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Max Fontagne wahrte die Form wie immer und war die vollendete Liebenswürdigkeit, die ihm gut zu Gesicht stand; er sprang aus dem zweisitzigen Gefährt und ersuchte den Diener, seine Ankunft zu melden. Ins Turmzimmer geführt drückte der junge Mann dem Hausherrn verbindlich die Hand und erkundigte sich bei der Schwester teilnehmend um ihr Befinden. Da sie der Bruder halbwegs vergnügt und wohlauf sah, trieb er zu Eile, weil man daheim recht in Sorge um sie sei.

Schon im Wagen, zur Abfahrt bereit, sagte das Mädchen: »Ich danke Ihnen nochmals, Herr von Steppenrit, ich habe Ihnen große Mühe gemacht.« Und der Stegreifritter verbeugte sich stumm – und blickte sie wieder an, wie an jenem Abend vom Apfelschimmel herab. Verwirrt suchte Eva eine Ablenkung: »Na, kommen wir denn nicht von der Stelle!«

Die Pferde zogen mit einem Ruck an – ein Hutschwenken und sie fuhren ab.

Es war finstere Nacht geworden; die Mondsichel zögerte noch hinter den Bergen; das Gewitter hatte die Stickluft der vergangenen Tage hinweggefegt und von den Blättern der Bäume tropften schwere Regentropfen langsam herab.

Max fühlte sich zu einer vorwurfsvollen Rede verpflichtet: »Hör einmal, den Unsinn hättest Du Dir ersparen können. Mama ist wütend und der Duhnin mit Recht verstimmt. Wie passierte Dir eigentlich das Malheur?«

Eva lehnte sich in die lederüberzogenen Polster zurück und schloß verstimmt die Augenlider: »Die Beschreibung des auch mir – besser gesagt, des gerade mir unangenehmen Zwischenfalles erläßt Du mir wohl vorderhand; ich werde ja so noch mit allen Details beichten müssen ... Mama hat sich hoffentlich schon wieder beruhigt und den Duhnin kümmert die Chose wirklich nichts ...« –

Vor der Pension, schon auf der Straße, warteten Frau Melanie Fontagne und Alexander von Duhnin auf das Eintreffen der Beiden; die Exzellenzfrau kämpfte den heftigsten Ärger nieder und der Botschafter zertrat nervös einen Laufkäfer, der ihn ärgerte.

Die kühle Begrüßung weckte eine instinktive Opposition in dem Mädchen.

»Dein Fuß ist doch nicht gebrochen, Eva?«

»Danke, nein, Mama; es geht passabel und könnte viel schlimmer sein.«

»Weil Du meine Ratschläge nie befolgst.«

»Man kann auch auf der glatten Straße Unglück haben.« Die Antwort hatte nichts Verbindliches.

»Aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist in der Theorie und auch in der Praxis geringer, als wenn Sie im Gebirge waghalsig umherklettern.« So der Duhnin.

»Gewiß.«

»Du hättest zum mindesten das freundliche Angebot einer Begleitung nicht brüsk von der Hand weisen sollen; Herrn von Duhnin wäre es nur ein Vergnügen gewesen, Dich zu gardieren; so mußtest Du die Hilfe eines fremden Menschen in Anspruch nehmen!«

Damit behielt die Mutter das letzte Wort.

Eva hatte Durst und schüttete einige Gläser Wein hinunter; dadurch kam sie in eine beinahe ausgelassene Stimmung und schilderte der aufhorchenden Abendtafel ihr Abenteuer; und sobald die Blessierte aus den herabgezogenen Mundwinkeln der Gesellschaft schloß, daß manches dem Geschmack der Zuhörer nicht behagte, malte sie boshaft gewisse Einzelheiten mit besonders grellen Farben – wie z. B. der Steppenrit den nackten Fuß, natürlich eingehend, untersuchte, wie er sie zwischen den Felsen durch auf seinen Armen ins Tal trug, um schließlich, wahrscheinlich als Feier der glücklichen Rettung, im Wolfsnest einen intimen Tee zu veranstalten ...

»So viel ich beurteilen kann, entsprang die Hilfsbereitschaft des Herrn mehr seiner und Deiner guten Laune, als der Notwendigkeit, liebes Kind, denn Du gehst jetzt schon wieder ganz ohne fremde Unterstützung.« Einzelne Worte betonte die Exzellenz über Gebühr.

Und Frau Kronenhaupt sekundierte spitz: »Wir dachten Sie schon halb tot, liebes Fräulein, und nun haben sie von einem amüsanten Erlebnis zu berichten ... Ich finde auch, daß Herr Steppenrit des Guten anscheinend zu viel tat.«

»Oder ich übertrieb ein wenig!« schränkte Eva ihre Schilderung ein und merkte, daß sie sich in der Erzählung der Einzelheiten zu weit von der Wahrheit entfernt hatte.

