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Exzellenzfrau Melanie Fontagne hatte auch die Familie Kronenhaupt aufgefordert, sich dem geplanten Ausflug anzuschließen, den sie auf ihres Sohnes Rat unternehmen wollte und von dem während des Abendessens Max seiner Schwester verstohlen zuflüsterte. Die Bankiersgattin und Mara sagten mit unverhohlener Bereitwilligkeit zu, Adolf dagegen erfand Ausreden, daß er sich nicht beteiligen könne, obschon seine Anwesenheit in St. Magdalena gewiß nicht vonnöten war.

Seine Mutter nahm den Jungen beiseite: »Daß Du mir nicht zu nahe hingehst, Dolfi!«

So fuhren die vier Damen ohne Kavalier mit dem Frühpostzug nach Veitsberg, einem zurückgebliebenen Bauerndörfchen am Oberlauf des Auenbaches, der sich dort noch als nichtiges silbernes Band zwischen den Felsblöcken des breiten Flußbettes durchwindet, der ärmlich herabrieselt, wenn ihn nicht gerade Regengüsse oder die Schneeschmelze anschwellen, so daß er eine dicke, braune, lehmig-flüssige Masse wälzt.

Zur Schneeschmelze im Frühjahr war es noch weit – erst mußten die Flocken noch fallen – und Landregen ging auch keiner nieder. –

Während des ganzen Tages spielte niemand auf den aufregenden Anlaß der improvisierten Partie an.

Die blauen Augen Evas umkreisten graue Schatten. Sie starrte aus dem Coupé in den trügerischen Spätsommersonnenschein, auf die im Fluge dahineilenden Telegraphenstangen und schaute gedankenlos den fliehenden Kilometersteinen zu, die längs der Schienen vorsprangen und verschwanden.

Eine knappe Stunde und der Zug traf in Veitsberg ein. Man eilte sich nicht und suchte den einzigen Gasthof des Ortes, den Frau Holzammer mit gutem Gewissen empfehlen konnte, aß Eier, deren Frische Frau Kronenhaupt in Frage stellte und setzte das einförmige Menü für das »Diner« fest.

Bis dahin gedachten die Damen die Umgebung zu besichtigen, stiegen ziemlich ungeschickt auf den ausgesucht verwahrlosten Wegen kreuz und quer umher, wobei der bejahrtere Teil der Gesellschaft Kongestionen bekam, und landeten endlich in übelster Laune bei einer Bank, die einen Aussichtspunkt abgegeben hätte, wären ihr nicht zwei Beine abgefault und wucherten davor nicht rücksichtslos Haselsträuche empor, die den freien Ausblick mehr als beengten. Enttäuscht traten sie den Rückweg ins Gasthaus an. Frau Fontagne und Frau Kronenhaupt, die in einem vielgelesenen Wiener Tagesblatt jedermann vor einem Besuche von Veitsberg dringend abraten würden, eröffnten den Zug, um – wie sie sagten – das Tempo zu bestimmen, denn sie wären nicht gesonnen, sich in der Mittagshitze hetzen und jagen zu lassen. Eva und Mara folgten stumm; die Eine hatte keine Lust zum Sprechen und die Andere vermutete, daß man auf ihre Worte nicht hörte. Mara versuchte es anfangs mit verschiedenen Themen und erhielt keine oder verkehrte Antworten.

Die große Glocke in dem Dachreiter der Kirche läutete ...

»Zwölf Uhr«, warf die Tochter Kronenhaupt nebenbei aber nicht bedeutungslos hin.

Die Hände der golden Blonden ballten sich konvulsivisch, sie unterdrückte ein böses Wort; es war aber doch keine Bitte, sondern ein barsches Fordern: »Um Gottes willen schweigen Sie ...«

Selbst dann, als die schwingenden Töne schon lange verklungen waren und Eva weich und freundlich bat: »Nehmen Sie es mir nicht übel, liebes Fräulein, ich bin mit meinen Nerven fertig« – selbst da nickte Mara nur gekränkt und bemitleidete sich weinerlich wegen ihrer übelangebrachten Liebenswürdigkeit – und freute sich, daß die Andere nun erntete, was sie säte ...

Freilich hätte sie auch gerne über das prickelnde Ereignis, das sich eben abspielen mußte, gesprochen ...

Eine merkbare Depression beeinträchtigte den Genuß des Mittagmahles – und die beiden Mütter bekrittelten einstimmig die Dualität des Bratens und alterierten sich über den sauren Wein.

