Julius Rodenberg
Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg

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Im Herzen von Berlin

(April bis August 1886)

Tief drin in Alt-Berlin ist eine kleine Straße, die Papenstraße, und in dieser Straße ein kleines Haus mit einer weißen Laterne, die mir beide sehr lieb sind, das Haus und die Straße. Die letztere erinnert mich auf eine angenehme Weise an die Pfaffen, welche vormals, in der katholischen Zeit und als man noch platt in Berlin sprach, hierselbst gewohnt und der ganzen Gegend sicherlich ein behäbiges Ansehen verliehen haben; als der Bischof von Lebus Hof hielt in der Bischofstraße, der von Brandenburg in der Klosterstraße, der Abt von Lehnin in der Heiligengeiststraße und der Bischof von Havelberg in ebendieser Papenstraße selbst. Diese Prälaten, obzwar sie nun lange schon in Gott ruhen und eine Nachfolge nicht gefunden, haben doch den Straßen, die noch immer nach ihnen heißen, und den benachbarten, die gleichsam im Bann und Frieden der Marienkirche liegen, etwas hinterlassen, was mitten im Geräusch und Gewühl und trotz der Veränderungen der Gegenwart die gesegneten Tage zurückruft, wo das Leben allhier gemächlich ging, wo man hinlänglich Muße hatte, dem Herrn zu dienen, sein Lob in Hora, Messe und Vesper zu verkünden und dazwischen ihm dankbar zu sein für alles Gute, was er der bedürftigen Kreatur an Speis und Trank beschert.

Dies ist es auch, was mir an dem kleinen Haus in der kleinen Straße so wohl gefällt. Es ist einstöckig und altmodisch. Vor seiner stets geöffneten Bogentür hält gemeiniglich ein Frachtwagen, hoch mit Säcken beladen, denen man, auch wo man es nicht wissen sollte, doch ansieht, daß sie etwas Kräftiges enthalten; in seinem ausgetretenen Flur, in einer Art beständigen Halbdunkels bewegen sich Gestalten, die, mit ihrer ledernen Schürze und wohlgenährten Person von allen menschlichen Wesen am meisten Brauknechten gleichen; und aus dem engen Höfchen kommt ein Malzgeruch, der alles, was man riechen kann, an Lieblichkeit übertrifft. Damit der Leser es wisse: dies ist die Mälzerei des berühmten Patzenhoferschen Brauhauses, das einst in bescheidener Vorzeit, als es seine Paläste draußen am Friedrichshain noch nicht hatte, sich mit solchen Baulichkeiten begnügte an einer Stelle, welche die Traditionen einer priesterlichen Vergangenheit glücklich vereint mit der Erinnerung an Berlins erste und älteste Brauerei. Denn das Andenken an diese aus dem 15. oder 16. Jahrhundert lebt in dem Namen der hier einmündenden Brauhausgasse fort. Klassisch ist der Boden und urgemütlich das Kneipchen, das sich in besagtem Hause zu rechter Hand und ebener Erde dicht bei den Säcken und Pferden und Brauknechten in traulichem Nachbarverhältnis eingenistet hat. Man mag kommen, wann man will, im Sommer oder Winter, ja selbst am hellen Mittag, so brennt Licht in diesem langen, niedrigen Zimmer mit den tiefen Fenstern, und das ist es, was ihm in meinen Augen so sehr zur Empfehlung gereicht; man kann sich immer Gott weiß was einbilden, wenn man sich hier zu seinem Glase niederläßt, und braucht sich nicht vor den fleißigen Menschen zu schämen, die draußen auf der Straße hin- und herrennen. Außerdem stehen hohe Vorsätze vor den Fenstern. Kommt man aber zur Winterszeit hierher, so brennen nicht nur die Lichter, sondern in dem eisernen Ofen in der Ecke prasselt ein gehöriges Feuer, das seinen rötlichen Schein weithin über den Fußboden wirft; und war es nur deshalb, um dieser Zeichen echter Gastfreundschaft willen, so kam ich gerne hierher, obwohl ich eine tüchtige Wegstrecke von nicht viel weniger als einer Stunde zu machen habe, bis ich angelangt bin. Gemütliche Leute verkehren hier – kleine Beamte, vornehmlich des Magistrats, Buchhalter, Kontoristen und Prokuristen der umgebenden Geschäftsgegend, Industrielle der mittleren Ordnung, Advokatenschreiber und sonstige Gelehrte – lauter brave Männer, die hier entweder Mittag halten oder sich zum Mittage vorbereiten, indem sie der rastlos dahinstürmenden Welt ein rühmliches Exempel geben, daß der gute Mensch, sofern er nur will, auch in Berlin und mitten am Tage, wenn das Leben in voller Bewegung ist, immer noch Zeit hat, seinen Frühschoppen zu trinken, eine Hand im Solo zu nehmen, einen kleinen Skat zu spielen oder die Zeche auszuwürfeln. Wenn ich die Knöchel rasseln und fallen höre, während die Mittwintersonne gelblich durch die Scheiben hereinscheint und mit dem Schimmer der Gasflammen sich mischt, dann überkommt mich ein Gefühl der Dankbarkeit, daß es in diesem Jammertal solch traulicher Winkel noch gibt; und mir wird ganz pfäffisch wohl zumut, als ob ich nicht in der Papenstraße zu Berlin säße, sondern in irgendeinem Klosterhof zu München oder Regensburg, deren Heilige ja längst auch die Patrone der großen Brauhäuser geworden sind. Kein Glühlicht, keine Butzenscheiben und allerlei Zierat von Zinn und Schalen und Krügen bringt mich hier in den seltsamen Widerspruch einer künstlich hervorgerufenen Stimmung; und nichts ist hier stilvoll als der Kellner alten Berliner Schlages, der weder eine germanische Jacke trägt noch eine modische weiße Krawatte, sondern am Frack seiner Väter festhält und an große Trinkgelder nicht gewöhnt ist. Indessen beginnt es am Stammtisch stiller zu werden; das Knöcheln verstummt allmählich, die Karten ruhen, einer nach dem andern von den Gästen erhebt sich – »Mahlzeit, meine Herren!« ruft es bald hier, bald dort, das Zimmer wird leer, und in dröhnenden Klängen vom Rathausturme schlägt es eins.