»Aber er ist eine so interessante Persönlichkeit,« warf Mara nicht ganz passend ein, wogegen Frau Fontagne erregt replizierte: »Persönlichkeit? Ich wüßte eine andere Bezeichnung für den – Herrn.«

Eva warf den Kopf so vehement zurück, daß eine Haarnadel aus ihrer Frisur niederfiel; sie finden kein Wort des Dankes für ihn – dachte sie und empfand die Geringschätzung, mit der man den Mann behandelte, als eine persönliche Kränkung und Nichtachtung; nur Max bemühte sich, die Gegensätze zu glätten: »Wir wollen froh sein, daß kein ärgeres Unglück passierte ...und schließlich darfst Du nicht vergessen, Mama, es ist ein großer Unterschied, ob man mit einem verrenkten Knöchel auf Parkett spazieren geht, oder damit eine Schuttriese herabsteigen soll.«

Der Duhnin entgegnete lakonisch: »Mag Herr Steppenrit diesmal und ausnahmsweise auch passabel anständig gehandelt haben, das peinlichste – nach meiner Auffassung der Verhältnisse – liegt darin, daß Ihr Fräulein Schwester von einem Individuum Gefälligkeiten acceptieren mußte, das man unter normalen Umständen unverweigerlich schneidet.«

Da erst fuhr die Blonde auf und ihre Antwort fiel streitbar genug aus: »Ich hörte noch von keinem vernünftigen Menschen, der, wenn er am Ertrinken ist, eine dargebotene Hand zurückweist, weil vielleicht die Fingernägel dieser Hand zufällig nicht poliert sind. Das fordern Sie doch, Herr von Duhnin? Und ich bin überzeugt, Sie würden in dem Fall, Ihrer unendlichen Vornehmheit getreu, lieber zugrunde gehen ... Was übrigens Herrn von Steppenrit im besonderen anlangt, so benahm er sich durchaus als Gentleman ... Das ist meine Meinung und diese kann hier in erster Linie darauf Anspruch erheben, respektiert zu werden ...«

Frau Holzammer hatte schon früher diskret den Saal verlassen; doch die Sensationsfreudigkeit der Familie Kronenhaupt kam gleichwohl nicht auf ihre Rechnung, denn das Erscheinen des Arztes unterbrach die so pikant einsetzende Redeschlacht.

Der Doktor äußerte sich befriedigend, verschrieb Eisumschläge und für die nächsten Tage Schonung; die Schwellung würde vielleicht noch einige Zeit anhalten; das hätte aber nichts zu bedeuten.

* * *

Wie schon mehrmals im Verlaufe des Sommers, den die Fontagnes in St. Magdalena in der Au verbrachten, so lag auch in dieser Nacht, die der mißlungenen Schwerthornbesteigung folgte, Eva lange Stunden wach im Bett und aus dem Dunkel lösten sich von selbst Gestalten, die ihrem Denken eine eigene Richtung gaben; das Mädchen verglich den Stegreifritter mit Alexander von Duhnin ... Manches hatten sie gemeinsam, die Verschlossenheit, die Zurückhaltung des Wesens, die Kälte des Charakters und die Bestimmtheit des Willens, aber sah man genauer zu, so hatte den Einen das Leben gelehrt, eigene Bahnen zu wandern, und der Andere klebte ängstlich wägend an dem Hergebrachten.

Und den Anderen würde sie heiraten ...

Alles hatte sie den Leuten bei Tisch erzählt – die erzwungene Intimität, die ihr der Zufall mit dem Steppenrit aufzwang, nur von dem Mannesblick der grünschillernden Augen schwieg sie ... Und sie achtete ihn, weil er sie damit schonte, so lange das Schicksal sie ihm allein ausgeliefert hatte.

Achten – und lieber wäre es der Blonden gewesen, wenn sie den Bedienten hätte hassen können; was sie über ihn hörte und wie sie ihn verurteilte, weil er sich im Leben gemein gemacht hatte, das holte das Mädchen eigensinnig aus der Erinnerung hervor und tat sich damit nur selbst weh.

Aber ihr Wunsch nach Haß war nicht stark.

Und ein anderes Gefühl wuchs, das instinktive Verlangen zu erfahren, wie er dazu gekommen war, elend zu werden. Ein verbrauchtes Sprichwort, das sie schon oft mit halbem Ohr hörte, von dem alles verstehen und dann alles verzeihen, gewann an Tiefe und Bedeutung.

Ihn nach seinem Unglück fragen?

Wozu?

Er würde gewiß die Wahrheit sagen und würde gewiß zu stolz zur beschönigenden Lüge sein ... Aber sie will nicht, was ging eine Eva Fontagne der fremde Mensch an ...?

Die Bilder verschwammen ...

Das Mädchen schlief ermüdet ein.

* * *

Am nächsten Morgen fragte Klaus von Steppenrit durch seinen Diener an, wie sich die Patientin befinde.

Sie befand sich besser; die Schmerzen waren erträglich und der Fuß versagte seinen Dienst nicht.

Exzellenzfrau Fontagne wünschte der Form Genüge zu tun und Max sollte im Wolfsnest vorsprechen, um nochmals, auch im Namen seiner Mutter, dem Stegreifritter für seine Liebenswürdigkeit zu danken. Der Duhnin, zwar nicht mehr so gereizt, aber kühl und absprechend, erklärte die Höflichkeitskomödie für überflüssig; ein wirklicher Ehrenmann reflektiere nicht auf Dankadressen; ein Kavalierdienst sei eine Sache für sich – meinte er.

