Auguste Rodin
Die Kunst
Auguste Rodin

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Achtes Kapitel

Der Gedanke in der Kunst.

Als ich eines Sonntags morgens Rodin in seinem Atelier besuchte, stand ich lange vor dem Abguß eines seiner packendsten Werke.

Es ist ein schönes junges Weib, dessen Körper, scheinbar in geheimnisvollen Qualen, sich vor Schmerzen windet. Der Kopf hängt tief herab; Lippen und Augenlider sind geschlossen und man könnte glauben, sie schliefe. Aber die Angst auf ihren Zügen verrät die heftige Anspannung ihrer geistigen Kräfte.

Was vollends überrascht, wenn man sie näher betrachtet, ist das Fehlen von Armen und Beinen. Es hat den Anschein, als hätte der Bildhauer in einer leidenschaftlichen Anwandlung von Unzufriedenheit 212 mit sich selbst sie abgeschlagen. Man muß die Unvollständigkeit einer Gestalt von so mächtiger Wirkung bedauern, die grausamen Verstümmelungen, die sie erlitten, beklagen. Als ich Rodin unwillkürlich diese Empfindung zu erkennen gab, sah er mich erstaunt an und sagte:

 

Was für einen Vorwurf machen Sie mir da? Ich habe meine Statue absichtlich in diesem Zustand gelassen. Sie stellt die »Meditation« dar. Daher hat sie weder Arme zum Agieren, noch Beine zum Gehen. Haben Sie wirklich noch nicht bemerkt, wie eine sehr ausgedehnte Reflexion so wahrscheinliche Argumente für die entgegengesetztesten Entschließungen suggeriert, daß daraus mit der Zeit eine absolute Untätigkeit resultiert?

 

Diese wenigen Worte genügten, mich auf meinen ersten Eindruck zurückkommen zu lassen, und seitdem bewunderte ich uneingeschränkt den stolzen Symbolismus des Bildes, das ich vor Augen hatte.

Dieses Weib war, wie ich jetzt begriff, das Sinnbild des menschlichen Geistes im unabweislichen Ringen mit Problemen, die er nicht lösen kann, unausgesetzt 215 von einem Ideal heimgesucht, das er nicht verwirklichen kann und von der Sehnsucht nach einer Unendlichkeit besessen, zu der er keine Verbindung herstellen kann. Die krampfhaften Verzerrungen dieses Leibes sind die Qualen des Denkens und seine ruhmvolle aber vergebliche Hartnäckigkeit, Fragen zu lösen, auf die es keine Antwort finden kann. Und die Verstümmelung der Gliedmaßen deutet auf den unüberwindlichen Widerwillen hin, den komtemplative Seelen gegen das praktische Leben empfinden.

Dann jedoch erinnerte ich mich einer Kritik, die Rodins Werke oft hervorgerufen haben, und ohne mich im übrigen ihr anzuschließen, unterbreitete ich sie dem Meister, um zu erfahren, wie er sich dazu verhalten würde.

Die Kunstkritiker, sagte ich, können den durch alle Ihre Skulpturen zum Ausdruck gebrachten substantiellen Wahrheiten nur Beifall zollen.

Einige Kritiker jedoch tadeln bei Ihnen gerade eine mehr literarische als plastische Inspiration. Sie behaupten, daß Sie sich das Lob der Schriftsteller in geschickter Weise erschlichen, indem Sie diesen Themen liefern, worüber ihre Feder sich ungehindert lang und breit auslassen könne. Und 216 sie erklären, daß die Kunst soviel philosophischen Ehrgeiz nicht gestatte.Hierauf erwiderte Rodin lebhaft:

 

Wenn meine Modellierung schlecht ist, wenn ich anatomische Fehler begehe, wenn ich die Bewegungen unklar zum Ausdruck bringe, wenn ich von der Kunst, den Marmor zu beleben, keine Ahnung habe, dann sind diese Kritiker mehr als hundertmal im Recht.

Wenn jedoch meine Gestalten fehlerfrei und lebenswahr sind, was hätten sie dann wohl daran auszusetzen? Und mit welchem Recht wollen sie mir verbieten, allerhand Absichten daran zu knüpfen? Worüber beklagen sie sich denn, wenn ich ihnen mit der Arbeit des Bildhauers noch einen Ideengehalt gebe und schöne Formen, die imstande sind, das Auge zu entzücken, noch mit einer geistigen Bedeutung bereichere?

