Reedereien, die Angestellten der Schiffsmakler und der Spediteure, und ein paar Kapitäne der Schärendampfer.

Im Bureau der Aftenposten saß Joe Jenkins mit dem Direktor der Zeitung. Er ließ gelegentlich einen belustigten Seitenblick über dessen gerötetes Gesicht gleiten: man sah dem würdigen Herrn die Genugtuung über die Ehre dieses seltenen Besuches auf zehn Schritt an. Er hatte eine kleine, aber verheißungsvoll banderolierte Zigarrenkiste aus der untersten Schublade eines Rolljalousieschrankes genommen, und zwei Henry Clay sandten einen feinen bläulichen Dampf in das Zimmer, der in spielerischen Ringeln gegen die hohen morgenkühlen Fensterscheiben zog.

Eben kam der Schalterbeamte mit einem strotzend gefüllten Ordner zurück: »Hier ist das Original.«

Joe Jenkins nahm dankend das Blatt, das der Bringer mit geschickter Hand aus dem Gleitbügel gelöst hatte und überflog den Inhalt:

 

Durch einen unerklärlichen Unglücksfall
verschied heute
Herr Hjalmar Waggeryd.
Er ertrank im See von Sollihögda.

Die trauernden Hinterbliebenen.

 

Die Anzeige war mit der Hand geschrieben – in einer charakteristischen steilen Männerhand.

»Ein Messengerboy hat das Inserat aufgegeben.«

Da der Chef die Gelegenheit benutzte, um dem Beamten ein paar interne Weisungen zu erteilen, zog der Detektiv einige Briefe, die er aus dem Trauerhause in Sollihögda mitgenommen hatte, aus der Tasche und ließ einen raschen vergleichenden Blick über die Handschriften gleiten. Dann erhob er sich.

»Gestatten Sie, Mr. Jenkins, daß ich Sie an Ihr Auto geleite?« fragte der Direktor höflich, und ohne eine Antwort abzuwarten, erhob er sich.

*

»Eine Dame wartet«, meldete der Hotelportier, indem er die Mütze lüftete.

Es war Thora Jarl. Sie atmete auf, als sie Joe Jenkins erblickte.

»Ich habe eine Unruhe in mir, die von Stunde zu Stunde unerträglicher wird. Haben Sie etwas Neues entdeckt, Mr. Jenkins?«

Er zog das Original des Inserats: »Kennen Sie diese Handschrift?«

Sie blickte erstaunt auf die Schriftzüge. »Das hat mein Vater geschrieben.«

Er nickte. »Ja. In der Tat: dies Inserat trägt die Handschrift des Herrn Waggeryd. Sie sehen, das Unerklärliche wird noch unerklärlicher. Eine Todesanzeige, die bereits einen Tag vor dem Tode in der Zeitung steht – und die wenn nicht alles täuscht, der Tote selber aufgegeben hat.«

»Das würde wieder auf einen Selbstmord deuten.«

»Ja. Auch die Erscheinung des eigenen Ichs fügt sich symbolisch in diese Version. Sie gilt – glaube ich – als ein Vorbote des nahen Todes. Das ist ein Aberglaube, den man fast in der ganzen Welt antrifft; es ist kein Wunder, wenn die Erscheinung seines eigenen Ichs Ihren Herrn Vater vollends davon überzeugt hat, daß sein Schicksal ein unabwendbares sei – daß er sterben müsse. Und nun möchte ich Sie etwas fragen: Ihr Vater hat sich selbst gesehen – Ihr Gatte hat den Schlittschuhläufer gesehen. Er sagte aber, daß das Gesicht des Schlittschuhläufers dem Ihres Herrn Vaters aufs Haar geglichen habe. Es scheinen da also irgendwo zwei Dinge zusammenzufallen, die letzten Endes vielleicht überhaupt identisch sind.«

Frau Thora sah ihn an und sagte leise: »Ja, Mr. Jenkins. Und das ist der Grund, warum ich hier bin.«

»Wir würden einen großen Schritt weiter sein, wenn Sie mir über diese Halluzination …«