Eva Fontagne hatte wieder ihr Gleichgewicht gefunden und entgegnete gelassen: »Auch Herr von Steppenrit beansprucht gewiß nicht unsere Dankesbezeugungen, aber wenn Max Mamas Wunsch erfüllt, so geschieht es unsertwegen, die wir uns von Niemandem etwas schenken lassen.«

Diesmal stimmten Mutter und Tochter ausnahmsweise überein; der Botschafter verzichtete auf Widerspruch und vertiefte sich in seine spanische Grammatik.

Die Kronenhaupt kamen auch herbei, behaupteten, glücklich zu sein, daß die Fortschritte im Befinden Evas anhielten und Mara fragte mit durchsichtiger Bosheit: »Er war also wirklich nett, liebes Fräulein?«

Und da beschäftigte sich auch die junge Dame Fontagne mit Nebensächlichkeiten, mit den grünen Bergen und dem tiefblauen Himmel – und vergaß auf die Antwort.

Max trat mit demselben Wagen, mit dem er am Vortage die Schwester abholte, die Staatsvisite im Wolfsnest an; aber Klaus von Steppenrit befand sich irgendwo auf der Jagd, während im Gegensatz zu dieser Tatsache der Besucher drei heilige Eide darauf geschworen hätte, daß er ihn am Fenster des Turmzimmers sah, als das Gefährt vor dem Schlosse hielt.

Darüber lächelte der Duhnin sarkastisch und das Mädchen ärgerte sich deshalb zufällig nicht – weder über die Befriedigung des Diplomaten, noch über den Stegreifritter, der es für gut fand, sich verleugnen zu lassen.

* * *

Das Amtsblatt der Wiener Zeitung brachte die offizielle Ernennung Dr. Alexander von Duhnins, Ritter des Franzjosefs-Ordens, Besitzers der Herrschaft Blankenberg in Böhmen usw. usw. zum österreichisch-ungarischen Botschafter in Madrid.

* * *

Der Sommer neigte seinem Ende zu.

Zwar schrieb man erst August und vom Herbstmonat trennte noch eine Woche, aber schon lugten aus dem geschnittenen Gras der feuchten Wiesen giftige Herbstzeitlosen, morgens trieb der Wind Nebel aus den Bergtälern gegen St. Magdalena in der Au und die Schwalben umkreisten kreischend die Kirchenspitze des Dorfes. Die Sonne kürzte ihren Weg und die Baumschatten wuchsen und wuchsen und zeichneten längliche, merkwürdig verzerrte schwarze Bilder auf den Boden.

Eines frühen Abends, an einem lauen vorzeitigen Herbstabend sah Eva Fontagne zwei Gestalten in der Gartenlaube; die küßten einander; sie erkannte die Stimmen der Liebenden, obschon die Worte nur geflüstert wurden – es waren ihr Bruder und Mara Kronenhaupt.

Die Blonde liebte Mara nicht.

Aber – was kümmerte es sie; wenn die Braut nur dem Verlobten gefiel ... und er durch ihre Mitgift den ersehnten Übertritt ins Auswärtige Amt erreichte.

Ein schwacher Ekel überkam die Fontagne ... und sie schüttelte ihn ab und dachte an sich selbst.

Übrigens war die Verlobung nicht offiziell; Max schnitt glückliche Gesichter und die heimliche Braut stöberte vielsagend in den Katalogen der großen Warenhäuser, die in Menge überall herumlagen; weil das Mädchen sie absichtlich überall liegen ließ.

Die Bankiersgattin schien blind und befriedigt; die Exzellenzfrau tat vor den Leuten, als merkte sie nichts. –

Evas kranker Fuß genas, sodaß sie und der Arzt damit zufrieden waren; stützte sich das Mädchen auch noch immer auf einen Stock, so geschah dies mehr aus schnell erworbener Gewohnheit, als aus notwendigem Bedürfnis; vielleicht posierte sie auch kokett mit der leidenden Stellung und lächelte selbst darüber.

Seit dem Abenteuer auf dem Schwerthorn, auf das, wie auf etwas peinliches, das man zu vergessen trachtet, selten die Rede kam, war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch unerquicklicher geworden; den wenigen Worten, die sie untereinander austauschten, fehlte nie der grollende Anklang an einen heimlichen Vorwurf. Eva kannte wohl das einzige Mittel, um das Schmollen mit einem Schlag in eine äußerliche Freundlichkeit zu wandeln – dieses Mittel war ihre erwartete Verlobung, aber gerade weil sie dazu förmlich gezwungen werden sollte, wehrte sich in ihr ein unbestimmtes Gefühl gegen die konventionelle Verbindung, die ihr in ihren Augen nur dazu verhelfen konnte, sie von einer Umgebung zu befreien, die sie von Tag zu Tag unbehaglicher empfand.

Frau Melanie Fontagne glaubte nicht mehr an eine Erfüllung ihres Herzenswunsches, zumal nach jener letzten Szene der Tochter mit dem Duhnin.

