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Der Stegreifritter

 

»Und Du bist hier zufrieden, Mama?« Max Fontagne machte das liebenswürdigste seiner liebenswürdigen Gesichter, strich spielend mit der gepflegten Rechten über den blonden Schnurrbart und griff mit der Linken nach einem blühenden Zweig, der aus dem Gewinde der dichten Laube über den weißgedeckten Teetisch hing; dabei dachte er, daß seine Mutter trotz ihrer fünfundvierzig Jahre noch immer eine sehr stattliche Frau sei.

»Zufrieden – ja. Wenn man in eine Pension nach St. Magdalena zieht, und sei es auch in die beste Pension des Ortes, so beansprucht man vernünftigerweise im vorhinein keine großen Gesellschaftsunterhaltungen, nicht einmal besonderen Komfort, sondern begnügt sich mit der guten Luft und der anmutigen Gegend, was den Nerven nur zuträglich sein kann. Die wenigen anderen Gäste des Hotels begrüßt man, drückt ihnen auch die Hand und kennt sie später nicht mehr. Landbekanntschaften verpflichten zu nichts, mich wenigstens nicht. Endlich finde ich hier auch Muße für Lektüre.«

Während Frau Exzellenz Melanie Fontagne dies sagte, blieb jeder Zug ihres regelmäßigen Gesichtes unverändert und nur bei dem Blick, den sie ihrem Sohn zuwarf, lächelten die braunen Augen unter den graziös geschwungenen Wimpern: »Zwei Stücke Zucker, nicht wahr? ... Von Eva finde ich es nicht nett, daß sie auch heute, wo Du erst vormittags aus Wien ankamst, auf ihren Spaziergang nicht Verzicht leistete. Aber Du weißt ja, mein Reden fruchtet bei ihr gar nichts.«

»Da bist Du mit Deinem Sohne also eher zufrieden, als mit Deiner Tochter – oder irre ich mich? Der gute Sohn benutzte den ersten Tag seines Urlaubes zur Reise hierher, obschon er eine Einladung nach Norderney hatte.« Max verdrehte schelmisch seine fröhlich zwinkernden Augen: »Doch Spaß beiseite, Du und Eva, Ihr vertragt Euch nur deshalb nicht gut, weil sie mit ihrem eigenen Willen Dein Ebenbild ist; zwei harte Steine mahlen schlecht; Du kennst den Erfahrungssatz ... Ich dagegen bin Papas Kind ... Eine andere Verteilung der Charaktereigenschaften wäre vielleicht besser – für Eva und für mich.«

Frau Fontagne nippte an der Teetasse und goß Milch nach: »Allerdings, das wäre besser ... Es bekommt Mädchen gewöhnlich nicht, wenn sie einen zu ausgesprochenen Geschmack haben; das ist auch unbequem für die Anderen. – Was aber Deine Einladung an die See anlangt, so bin ich doch froh, daß Du sie nicht annahmst; Du siehst blaß aus und das frische Klima in den Alpen wird Dir schneller rote Wangen machen.«

»Ich lege mir nur eben schon beizeiten den chiken Teint der Diplomaten zu.« Max langweilte sich; seine Blicke hafteten interesselos einen Moment am Turmknauf der spitzen Dorfkirche und schweiften von dort zu den zerklüfteten Steinbergen, die das Tal an zwei Seiten einschlossen: »hoffen wir, daß Langeweile sich als Nervenmedizin bewährt; in Mode steht sie ja augenblicklich und so favorisieren elegante Leute den Stumpfsinn beschaulicher Ländlichkeit und halten das Gähnen für ein erfreuliches Symptom von Gesundheit ... Er wechselte das Thema: »Findest Du nicht auch, Mama, daß Eva durch ihren Aufenthalt in England an Nachgiebigkeit und Schmiegsamkeit nichts gewonnen hat? Au contraire.«

»Leider.« Die Exzellenz faltete die geblümte Serviette und schob sie in den mit einem geschmacklos stilisierten Edelweiß verzierten Holzring: »Ob es überhaupt eine glückliche Idee von mir war, sie damals fortzuschicken, bezweifle ich heute schon; ein Zeitraum vom sechs Monaten ändert Menschen oft nicht zu Gunsten, wie ich hoffte, sondern oft auch zu ihrem Nachteil, wie ich sehen muß. Evas Wesen bekam eine so abweisende und unverbindliche Bestimmtheit ... Schließlich ...« als suchte sie sich selbst über die unangenehme Tatsache hinwegzutrösten, fügte Frau Fontagne ein wenig gegen ihre Überzeugung bei: »Schließlich wird sie heiraten und der Herr Gemahl mag sich die Aufgabe stellen, die Widerspenstige zu zähmen. Ich habe absolut keine Lust, mich mit ihr täglich zu zanken.«