»Halluzination? Nein, Mr. Jenkins, es handelt sich um etwas vollkommen Reales. Mein Vater und mein Mann haben eine und dieselbe Erscheinung gesehen. Der Herr, der meinem Vater gegenübersaß, war in Wirklichkeit nicht sein zweites Ich, sondern …«

»Sondern?«

»Der Schlittschuhläufer.«

»Also was für eine Bewandtnis hat es mit diesem geheimnisvollen Schlittschuhläufer?«

»Ich kann Ihnen darüber nur das erzählen, was ich selbst vom Hörensagen weiß: der Urgroßvater meines Vaters hatte ein Mädchen geliebt, das er nicht heiraten durfte; sie war aus Sundvolden. Sie hatte nichts und er hatte nichts – die alte Geschichte. Statt ihrer nahm er eine reiche Bauerntochter zur Frau, die Erbin der Porphyrgruben von Sollihögda. Aber die Ehe wurde unglücklich; er konnte seine Jugendliebe nicht vergessen. Die Ehegatten entfernten sich mehr und mehr voneinander, kaum daß einer noch das Wort an den andern richtete. Nacht für Nacht lief er über den gefrorenen See auf seinen Schlittschuhen hinüber nach Sundvolden, um die Geliebte zu sehen.

Das erfuhr seine Frau. In einer dunklen Dezembernacht brach er ein und ertrank. Bis heute weiß man nicht, ob ein Unglücksfall oder ein Verbrechen vorgelegen hat. Das Volk munkelte von einem Mord. Und die Stimme des Volkes hat ein merkwürdig treffsicheres Urteil, glaube ich. Sie weiß eigentlich nie, was wir tun, und doch weiß sie fast immer, wie es um uns steht. Also kurz und gut – an einem heißen Julitage des dem Mord folgenden Jahres kam ein Fischer totenbleich heim: er habe Hjalmar Waggeryd gesehen; er sei quer über den See auf ihn zugekommen, auf seinen spiralförmig geschnabelten Schlittschuhen – mitten im Sommer unter heißer Julisonne – blühende Rosen rechts und links, soweit das Auge reichte.

Die Nachbarn, denen er sein Erlebnis erzählte, lachten ihn aus. Einer ging mit ihm an den See, um sich die Stelle zeigen zu lassen. Und siehe da: nach einer halben Stunde kamen die beiden zitternd heim: zum zweiten Male hatte sich der Schlittschuhläufer gezeigt!

Nun mögen die Leute doch ein bißchen stutzig geworden sein – gleichwohl, auch die doppelte Zeugenschaft vermochte die Zweifler im Ernst nicht zu bekehren.

Am Abend des nächsten Tages wurde der, der ihn zuerst gesehen hatte, auf der Landstraße nach Homledal vom Blitz getroffen; er war auf der Stelle tot.

Da ging ein Schrecken durch Nordland, und der Schlittschuhläufer war in aller Munde. Der nächtliche Tod Hjalmar Waggeryds – mein Vater heißt nach ihm – war mit einem Schlage das Tagesgespräch von Frederikshald bis Vandö. In allen Spinnstuben, in allen Kneipen sprach man von ihm – und das Gerücht von seiner Ermordung verdichtete sich mehr und mehr zu einer drohenden Anklage. Auf die Dauer konnte selbst das Gericht an diesen Dingen nicht vorübergehen; es nahm den Fall auf.

Eines Tages fand man Frau Waggeryd tot im See.

»Kennen Sie irgend wen, der den Schlittschuhläufer gesehen hat?«

»Nein.«

»Er pflegt also, wenn ich recht verstehe, zweimal zu erscheinen; das erste Erscheinen bedeutet offenbar eine Art von Warnung – das zweitemal scheint es den unmittelbar bevorstehenden Tod anzukündigen?«

»Ja.«

»Und Ihr Herr Vater sah jenem Schlittschuhläufer ähnlich, sagen Sie?«

»Wie aus dem Gesicht geschnitten. Und darum meine ich, die Erscheinung, die mein Vater im Boulevard-Restaurant gehabt hat, war kein anderer, als eben dieser Schlittschuhläufer …«

»… der ihm also seinen bevorstehenden Tod auf diese Weise angekündigt hätte.«

Die junge Frau erhob sich und trat ans Fenster. Drüben auf der Wergelandstatue inmitten des schimmernden Sonnengoldes lag drohend ein dunkler Schatten. Er vergrößerte sich, und schon war der ganze Eidsvoldsplatz in ein graues Dunkel gehüllt: vom Fjord herüber trieben zwei große dunkle Wolken, die den halben Horizont bedeckten und das freundliche Sonnenlicht in ihr undurchdringliches Netz aufnahmen.