Und dennoch machte sich Eva mehr und mehr mit dem Gedanken an diese Heirat vertraut – und überhäufte sich zugleich mit Selbstanklagen, weil sie sich nach einer Trennung von den Ihrigen sehnte; und mit diesen Vorwürfen wetteiferte das herbe Schuldbewußtsein, daß sie im Begriff war, sich ohne Liebe zu geben ...

An den Steppenrit dachte das Mädchen oft – und öfter, je heftiger es den Gedanken an ihn zu unterdrücken suchte; gesehen hatte sie den Mann nicht mehr. Einigemale noch zog er durch seinen Bedienten, einen einfältigen, rundköpfigen Burschen, Erkundigungen über ihr Befinden ein, aber als Max, der dem Stegreifritter nicht verzieh, daß er seinen Besuch nicht annahm, unverbindlich antworten ließ, das Fräulein sei wieder vollständig hergestellt, da verzichtete der Herr im Wolfsnest auf weitere Nachfragen – was von Frau Fontagne und dem Duhnin mit stiller Befriedigung und rührender Eintracht konstatiert wurde.

Die Blonde sagte sich allerdings, es wäre schicklich gewesen, wenn er persönlich vorgesprochen hätte, um ihr zur Wiedergenesung Glück zu wünschen ..., sie war an seiner Brust gelegen––durch sehr banale Umstände freilich dazu gezwungen, doch trotz des gewöhnlichen Anlasses schien ihr das Vorkommnis ein geheimes Band zu knüpfen, das sie zu fühlen glaubte. In dem Wechsel der Launen, die ihr unverständlich blieben und unverständlich bleiben wollten, dankte sie im stillen auch wieder dem Stegreifritter, weil er den Weg zu ihr nicht fand. Dann kam dem Mädchen ein Zusammensein mit ihm, mit Mama, Max und dem Duhnin undenkbar vor – wenn womöglich die Familie Kronenhaupt sich noch anschloß und Mara die Blicke der beschatteten Augen von Einem zum Anderen warf ...

So haderten und bekämpften einander in Eva alle Wünsche und Gefühle und Urteile und schufen einen quälenden Zwiespalt; mehrmals ertappte sie sich auf der Straße, die zum Wolfsnest führte und kehrte jedesmal verstimmt um; vor dem Traben eines Pferdes, das sie vernahm, floh das Mädchen eilig in die Laube – und es war nur ein Bauerngaul gewesen, den sein Herr zum Hufschmied ritt. –

In der Einsamkeit des Waldes, wo kaum eine wilde Taube oder ein Eichhörnchen, das an Tannenzapfen nagte, die heilige Ruhe störte, träumte Eva Fontagne manchen unsinnigen Traum – auch den, daß der Steppenrit sie zur Frau begehrte ... Zwielichtphantasien, die so weltfremd sind und so verlockend, Mädchensehnen, das im verglühenden Licht der Dämmerung erwacht ... Aber die kalte Vernunft des Mädchens kritisierte selbst das Spiel der schwebenden Seifenblasen, an denen sie sich ergötzte – sie konnte doch einen Menschen nicht lieben, der ausgestoßen wurde, weil er seine Ehre verlor; und der zum Bedienten wurde.

Das würde sie ihm nie verzeihen.

Nie ...?

Sie schwankte und das Schwanken rüttelte an ihrem stolzen Selbstbewußtsein.

Ein Bedienter ...

Auch über den anderen Klaus, über den, den der Markgraf in seiner Burg aushob und richtete, sann das Mädchen nach.

Romantische Grübeleien.

Die golden Blonde ergriff einen grünen Ast und brach ihn vom Strauch; und den getöteten Zweig schleuderte die kleine Hand unwillig, im weiten Bogen fort; dann klappte sie ein Buch auf und las – und merkte erst viel später, daß das Buch verkehrt auf ihren Knieen lag.

* * *

Als Dr. von Duhnin den richtigen Augenblick für gekommen hielt, jene Frage an Fräulein Fontagne zu wiederholen, die er das erstemal vor beinahe einem Jahr an sie gestellt hatte, waren sie zu zweit allein auf der Waldwiese; in der Nähe, im Kleefeld tat sich ein Häschen gütlich und schenkte den Menschen, die an seinen Mord nicht dachten, keine Aufmerksamkeit; die Sonnenreflexe wurden durch zarte Schafwölkchen gedämpft und ein sanfter Windhauch löste ein voreilig gelbes Herbstblatt von einer Esche.

Das Mädchen im weißen Kleid saß auf einem gefällten Baumriesen und spielte mit einer wilden Orchidee, die im Schatten einer Fichte blühte; daneben wuchs protzig ein roter Fliegenpilz. Der Duhnin lehnte an einer mächtigen Föhre, die ihre knorrigen Wurzeln wetterhart in die steinige Erde grub.

Ohne Leidenschaft sprach er.

Ohne Leidenschaft antwortete sie.