Und nun nach der Idylle die Elegie. Lieber Leser, gib dir keine Mühe, dies Fleckchen irdischen Vergnügens aufzusuchen. Bis du dich in Bewegung gesetzt haben wirst, ist es nicht mehr; ich habe dir's geschildert, wie es in den letzten Tagen seines Daseins war. Wenn du hinkommst, wird die halbe Papenstraße verschwunden, niedergerissen, ein Schutthaufen sein; und wenn du nach ein oder zwei Jahren wiederkehrst, wird wahrscheinlich ein »Prachtbau« stehen, wo das einstöckige Haus mit der weißen Laterne stand, und im Erdgeschoß, an Stelle des unscheinbaren Kneipchens, vielleicht ein »altdeutsches« Bierhaus sein mit elektrischer Beleuchtung und allem, was sonst noch dazugehört.

Aber fürchtet darum nicht, daß ich nun in Klagen ausbrechen und auf den Trümmern des Kleinen Jüdenhofes sitzen werde, wie der Prophet Jeremias auf denen von Jerusalem. Ein Stück bis an das Mittelalter reichender Reminiszenzen ist hier hingegangen, das einzige, welches wir in Berlin hatten; aber es ist kein Jubel darum bei den Heiden, noch großer Jammer bei den Christen oder bei den Juden, welch letztere zumal nicht viel Erbauliches hier erlebten, wo man sie im Kleinen Jüdenhof zusammenpferchte und auf dem Neuen Markt verbrannte. Wenn man liest, was in Rom vernichtet und zerstört wird, so kann man sich über das trösten, was wir in Berlin auf Nimmerwiedersehn verlieren. Wie ein Reinigungswerk ist die Demolierungsarbeit der Kaiser-Wilhelm-Straße durch die schmutzigsten und verrufensten Quartiere von Alt-Berlin mitten durch gegangen und hat sie niedergelegt. Und zum ersten Male jetzt wehte die Luft des Himmels herein, schien die Sonne herab in Gassen und Gäßchen, die vom Unrat der Jahrhunderte starrten und durch Jahrhunderte von den dicht angrenzenden Straßen getrennt zu sein schienen. Da ist nicht viel zu lamentieren. Aber mit dem, was niemand bedauert, wurde doch auch manches zum Untergange verurteilt, was ein pietätvolles Herz weniger leicht preisgeben mochte – so mancher Straßendurchblick, der uns ein letztes Bild gab von dem alten, ehemaligen Berlin – so mancher malerische Winkel, auf den man plötzlich stieß, wie auf den übriggebliebenen Rest einer versunkenen Welt – so manches Haus mit historischem Charakter, welches in unsrer, an Anknüpfungspunkten solcher Art nicht sonderlich reichen Stadt doppelt wertvoll und doppelt unersetzlich war. Wenn man vor vier, fünf Jahren in diesen Teil des rechten Spreeufers kam, so konnte man sich sagen, daß er fast unberührt noch so sei, wie Lessing und Mendelssohn, Ramler und Nicolai denselben gesehen, mit den Häusern, in denen sie gewohnt, und den schmalen Fußsteigen, auf denen sie gegangen. Seitdem ist, beim Alexanderplatz angefangen, eins nach dem andern davon abgebröckelt; und die Kaiser-Wilhelm-Straße mit ihren gewaltigen Bauprojekten hat ihm den Rest gegeben. Nicht zu Zwecken der Verschönerung allein, wie wohl in den meisten übrigen Fällen, hat man hier aufgeräumt und neugeschaffen: sondern es mußte geschehen, wenn dem ungeheuern Wachstum Berlin die freie Zirkulation und Entfaltung gesichert, wenn dem immer stärker anschwellenden Strome seines Verkehrs der Weg gewiesen werden solle. Der erste Faktor in dieser Umgestaltung der Königstadt war die Stadtbahn, und ihr zweiter ist die Kaiser-Wilhelm-Straße.