»Sie wird heiraten, ja ...« Max kreuzte die Beine und liebäugelte mit seinen karrierten Modestrümpfen, die ihn entzückten: »Aber der Duhnin ist wohl endgiltig unten durch?«

Die Mutter lächelte diskret: »Möglicherweise ja ... möglicherweise auch nein; worauf ich meine Hoffnungen gründe – daß er morgen hierher kommt und gerade in St. Magdalena in der Au seine Ferien verbringt.«

Das Erstaunen des Sohnes war durchaus echt: »Das ist mir sehr, sehr lieb ... Duhnin als Schwager – allerhand Hochachtung!« und er zählte wohlgefällig an den Fingern auf: »Ein erbgesessener Adeliger – erstens; reich, enorm reich sogar – zweitens; ein Neffe des Ministerpräsidenten und verschwägert mit den Schwarzenbergs und Lichtensteins – drittens; viertens ...«

»Gut, gut! Nur nicht zu optimistisch! Das Wichtigste für Dich wäre, daß seine Verbindungen Dir den Übergang zur Diplomatie erleichtern würden. Doch bitte ich Dich in Deinem eigenen und auch im Interesse Evas jede direkte und indirekte Einflußnahme auf sie zu vermeiden. Dem Heiratsplan würdest Du dadurch nur schaden. Ich hoffe, sie ist selbst klug genug, die günstige Chance eines solchen Gatten richtig einzuschätzen – und auszunützen; oft bietet sich eine gleich vorzügliche Gelegenheit nicht. Sie ließ schon einmal das Glück an sich Vorbeigehen ... Im übrigen weiß sie noch nichts von Duhnins Kommen.«

»Verstehe!« stimmte Max Fontagne gelehrig ein: »Eva soll unmerklich hingeleitet werden, wohin Du willst ... und wohin ich möchte – zu ihrem eigenen Vorteil natürlich, aber der Trotzkopf darf beileibe davon keine Ahnung haben.« Der junge Mann witterte zu genau den Egoismus seiner Worte und seiner Berechnungen, als daß dagegen seine schwächliche Gutmütigkeit nicht remonstriert hätte; so sagte er noch zur Beruhigung seines bösen Gewissens: »Ich achte Alexander von Duhnin persönlich außerordentlich, er gilt als gewiegter Diplomat und wird Karriere machen, was auch ins Gewicht fällt ... Und ich spreche ihm unvergleichliche Gattenqualitäten zu ...«

Die Exzellenz erwog ehrlicher und rücksichtsloser; dachte nur mit dem Kopf und nicht auch mit dem Herzen: »Ich werde sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen, um unser Ziel zu erreichen.« –

Ein tiefbrünettes Mädchen, das dunkle stumpfe Haar zu einem dicken Knoten geschlungen, der ihm im Nacken ruhte, mit einem unverkennbar orientalischen Typus und großen beschatteten Augen, promenierte an der Laube, wo Mutter und Sohn Fontagne saßen, vorbei und grüßte durch überaus höfliches, beinahe schon devotes Kopfneigen; Max, der mit seiner Mutter verbindlich mitgedankt hatte, fragte leise, nachdem die Brünette außer Hörweite war: »Wer ist das? Eine imposante Erscheinung ...«

Selbstgefällig und geschmeichelt schwur er darauf, daß sie ihn prüfend gemessen; seine Eitelkeit berührte dieser Umstand angenehm.

Die Exzellenzfrau antwortete nebenhin: »Mara Kronenhaupt.«

»Puh – der Name ... Schade! Etwa die Tochter des Bankiers?«

»Ja ...«

Beide schwiegen; sie brauchten keine wortreiche Verständigung und verstanden einander auch so; nach einer stummen Pause sagte Frau Fontagne und übersprang damit eine lange Kette von Erwägungen: »Mesalliancen haben nur dann eine innere Berechtigung, wenn sie gewissermaßen ein allerletzter Ausweg sind.«

»Was auch meine Ansicht ist, liebe Mama.«

Durch die grünen Blätter der Laube leuchtete etwas schimmernd Weißes, ein helles Kleid; ein rascher elastischer Schritt berührte den Kiesel.

Eva Fontagne.