»Ich glaube, Mr. Jenkins«, sagte Frau Thora, »mein Vater hat es so aufgefaßt, wie Sie es andeuten. Er hat in der Erscheinung jenes Fremden wohl tatsächlich eine Art von Todesbotschaft erblickt – darum ist er zu Ihnen gekommen.«

»Er hat mir von dieser Auffassung allerdings kein Wort gesagt.«

Ein paar Tropfen schlugen klatschend gegen die Fensterscheiben; das leise Grollen eines fernen Donners, das man mehr fühlte als hörte, stand in der Luft. Der Wind hatte plötzlich aufgehört; die Kronen der Bäume draußen in der Karl Johansgade standen kerzengerade und unbeweglich und die graue Luft, die an den Fensterscheiben klebte, schien wie in einer lähmenden Furcht zu lauschen.

»Ich glaube fast, mein Vater hat sich ein wenig geniert. Er fürchtete vielleicht, Sie könnten ihn wegen seines Aberglaubens auslachen.«

Joe Jenkins schüttelte den Kopf und lächelte. »Das war sehr unpraktisch von Ihrem Vater. Es ist nun einmal nicht anders; einem Arzt und einem Detektiv muß man alles sagen, was man weiß. Sonst ist die Diagnose gefährdet, unter Umständen unmöglich. Im übrigen muß ich Ihnen offen gestehen: ich bin selbst abergläubisch.«

»Sie haben recht. Es war falsch, daß mein Vater sich nicht vollkommen aussprach.« Und indem sie in ein Schluchzen ausbrach, sagte sie mit stockender Stimme: »Hätte er doch gesprochen! Vielleicht lebte er noch!«

Das Dunkel wuchs. Ein greller Blitz zuckte vom grauen Horizont herüber. Joe Jenkins zog die Fenstervorhänge zu und schaltete das Licht ein. »Ihr Vater glaubte also, sich selbst zu sehen, während er in Wirklichkeit, wie Sie meinen, jenen unheilkündenden Schlittschuhläufer erblickt hat. Bei der großen Ähnlichkeit, die Ihr Vater mit seinem Urahnen hatte, wäre das allerdings möglich gewesen. Vielleicht, daß Herr Waggeryd diesen Dualismus der Erscheinungen ahnte – vielleicht auch nicht – die eine Erscheinung bliebe schließlich so rätselhaft wie die andere – und so unheimlich wie die andere. Die Erscheinung im Boulevard-Restaurant wäre also jene erste Warnung gewesen. Mittwoch nacht um halb vier nun – in der Nacht von vorgestern auf gestern – rief mich Ihr Herr Vater, wie Sie wissen, telephonisch an, um mir in höchster Erregung mitzuteilen, daß er den Schlittschuhläufer zum zweiten Male gesehen habe. Oder vielmehr, daß er sein Ebenbild gesehen habe – ich glaube, wir können hier getrost das eine für das andere setzen. Das war die zweite Erscheinung: die Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Todes.

Nach der Aussage des Dieners hat Ihr Herr Vater nun, nachdem er das Telephongespräch mit mir geführt hatte, das Haus zu seinem Erstaunen wieder verlassen. Und zwar merkwürdigerweise nicht auf dem gewöhnlichen Wege über die Lillegade; er hat den Hinterweg gewählt, über Asmussens Hof – den Weg, der in gerader Richtung zum See führt.«

»Darüber habe ich mir die ganze Nacht den Kopf zerbrochen, Mr. Jenkins. Was meinen Vater bewogen hat, mitten in der Nacht nach dem See zu gehen, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.«