Von den großartigen Baudenkmälern unsrer Epoche wird, wenn sie vollendet, diese Straße das großartigste sein, in den Augen späterer Geschlechter vielleicht lange noch das erkennbare Zeichen für das Berlin Kaiser Wilhelms, dessen Namen sie trägt. Umgeben von den ehrwürdigen Erinnerungen an den Großen Kurfürsten und den imposanten Architekturen, mit denen Preußens Könige nacheinander ihre Residenz geschmückt, wird sie fast unabsehbar, in glänzender Linie die Linden bis an die Grenzen der Königstadt fortsetzen, den Pariser Platz in beinahe gerader Richtung mit dem Alexanderplatz verbinden und eine Straßenflucht darstellen, wie kaum eine zweite Hauptstadt Europas aufzuweisen hat – mit dem Grün des Tiergartens, durchschimmernd durch die Säulenhalle des Brandenburger Tors, dem Grün der Linden am Anfang, dem Grün des Lustgartens, ernst überragt von den Werken Nehrings und Schlüters, in der Mitte, und nun, mit kühnem Satz das Wasser überbrückend, das Wasser der Spree, sich Bahn brechend in das jenseitige Berlin hinein, und diesen ältesten Teil unserer Stadt, von jeher Sitz der bürgerlichen Arbeit und der bürgerlichen Verwaltung, mit einem Widerschein gleichsam dessen erfüllend, was schön und charakteristisch ist an unsern Königsbauten: mit verzierten Giebeln und Erkern und breiten, kronentragenden Kuppeln, mit kunstvoll verschnörkelten, flachgewölbten Fenstern und Portalen, mit breiten, umgitterten Balkonen und reich ornamentierten Fassaden.

Es werden auch Paläste sein, aber solche des Handels und der Industrie – große Läden, Magazine, Warenlager im Erdgeschoß und ersten Stock und darüber Wohnungen in bequemer Lage. Man konnte nicht eine Luxusstraße bauen wollen in dieser Gegend; die Kaiser-Wilhelm-Straße sollte vor allem einem Bedürfnis dienen: Es sollte durch sie der ungeheuer gesteigerte Verkehr des neuen, mächtig angewachsenen Berlins mit dem Mittelpunkte des alten entlastet werden. Zur Bewältigung desselben gab es bisher nur zwei Zugänge: den gänzlich ungenügenden des Mühlendamms und den auch längst nicht mehr ausreichenden der Königstraße. Die Linden sind zehnmal und einige von unsern Gürtelstraßen über elfmal so breit als diese Straße, die wichtigste Durchfahrt der Königstadt und eine der wichtigsten in Berlin überhaupt; in der Tat, so schmal ist sie, daß an einigen Strecken derselben für die Stunden, wo die Flut des Mittags sich durch sie wälzt und aus den einmündenden Straßen immer neue Nahrung von Fußgängern, Droschken, Omnibussen und Pferdebahnwagen empfängt, der Güterverkehr ganz eingestellt werden mußte. Die Notwendigkeit gebot, einen dritten Eingang zu schaffen, welcher den Anforderungen der Gegenwart und den Voraussetzungen der Zukunft mehr entspräche: Und dies war die Kaiser-Wilhelm-Straße.