»Ich war natürlich darauf vorbereitet, Herr von Duhnin, daß Sie so zu mir sprechen würden – und mein Entschluß ist gefaßt. Sie wollen die Wahrheit ... Ich liebe Sie nicht mit jener Liebe, die mir einst für ein Jawort unerläßlich schien, aber ... die verlangen Sie wohl auch gar nicht von mir. Wir sind moderne Menschen, die keiner nebulösen Romantik nachjagen, sondern alles, auch uns selbst, nehmen wie es ist ... Das ist klug. – Ja, ich will Ihre Frau werden, wenn Sie sich mit einer Gattin zufrieden geben, die Sie schätzt und achtet. Viel mehr kann ich nicht geben – Ihnen nicht und keinem Andern. Nun bitte ich Sie, was ich sagte genau zu überlegen – sich zu überlegen, ob das Gebotene Ihnen genügt.« Der Botschafter wollte etwas sagen, doch Eva Fontagne ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Nein, Sie sollen sich nicht sofort entscheiden; prüfen Sie sich, wie auch ich mich prüfte. Im Herbst, in Wien werden wir nochmals, zum letztenmal darüber sprechen. Bis dahin sind Sie frei, bin ich frei ... und ich werde meine Meinung kaum ändern ... Wollen Sie die Überlegungsfrist, Herr von Duhnin?«

»Wenn Sie wünschen, gnädiges Fräulein.«

»Ja, ich wünsche ...«

»Dann selbstverständlich.«

»Und Mama braucht von unserem Pakt nichts zu erfahren.«

Der Diplomat küßte dem Mädchen die Hand.

* * *

Die Nacht darauf war für Eva Fontagne eine böse Nacht.

Sie schämte sich – schämte sich vor Jemandem, dem sie gleichgiltig war, der sich nicht darum kümmerte, ob sie dem Duhnin oder einem Andern das Jawort gab ... und warum sie es gab. Und dieses mahnende »Warum« ängstigte das Mädchen. Sie hatte es allein mit sich abzumachen – die Mutter, der Bruder, sie ahnten nichts von den schrecklichen Skrupeln; solche Zweifel waren ihren Naturen fremd.

Und der Duhnin?

Er küßte korrekt die Hand – seiner Braut.

Das tut man nicht.

Ist sie seine Braut? War die Entscheidung gefallen?

Oder schob abermals ein feiges Zaudern das klare Wort, das bindet oder löst, hinaus?

Trotzdem ...

Und Eva gab sich keiner Täuschung hin: Alexander von Duhnin konnte weder im Großen noch im Kleinen bieten, was sie verlangte.

Eine andere Nacht drängte sich in die Erinnerung – in der sie ehrlich kämpfte und ehrlich litt; jetzt litt sie nur mehr schmerzlich – an den gemeinen Instinkten, die in ihrem Innersten höhnend lauerten – und siegten ...

Eva Fontagne brannte die Kerze an; ihre Finger bebten, das Licht flackerte und ohne Wimpernzucken starrten zwei helle blaue Augen ratlos in die Flamme.

* * *

Kirchweihfest in St. Magdalena in der Au.

Schon am Vorabend des Dorffeiertages schlugen die auswärtigen Händler auf dem Kirchenplatz und in den Straßen ihre Buden auf, rammten Pflöcke in den Boden und demolierten dabei das ohnehin problematische Pflaster, wogegen mit verschiedenem Erfolg die Autorität des Gemeindewachmannes protestierte; und spannten darüber grobes, graues Segeltuch; und am Morgen des besonders für die schulfreie Jugend köstlich-ereignisreichen Tages prangten auf den improvisierten Tischen und den mit Kattun bespreiteten Kisten herrliche Dinge zum Verkauf – die Lebkuchenreiter und Lebkuchendamen, Lebkuchenherzen und Lebkuchenwickelkinder, die in ihrer reichen Auswahl jeder Geschmacksrichtung Rechnung trugen; ein wandernder Hausierer bot im Umherziehen Hosenträger, Briefpapier, Bleistifte und Hüte feil – um Preise, welche die erbgesessenen Krämer St. Magdalenas in Aufregung versetzten, sodaß sie über Schundkonkurrenz und Ärgeres wetterten; andere fremde Händler priesen schreiend, mit sich überschlagender Stimme, Anzüge, Töpfe und bunte Tücher an, während eine behäbige Frau hinter einer auffallend drapierten Budel die hölzernen und blechernen »Spielwaren aus Nürnberg« rühmte und als Reklame ihren Trompeten und Mundharmonikas greuliche Töne ablockte.

Die Handwerker und die Bürger des Ortes, die Bauern, Knechte und Mägde der Umgebung waren schon in die Frühmesse gegangen und standen nun phlegmatisch in Gruppen beieinander; die Teilhaber der kleinen Häuflein steckten die Köpfe zusammen, qualmten aus Tabakspfeifen erstickende Rauchschwaden oder tranken Meth; um die Gasttische der Wirtshäuser drängten sich Scharen von Leuten, die Kaffee löffelten, das warme Bier kosteten oder tiefsinnig aus den geaichten Flaschen töricht-schwarzroten Wein in trübe Gläser gossen. Sie sprachen philosophisch vom Wetter, den Viehpreisen und der Ernte.