»Es ist noch etwas anderes«, sagte Joe Jenkins nachdenklich. »Als Ihr Herr Vater mich verließ, war es ein Viertel nach eins. Die Fahrt währt fünf Viertelstunden; Ihr Herr Vater sagte es mir ausdrücklich. Und er kannte den Weg natürlich genau, denn er ist ihn viele Male gefahren. Er mußte also um halb drei zu Hause sein. Sein Nachtanruf aus Sollihögda aber kam punkt halb vier. Er war in einer solchen Aufregung über die nächtliche Erscheinung, daß man wohl sagen kann; es ist ausgeschlossen, daß er etwa eine Stunde gewartet hätte, ehe er mich angerufen hat.«

»Vielleicht hat das Telephonamt für die Herstellung der Verbindung so lange gebraucht?«

»Auch diese Frage erledigt sich. Ich habe mich darüber informiert. Die Nachtverbindung war eine dringende und hat genau dreieinhalb Minuten in Anspruch genommen. Außerdem sagte der Diener ausdrücklich, daß er um halb vier gekommen sei. Mit anderen Worten: wir haben es mit einer Stunde Zeitdifferenz zu tun, die vorläufig unerklärlich ist.«

»Vielleicht eine Panne

»Nein.«

»Wie wollen Sie das hinterher wissen?«

»Die Reserveräder sind unangerührt; der ganze Wagen ist gleichmäßig, wenn ich so sagen darf, normal verstaubt. Eine Panne würde sich in Fingerabdrücken bemerkbar machen. Abgesehen von dem Dérangement der Pneumatiks.«

»Danach scheint es fast, als ob mein Vater sich in Sollihögda selbst, nachdem er das Auto in die Garage geschafft hat, noch eine Stunde lang aufgehalten hätte?«

»Hm. Eine Kleinigkeit stimmt nicht in dieser Rechnung. Aber ich will Sie damit jetzt nicht behelligen, denn ich kann mich nur zu gut in die Stimmung versetzen, in der Sie sich augenblicklich befinden müssen. Und ich will nicht unnötig im Moment an Dinge rühren, die Sie unausgesetzt an den traurigsten Moment Ihres Lebens erinnern.«

Ein greller Blitz zog ein schneidendes Zickzack auf dem hellen Gelb der Vorhänge; das ganze Zimmer war einen Moment mit einem bläulichen Licht erfüllt. Unmittelbar darauf prasselte ein so furchtbarer Donner nieder, daß das Haus in seinen Grundfesten bebte. Zugleich setzte der Regen verstärkt ein; ein wahres Trommelfeuer von Tropfen schlug an die Scheiben, so daß kleine springende Tropfen ins Zimmer hüpften.

Joe Jenkins zog den Vorhang auf. Die ganze Karl Johansgade war in einen einzigen grauen Schleier gehüllt. Aber dort drüben über Bygdö lugte schon wieder verstohlen ein blaues Himmelzipfelchen wie eine lächelnde Verheißung in die Welt.

»Ihr Herr Gemahl muß gestern wohl durch den Anblick des Schlittschuhläufers aufs höchste erschreckt worden sein? Ist es doch nichts anderes als die erste Warnung vor einem nah bevorstehenden Todesfall.«

Frau Thora warf einen scheuen Blick auf den Himmel, den eben wieder ein bläulicher Blitz spaltete »Mein Gatte kennt die Sage vom Schlittschuhläufer nicht, Mr. Jenkins«, sagte sie leise.

Der Detektiv blickte sie erstaunt an. »Kennt sie nicht?« wiederholte er. »Haben Sie ihm denn nie etwas darüber erzählt?«

»Nein. Mit Absicht nicht. Brinjulf ist ein durch und durch modern denkender Mensch, in dessen Seele keine Spur von Aberglauben ist. Er war den größten Teil seines Lebens im Auslande: in den Porphyrwerken von Sachsen und Mähren. In diesen Wanderungen hat er den Glauben an die Märchen der Kinderstube verlernt. Er lacht über alles, was wir als übersinnlich zu bezeichnen pflegen. Und noch eins kommt hinzu: er ist ein durch und durch gesunder Mensch. Wir sprachen einmal von Familiensitzen, in denen Gespenster umgehen sollen. Ich hatte das Thema vorsichtig und auf Umwegen angepackt. Denn eine mir selbst nicht erklärliche Scheu hielt mich davor zurück, ihm so ohne weiteres die alte Geschichte von jenem Schlittschuhläufer zu erzählen. Wir sprachen von der Weißen Frau und den Gespenstern in den schottischen und irischen Familien. Da erzählte er mir: diese Gespenster, oder vielmehr die Gabe, sie zu erblicken oder zu erfühlen, sei ein Charakteristikum degenerierter Familien. Der Gedanke an eine solche Geisterseherei erfülle ihn mit einem körperlichen Widerwillen gegen jene Menschen, die die wenig beneidenswerte Gabe des zweiten Gesichts besäßen.«