Aber sie hatte nicht diese Bestimmung allein.

Der Gedanke der Kaiser-Wilhelm-Straße tauchte gleichzeitig mit dem Beginn der baulichen Umgestaltung Berlins unmittelbar nach dem Kriege von 1870/71 auf – ein Beweis, wie naheliegend er war; aber es dauerte nicht viel weniger als vierzehn Jahre, bevor man ernsthaft an die Ausführung gehen konnte – ein Beweis, welche Schwierigkeiten derselben entgegenstanden. In diesen vierzehn Jahren war Berlin eine neue Stadt geworden; es hatte sich nach Osten und Westen, nach Süden und Norden fast gleichmäßig ausgedehnt, und überall war für die Bewegung einer um das Doppelte vermehrten Einwohnerzahl Raum gemacht; Straßen waren erweitert, Straßen waren durchbrochen worden, und die neuen Vorstadtgebiete wetteiferten in der Zweckmäßigkeit ihrer Anlagen, in allem, was die Gesundheit der Bevölkerung und die Leichtigkeit der Zirkulation bedingt, mit den bevorzugtesten Teilen der Stadt und übertrafen sie noch.

Unberührt von diesem Wandel, der sich vor unsern Augen vollzog, bis wir uns daran gewöhnt hatten wie an das Alltägliche, blieb nur der innerste Kern unserer Stadt, der zugleich ihr ältester ist – Alt-Berlin oder die Königstadt. Ihre Gäßchen und Höfe waren noch so finster und feucht, so schmutzig, höhlenartig und, mitten in einer dezenten Umgebung, von einer solch unsaubern Gesellschaft bewohnt wie vor dreihundert Jahren; und ihre Hauptstraßen, die keinen geringen Teil des Reichtums von Berlin repräsentieren, hatten ein kleinstädtisches Ansehen wie vor hundert Jahren. Alles, die Namen und die Zustände selbst, erinnerte hier an die Vergangenheit. Die Königstraße war nicht breiter als zu der Zeit, wo durch dieselbe Preußens erster König seinen triumphalen Einzug gehalten; die Neue Friedrichstraße nicht viel anders, als sie, mit ihren Nebenstraßen im Spandauer Viertel, aus den Händen von Friedrichs des Großen Baumeistern hervorgegangen war. Dazwischen lag ein Stück Mittelalter, so räucherig wie nur irgendeines – das einzige, welches sich in Berlin erhalten, kein besonders glänzendes oder erfreuliches, welches als Muster hätte dienen, keins, auf welches man seiner historischen Assoziationen oder gegenwärtigen Gestalt halber sich etwas hätte einbilden können. Aber trotzdem, wenn man sich in diese Straßenlabyrinthe begab, übersprudelnd von Leben, wenn nicht ganz so malerisch wie das Ghetto von Rom; wenn man nicht weit von der Stelle, wo das Patrizierhaus der Blankenfelde noch steht und das der Zehlendorf und Ryke gestanden hat, jenen geheimnisvollen, unnahbaren Hintergrund sich erheben sah – denn wer, dem sein guter Name oder nur sein guter Rock lieb war, hätte den Kleinen Jüdenhof mit seinen Dependenzen der Schmalen und der Kalandsgasse oder die Königsmauer, solange sie noch in ihrer Sünden Blüte stand, betreten mögen? –, trotzdem, sag ich, wenn man dies alles zusammennahm, hatte man hier, mitten in diesem völlig modernen oder modernisierten Berlin, was man in dieser Stärke sonst an keinem Punkte desselben haben konnte: das Gefühl eines anderen Jahrhunderts. Man sah es nicht an einem einzelnen Gebäude, man war durchaus von ihm umgeben. Das war es, was die Königstadt in ihrem bisherigen Zustand dem gelegentlichen Wanderer so überaus anziehend, in jeder andern Hinsicht aber ihre Umgestaltung von Grund aus so dringend wünschenswert machte. Die Steine selber, schwarz von Alter und triefend von Nässe, schienen zu rufen: Luft! Licht!