Der Gang allein, die ungezwungene und doch selbstbewußte Haltung des Mädchens, sein energischer, wenn auch ohne Härte geschlossener Mund, die hellen ruhigen Augen und die überlegene Art, wie Eva ihrer Mutter und dem Bruder die Hand hinstreckte, weckten in Max plötzlich Zweifel, ob auch die gewundendste und vorsichtigste Diplomatie jemals erfolgreich sein würde, wenn dieses hübsche blonde Köpfchen anderer Meinung war, als seine Gegenspieler. Und zugleich beneidete er – und nicht zum erstenmal in seinem Leben – die Schwester um ihre pulsierende Kraft.

»Hab' ich mich verspätet?« fragte sie leichthin und tat mechanisch einen Griff nach einer widerspenstigen Nadel in der goldenen Haarkrone, in der die Sonnenstrahlen wollüstig wühlten: »Ich war auf der Zinkenspitze; schade, daß Ihr nicht zu bewegen seid, auch nur eine Stunde bergauf zu steigen; die kleine Anstrengung lohnte sich wirklich ... Diese weite, Berge und Täler umfassende Rundsicht und im Norden die überschneiten Gletscherriesen! Das letzte Stück mußte ich sogar auf Händen und Füßen kriechen, um über einen Grat zu kommen. Ich fand wahrscheinlich nicht den nächsten Weg.«

»Wie stets ... Und Dein Kleid trägt die Spuren der Strapazen.« Keine Wärme wehte aus den Worten der Mutter und ebenso formell entgegnete die Tochter und schenkte dem eckigen Riß im Rock nicht die geringste Aufmerksamkeit: »Die Kleider sind der Menschen wegen da und nicht umgekehrt – das ist mein Prinzip, da ich nicht die Sklavin meiner Sachen sein will. Es macht nicht jedem Spaß, nur die Promenade auf- und abzutrotten und den Staub zu schlucken, den die Schleppen anderer aufwirbeln. Über Geschmäcker läßt sich bekanntlich nicht streiten – weil dann des Streites kein Absehen wäre.«

Kampfluft.

Frau Fontagne bewahrte ihre unnahbare Manier: »Und trotzdem quälst Du Max und mich mit Vorwürfen, liebes Kind, weil wir Deine Passionen nicht teilen; das möchte ich Deiner Philosophie in erster Linie zu bedenken geben.«

»Und hast damit wieder einmal Recht, Mama, vollständig Recht.« Eva zerschnitt eine Semmel, strich Butter über die Hälften und aß mit sichtlichem Appetit. »Ich meinte es gewiß nur gut und Max würde seine scheußliche Blässe, die freilich für elegant und nobel gilt, auf meinen Höhen schneller loswerden, als hier im Tale. Glaubst Du nicht?«

Der Angegriffene blieb gleichmäßig liebenswürdig: »Du kannst von mir nach einer durchfahrenen Nacht nicht rote Backen verlangen, auch nicht, daß ich sogleich eine Klettertour unternehme. Ich bin ein abgearbeitetes Zugtier aus dem Bureau.«

»Verlangen?! Es fällt mir selbstverständlich nicht ein, an Dich Forderungen zu stellen, Dich damit zu molestieren. Ich verlange gar nichts, ich rate höchstens. Und Deine Klettertouren – entschuldige, Du wirst sie weder heute noch morgen noch überhaupt unternehmen, denn im Winter hast Du Dich im Amt – und auf den Bällen – geplagt, brauchst daher Schonung –, gestern fuhrst Du zehn Stunden in der Eisenbahn, morgen mußt Du dringende Briefe – auf parfümiertem Papier – schreiben, und so entdeckst Du alle Tage eine andere Ausrede, um gemächlich in der Hängematte zu faullenzen und egyptische Zigaretten zu rauchen.«

Max lachte.

»Eva ist übermüdet und nervös«, schnitt Frau Fontagne das Gespräch ab und schlug ein Buch auf, das sie aus dem blausamtenen Ridikul nahm; der Bruder wurde erinnert, daß er sich seine Nachmittagszigarette noch schuldig sei und hantierte an seiner Tabatiere; dabei zog er den tiefsinnigen Schluß: Mama und Eva lieben einander nur, wenn sie durch einige hundert Kilometer getrennt sind – wie gewisse Neigungen im quadratischen Verhältnis der Entfernungen zunehmen ...