»Herr Jarl hat nicht ganz unrecht mit dieser Ansicht.«

»Sie werden es begreifen, daß ich unter diesen Umständen mich nicht entschließen konnte, ihm das Familiengeheimnis von Sollihögda zu offenbaren.«

»Wäre es nicht möglich – ja ist es nicht wahrscheinlich, daß er von anderer Seite davon gehört hat?«

»Ich spielte vor einiger Zeit mal auf die Geschichte an – denn der Gedanke, daß er darum wissen mußte, lag natürlich nahe. Da merkte ich, daß er vollkommen unorientiert war. Es mag sein, daß die Bekannten ihm aus einer Art von Zartgefühl nichts davon erzählt haben.«

»Dann muß ihm die Erscheinung des Schlittschuhläufers auf dem Wasser also vollends unerklärlich gewesen sein?«

Thora nickte traurig.

Der Regen hatte aufgehört. Ein sonniger Schimmer stahl sich behutsam aus dem Wolkenwall hervor – und mit einem Schlage lag es über der feucht glänzenden Straße wie warmes junges Leben.

»Ich muß fort«, sagte Thora Jarl. »Ich habe in der Stadt noch Verschiedenes zu besorgen.«

»Erlauben Sie mir, Sie hinunterzugeleiten. Ich habe im Hotel Nobel einiges zu tun.«

»Wo mein Vater wohnte? Fast möchte ich Sie begleiten.«

»Dazu kann ich Ihnen nicht raten. Ja – die Recherche, die ich heute zu machen habe, würde Ihnen wahrscheinlich so gut wie nichts sagen. Dazu ist die ganze Angelegenheit viel zu dunkel und alle Schritte, die ich vorläufig unternehmen kann, viel zu zögernd und zu langsam. Das Aus-dem-Ärmel-Schütteln gibt es nämlich nur in der Vorstellung der Laien.«

*

Der Zimmerkellner stand vor Joe Jenkins und wurde abwechselnd rot und blaß. Er wußte nur zu gut, um was es sich hier handelte. Denn der rätselhafte Tod des bekannten Industriellen Hjalmar Waggeryd hatte in ganz Christiania ungeheures Aufsehen gemacht. Und nun stand einer der gefürchtetsten Detektivs der Welt in seiner ganzen Größe in diesem selben Raum, der vor wenigen Tagen der Ausgangspunkt jenes unerhörten Dramas gewesen war, und von jedem Wort, das ihm John der Zimmerkellner auf seine Fragen antwortete, konnte das Gelingen oder Mißlingen des ganzen Prozesses abhängen! In seiner Hand trug er sozusagen den Kopf des Schuldigen.

»Es war gegen fünf Uhr, als Herr Waggeryd hier ankam. Er ließ sich Kaffee bringen mit Zucker. Mit sehr viel Zucker. Herr Waggeryd nahm immer eine doppelte Portion Zucker. Und auch die Sahne mußte …«

»Was hatte Herr Waggeryd an, als er hier eintraf?«

»Einen grauen Jakettanzug. Ich glaube Marengo nennt man den Stoff. Darüber einen Covercoat-Paletot.«

»Nachdem er also seinen Kaffee getrunken hatte, legte er Frack an, nicht wahr?«

»Jawohl, mein Herr.«

»Darauf verließ er das Hotel und kam vor ein Uhr nachts nicht mehr heim?«

»Bevor Herr Waggeryd das Hotel verließ, mußte ich ihm Blumen besorgen.«

»Ah – das ist ja etwas ganz Neues. Was für Blumen waren es?«

»Ein kostbarer Strauß: für vierzig Kronen Syringen.«

»Wurde dieser Syringenstrauß an irgendeine Adresse geschickt?«

»Nein, mein Herr. Herr Waggeryd nahm ihn mit. Als ich den Strauß ins Zimmer brachte, kam mir Herr Waggeryd im Frack entgegen. Den hatte er während meiner Abwesenheit angelegt. Dann – in dem Moment, da Herr Waggeryd gehen wollte, bekam er Besuch.«