Wo jetzt, als das beherrschende Gebäude dieses innersten Kerns von Berlin, die Zentralmarkthalle steht und mit einem Leben erfüllt ist und einer Sicherheit arbeitet, als ob sie hier, ich weiß nicht, wie viele Jahre oder Jahrzehnte gestanden hätte, da war vor kurzer Zeit noch ein wirrer Knäuel von engen Durchgängen und schmutzigen Straßen, in welche, wie gesagt, weder bei Tag noch bei Nacht ein anständiger Mensch sich gerne wagte. Das Wunder ist nicht, daß alles hier jetzt so sauber aussieht und so hübsch ordnungsmäßig vonstatten geht, sondern daß Sauberkeit und Ordnung so rasch und präzis wie mit einem Zauberschlag aus dem Chaos von Trümmerschutt und Steingeröll emporstiegen, welches wir hier seit dem ersten Beginn von Abbruch und Wiederaufbau – beides immer Hand in Hand – erblickten. Am 3. Mai des Jahres 1886, eine Stunde nach Mitternacht, sollte das Mirakel geschehen, und es geschah; und als wir am andern Morgen in die vom Frühlingssonnenschein durchleuchtete Halle traten, da schwammen die Fische so vergnügt in ihren Kübeln, hingen die großen Braten so verlockend an ihren Krampen, entsandten die Blumen und die Käse so lieblichen Duft, standen die trefflichen Marktweiber, deren Bekanntschaft wir unter den historischen Regenschirmen des Ancien régime gemacht, so würdevoll in ihrem neuen Palast und rollten obenhin die Stadtbahnzüge mit so majestätischem Donner, daß wir demutsvoll die Augen niederschlugen und im Herzen dem Magistrat von Berlin Lob sangen, der dies alles so herrlich vollbracht. Nur eine Barrikade von vielen hundert übereinandergetürmten Rohrstühlen und Holztischen, ein ganzes Arsenal von Messern, Gabeln und landesüblichen Bierseideln in einer Ecke der obern Galerie zeugte noch davon, daß besagter Magistrat nebst allen Stadtverordneten und Bezirksvorstehern von Berlin in der vergangenen Nacht hier gezecht, um das große Werk seiner Bestimmung würdig zu übergeben, bis gegen eins, mit der letzten Minute der Geisterstunde, der entfesselte Strom der Arbeit, der hochbepackten Lastwagen und des ungeheuren, tobenden Zuschauermobs von Berlin in die Halle sich ergoß, der Festlichkeit ein jähes Ende bereitend und die schmausenden Väter gleichsam hinwegschwemmend – ein modernes Nacht- und Phantasiestück in der Manier von E. T. A. Hoffmann, der diese Szene zu sehen geliebt haben würde, wie er ja auch die Gegend zwischen Marien- und Nikolaikirche gut genug gekannt und in seiner Spukgeschichte von der »Brautwahl« vortrefflich geschildert hat.