Das Mädchen zerpflückte eine rostfarbene Alpenrose, die sie in den Gürtel gesteckt mitgebracht hatte; eigentlich war die Blume für ihre Mutter bestimmt gewesen ... Mitten in dem Zerstörungswerk hob sie den Kopf: »An der Ruine Wolfsnest kam ich ganz nahe vorbei; sie ist teilweise adaptiert und bewohnt; ein Apfelschimmel stand an einen Baum gebunden und ein riesiger Neufundländer fixierte mich gehässig. Weißt Du vielleicht, wer sich dort aufhält, Mama?«

Die Exzellenz blätterte eine Seite um: »Ein mauvais sujet, wußte Frau Kronenhaupt zu erzählen ... Steppenrit heißt der Mensch oder so ähnlich ... Jedenfalls ist der Herr kein Verkehr für uns.«

»Hm.« Die Blonde rollte mit der Spitze des zierlichen Fußes einen kleinen runden Stein gegen einen girrenden Pfau, der erbost sein buntes Rad schlug; »ich hoffte schon, der Schloßherr würde für uns eine amüsante Abwechslung.«

»Steppenrit ... Steppenrit ... Den Namen habe ich nie gehört.« Max strengte sein Gehirn vergeblich an.

»Er ist ein Norddeutscher und kann, wie gesagt, auch anders heißen.« Frau Fontagne klappte das Buch zu, in dem zu lesen sie gar nicht die Absicht hatte und hinter dem sie nur die durch das Wortgefecht mit der Tochter verdorbene Laune verbarrikadieren wollte: »Eine amüsante Abwechslung, liebe Eva, nach der Du, zieht man Deine Proselytenmacherei für gefährliche Spaziergänge in betracht, eigentlich keinen plausiblen Grund hättest, Dich zu sehnen, steht Dir auch so bevor – wir erwarten morgen Alexander von Duhnin.«

Die Mitteilung erregte fürs Erste nicht die berechnete Sensation, sondern Eva fragte nur lauernd: »Und er kommt natürlich zufällig, auf der Durchreise für einige Tage?«

»Du weißt so genau wie ich, wenn nicht genauer, warum der Duhnin hier seinen Urlaub verbringen wird ...«

Auf die stückweise Mitteilung folgte eine ironische Entgegnung: »Weil der Herr Attache die Natur liebt und das Landleben und die Waldeinsamkeit, weil er zweifellos entdeckte, daß die Pension International in St. Magdalena in der Au die einzige Ansiedlung in der Welt ist, wo ein raffinierter Gesellschaftslöwe anständigerweise den Sommer totschlagen kann, da Ostende, Spaa und Rügen Aufenthaltsorte für veraltete Binsensammler geworden sind. Nicht wahr?«

Max, belustigt durch die boshafte Ironie seiner Schwester, gab sich natürlich Mühe, den Frieden in der Familie aufrecht zu erhalten und zog die Sache ins Heitere: »Dein Benehmen ist doch kindisch, wo Du weißt, daß Mama Späße in ernsten Angelegenheiten nicht goutiert.«

Sie heuchelte mit durchsichtiger Verstellung die Erstaunte: »Ich verstehe Dich nicht ... Ich verstehe Euch beide nicht und wäre dankbar für eine freundliche Aufklärung – denn wenn ein anderer Grund Herrn von Duhnin hierher führte, so fände ich das taktlos und ...«

»Bitte moderiere Dich!« Frau Fontagne fiel dem Mädchen kategorisch in die Rede. »Ich habe Herrn von Duhnin selbstredend nicht eingeladen, aber mit Freuden seinem Sommerplan zugestimmt; das dürfte Dich hoffentlich bewegen, eine weniger entschiedene Kritik zu üben; es kommt Dir nicht zu, zu verurteilen, was ich gutheiße.«

Eva zog die Mundwinkel herab und kreuzte die Arme über der Brust: »Und Du hieltest es nicht für nötig, mir das alles rechtzeitig mitzuteilen? Ich wäre unter diesen Umständen gewiß in England geblieben. So habt Ihr hinter meinem Rücken die Sache abgekartet und habt nicht daran gedacht, mir eine peinliche Begegnung zu ersparen. Jetzt reflektiert Ihr wohl noch auf Dank?«

Die Exzellenz bewegte die Hand zum Takte einer Ziehharmonika, auf der man in der Feme einen Ländler spielte: »Nach meinem Dafürhalten – und das ist das Maßgebende – ist es früh genug, wenn Du die Tatsache jetzt erfährst, und hättest Du Verständnis für Dankbarkeit, so würdest Du allerdings anders sprechen und die Rolle des Märtyrers, in der Du Dir gefällst, fallen lassen ... Man hat nur Dein Bestes im Auge; ich möchte Dich auch noch ersuchen, anzuhören, was ich Dir zu sagen habe.«

Darauf erhob sich die Tochter: »Aber nicht hier. Ich schätze es nicht, fremde Leute von unseren höchstpersönlichen Angelegenheiten zu unterrichten – und die Kronenhaupt, ganz zu schweigen von der Pensionsleiterin, streichen um die Laube herum, wie die Turmschwalben um das Schlagwerk.« Sie ging in die Richtung des Hauses.