Ein paar halbbetrunkene Burschen torkelten Arm in Arm, brüllten – und hielten das Brüllen für Gesang – und riefen den Dorfschönen unzweideutige Schmeicheleien zu; ein Krösus unter ihnen handelte an einem Stand ein Taschenmesser und ein Notizbuch mit Leinwandeinband ein.

Bei dem unermüdlichen Ringelspiel werkelte ein Einarmiger hastig auf der Drehorgel bekannte Gassenhauer ab und die Kinder stierten mit brennenden Augen auf die naturwidrig bemalten Holzpferde, das spinatgrüne Meerweibchen und die grotesken Karossen, die sich wie wütend zur Musik im Kreise drehten.

Eva Fontagne verteilte an die kleinen Zuschauer Kupfermünzen; die Knaben und Mädchen nahmen die Kreuzer, dankten dafür oder dankten dafür auch nicht, sondern schauten nur ehrerbietig und nicht minder verständnislos auf die hübsche junge Dame, die ihre geheimsten Wünsche erriet.

Vor der Schießbude sammelte sich die männliche jeunesse dorée und ein soeben vom Militär Heimgekehrter bedachte seine Kameraden mit guten Ratschlägen, wie man anlegen und zielen müsse; er fühlte sich. Nur schwach knallend entluden sich die unschuldigen Gewehre; ein blasses, gelangweiltes Mädchen, das zerzauste Haar ungekämmt und das fahle Gesicht verlebt, überreichte den Schützen die geladenen Büchsen, wies die Löcher in den Scheiben, in den Herzen und Figuren auf und dekorierte die glücklichen Gewinner für ihre Treffer mit bunten Maschen; dazu schrie ein unmäßig dickes Weib ununterbrochen und herzerweichend in einem ewig gleichen Tonfall das Sprüchlein: »Versuchen Sie, meine Herren, Ihre Geschicklichkeit! Jeder Schwarzschuß erhält eine Auszeichnung, jedes Zentrum ein wertvolles Präsent obendrein ... Sehen Sie, junger Herr – beinahe ist es gelungen ... nur ein Ranfterl nach rechts noch ... Versuchen Sie noch einmal ... Fünf Schüsse kosten nur zehn Kreuzer, zwanzig Schüsse achtzehn Kreuzer ... Nur heran, mein verehrtes Publikum, immer heran ...«

Die Leute auf dem Markt schleppten einen Dunstkreis ihres penetranten Hausgeruches mit sich, der Eva Fontagne auf die Dauer Üblichkeiten verursachte; deshalb und da sie sich an dem Treiben satt gesehen hatte, entfloh sie dem Gewühle und schlenderte ziellos in den Wald; müd und schläfrig, war sie sogar des Denkens überdrüssig; pflückte mechanisch Blumen und wand ein Kränzlein; immer nur ein und derselbe Refrain beherrschte sie: Du bist Braut ... Du bist so gut wie verlobt ... Die Blonde wunderte sich, daß die Tatsache, vor der ihr so bange war, nun doch zur Wahrheit wurde.

Als sie den Kranz aus Feldblumen fertig in Händen hielt – zerriß ihn Eva Fontagne in einer aufwallenden, zornigen Laune und streute die Blüten auf den Weg.

Die müßige, kindliche Spielerei dünkte dem Mädchen lächerlich.

Sie sah auf die Berge, die der Sonnenglast vergoldete, sah auf das Schwerthorn, das ihrer Schwäche spottete, und blickte auf das Wolfsnest, das breitspurig und finster am anderen Ufer des Flusses sichtbar wurde. Eine Linde vor der Ruine mußte gestürzt sein oder der Steppenrit ließ sie fällen; früher verdeckten buschige Zweige das baufällige Schloß – möglich auch, daß der nahende Herbst die Äste nur entblätterte; möglich ...

Was ging es sie an. –

Mittags in der Pension waren alle sehr vergnügt.

Duhnin, der stets Zurückhaltende, lächelte nur nachsichtig über die bummelwitzige Fröhlichkeit und ironisierte das Treiben mit milden Bosheiten; Max Fontagne, der allezeit Liebenswürdige, verehrte der jungen Kronenhaupt ein Lebkuchenherz, in dessen Mitte der Vers stand: »Dieses Herze ist von mir – Gib das Deine mir dafür«; die damit Apostrophierte quittierte die anzügliche Aufmerksamkeit des ihr geheim Verlobten durch das Geschenk eines empörend grell und geschmacklos lackierten Hampelmannes, der Arme und Beine schleuderte, wenn man an einem Schnürchen zog. Die beiderseitigen Mamas tauschten verständnisvolle Blicke, die sagen konnten: ›o, diese Kinder!‹ oder auch: ›seht, seht, so weit sind die Herrschaften bereits!‹

Adolf Kronenhaupt, den die Abreise von Maras Freundin nicht nur abermals vereinsamte, sondern auch in Melancholie versetzte, machte eine glitschige Anspielung und die, auf welche sie gemünzt war, lachten unbändig.

Zwei durchreisende Passagiere, die Frau Holzammer ans untere Ende der Tafel dirigiert, taten sehr fremd, lispelten untereinander geheimnisvoll – nach ihren faltigen Gesichtern zu schließen, höchst gewichtige Dinge – und empfahlen sich mit demselben undurchdringlichen Nicken, mit dem sie sich eingeführt hatten. Der Duhnin kritisierte sarkastisch die schlappe Hemdbrust und die roten Krawatten der Touristen.