»Was für einen Besuch?«

»Es war ein großer blonder Herr.«

»Dauerte es lang?«

»Etwas über eine halbe Stunde, glaube ich. Die beiden hatten eine sehr lebhafte Unterredung – ich glaube, sie zankten sich. Mitten drin, während die beiden sich beinahe anbrüllten, kam ein Bote mit einem Paket.«

»Was für ein Bote?«

»Er trug eine elegante Livrée; es schien mir der Laufbursche eines vornehmen Geschäfts aus dem Fremdenviertel zu sein. Ich glaube, er hat ein gutes Trinkgeld bekommen, denn er war sehr vergnügt, als er die Tür hinter sich zumachte. Als er die Treppe hinunterging, pfiff er das Lied von Frau Drammen – so laut, daß ich es ihm verbot.«

»Was er brachte, können Sie wohl nicht beurteilen?«

»Nein, mein Herr.«

»Wie groß war das Paket?«

»Etwa wie eine Zigarrenkiste mit Fünfundzwanzig darin.«

»Später beruhigten sich die beiden Herren wieder?«

»Ungefähr eine Viertelstunde später ging der blonde Herr. Herr Waggeryd gab ihm das Geleite bis an die Treppe und schüttelte ihm die Hand. Dann sah ich noch etwas – aber ich glaube, es ist unwichtig.«

»Was sahen Sie?«

»Der Fremde sah sich um: so, als ob er feststellen wollte, daß Herr Waggeryd ihn nicht mehr sehe. Dann faßte er in die Tasche und zog vorsichtig ein großes Kuvert heraus. Das öffnete er – und da sah ich wie er eine große Anzahl Banknoten durch die Finger gleiten ließ – so als ob er sie zähle oder gar liebkose.«

»Fiel Ihnen an den Banknoten irgend etwas auf?«

»Sie schienen vollkommen neu zu sein – ich meine ungeknifft und ganz glatt.«

»Konnten Sie erkennen, was für Noten es waren?«

»Ja. Es waren Tausendkronennoten.«

»Darauf ging also Herr Waggeryd fort, nicht wahr?«

»Jawohl, mein Herr.«

»Sahen Sie in welcher Richtung er ging?«

»Ich war zufällig im Vestibül und ließ ihn selbst durch den Drehausgang hinaus. Draußen rief er eine Autodroschke an und fuhr in der Richtung nach der Stadt davon.«

»Fiel es Ihnen nicht auf, daß Herr Waggeryd eine Droschke nahm? Er hatte doch sein eigenes Auto in der Garage des Hotel Nobel stehen?«

»Ja – das fiel mir wohl auf. Dann dachte ich mir: er hat seinen Frack an. Und da will er sich nicht schmutzig machen.«

»Das leuchtet ein. Die Blumen hatte er mit, nicht wahr?«

»Jawohl. Die Blumen und das Paket, das der Bote gebracht hatte.«

»Sie sind ein tüchtiger Mensch. Hier haben Sie Zwanzig Kronen.«

»Ich danke sehr, mein Herr.«

*

Frau Bye's Pension in der Akersgade bot das Bild eines vornehmen, durch und durch anständigen Damenheims. Die zwei weißgescheuerten Stufen leuchteten in der Sonne. Die ganze glatte Fassade des balkonlosen Gebäudes war eine einzige blendend weiße Fläche. Und in den tadellos geputzten Fensterscheiben spiegelte sich hundertfach das blinkende Licht.