Man täuscht sich übrigens ungeheuer, wenn man glaubt, daß die echten Künstler sich mit einer geschickten Verarbeitung des technischen Teiles ihrer Aufgabe begnügen und auf eine geistige Verarbeitung des Stoffes verzichten können.

Diese ist im Gegenteil ganz unentbehrlich, selbst bei solchen Werken, die auf alle geistigen Ansprüche 217 verzichten und bestimmt zu sein scheinen, nur das Auge zu entzücken.

Wenn ein guter Bildhauer eine Statue modelliert, so muß er zunächst ihre allgemeine Bewegung ganz klar und deutlich entwerfen; er muß ferner bis zur Vollendung des Werkes seine Vorstellung vom Ganzen mit aller Energie in seinem Bewußtsein wach halten, um die kleinsten Einzelheiten seiner Arbeit unaufhörlich danach richten und auf das engste damit verknüpfen zu können. Und das ist ohne eine intensive geistige Anstrengung unmöglich.

Was zweifellos zu der Annahme verführt hat, die Künstler könnten auch ohne Hinzuziehung geistiger Qualitäten schaffen, ist vielleicht darin zu suchen, daß viele im gewöhnlichen Leben deren keine zu haben scheinen. Die Biographien berühmter Maler und Bildhauer wimmeln von Anekdoten über die Naivetät gewisser Meister. Man muß sich jedoch sagen, daß die großen Männer, wenn sie unaufhörlich über ihre Werke nachdenken, dem Alltagsgetriebe keine Beachtung schenken können. Und vor allem muß man sich sagen, daß viele Künstler bei all ihrer Intelligenz deshalb beschränkt erscheinen, weil sie einfach nicht die Leichtigkeit der Rede und die Schlagfertigkeit besitzen, die für flüchtige 218 Beobachter das einzige Zeichen von Geist und Scharfsinn sind.

 

Sicherlich, sagte ich, ist die geistige Kraft der großen Maler und Bildhauer unbestreitbar. Um aber auf eine ganz besondere Frage zurückzukommen, gibt es zwischen Kunst und Literatur nicht eine Grenze, die die Künstler nicht überschreiten dürften?

 

Ich gebe Ihnen zu, erwiderte Rodin, daß gerade ich mich diesem Verbot höchst ungern füge.

Es gibt meiner Meinung nach kein Gesetz, das einen Bildhauer hindern könnte, ein vornehmes Werk durchaus nach seinem Gefallen zu schaffen. Und es ist doch ganz gleichgültig, ob es in das Gebiet der Skulptur oder in das der Literatur gehört, wenn nur das Publikum davon Freude und Nutzen hat! Malerei, Skulptur, Literatur, Musik stehen einander viel näher, als man im allgemeinen glaubt. Sie drücken alle Gefühle der menschlichen Seele der Natur gegenüber aus, eine jede selbstverständlich mit verschiedenen Mitteln.

Wenn nun aber ein Bildhauer es unternimmt, mit seiner Kunst Eindrücke zu erzielen, die für gewöhnlich die Literatur oder die Musik verschafft, warum denn gleich deswegen mit ihm hadern? Ein 219 Publizist kritisierte jüngst meinen »Victor Hugo« im Palais Royal mit der Behauptung, das wäre nicht Skulptur, sondern Musik. Und naiverweise fügte er hinzu, daß dieses Werk an eine Symphonie von Beethoven erinnere. Gäbe der Himmel, er hätte wahr gesprochen!

Ich leugne übrigens nicht, daß es sehr nützlich ist, über die Unterschiede nachzudenken, die die literarischen Mittel von denen der bildenden Künstler trennen.

Zunächst besitzt die Literatur die Eigentümlichkeit, daß sie Ideen ausdrücken kann, ohne zu Bildern ihre Zuflucht zu nehmen. Sie kann zum Beispiel sagen: »ganz tiefes Nachdenken läuft sehr häufig auf Untätigkeit hinaus«, braucht darum aber nicht eine nachsinnende Frau darzustellen, der jede Bewegungsmöglichkeit genommen ist.