Mara Kronenhaupt verzehrte mit einwandfreiem Appetit zwei mächtige Portionen Zwetschkenstrudel und wurde durch einen aufmunternden Blick Mamas dafür belohnt; Eva Fontagne würgte ein paar Bissen hinunter und trank durstig ein Glas Wein.

Die Stunden bis zum Abend schlichen träge.

In der Blonden kochte ein sinnloser Haß auf gegen alles, gegen die Menschen, gegen sich, gegen die Sonne, die Zeuge des Dramas war und fremd und fühllos ihre Bahn vollendete ...; sie glaubte, die Ungewißheit nicht zu ertragen und flüchtete in die Kirche.

Um zu beten.

Warum – fragte sie; es ist ja vorbei.

Die vergoldeten Heiligen standen gleichgültig auf ihren Postamenten; sie waren ja aus Holz und Pappe.

Endlich ging man zur Station; viel zu früh, aber man wußte nicht, was anfangen.

Auf dem Perron warteten bereits ein kofferreicher Handlungsreisender, Einheimische und einige Touristen, die ihre Rucksäcke ablegten und die Eispickel an die Wand lehnten; dem Einen hing die Haut verbrannt in Fetzen vom Gesicht; das war der Neid seiner Kameraden.

Ein Güterzug rangierte, Kondukteure schwangen rote Fahnen und beladene Waggons rollten auf dem toten Geleise.

Eva Fontagnes Blicke verfolgten das Treiben, ihre Gedanken beschäftigten sich nicht damit. Die plattgefahrenen Schienenstränge gleißten und blendeten.

Der Stationschef erschien in der Tür des Bureaus, zog mit der Hand, in der er ein zusammengefaltetes Papier hielt, die Uhr und starrte aus kurzsichtigen Augen auf die Menschen; er mußte das Gewünschte gefunden haben, denn der Beamte kam auf Frau Fontagne zu und salutierte; Eva wurde aufmerksam, aber sie stand zu weit ab, um zu vernehmen, was sie sprachen. Die Exzellenzfrau lächelte matt und nahm das Blatt, das ihr der Chef reichte.

Eine Depesche.

Der Bahnbeamte legte abermals zwei Finger an den Rand seiner Kappe und rief dann dem Heizer des Lastentrains einen Befehl zu ...

Eine Depesche ...

Eva wollte hineilen, aber ein unnennbares Grauen erfaßte sie, ein eisiger Schauer überlief ihren Rücken und sie blieb regungslos stehen, weil sich ihrer eine hysterische Angst bemächtigte, die Beine könnten den Dienst versagen ... Mit weitaufgerissenen Augen verfolgte das Mädchen jede Bewegung der Mutter – die das eingebogene Telegramm aufriß, es in dem Bruchteil einer Sekunde überflog und lächelte ...

Das Lächeln bewies nichts; die Tochter traute der eigenen Mutter zu, daß sie mit einem Lächeln den Tod des Mannes las ...

Frau Kronenhaupt nahm das Telegramm.

Noch immer rührte sich die junge Fontagne nicht.

Mara langte nach dem zerknitterten Papier ...

Die drei Damen konversierten interessiert, unverständlich durcheinander. Was sagten sie? Alle dasselbe? Jede etwas anderes? Der Bann war gebrochen, der sie den Tag zum Schweigen verurteilte ... Die starren Gesichter belebten, röteten sich ... Trappistenfratres, denen der Eine Tag im Jahr die Zunge löst, können nicht geschwätziger sein ...

Mara winkte animiert: »Fräulein ...« Ein zur Vorsicht mahnender Ruf: »Kind, Kind ...« sie unterbrach sich und brachte die Depesche herüber: »Liebes Fräulein Eva, es ist relativ gut abgelaufen.« aber auch in diesem Augenblick obsiegte die Taktlosigkeit: »Ich gratuliere Ihnen!«

In dem Glückwunsch lag die leichtfertigste, roheste Anklage.

Die Fontagne ergriff hastig die Nachricht und spannte alle Kräfte zum Äußersten; die Buchstaben wirbelten; Silbe für Silbe entzifferte sie: »Steppenrit Schulterschuß, nicht lebensgefährlich. Max.«

Der einfahrende Personenzug pfiff.