Der Besuch eines Herrn machte ein gewisses Aufsehen. Joe Jenkins nahm höflich den Hut ab, als er durch das Spalier von Korbsesseln schritt, das die Halle flankierte. In diesen Korbsesseln aber saß eine Reihe von Damen, die mehr oder weniger jung und mehr oder weniger schön waren. Die meisten sahen aus wie die bekannte reisende Engländerin, die in Quebecs übereisten Feldern ebenso zu Hause zu sein scheint wie in den Luxushotels von Kalkutta und Singapore. Eine Batterie von Lorgnons folgte ihm. Zwei Angestellte des Hauses – selbstverständlich ebenfalls weiblichen Geschlechts – fragten ernst nach seinem Begehr.

»Ich möchte zu Frau Karin Waggeryd.«

»Sie meinen Fräulein Karin Heggblom. Erster Stock – Zimmer acht und neun.« – – –

Karin empfing den Amerikaner mit sichtlicher Freude.

»Ich hoffe, Ihnen nicht ungelegen zu kommen; es ist Mittagszeit.«

»Ich esse nicht vor drei Uhr, Mr. Jenkins. Sie glauben nicht, wie froh ich bin, daß Sie da sind. Hoffentlich bringen Sie Neues – ich meine etwas, was Licht in den Todesfall meines Mannes bringt.«

Joe Jenkins nahm in dem Sessel Platz, den ihm Frau Karin anwies und fragte statt aller Antwort: »Nicht wahr, Frau Karin, Ihr Gatte war am Mittwoch nachmittag – oder gegen Abend – bei Ihnen?«

»Nein, Mr. Jenkins«, antwortete sie erstaunt.

»Hat er Ihnen nicht Blumen gebracht – und ein Geschenk?«

»Ich habe ihn am Mittwoch überhaupt nicht gesehen. Ja – ich wußte gar nicht, daß er am Mittwoch in Christiania war.«

»Hat er Ihnen die Blumen und das Paket etwa durch einen Boten zugehen lassen?«

»Ebenso wenig. Ich habe weder Blumen noch ein Paket erhalten.«

»Er war am Mittwoch im Hotel Nobel …«

»Dort pflegte er stets abzusteigen, wenn er in Christiania war.«

»Er hatte eine Sitzung: Verband der Steinbruchbesitzer der Drei Königreiche.«

»Davon hatte er mir gesprochen, und ich hatte natürlich damit gerechnet, daß ich ihn am Mittwoch sehen würde. Aber er ließ nichts von sich hören.«

»Im Hotel Nobel bekam er den Besuch eines großen blonden Herrn. Können Sie sich irgendeine Meinung darüber bilden, wer es gewesen sein mag?«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein«, sagte sie endlich.

»Als jener Herr ihn verließ, zog er ein Päckchen Banknoten, das ihm offenbar Herr Waggeryd gegeben hatte. Es scheint sich hier um einen Betrag von Hunderttausend Kronen zu handeln, den Herr Waggeryd eigens an jenem Vormittag hat von der Bank holen lassen – und über dessen Verwendung kein Aufschluß existiert. Es sei denn, daß diese Hunderttausend Kronen etwa für Sie bestimmt gewesen wären.«

»Ich weiß nichts von Hunderttausend Kronen. Mein Mann hat mir derartig große Beträge nie im Leben ausgezahlt – dazu lag auch niemals Veranlassung vor.«

»Also scheint jener blonde Herr der Empfänger des Geldes gewesen zu sein. Im Scheckbuch befindet sich, klein mit Bleistift in die Ecke des Kupons gekritzelt, ein M. Sagt Ihnen dieser Name irgend etwas?«

»Nein, Mr. Jenkins. Ich kenne niemanden, dessen Name mit einem M anfängt und der in irgendwelcher Beziehung zu Herrn Waggeryd stünde – noch dazu in einer Beziehung, die eine Zahlung von Hunderttausend Kronen rechtfertigen würde.«

»Wann wollen Sie nach Sollihögda übersiedeln? Haben Sie darüber schon irgendwelche Pläne gefaßt?«