Mutter und Bruder folgten halb widerwillig.

»Bitte Mama, reg Dich nicht auf.«

»Gewiß nicht ... Jedoch paßte Deine Mahnung eher für Eva.«

Das leuchtende Sonnenrot des Abends färbte die scharfe Spitze des Schwerthorns, das kalt und starr in die durchsichtigen Feuerwolken ragte. –

Zwischen die Schlafzimmer der beiden Damen schob sich der »Salon« ein, ein viereckiger Raum mit zwei Fenstern und einer verschossenen grünen Möbelgarnitur, die man über ihre Zeit hinaus konservierte; am Fenstersims standen drei oder vier Gartengeschirre, in denen grelle Geranien blühten und in den glasierten Vasen auf dem Kaminrand welkten Steinnelken, Reseden und Rosen.

Eva erwartete hier, in den knarrenden Schaukelsessel zurückgelehnt, die Nachkommenden; das Licht in der Hängelampe brannte schlecht und düster.

Ruhig, doch mit sichtbarlich erzwungener Freundlichkeit begann die Mutter, nachdem sie sich in eine Ecke des Sophas mit den geschwungenen Armlehnen so gesetzt hatte, daß die zuckende Flamme des Lampenlichtes sie nicht behelligte: »Mein liebes Kind, ich habe schon seit Langem die Absicht, mit Dir über Verschiedenes zu sprechen, worüber Du Dir nicht klar zu sein scheinst; Du bist nicht mehr in jenem glücklichen Alter, wo man sorglos in den Tag hineinlebt ... Bisher vermied ich es, das Thema eingehend zu diskutieren – zarte Andeutungen faßtest Du nicht ihrer ganzen Tragweite nach auf oder wolltest sie nicht auffassen –, weil ich damit Punkte berühren muß, in denen Du, die stets Unzugängliche, am unzugänglichsten bist. Ich denke, Du ahnst, worauf ich anspiele ... Es liegt mir nun nichts ferner, als Einfluß auf die Wahl Deines zukünftigen Gatten nehmen zu wollen, aber ich möchte Dir doch einige Fakten zu bedenken geben, die Du bisher zu wenig bedachtest. Willst Du mich ohne kränkende Opposition, mit der ich leider bei Dir immer rechnen muß, anhören, und Dich zumindest so weit überwinden, daß Du mich nicht absichtlich mißverstehst und mir nicht häßliche Motive unterschiebst? Denn, es wird mir nicht leicht es zu sagen, unsere inneren Beziehungen lassen tagtäglich mehr zu wünschen übrig, zumal Du einen Sport dareinsetzest, überall Komplotte zu wittern.«

Das Mädchen unterbrach die Schaukelbewegung des Sessels nicht und antwortete kühl: »Ich werde Dich ganz still anhören, Mama, Dich nicht unterbrechen und alles Gesagte überlegen ... Genügt das Versprechen?« Sie fühlte, es war etwas Wichtiges, das die Mutter ihr mitteilen würde und verbarg die nervöse Erwartung unter der Maske einer geheuchelten, unpersönlichen Gleichgiltigkeit.

»Ich danke Dir in Deinem eigenen Interesse. Ich verzichte auf eine langatmige Einleitung. – Die Fontagne, seitdem die französische Revolution ihre Güter konfiszierte und sie aus Frankreich verbannte, sind nicht reich; das ist Dir bekannt; so lange Papa aktiv war und seinen Gehalt als Feldzeugmeister bezog, ging es ja noch, besonders da Du und Max klein waret, dann aber kam die Pensionierung und seit er gestorben ist, liegen die Verhältnisse bedeutend ungünstiger. Das Vermögen, das Ihr erbtet, reicht für ein gutes und einfaches, sagen wir für ein bürgerliches Leben, gestattet aber keinen Luxus, wie Ihr Beide ihn gewöhnt seid. Was nun meine eigenen Vermögensverhältnisse betrifft, so werdet Ihr gewiß nicht beanspruchen, daß ich mich einschränke, zumal ich an Max denken muß, der die diplomatische Laufbahn einschlagen will ...«