Eva Fontagne hörte beiläufig hin, wie sie auch nur halb auf die Tändeleien des Bruders und Mara Kronenhaupts hingehorcht hatte; dazu markierte sie ein zerstreutes Lächeln.

Nachmittags legte sich die Blonde auf die Chaiselongue und schlief eine Stunde. –

Den Tee trank man in der unvermeidlichen Laube, die schon einen Schauer welker Blätter über das weiße Tischtuch streute; dann regte Max einen gemeinschaftlichen Bummel zu den Buden des Marktes an, deren Besitzer die Waren zu verpacken begannen und demonstrativ den flauen Geschäftsgang beklagten.

»Es wird alle Jahr' schlechter; die Reisen rentieren sich nicht mehr,« jammerte weinerlich ein Hutverkäufer.

»Ja, ja – is eh' wahr,« sekundierte die behäbige Händlerin mit den »Nürnberger Spielwaren« und sortierte die Silber- und Nickelstücke getrennt in die Abteilungen einer Pappschachtel, die sie sorgsam in einen Holzkoffer schloß.

Fontagnes und Kronenhaupts promenierten gemeinsam.

Voran ging Eva, dann folgten die Mutter, der Duhnin und Adolf, der belanglose Geschichten mit begeisterter Beredsamkeit erzählte; wie er in seinem Regiment der schneidigste Reiter war und ein Erzherzog ihm vor der Front gratulierte.

Adolf Kronenhaupt hatte bei einem Trainregiment gedient.

Max und Mara bildeten nicht unabsichtlich die Nachhut; sie inspizierten die Reste der Stände, ließen sich dies und jenes vorlegen, feilschten bei jedem Stück und freuten sich diebisch, wenn sie unbrauchbaren Kram um einen hohen Preis abhandelten; die Verkäufer nützten den Sport der Beiden und versicherten mit scheinheilig verdrehten Augäpfeln, solche Geschäfte beschleunigten ihren Ruin.

Vor der Schießstätte sammelte man sich zufällig und improvisierte sofort ein Preiswettschießen; Eva begann und fehlte; Mara bewies größere Geschicklichkeit und Max zielte aus Galanterie vorbei; Adolf Kronenhaupt drückte sich mit Hinweis auf einen imaginären Augenkatarrh und zahlte willig Reugeld; Dr. Alexander von Duhnin errang die Siegespalme.

Die Blonde ging allein weiter zum Ringelspiel.

Vollbesetzt wirbelten die aufgezäumten Holzpferde, das beschuppte, spinatfarbene Meerfräulein und die abgeschabten Galawagen; die jungen nicht minder als die alten Leute, die mitfuhren, schnitten krampfhaft tapfere Gesichter, die je nach Vorwiegen des einen oder des anderen Gefühles ängstliches Vergnügen oder vergnügte Ängstlichkeit verrieten. Die Drehorgel leierte in einem höllischen Tempo die krächzenden und keuchenden Melodien; der Werkelmann schwitzte, während der Ärmel über seinem verstümmelten Arm im Takte dazu pendelte.

Fräulein Fontagne wippte den Fuß zum Rhythmus des gehetzten Walzers – plötzlich schreckte sie eine bekannte Stimme auf – sie zuckte und wandte sich um.

»Nun kann ich mich selbst überzeugen, daß Sie schon wieder ganz wohlauf sind, meine Gnädige!«

Klaus von Steppenrit hielt den Apfelschimmel, der an der Rabenfeder seines Hutes schnupperte, an: Zügel und verbeugte sich grüßend.

»Wenn ihn nur die Anderen nicht sehen!« war instinktiv des Mädchens erster Gedanke, der durch ihren Kopf schwirrte; laut sagte sie, und die Worte klangen befangen: »Ach, Sie sind es ... Danke, danke ... Die dumme Geschichte ist noch glücklich abgelaufen ... Ich brauche den Fuß nicht mehr zu schonen ...« So albern war sie sich noch nie vorgekommen.

»Ihr Herr Bruder hatte die Höflichkeit, im Wolfsnest seine Karte abzugeben; ich war gerade nicht in Stimmung, fremde Leute zu empfangen.«

Eva fand es nur selbstverständlich, daß er ihr gegenüber die Komödie seiner verleugneten Anwesenheit im Schlosse nicht weiterspielte: »Solche Stimmungen kann ich nur zu gut begreifen, Herr von Steppenrit. Wer kennt sie nicht!«

»Man sollte derlei Launen aber nicht nachgeben – sie haben keine Berechtigung, respektiert zu werden ... Ruhig, Bläß!« und der Stegreifritter streichelte den Hals des Pferdes, das unruhig stampfte.