Eva tat nur instinktiv, was die anderen taten und stieg ein; das Blatt entglitt ihrer Hand und sie bückte sich nicht, es aufzuheben; sie staunte, daß ihr nicht leichter zu Mute war ... Tausend Gedanken schwirrten – keiner dachte sich zu Ende.

Die Exzellenzfrau zeigte nichts von ihrer üblichen Abgeklärtheit; sie und die Damen Kronenhaupt überschrieen das Rollen der Räder und gestikulierten. Eine Anrede wurde auch an Eva gerichtet, von der Bankiersgattin; die Angeredete reagierte darauf nicht.

Der Zug hielt – Sattelmarkt, die letzte Unterbrechung und die nächste Station war St. Magdalena in der Au.

Die Nacht nahte; stumpfe Finsternis sank herab, schwärzere und schwärzere Schatten krochen unheimlich ins Tal.

Aus dem Rattenkönig der wirren Gedanken Eva Fontagnes sonderte sich ein einziger ab und marterte das Mädchen: ›Wenn der Bruder die volle, grausame Wahrheit schonend verschwieg ... wenn der – Richtige nicht nur verwundet wäre ...‹

Die Geleise der Bahn waren alt und schlecht; die Übergänge der Schienen versetzten den Wagen Stöße.

Die Dampfpfeife der Lokomotive gröhlte ...

Man rüstete sich zum Aussteigen, tastete an die Haarnadeln, ergriff die Schirme und Stöcke; man hielt rasch Umschau, ob nichts liegen blieb, nichts vergessen wurde.

»Ein wenig Haltung, bitte!« Exzellenzfrau Fontagne fand an diesem Tag das erste Wort für ihre Tochter.

Eva senkte mutlos den Kopf.

* * *

Max empfing die Anwesenden auf dem Bahnsteig und schwenkte zur Begrüßung den Hut; er lachte fröhlich über das ganze Gesicht und bewährte seine vielgepriesene Liebenswürdigkeit, die er in drei Handküssen und einem festen Händedruck dokumentierte: »Hurra! Die Auswanderer kehren heim! Die Perronkarten des heutigen Tages verursachen meinen Bankrott. Sofort nachdem ich Euch depeschierte – war ich nicht aufmerksam? – expedierte ich die Jägeroffiziere, wirklich sehr nette Leute, und den Regimentsarzt ...«

Adolf Kronenhaupt wünschte, ein Abglanz des allgemeinen Interesses möchte auch seine Person umstrahlen; deshalb spielte er schon Frau Holzammer gegenüber den Geheimnisschwangeren und runzelte jetzt sorgenvoll die Stirnhaut, in die so strafbar weit die schwarzen Löckchen hineinwuchsen. »Wie geht es Dir, mein Sohn?« fragte besorgt seine Mutter. »Hast Du Kopfschmerzen? Du siehst affiziert aus und mußt Dich schonen; wir sind zu Deiner Erholung hier!«

An den Eckhäusern St. Magdalenas qualmten und rußten Petroleumlaternen, die eine Straßenbeleuchtung markierten.

Noch auf dem Weg zur Pension International mußte Max Fontagne erzählen und ließ sich dazu nicht bitten; er berichtete allen gemeinsam, nur diesen oder jenen Satz sagte er direkt zu Eva, die nebenher abseits ging, und zeigte durch eine Vierteldrehung links an, daß er besonders an ihre Aufmerksamkeit appellierte. Mara lächelte ohne Unterlaß und schob als Zeichen der Spannung das Unterkiefer vor, was den Erzähler bewog, manche Stelle durch eine theatralische Geste förmlich zu unterstreichen und die Knotenpunkte hob er wirksam durch ein Stehenbleiben hervor.

Adolf, denn die Schilderung mit den unbedeutenden Variationen nicht mehr neu war, hörte sie gleichwohl nochmals an.