Der Diplomat in spe hob die Hand und zeigte dadurch an, daß er eine Einwendung zu machen hätte, aber empfand es als befreiende Entlastung, daß seine Mutter ihn nicht zu Worte kommen ließ. »Nein Max, unterbrich auch Du, bitte, mich nicht ... Der eintönige Trott in irgend einem Zweig der inneren Verwaltung würde Dich aufreiben und die Tätigkeit könnte Dich nicht befriedigen; Du bist für die große Welt geboren, die sich Dir erst mit dem Auswärtigen Amt erschließt ... Nun aber, liebe Eva, habe ich mich ausschließlich mit Dir zu beschäftigen; – Mädchen aus guter jedoch nur mäßig bemittelter Familie müssen danach trachten, einen Gatten zu finden, der ihnen das bieten kann, was sie auch materiell vom Leben fordern – und die Gefühlsfrage darf die Geldfrage keineswegs ausschalten. Wie bereits erwähnt, vermute nicht, daß ich Dir irgendeinen Gatten aufoktroieren will – mein Wunsch wäre nur, die Ansprüche, die Du an Deinen Zukünftigen stellst und die dem Denken unserer Zeit nicht mehr angepaßt sind, auf ein vernünftiges und menschenmögliches Maß herabzuschrauben ...« Seufzend fügte sie bei: »Es gab ja einst auch ein Fräulein Melanie von Knapp, die sann wie Du heute sinnst ... und resignieren mußte ...« Die Exzellenzfrau sprach von sich selbst und wurde melancholisch.

›Es muß schon lange her sein ...‹ nur mit einer gewissen Selbstbeherrschung unterließ die Blonde den Einwurf und versetzte den Schaukelsessel neuerdings in Schwung.

»Du bist bald zweiundzwanzig Jahre alt, Eva, und refüsiertest schon vier Anträge – Anträge, um die Dich jede Deiner Freundinnen beneiden würde; Dein Verhalten dem Grafen Jaèeviè gegenüber kann ich noch begreifen, denn seine Vermögensverhältnisse waren ziemlich deroute, und selbst – Du wirst mir zugeben, ich urteile objektiv – und selbst Baron Schwinger ist ein Mensch, gegen den man Verschiedenes einwenden kann, aber Brandlis und vollends Alexander von Duhnin sind Persönlichkeiten – sie sind makellose Kavaliere in jeder Beziehung. Brandlis wollen wir abgetan sein lassen – die Sache gehört der Vergangenheit an, ist unabänderlich und ich hasse nutzlose Diskussionen. Nur von Duhnin muß ich sprechen, weil ich – Deine besorgte Mutter – es nicht über mich bringe, zuzuschauen, wie Du am Glück vorbeigehst. Seine glänzende Stellung und seine günstige materielle Lage sind Dir bekannt – und daß er Dich auch wirklich liebt, daran darfst Du gerade jetzt am wenigsten zweifeln, da er unbekümmert um Dein Verhalten im vergangenen Herbst, dennoch seinen Wunsch, Dich zur Frau zu bekommen, dadurch beweist, daß er sich überwindet und sich Dir abermals nähert ... Er verdient Dein liebloses Urteil nicht. Nur echte Liebe scheut auch vor äußerlichen Demütigungen nicht zurück; das übersiehst Du, liebes Kind. Du wolltest ihm damals auf seine Frage voreilig ein kurzes Nein sagen – danke es mir, daß mein Rat es war, der Dich bewog, das letzte Wort hinauszuschieben; zum Abschiedgeben und Abschiednehmen ist immer noch Zeit. An der schwachen Hoffnung, die Du ihm so ließest, hält er fest; Du gingst nach England und es verstrich keine Woche, ohne daß der Duhnin sich bei mir erkundigte, wie Du Dich befindest. Wahrscheinlich wirst Du jetzt einsehen, daß es mir – auch wenn ich es gewollt hätte – nur mit Verletzung der einfachsten Regeln des Anstandes möglich gewesen wäre, ihm abzuraten, als er äußerte, uns in St. Magdalena besuchen zu wollen, um sein Glück nochmals zu versuchen. Ich gestehe Dir übrigens gern zu, daß mir sein Entschluß eine angenehme, eine freudige Überraschung bereitete ... Und nun ersuche ich Dich – bitte ich Dich Deinetwegen, Dein Wort, um das er Dich vielleicht bald fragen wird, genau zu überlegen und Deine Gefühle schon vorher zu prüfen ... Es könnte Dich sonst später leicht selbst gereuen. Daß Du kein kokettes Spiel mit ihm treibst, das erwarte ich von meiner Tochter.«

Max bewunderte stillschweigend die diplomatische Redekunst seiner Mutter.