Diese Fähigkeit, durch Worte abstrakte Begriffe spielend auszudrücken, sichert der Literatur vielleicht einen Vorsprung vor den übrigen Künsten im Reiche des Gedankens.

Ferner ist zu bemerken, daß die Literatur Geschichten entrollt, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Sie verknüpft verschiedene Begebenheiten, woraus sie einen Schluß zieht. Sie läßt ihre 220 Menschen handeln und zeigt die Konsequenzen ihres Verhaltens. So verstärken sich die Szenen, die sie aufbaut, durch ihr Aufeinanderfolgen, nehmen aber Bedeutung an nur entsprechend ihrer Beteiligung am Fortschreiten der Verwickelung.

Ganz anders verhält es sich mit den bildenden Künsten. Sie stellen immer nur eine einzige Phase einer Handlung dar. Daher tun die Maler und die Bildhauer vielleicht unrecht, sich ihre Vorwürfe bei den Schriftstellern zu holen, wie das so häufig geschieht. Der Künstler, der einen Teil einer Erzählung darstellt, muß den Rest des Textes notwendigerweise als bekannt voraussetzen. Sein Werk muß sich an das des Dichters anlehnen. Seinen ganzen Sinn erlangt es erst, wenn es von den voraufgegangenen und den folgenden Tatsachen erhellt wird.

Wenn der Maler Delaroche nach Shakespeare, oder vielmehr nach dessen mattem Nachahmer Casimir Delavigne, die eng aneinander geschmiegten »Kinder Eduards« darstellt, so muß man, um sich dafür interessieren zu können, wissen, daß diese Knaben die Erben eines Thrones sind, daß sie in einem Gefängnis schmachten und daß von einem Usurpator entsandte Meuchelmörder jeden Augenblick auftauchen können, um sie umzubringen.

Die Barke Don Juans von Eugène Delacroix. Paris, Louvre.

Wenn Delacroix – verzeihen Sie, daß ich dieses Genie unmittelbar neben dem höchst mittelmäßigen Delaroche nenne – einem Gedicht Byrons den »Schiffbruch Don Juans« entlehnt und uns auf wild bewegtem Meer ein Boot zeigt, worin Matrosen aus einem Hut Papierschnitzel ziehen, so muß man, wenn anders diese Szene verständlich sein soll, wissen, daß diese vor Hunger halb wahnsinnig Gewordenen im Begriff sind, das Schicksal zu fragen, wer von ihnen den andern als Nahrung dienen soll.

Mit der Behandlung literarischer Stoffe haben diese beiden Künstler also den Fehler begangen, Werke zu malen, die ihren vollständigen Sinn nicht in sich selbst bergen.

Und doch, während Delaroche ein schlechtes Bild gemalt hat, weil seine Zeichnung kalt, seine Farbe hart ist, sein Gefühl in übertriebener Sentimentalität schwelgt, hat Delacroix ein bewunderungswürdiges Bild gemalt, weil diese Barke wirklich auf den tosenden, graugrünen Wogen schwankt, weil der Hunger und die Verzweiflung die Züge dieser Schiffbrüchigen in echt tragischer Weise krampfhaft verzerren, weil die düstere Leidenschaft der Farbe irgendein schreckliches Verbrechen ankündigt, weil endlich, wenn auch die Schilderung Byrons entstellt 224 in diesem Gemälde enthalten ist, zum Ersatz die glühende, überschäumende und erhabene Seele des Künstlers unbestreitbar ganz und gar darin lebt.

Was lehren nun diese beiden Beispiele? Wenn Sie nach reiflicher Überlegung die vernünftigsten Verbote gegen eine falsche Behandlung künstlerischer Stoffe aufgestellt haben, können Sie gerechtermaßen alle Mittelmäßigen warnen, sie ja nicht zu übertreten, aber Sie werden ganz erstaunt wahrnehmen, daß die Genies sie fast ungestraft verletzen. 225

Ugolino von Aug. Rodin.