»Na, die Chose wickelte sich selbstredend kommentmäßig ab;« Max dämpfte die Stimme, da er sich davon eine schönere Wirkung versprach, »wozu wäre sonst auch das Massenaufgebot von Sekundanten da; der Unparteiische war übrigens ein strenger Herr. Freilich verhinderte selbst der komplizierte Apparat des Drum und Dran einen bedauerlichen Zwischenfall nicht – den schildere ich Dir später, liebe Eva, und Du wirst nolens-volens verschiedene Deiner Ansichten gründlich revidieren müssen –, aber das ist Nebensache. Wir, das heißt Alexander, der Unparteiische Hauptmann Kollarz, Leutnant Weber, der Arzt und ich, fuhren in zwei Wagen zur Lichtung, die ungefähr fünfhundert Schritte vom Wolfsnest entfernt im Walde ist, und trafen dort den Steppenrit mit den zwei anderen Offizieren ... Der neue Holzschlag eignete sich für unseren Zweck vorzüglich und wir tauschten die üblichen Grüße aus. Hauptmann Kollarz – der Unparteiische –, er sollte regulär bereits Major sein, hat eine eminente Erfahrung in der Austragung von Ehrenhändeln und drechselte die Geschichte tadellos; zuerst die Komödie mit den Versöhnungsversuchen, auf die keiner hereinfallen darf, und hernach maßen sie die Distanz ab – fünfzehn Sprungschritte. Ein bischen unbehaglich fühlte ich mich doch, als die Waffen geladen und ausgelost wurden und die Gegner ein paar Meter voneinander Posto faßten und die Pistolen prüfend in der Hand wogen ... Ich habe es einmal miterlebt und möchte es nicht nochmals sehen, wie ein Sechserhusar, ein lieber Kerl, – damals diente ich als Freiwilliger in Oedenburg – mit einer Kugel im Bauch aufschrie und stürzte ... Wir begruben den armen Teufel nach acht Tagen ... Ja, aber ...« Der Fontagne hielt eine Kunstpause für angebracht.

»Und, und ...« drängte Mara.

»Und ... aber der Himmel meinte es heute gnädiger mit unseren Nerven. Kaum begonnen, war die Chose auch schon vorbei. Der Duhnin im eleganten Salonrock nahm sich aus, wie aus Stein gemeißelt und der Steppenrit – man muß es ihm neidlos lassen – zeigte wenigstens keine Schwäche; der eigentliche Reiz begann begreiflicherweise in dem Moment, als der Unparteiische zu zählen anfing: Eins – zwei – der Duhnin riß die Waffe auf ... und bei Drei ein Knall ... Ich war ehrlich erstaunt, daß der Steppenrit noch aufrecht auf seinem Platz stand ... Es war da eben der merkwürdige Zwischenfall gewesen und der Mensch bot Alexander die Brust in ihrer ganzen Breite als Zielscheibe; ein Schuß ins Herz wäre nur auf sein Konto gegangen. – plötzlich sprang der Regimentsarzt vor: »Herr von Steppenrit, sind Sie verwundet?« »Ich glaube,« antwortet der gepreßt und wurde aschfahl. Mit der Schießerei war es nichts mehr, obschon die Untersuchung eine verhältnismäßig leichte Blessur ergab – ich habe es Euch ja telegraphiert – und wir durften nach Hause fahren ... Ich weiß nicht, vergaßen die Gegner zufällig einander die Hände zu schütteln, oder vergaßen sie absichtlich darauf.«

Die Schlußwendung, die Max Fontagne für sehr eindrucksvoll hielt, hatte er vorbereitet und einstudiert und tat sich an ihr gütlich, so daß er sie breittretend wiederholte:» ... oder vergaßen sie absichtlich darauf ...«

Während der Enderzählung hatte man schon die Pension erreicht und empfand eine Art schaler Ernüchterung.

»Einige Details ist er Euch schuldig geblieben ...« konstatierte Adolf Kronenhaupt »und ausgerechnet das Komischste unterschlug Herr Fontagne nämlich.«

»Wie geht es eigentlich Herrn Steppenrit?« Eva dankte bei sich Mara für die Frage; sie selbst hätte sie nicht über die Lippen gebracht.

»Passabel! Reichlicher Blutverlust; die Kugel saß im Oberarm und wurde extrahiert; das Gelenk ist irritiert oder so etwas. Der Regimentsarzt meinte, wenn keine Komplikation hinzutritt, bleibt nicht einmal der Arm steif.«

Die Gesellschaft löste sich im Vorraum zum Speisesaal auf und trennte sich; Kronenhaupts beteuerten, Hunger zu haben und sofort zu soupieren. Als sie allein unter sich waren, zwinkerte Adolf mit den Augen: »Max war höchlichst aufgeregt und nachher goß er zwei Flaschen Wein zur Beruhigung hinunter; habt Ihr es ihm nicht angemerkt? Er posierte unvergleichlich.«

»Möglich,« entgegnete die Mutter.