Eva Fontagne stand langsam auf und trat ans offene Fenster; ihre hohe, schlanke Gestalt hob sich scharf vom verglimmenden Sonnenlicht des gelben Himmels im Westen ab; sie fühlte sich niedergedrückt und entmutigt; das Pathos der Mutter neben den ausgeklügelten Überlegungen stieß sie ab, der Mangel an Herzlichkeit berührte sie schmerzlich; des Mädchens Stimme zitterte unsicher und nach richtigen Ausdrücken suchende Pausen schoben sich zwischen die Sätze: »Ich danke Dir für Deine Offenheit Mama ...« für Deine Rücksichtslosigkeit – wollte sie sagen, aber unterdrückte das Wort, das ihrer Ansicht nach besser am Platz gewesen wäre; »Du hast mein Lebensproblem klar und herb skizziert: willst Du Herrn von Duhnin heiraten oder willst Du riskieren, einmal in einem Damenstift als altes, vergrämtes Fräulein zu vegetieren ... So ungefähr lautete die Prognose.« Und auf eine energisch abwehrende Bewegung Frau Fontagnes: »Bitte – ich habe Dich angehört bis zum Schluß, höre auch Du mich an ... Ich muß weiter ausholen, als mir lieb ist – Du holtest ebenfalls weit aus ... Jene Herren, die mir die eminente »Ehre« erwiesen, um meine Hand anzuhalten – Jaèeviè, Schwinger und Brandlis –« das Mädchen zuckte die Achseln, »man kann sie und mich weitschweifig kommentieren, man kann aber auch nur kurz sagen: ich liebte sie nicht ... und dieses: ich liebe ihn nicht ... gilt heute für Alexander Duhnin ... Du hast Recht, Mama, ich antwortete ihm damals auf Dein Zureden in einer höflich-verklausulierten Form – die aber für feinere Ohren eine glatte Abweisung enthielt ... Vielleicht hast Du auf eigene Faust dem Herrn die Sache mundgerechter und schmackhaft gemacht – vielleicht besorgte er das Mißverstehen allein ... Gewiß beging auch ich einen Fehler, den Fehler, um die Wahrheit feig herumzuschleichen – das nennt man gemeiniglich »Schonung« –, statt mir und ihm schonungslos Befreiung zu schenken. In ernsten Dingen ist eine halbe Wahrheit schlimmer, als eine volle Lüge – und der, der ehrlich liebt, darf am ehesten verlangen, daß er nicht mit einer mitleidigen Lüge abgespeist wird ... Ich zerbrach mir noch nicht den Kopf darüber, wie Duhnins Liebe im Innersten geartet ist – ich gefalle ihm, ich reize ihn ... ich bin hübsch, pikant ... O, ich weiß, daß ich mich jetzt unweiblich betrage und mehr als das, daß ich der jungfräulichen Sitte Hohn spreche, die den Mädchen unnachsichtlich diktiert, stumm und blind und ahnungslos in die Ehe zu laufen ... Aber das ist mir egal, mögen sich die Menschen über mich aufregen – ich bin wie ich bin und bleibe so und betrachte das Leben am liebsten unverhüllt, ohne rosenrote Brille und ohne graue Gläser ... mehr und mehr geriet Eva in Aufregung: »Und wenn ich mich selbst kritisch und mitleidslos unter die Lupe nehme, dann entdecke ich eine verwöhnte, unsympathische junge Dame, der man aber gnädig alle ihre Sünden verzeihen würde, wenn sie nicht auch noch den widerlichen Spleen hätte, nicht ohne Liebe zu heiraten ... Das findet sie nämlich gemein ... Würde ferner die unausstehliche junge Dame – sie ist gewiß unausstehlich! – das entsetzliche Unglück haben, einen armen Teufel oder gar einen abgefeimten Taugenichts zu lieben, – ich fürchte, das mißratene Ding verzichtete dann gern auf vieles, das man ihm heute als unentbehrlich nachsagt – auf seidene Jupons und durchbrochene Strümpfe, die ein kleines Vermögen kosten, und auf andere Gewohnheiten und Nippsächelchen, die sie bisher selbst unendlich hoch wertete ... und sie würde noch mehr entsagen, freudig entsagen – wenn sie liebte ...«