Während Rodin so zu mir sprach, begegneten meine Blicke einem Gipsmodell seines »Ugolino«. Er ist mit einem grandiosen Realismus gestaltet und völlig verschieden von der Gruppe Carpeaux'. Die Gruppe Rodins ist, wenn möglich, noch wuchtiger und erhabener. In dem Werke Carpeaux' beißt sich der Pisaner Graf, von rasender Wut, Hunger und Schmerz gefoltert, in beide Fäuste und starrt auf seine mit dem Tode ringenden Kinder. Rodin hat das schreckliche Drama um einen Schritt weiter angenommen. Die Kinder Ugolinos sind tot, sie liegen am Boden, und ihr Vater, den die entsetzlichen Hungerqualen zum Tier verwandelt haben, schleppt sich auf seinen Händen und Knien kriechend über ihre Leichen. Schon neigt er sich zu ihrem Fleisch herab, aber in demselben Augenblick wirft er jäh seinen Kopf zur Seite. In ihm tobt ein furchtbarer Kampf zwischen dem reißenden Tier, das seinen Hunger stillen will, und dem denkenden Menschen, dem liebenden Vater, dem ein so ungeheuerlicher Frevel Abscheu einflößt.

Ich kann mir nichts Ergreifenderes vorstellen.

Hier, Meister, haben wir neben dem »Schiffbruch Don Juans« noch ein Beispiel zur Bestätigung Ihrer Worte. 226

Man muß unbedingt die »Göttliche Komödie« gelesen haben, um sich die Ursachen und Umstände des Martyriums vorzustellen, das Ihr »Ugolino« erleidet; aber selbst wenn man die Terzinen Dantes nicht kennt, müßte man unbedingt auf das Tiefste ergriffen werden von den fürchterlichen inneren Qualen, die sich auf den Zügen und in der Haltung Ihrer Gestalt ausdrücken.

 

Wenn ein literarischer Vorwurf allerdings so 227 bekannt ist, versetzte Rodin, kann ihn der Künstler ohne Furcht, nicht verstanden zu werden, behandeln.

 

Dennoch haben meiner Meinung nach die Gemälde und Skulpturen den Vorzug, die ganz allein aus sich heraus zu interessieren vermögen. Die Kunst kann tatsächlich den Geist und die Phantasie beschäftigen, ohne die Literatur irgendwie in Anspruch zu nehmen. Anstatt dichterische Vorgänge zu illustrieren, soll sie sich lieber ganz schlichter und klarer Symbole bedienen, die von keinem geschriebenen Text abhängig sind.

Nach dieser Methode habe ich im allgemeinen meine Entwürfe gemacht und ich kann sagen, nicht zu meinem Schaden.

 

Diese Ausführungen Rodins bestätigten mir seine hier vereinigten Skulpturen in ihrer stummen Sprache. Ich sah hier die Gipsmodelle verschiedener seiner gedanklich hervorragendsten Werke.

Ich betrachtete sie aufmerksam und bewunderte eine Wiederholung des »Gedankens«, der sich im Musée du Luxembourg befindet.

Wer erinnert sich nicht dieses einzigen Werkes?

Der Gedanke (La Pensée) von A. Rodin.

Ein weiblicher Kopf, ganz jung und zart, von wunderbarer Zartheit und Weichheit, ist leicht nach vorn geneigt und wie von einem Traum umfangen, der ihn ganz vergeistigt erscheinen läßt. Die Stirn wird von einer leichten Haube beschattet, die des Traumes Flügel zu sein scheinen. Aber Hals und Kinn stecken in einem massigen unbehauenen Marmorblock wie in einem Marterpfahl, woraus sie sich nicht befreien können.

Diese symbolische Darstellung ist leicht verständlich. Der abstrakte Gedanke blüht aus dem Schoße der trägen Materie empor und erleuchtet sie mit dem Reflex seines Glanzes; aber vergeblich ringt er danach, sich aus den schweren Fesseln der Wirklichkeit zu befreien.

Die Illusion, des Ikarus Tochter, von A. Rodin.

Hierauf betrachtete ich die »Illusion, des Ikarus Tochter«. Sie ist dargestellt als ein Engel in strahlender Jugend. Mit breiten Flügelschlägen hat sie sich hinauf zur Sonne geschwungen, da trifft sie ein jäher Windstoß und schleudert sie auf die Erde zurück, wo ihr liebliches Gesicht an einem Felsen jämmerlich zerschmettert wird. Aber ihre unversehrt gebliebenen Flügel sind noch in Bewegung, und da sie unsterblich ist, ahnt man, daß sie ihren Flug 229 bald wiederholen wird, um immer wieder ebenso grausam wie das erste Mal auf die Erde zurückzufallen. Ewig jung und ewig enttäuschend ist die Hoffnung!