Mara schloß ergebungsvoll die beschatteten Lider und schwieg; sie hatte an ihrem Bräutigam nichts auszusetzen. –

Die drei Fontagnes hatten sich indessen in ihre Wohnung begeben; die Tochter ahnte, daß sie einer entscheidenden Auseinandersetzung entgegenging, ihr Wille klärte sich und ihre Kraft erstarkte.

Sie waren im Salon.

»Max, bitte Licht.«

Die tiefgedrehte Flamme leuchtete nur schwach.

Eva wollte in ihr Zimmer und trat zur Tür, die in den Korridor führte; sie öffnete – und schrak zusammen.

Der Duhnin.

»Pardon! Ich war eben im Begriff, anzuklopfen.«

So blieb auch Eva Fontagne.

In überschwänglicher Herzlichkeit stürmte die Exzellenzfrau dem Eintretenden förmlich entgegen; es hätte nicht viel gefehlt, daß sie ihn umarmte: »Ich gratuliere Ihnen vom ganzen, ganzen Herzen!« Der Duhnin ergriff die Hand der diesmal um ihre Würde auffallend wenig besorgten Dame und küßte galant die willig dargebotenen Fingerspitzen.

»Und nun, lieber, lieber Herr von Duhnin, berichten Sie, wenn die leidige Affäre Sie nicht allzu heftig affizierte ...«

Man sah dem Manne an, daß seine Ruhe und seine Festigtet nur äußerlich waren; seine Augen glitzerten unstät und die Worte sprudelten in nervöser Hast: »Den Verlauf der Angelegenheit im Großen und Ganzen hat Ihnen Max erzählt ...« Der Botschafter brauchte eine Ablenkung der aufwallenden Erregung: »Gestatten Sie, verehrte gnädige Frau, daß ich mir eine Zigarette anrauche ...« Eine entgegenkommende Erlaubnis und Max reichte gefällig das brennende Zündholz: »Danke ... Leider versäumte ich, die Satisfaktionsfähigkeit meines Gegners näher zu untersuchen – es wäre uns dann wahrscheinlich die ekelhafte Komödie erspart geblieben, die dieser Herr zum Besten gab.«

Eva Fontagne zweifelte keinen Augenblick, daß die hochmütige Einleitung auf jenen »Zwischenfall« anspielte, den Max rätselhaft nur angedeutet hatte – und sie wußte nun auch, daß die Darstellung der Ereignisse mit verteilten Rollen eine abgekartete Sache war, die berechnend auf einen Effekt hinzielte; ihr Blut wallte und höhnisch reizte sie den Duhnin: »Spannen Sie uns doch nicht auf die Folter, geschätzter Herr von Duhnin, und weihen Sie uns in die Mysterien ein, die offenbar der Überlieferung würdig sind.«

Einen Moment nur fixierten die Beiden einander.

»Eine ekelhafte Komödie, ich kann mich nicht anders ausdrücken, gnädiges Fräulein!« Mit seiner Beherrschung war es vorbei und er mäßigte sich nicht mehr, weder in dem, was er sagte, noch wie er es sagte: »Der Kerl schmiß die Pistole weg, als der Unparteiische »zwei« rief und stellte sich mir frech vor die Flinte, weil der Feigling hoffte, seine freiwillige Wehrlosigkeit würde ihn retten – ich würde ihm Pardon geben. Ich kenne diese cachierte Kneiferei – sie scheint Mode zu sein bei Elementen, die nicht den Mut haben, die ritterliche Genugtuung offen und ehrlich zu verweigern und zu decrepit sind, die ihnen fehlende Kourage auch nur zu imitieren ... Aber das erreichte die Kanaille: das Benehmen irritierte mich und das Blei schlug fünf Zentimeter zu hoch in die Knochen.«

»Sie lügen!« die Fontagne beugte den Nacken vor und ihr Gesicht verzerrte sich haßerfüllt: »Sie lügen! Herr von Steppenrit wußte genau, daß Sie, Herr von Duhnin, auch auf Wehrlose feuern, er wußte genau, was er tat! Ich war gestern bei ihm und in maßloser Verblendung bat ich ihn, er möchte vom Zweikampf abstehen ... Das Weitere interessiert Sie nicht und geht Sie nichts an – nur soviel: er hat mich geküßt und ich küßte ihn wieder ... Und ich war so feig, ihm nicht zu sagen: ich liebe Dich ... sondern der Steppenrit glaubte, mir ein großes Unrecht zugefügt zu haben und wollte es sühnen und ich bestärkte ihn darin ...«

»Eva!« die Mutter kreischte den Namen.