Exzellenz Melanie Fontagne ließ absichtlich eine Weile verstreichen, ehe sie aus dem Schweigen der Tochter schloß, daß diese zu Ende war; ihre fließende Sprache stach von den gehetzten Worten Evas ab: »Alles recht gut und schön, mein Kind!« Und dabei hatte der Tonfall nicht an Wärme gewonnen, »das mag sich in der Theorie hübsch und einwandfrei präsentieren – doch in der Praxis? Du bedienst Dich gleichwohl der verlästerten rosenroten Brille, die das Leben heiter verfärbt, und merkst es nicht. Ich denke, die gewisse junge und unerfahrene Dame richtiger zu beurteilen, als Du – und ich verzichte freiwillig auf das Hilfsmittel der Lupe; mir genügt das freie unbewaffnete Auge. Die charaktervolle junge Dame wird bestimmt niemanden heiraten, den sie haßt oder verachtet – das tut man einfach nicht, außer in erfundenen Romanen, aber sie wird einem Menschen, der ihr sympathisch ist, mit dessen Wesen ihre Anschauungen harmonieren, als Gattin folgen und wird von ihm nicht jene Seligkeit einfordern, die in der Romantik der schwärmerischen Backfische nur der einziggeliebte Held bieten kann. Mein liebes Kind wird klug und selbstbescheiden nehmen, was das Schicksal ihm als Lebensration zuweist – ein gutes, echtes, anständiges Glück ... Die Wonnen der Mädchenträume existieren nur in der Phantasie kindlicher Überspanntheiten, aber nicht in der Realität des Daseins. Gerade den Temperamentvollsten und Leidenschaftlichsten empfehle ich die Vernunftehe – sie erspart die bittersten Enttäuschungen. Man muß sparsam haushalten mit seinen Gefühlen.«

In Eva Fontagne stiegen schluchzende Tränen auf, die sie hartnäckig erstickte ... Das waren böse Weisheiten, über die sie selbst schon zuweilen erschauernd nachgesonnen, weil sie so häßliche Bilder malten ... und sie wollte doch mit offenen Augen durch die Welt wandern ... Und es waren aufdringliche Gedanken, gegen die sie immer empört ankämpfte, da ihr graute vor dem Gemeinen und Niederen. Die Blonde dankte dem Bruder, der sie einer schnellen Antwort überhob.

»Liebe Eva, Du mußt Mama nur recht verstehen – sie mutet Dir natürlich nicht zu, à tout prix den Duhnin zu heiraten; sie rät Dir nur welterfahren, an Stelle Deiner willkürlichen Lebenskonstruktionen Erfahrungstatsachen zu setzen.«

Max beglückwünschte sich zu dem liebenswürdigen Mitleid mit seiner Schwester, das ihn dazu bewog, die ernsten Ermahnungen der Mutter abzuschwächen und damit den eigenen Interessen entgegenzuarbeiten, welchen eine Verbindung mit Alexander von Duhnin diente ... Aber es war eine weichliche Schwäche und keine starke Güte, die ihn leitete.

Und Eva, hilflos und beklommen durch ihre Unsicherheit und ihre Zweifel, klammerte sich an dem wenigen Lieben an, das man ihr als Brosamen bot, und wollte glauben, daß Mutter und Bruder es ehrlich und gut mit ihr meinten; das richtete sie auf, machte sie nachgiebig und weich; einem raschen Impulse folgend, näherte sich das Mädchen seiner Mutter und beugte sich über ihre Hand: »Mama, ich verspreche Dir, mich genau zu prüfen. Ihr, Du und Herr von Duhnin, werdet mit meiner Entscheidung gewiß zufrieden sein – mag sie nun so oder so ausfallen ...«

Frau Fontagne zog die Tochter zu sich und küßte flüchtig ihre Stirn: »Ich wußte ja, daß Du ein lieber, kluger Mensch bist, der nicht absichtlich kränken will ...«

Max nahm den versöhnlichen Ausgleich als einen Erfolg seiner Worte und atmete erleichtert auf: »Na, das stimmte ... Wenn es noch nicht zum Abendbrot geschellt hat, so muß es jeden Augenblick klingeln ... Habt Ihr die Absicht, Euch in Adjustierung zu werfen?«

* * *


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