Noch eine dritte Skulptur erregte meine Aufmerksamkeit: die »Zentaurin«.

Die Zentaurin von A. Rodin.

Der menschliche Oberkörper dieses Fabelwesens streckt sich verzweiflungsvoll einem Ziel entgegen, das seine ausgestreckten Arme nicht erreichen können; aber die Hinterhufe klammern sich, eine 230 Stütze suchend, an den Boden, und das massige Hinterteil des Tierkörpers, macht alle Anstrengungen zu nichte. Man sieht, daß eine furchtbare Teilung der beiden Naturen, woraus das arme Geschöpf besteht, vor sich geht. So ist diese Zentaurin ein Abbild der Seele, deren emporstrebende Wünsche in den körperlichen Niederungen wie im Schlamm stecken bleiben.

 

Aus Themen solcher Art, sagte Rodin, kann, glaube ich, der Gedanke mühelos herausgelesen werden. Sie beleben ohne fremde Hilfe die Einbildungskraft des Beschauers und regen die Phantasie, ohne sie einzuengen, zu freier Betätigung an. Das ist meiner Meinung nach die Aufgabe der Kunst. Alles, was sie schafft, muß dem Gefühl nur einen Vorwand liefern, sich in unbestimmter Weise zu entwickeln.

 

In diesem Augenblick war ich vor einer Marmorgruppe angelangt, die »Pygmalion und seine Statue« darstellte. Der antike Bildhauer umfaßt leidenschaftlich sein Werk, das sich unter seiner Umarmung belebt. Ehe ich mich äußern konnte, sagte Rodin:

 

Ich werde Sie jetzt überraschen und Ihnen den ersten Entwurf dieser Komposition zeigen. 231

Faun und Nymphe von A. Rodin.

Er führte mich vor ein Gipsmodell, und ich war wirklich überrascht. Das Werk, das er mich jetzt betrachten ließ, hatte nicht die geringste Beziehung zu der Sage von Pygmalion. Ich sah einen gehörnten und zottigen Faun, der eine keuchende Nymphe ungestüm in seine Arme schließt. Die 232 Hauptlinien der beiden Gruppen waren fast dieselben, aber ihr Vorwurf war grundverschieden.

Rodin schien sich über mein stilles Staunen sehr zu belustigen.

Diese Enthüllung wirkte auf mich ein wenig verwirrend; denn entgegen allem, was ich soeben gesehen und gehört hatte, bewies mir der Meister hiermit, daß er in gewissen Fällen dem behandelten Sujet gegenüber sich vollkommen gleichgültig verhält.

Er sah mich an wie jemand, dem der Schalk im Nacken sitzt, und sagte:

 

Mit einem Wort, man muß den Themen, die man behandelt, nicht allzuviel Bedeutung beilegen. Zweifellos haben sie ihren Wert und tragen auch dazu bei, das Publikum anzuziehen; aber die Hauptsorge des Künstlers muß darin bestehen, die Muskulatur so lebendig als möglich zu gestalten. Auf das übrige kommt es wenig an.

 

Und als ob er meine Verwirrung ahnte, fuhr er sogleich fort:

 

Glauben Sie ja nicht, lieber Freund, daß meine letzten Worte mit den zuvor geäußerten in Widerspruch stehen. 235

Wenn ich sage, daß ein Bildhauer sich darauf beschränken kann, lebendige, zuckende Körper darzustellen, ohne dabei einem bestimmten Vorwurf zu folgen, so heißt das nicht, daß ich den Gedanken von seiner Arbeit ausschließe; wenn ich erkläre, daß er sich des Suchens nach Symbolen enthalten kann, so heißt das nicht, ich sei Anhänger einer Kunst, die jeglichen geistigen Gehalts beraubt ist.

In Wahrheit jedoch ist alles Idee, alles Symbol.