Alexander von Duhnin trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne: »Das ist ja recht pikant!«

Aber das Mädchen sprach unbeirrt weiter: »Laß es gut sein, Mama, ich bin kein Kind, das am Gängelband geleitet wird. – Ich werde künftig meinen Weg ganz allein finden müssen ... Und jetzt eine besondere Abrechnung, Herr von Duhnin, dann sind auch wir fertig! Daß Sie einen Menschen auf Tod und Leben provozierten, darüber wollen wir nicht rechten und vielleicht verstehe ich Sie sogar, wenn ich mir Mühe gebe – vornehm handelten Sie keinesfalls, – aber daß Sie mich betrogen, daß Sie jemanden verleumdeten, der sich nicht verteidigen konnte, das war gemein, bodenlos niedrig und gemein. Sie bauten gewissenlos auf ein gedankenloses Verurteilen von mir, als Sie ihm vorwarfen, daß er Wechsel fälschte – ja, das taten Sie! –, daß er ehrlos wurde. Und Sie glaubten selbst nicht an die Lüge, denn Sie wären der Letzte, der sich mit einem Verbrecher duelliert ... Gott sei Dank, daß der Zufall diesmal ein guter war und mir noch rechtzeitig die Augen öffnete.« Und als der Botschafter noch immer keine Miene machte, zu gehen, wies Eva energisch auf die Tür: »Hier, bitte, falls Sie nicht merken sollten, daß Sie überflüssig sind ... Wissen Sie, wer eigentlich der Stegreifritter ist, der anständigen Leuten heimtückisch in den Rücken fällt – Sie sind es, Herr Alexander von Duhnin.«

Da erhob er sich, verneigte sich korrekt und ging.

Fassungslos durch die leidenschaftliche Szene suchte Max Fontagne vergeblich nach Worten, um in seiner Weise zu retten, was nicht mehr zu retten war.

Die Mutter aber schrie wütend mit sich überschlagender Stimme: »Du mißratenes Ding! So benimmst Du Dich! Den Männern läufst Du schamlos nach und wirfst Dich ihnen an den Hals! ... Ich mochte Dich nie leiden, Du warst mir immer antipathisch. Jetzt hast Du endlich das Band zwischen uns und Dir zerschnitten – dafür verdienst Du zum erstenmal in Deinem Leben Dank.«

Max sprang auf: »Mama ...«

Eva fühlte keinen Haß, empfand keinen Zorn; nur weh ums Herz war es ihr, bitter weh; sehr ruhig sagte sie: »Nein Max ... es ist schon gut so ... ich muß alles hören ... 's ist ja auch schon vorbei ...«

Diese scheinbare Gleichgültigkeit stachelte die Empörung der Mutter zu sinnloser Extase: »Ich habe Dir nichts mehr zu sagen, als daß Du eine ganz gewöhnliche Dirne bist!«

Unter dem blutigen Peitschenschlag zuckte die Tochter, Tränen traten in ihre Augen und sie faltete bittend die Hände: »Mama ... ich gehe ja so fort ... aber das Wort nimm zurück ... das Eine Wort ...«

»Geh!« mitleidslos, brutal.

»Mama ...« das Mädchen beugte die Kniee und weinte.

»Nein ...«

Die Wanduhr tickte, die Wehr rauschte.

»Dann muß es eben auch so gehen ...«

An der Tür wandte sich Eva Fontagne zum letztenmal um, zögerte ... aber schwieg.

Die Nachtluft des Herbstes fächelte die pochenden Schläfen.

Sie war verstoßen, heimatlos.

Stumpf, wie zerschlagen, schleppte sie sich auf die Straße, über die Brücke, über den Feldweg, zu den Stoppelfeldern.

Ein schneidender Wind trieb die Wolken durch das Sternenmeer des Himmels; die Mondsichel leuchtete ihr geborgtes Licht weiß und fern; das Schwerthorn wuchs einsam in die Unendlichkeit des Weltenraumes; frühe Herbstnebel dampften aus der umgepflügten braunen Erde.

Das Mädchen schaute auf.

Wo war sie.

Zwischen Bäumen glitzerte gebrochenes Licht, aus einer halbzerfallenen Burg ... und rief und lockte ...

Sicher und fest lenkte Eva Fontagne ihre Schritte.

Sie wußte, wo ihre neue Heimat war.


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