»Ich habe meine Räume auf den 5. September gekündigt.«

»Und nun möchte ich Sie einmal ganz privatim etwas fragen. Sie wissen: auch der einfachste Fall ist unentwirrbar, wenn dem Recherchierenden irgendwelche Faktoren unbekannt sind – oder sagen wir einmal – verschwiegen werden. Ich bin überzeugt, daß Sie mir alles gesagt haben, was Sie wissen, aber ich möchte darauf wetten, daß Sie mir durchaus nicht alles mitgeteilt haben, was Sie glauben. Haben Sie sich irgendeine Meinung über den Tod Ihres Gatten gebildet? Da Sie sozusagen in seinem Milieu lebten, so lief Ihre Lebenslinie – Sie verstehen, was ich damit sagen will – parallel der seinen, und selbst die Dinge, die Sie nicht wissen, sondern nur fühlen, haben sicher irgendwo einen realen Hintergrund, über den Sie sich vielleicht selbst nicht im klaren sind. Sind Ihnen über die Geschehnisse irgendwelche Gedanken gekommen – irgendwelche Kombinationen, selbst Verdachtsmomente, der Schatten einer Erklärung – so sprechen Sie sie unumwunden aus. Sie beschleunigen damit meine Arbeit.«

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich habe natürlich, wie Sie sich wohl denken können, alles hin und her erwogen. Ja ich habe eigentlich bis zu dieser Minute kaum an etwas anderes gedacht als an diesen geheimnisvollen Tod meines Mannes. Aber irgendwie nähergekommen bin ich der Sache nicht – trotz alledem. Ich kann mir nicht einmal Rechenschaft darüber ablegen, ob ich an einen Mord oder an einen Selbstmord glaube.«

»Hm. Eine Unstimmigkeit hat sich herausgestellt. Ihr Gatte fuhr um viertel nach eins in der Nacht aus Christiania fort – und erst um halb vier traf er in Sollihögda ein. Er hat genau eine Stunde länger gebraucht, als normalerweise erforderlich war. Und dabei liegt bestimmt keine Panne und auch kein sonstiger Aufenthalt vor.«

»Das vermag ich natürlich noch viel weniger zu begreifen als Sie, Mr. Jenkins.«

»Noch etwas: dann, unmittelbar nachdem er mich antelephoniert hatte, verließ Herr Waggeryd wieder das Haus und ging querfeldein nach dem See zu. Demnach müßte sein Tod also etwa in der Zeit zwischen halb vier und vier Uhr erfolgt sein …«

»Oder später«, sagte sie.

»Oder später. Ganz richtig. Nun kommt aber etwas, was zu dieser Version wiederum nicht paßt.« Joe Jenkins faßte in die Tasche: »Kennen Sie dies?«

»Das ist seine Uhr«, sagte Frau Waggeryd leise.

»Ja. Sie zeigt, wie Sie sehen, auf dreiviertel Drei.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Jenkins.«

»Ich will es Ihnen erklären. Wie Sie wissen, habe ich diese Uhr dem Toten abgenommen; sie hat also mit ihm im Wasser gelegen. Nun ist es eine kriminalistische Erfahrung, daß keine Uhr unter Wasser länger als eine Viertelstunde geht. Diese Uhr wäre also spätestens um dreiviertel Drei und frühestens um halb Drei in der Tasche des Toten im Wasser gewesen.«

»Sie sagten aber doch selbst, daß mein Mann …«

»… mich um halb vier antelephoniert hat. Ganz richtig. Das sagte ich. Diese Uhr beweist aber, daß Herr Waggeryd schon spätestens um dreiviertel Drei tot war.«

»Aber jener Mann, der um halb vier Uhr in der Nacht das Haus Waggeryd verlassen hat und über Asmussens Hof nach dem See zu gegangen ist …?« flüsterte Frau Karin.

»… müßte demnach ein anderer gewesen sein.«

»Aber wer – um Gotteswillen? Wer kann dieser fremde Mann gewesen sein, der Sie mitten in der Nacht antelephoniert hat – der Sie glauben machen wollte, er sei Hjamar Waggeryd. – Aber nein, Mr. Jenkins, der Diener hat ihn doch gesehen …«

»Nun ja – sagen wir einmal: er hat Hut und Mantel seines Herrn gesehen. Der Diener sagte ausdrücklich, der Herr habe den Hut tief ins Gesicht gedrückt gehabt. Glauben Sie mir, gnädige Frau – diese Uhr beweist unwiderleglich, daß der Besucher, der in der Nacht kam, telephonierte und ging, nicht Herr Waggeryd war – sondern sein Mörder


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