So verraten die Formen und Haltungen eines menschlichen Wesens notwendigerweise die Regungen seiner Seele. Der Körper drückt immer den Geist aus, dessen Hülle er ist. Und für den, der sehen kann, ist die Nacktheit von tiefster Bedeutung. In dem majestätischen Rhythmus der Konturen erkennt ein großer Bildhauer, ein Phidias, die von der göttlichen Weisheit über die ganze Natur gebreitete heitere Harmonie. Ein einfacher, vornehmer Körper von vollkommenem Ebenmaß, kraftvoll und anmutstrahlend zugleich, kann seine Gedanken auf die allmächtige Vernunft richten, die die Welt regiert.

Italienische Landschaft von Corot. Paris, Louvre.

Eine schöne Landschaft interessiert nicht nur durch die mehr oder minder angenehmen Eindrücke, die sie verursacht, sondern vor allem durch die Vorstellungen, die sie erweckt. Die Linien und Farben, 236 die man darin bemerkt, wirken nicht nur an sich, sondern durch den tieferen Sinn, den man daran knüpft. In der Silhouette der Bäume, in dem Ausschnitt eines Horizontes erkannten die großen Landschafter, die Ruysdael, Cuyp, Corot, Théodore Rousseau lächelnde oder ernste, kühne oder verzagte, friedliche oder angsterfüllte Gedanken, die mit ihrer Stimmung übereinstimmten.

Der Künstler kann nur das ersinnen, was von dem gleichen überströmenden Gefühl erfüllt ist wie er selbst. In der ganzen Natur vermutet er ein großes, dem seinen ähnliches Herz. Es gibt keinen lebendigen Organismus, keinen leblosen Gegenstand, keine Wolke am Himmel, keinen Grashalm auf der Wiese, nichts, das ihm nicht eine in allen Dingen verborgene riesengroße geheime Macht verriete.

Werfen Sie einmal einen Blick auf die Meisterwerke der Kunst; ihre ganze Schönheit entspringt dem Gedanken, dem Willen, den ihre Schöpfer im Universum zu ahnen geglaubt haben.

Warum sind unsere gotischen Kathedralen so schön? Weil man in allen Darstellungen des Lebens, in allen menschlichen Bildern, die ihre Portale schmücken, ja selbst in den Pflanzenverzierungen ihrer Kapitäle ein Merkmal der himmlischen Liebe entdeckt. Überall 237 haben unsere frommen Bildner des Mittelalters die unendliche Güte in hellem Glanze gesehen. Und in ihrer rührenden Naivetät haben sie einen Abglanz dieser Güte selbst auf die Züge ihrer Teufel geworfen, als sie ihnen eine liebenswürdige Bosheit verliehen, ein Gesicht, das mit dem der Engel eine gewisse Verwandtschaft zeigt.

Betrachten Sie irgendein Gemälde ersten Ranges, einen Tizian, einen Rembrandt zum Beispiel. 238

Laura Dianti von Tizian. Paris, Louvre.

Bei allen großen Herren Tizians bemerkt man die stolze Energie, die zweifellos ihn selbst beseelte. Seine üppigen nackten Frauen lassen sich anbeten wie Götterweiber, die ihrer Herrschaft sicher sind. Seine Landschaften mit majestätischen Bäumen und prächtigen, strahlenden Sonnenuntergängen von satter, purpurner Färbung sind nicht weniger erhaben als seine Menschen. Einen aristokratischen Stolz ließ er über die ganze Schöpfung herrschen: das war der beständige Gedanke seines Genius.

Ein Greis von Rembrandt.

Eine andere Art von Stolz erhellt die runzeligen und verwitterten Züge der alten Handwerker, die Rembrandt malte; sie adelt auch seine verräucherten Hängeböden und kleinen Fenster mit dunkelgrünen Scheiben, wirft plötzliche, helle Lichter auf seine kunstlosen Flachlandschaften, verherrlicht die Strohdächer, die seine Nadel mit so großem Behagen und so zarter Hand auf die Kupferplatte ritzte. Es ist der reine, tapfere, mutige Seelenadel bescheidener Wesen, die Ehrwürdigkeit alltäglicher, aber innig geliebter Dinge, die Größe der Demut, die würdevoll ihr Schicksal empfängt und erfüllt.