»Da mögen Sie auch recht haben, aber alle Menschen verfügen nicht über eine so eisige Selbstbeherrschung wie ...« der Duhnin – lag dem Mädchen auf der Zunge, doch die Geschmacklosigkeit des Vergleiches ließ sie zaudern und sie fügte statt dessen unbestimmt hinzu: » ... wie – manche Leute ... Launenhaftigkeit ist ein Fehler, der am meisten dem Träger selbst zum Nachteil gereicht.« Eva Fontagne begriff nicht, warum der Steppenrit und sie nichts besseres wußten, als steif auf dem zertretenen Grasboden zu stehen und krampfhaft Gemeinplätze mit geschraubten Ausdrücken zu wiederholen; das lag sonst nicht in ihrem Wesen und in dem seinen wohl auch nicht.

»Ich werde meinen Verstoß wettzumachen trachten, gnädiges Fräulein, und mir die Freiheit nehmen, Ihren Herrn Bruder aufzusuchen.«

Und diese formellen Worte begleitete wieder jener eigentümliche sündige Blick, den Eva Fontagne schon zweimal in den grünschillernden Augen gesehen hatte; er verwirrte sie, ängstigte sie ...

Die Anderen verließen nun auch die Schießstätte und schritten langsam in die Richtung des Ringelspieles.

Eben setzte die Musik der Drehorgel mit unverminderter Eile ein.

Und das Mädchen empfand förmlich brennend die auflodernden Augen des Duhnin auf ihren Nacken; sie war sich bewußt – es mußte etwas geschehen ... sie zögerte – den Steppenrit vorstellen ... natürlich; wie konnte sie nur schwanken. Aber eine absichtlich laute und absichtlich provocante Stimme hinderte sie, den Entschluß auszuführen: »Sehen Sie, gnädige Frau, wie sich dieses mauvais sujet Ihrem Fräulein Tochter aufdrängt!«

Der Duhnin sagte es.

Wenn Eva Fontagne später an diesen Moment dachte, hatte sie stets das Gefühl, als seien die folgenden Ereignisse unklar, verschwommen, nebelhaft an ihr vorbeigezogen, als sei sie schlaff und kraftlos, ein unbeteiligter Zuschauer bei einer Komödie, dagestanden, als hätte sich nun verwirklicht, was sie lange schon fürchtete ...

Der Steppenrit wurde bei Duhnins Angriff um eine Nuance blasser und riß wider Willen an den Zügeln, die er in der Hand hielt, daß der Schimmel vorn hoch ging und wieherte; schneidend und abgehackt sagte er: »Nun haben Sie Gelegenheit, verehrtes Fräulein, auch an mir unsere vielgerühmte eisige Selbstbeherrschung zu konstatieren, sonst bekäme meine Reitpeitsche Arbeit.«

Der Stegreifritter war wieder ganz er selbst.

Schritt für Schritt näherte sich das Mädchen seiner Mutter; Alexander von Duhnin flüsterte Max eine leise Bemerkung zu und wandte sich dann an Mara: »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Ihren Kavalier für einige Minuten raube; nehmen Sie, bitte, inzwischen mit meiner Wenigkeit vorlieb.«

Als vollendeter Gentleman, der ein rücksichtsloser Herr seiner Nerven ist, plauderte er und verriet nicht die geringste Aufregung; nur um seine Mundwinkel zuckte es.

Eva Fontagne stand mit gebeugtem Nacken, starr, wartend; ihre Rechte stützte sich auf den Schirm und sie atmete erleichtert, als der gehetzte Walzer endete.

Die Exzellenzfrau und die Kronenhaupt Mutter und Tochter, alle drei ein wenig bleich, kehrten in die Pension zurück.

Max ging die wenigen Schritte zu Herrn von Steppenrit und lüftete höflich den Hut; der Stegreifritter erwiderte den Gruß ebenso höflich. Die Blonde verstand nicht, was sie halblaut sprachen; sie sprachen nicht lang. Sie sah, wie der Steppenrit zustimmend nickte und die Herren ohne Händedruck schieden.

Der Reiter schwang sich in den Sattel und grüßte gegen Eva Fontagne; sie vergaß, zu erwidern; die Sporen klirrten: »Vorwärts, guter Bläß!« und der Apfelschimmel fiel in Trab.

Max, der sich vergeblich bemühte, in seine liebenswürdige Miene einen besorgten Ausdruck zu legen, faßte den Duhnin unter; Adolf Kronenhaupt bohrte den Zeigefinger in ein Knopfloch seines Überrockes und mit gestielten Augen horchte er auf das Gespräch der Beiden; das geistlose Gesicht des Jungen wurde dabei noch um einige Grade einfältiger.

Eine neue Tour des Ringelspieles setzte ein; die Drehorgel pfauchte, quietschte und jammerte.

Die Blonde raffte sich auf und folgte den Voranschreitenden.

Die korpulente Besitzerin der Schießstätte schrie herzzerbrechend: »Nur heran, mein verehrtes Publikum, immer heran! Fünf Schüsse kosten nur zehn Kreuzer ...«

Auf dem Platz vor der Pension International standen die Mutter und Mara Kronenhaupt; in den Augen der Exzellenzfrau war nichts zu lesen, die Bankiersgattin haschte mit dem Krückengriff ihres Sonnenschirmes nach dem saftigen Stengel einer violetten Aster und Mara biß die spitzen Mäusezähne lüstern-erregt auf die vollen Lippen.

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