Und so lebhaft, so umfassend ist der Gedanke der großen Künstler, daß er sich auch außerhalb eines Vorwurfes, als Ganzes genommen, erkennen läßt. 241 Ja, er bedarf nicht einmal einer Figur, sich Geltung zu verschaffen. Man nehme dieses oder jenes Fragment eines Meisterwerkes und man wird daran bald des Künstlers Seele erkennen. Vergleichen Sie bitte die Hände auf zwei Porträtskizzen Tizians und Rembrandts. Die Hand Tizians wird Herrschergeist verraten, Rembrandt wird in sie Bescheidenheit und Mut hineingelegt haben. Diese winzigen Proben der Malerei enthalten das ganze Ideal der beiden Meister.

 

Ganz im Banne des Redners lauschte ich auf jedes Wort dieses schönen Glaubensbekenntnisses über den geistigen Gehalt der Kunst. Doch .plötzlich kam mir ein Einwurf auf die Lippen: 242

Eine bronzene Hand von A. Rodin.

Verehrter Meister, sagte ich, zweifellos können Gemälde und Skulpturen in den Betrachtern die tiefsten Ideen auslösen; aber viele Skeptiker behaupten, daß die Maler und die Bildhauer diese Ideen niemals selbst hätten, sondern daß wir sie in ihre Werke hineinlegen. Sie glauben, daß die Künstler durchaus instinktiv veranlagt sind, ähnlich der Sibylle, die auf ihrem Dreifuß die Orakel des Gottes verkündete, ohne selbst zu wissen, was sie prophezeite. Ihre Worte nun beweisen deutlich, daß wenigstens bei Ihnen die Hand beständig vom Geiste geführt wird; aber ist das auch bei allen andern Meistern der Fall? Haben sie stets eine Verbindung zwischen ihrem Denken und ihrer Arbeit hergestellt? Haben sie immer die deutliche Vorstellung dessen gehabt, was ihre Bewunderer an ihnen entdeckten?

Eine bronzene Hand von A. Rodin.

Halt, halt! Verstehen wir uns recht! versetzte lachend Rodin: es gibt manch einen Bewunderer mit sehr kompliziertem Kopf, der den Künstlern ganz unerwartete Intentionen unterschiebt. Solche kommen für uns natürlich nicht in Betracht.

Im übrigen seien Sie überzeugt, daß die Meister sich stets ganz dessen bewußt sind, was sie tun.

 

Dann schüttelte er mißbilligend den Kopf und fuhr fort:

 

Wahrhaftig, wenn die Skeptiker, die Sie erwähnten, wüßten, welch eine Energie der Künstler bisweilen aufbieten muß, um nur zum kleinen Teil das wiederzugeben, was er mit größter Kraft denkt und fühlt, 244 dann würden sie gewiß nicht zweifeln, daß alles, was auf einem Gemälde oder an einer Skulptur kräftig und klar zu Tage tritt, beabsichtigt ist.

 

Nach einer Pause von wenigen Augenblicken begann er wieder:

 

Mit einem Wort, die reinsten Meisterwerke sind die, worin man keine mangelhaft zum Ausdruck gelangten Formen, Linien und Farben mehr findet, sondern wo alles bis zum letzten sich in Gedanke und Seele auflöst.

Vielleicht geben sich die Meister, wenn sie der Natur ihr Ideal einhauchen, Täuschungen hin.

Vielleicht wird sie von einer indifferenten Kraft oder von einem Willen regiert, deren Absichten zu ergründen unser Verstand nicht fähig ist.

Jedenfalls gibt der Künstler, wenn er das Universum nach seiner Vorstellung schildert, den eigenen Träumen Gestalt. Mit der Wiedergabe der Natur verherrlicht er seine eigene Seele.

Und so bereichert er die Seele der Menschheit. Denn, indem sein Geist der Welt des Stofflichen Farbe gibt, enthüllt er seinen entzückten Zeitgenossen tausend Gefühlsnuancen. Er läßt sie in sich selbst 245 Reichtümer entdecken, die ihnen bisher unbekannt waren. Er verschafft ihnen neue Gründe, das Leben zu lieben, neue, innere Klarheiten, die sie sicher leiten können.

Er ist, wie Virgil von Dante genannt wurde, ihr »Führer, Herr und Meister«.

 


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