Dieses indessen, das stürmische Intermezzo, mit welchem Berlin von seiner Markthalle Besitz ergriff, war das einzige Stück, das im Programme nicht vorgesehen; seitdem geht alles seinen gemessenen, geschäftsmäßigen Gang, und nichts mehr erinnert weder an die E. T. A. Hoffmannschen Geister noch an die Kalandsbrüder und sonstigen Ehrenmänner, die einst hier hausten. Es ist alles wie fortgefegt, als ob es niemals gewesen. Haben wir selbst doch Mühe, den Zustand der Dinge, die wir vor wenigen Jahren, ja vor wenigen Monaten noch leibhaftig gesehen, uns zu vergegenwärtigen, den Zug und die Richtung der Straßen, in denen wir so oft gewandert, die Häuser, vor denen wir sinnend so manchmal haltgemacht. Es ist alles weg und dahin; und so kurz ist das menschliche Gedächtnis, daß wir in abermals zehn Jahren nur noch in den Büchern lesen werden, wie es hier ehedem gewesen. Und da der Magistrat, der doch sonst für alles sorgt, nicht dafür gesorgt hat, das, was hier nunmehr verschwunden ist, im Bilde zu verewigen, so will ich wenigstens einige Züge desselben festhalten. Schön waren Jüdenhof und Königsmauer und Kalandsgasse nicht – das weiß Gott; und rühmlich auch war ihre Geschichte nicht: Der Galgen und der Scheiterhaufen spielen eine beträchtliche Rolle darin, und was mit Blut begann, endete mit Unrat und dem lichtscheuen Gewerbe. Dennoch war dieses innerste Stück unserer Stadt ein Teil ihrer selbst, und zwar ein sehr charakteristisches – der einzige und letzte, wiewohl in Schmutz verkommene Rest des Mittelalters – et haec olim meminisse juvabit. Darum hab ich, von dem Moment an, wo das Urteil dieser Gegend gesprochen war, meine Schritte mit Vorliebe derselben zugewandt, bin immer und immer wieder zu ihr zurückgekehrt, habe sie, wie ein unglücklich Liebender, bald in weitem Bogen umkreist, bald, um bei ihren argwöhnischen Bewohnern keinen Verdacht zu erregen, mich durch ihre Gäßlein geschlichen; habe sie in jedem Stadium ihrer unaufhaltsam vorschreitenden Veränderung, bis von allem (einschließlich der gemütlichen Kneipe in der Papenstraße) so gut wie nichts mehr da war, besucht und will nun, was ich nach einer jeden solchen Wanderung mir aufzeichnete und aufschrieb, hier in gedrängtem Auszuge mitteilen. Der Berliner wird sich mit mir auf alles das gern noch einmal besinnen; und wer kein Berliner ist, daraus vielleicht eine Vorstellung gewinnen von dieser merkwürdigen Phase des Berliner Lebens, in welcher das Heute vom Gestern durch einen so tiefen Abgrund getrennt wird, daß nur die Phantasie noch ausreicht, um eine Brücke hinüberzuschlagen. Scheint mir selber doch, indem ich in meiner Erinnerung um kaum zwei Jahre zurückgehe, als ob ich in eine ferne Vergangenheit wandern müßte!

Denn als ich am Abend des 7. Juli 1884 hier ging, da war in ihrer ganzen Länge die Burgstraße noch intakt, da stand noch die alte Militärakademie, welche Friedrich der Große begründet, und gegenüber die alte Schloßapotheke mit ihren gotischen Giebeln und alten Bäumen, und auch die Cavalier- oder Sechserbrücke war noch da, von Fußgängern belebt, die gerade keine Kavaliere waren, aber auch keine Sechser mehr zu zahlen brauchten. Die Heiligegeistgasse, die heute mit den stolzen Gebäuden der Berliner Kaufmannschaft und dem stolzeren Namen der St.-Wolfgangs-Straße prunkt, prangte damals noch mit nichts als ihrer angestammten Baufälligkeit, kaum angenagt von der beginnenden Zerstörung; und das Joachimsthalsche Gymnasium an der Ecke der Heiligegeiststraße, wiewohl Lehrer und Schüler es längst verlassen und in seinen öden Klassenzimmern und Hörsälen sich allerlei Fabrikanten und Handwerksleute niedergelassen hatten, erinnerte doch mit seinem ehrwürdigen Grau noch immer an den Professor der Mathematik und schönen Künste, Sulzer, und die Nachbarschaft von Ramler und Lessing.

[. . . . .]

Frühling und Sommer sind vergangen, und es ist Herbst geworden in Berlin. Wie lieb ich ihn, wenn er mit seinen klaren blauen Tagen und seinem sanften Sonnenscheine naht; wenn der wilde Wein vor meinem Fenster sich purpurn färbt und die Laubmasse des Tiergartens in bunter Pracht zu schillern beginnt – wenn man auch in dieser großen Stadt den Abschiedsblick der Natur empfindet, der so schön und so wehmütig ist, und manchmal schon von Norden her am Nachmittag hoch über unsern Häuptern eine Schar Wandervögel, unsere Sommergäste, dahinziehen sieht und, ihnen mit dem Auge folgend, Träume träumt, die auf keine Erfüllung mehr zu rechnen haben. Und an einem solchen Nachmittage bin ich gern einsam und suche die Gegenden unsrer Stadt auf, in denen ich meinen Gedanken nachhängen kann. Im Gewühl ihrer Straßen verläßt mich dieses stille Herbstgefühl nicht, wenn, langsam und unbemerkt, ein welkes Blatt vor mir auf das Steinpflaster niedertaumelt und ein Streifen Abendlicht die Fronten der hohen Häuser vergoldet, bis wo sie sich im aufsteigenden Dufte der Dämmerung verlieren. Mir übertönt er nicht, dieser Lärm, das Rollen der Wagen, und der hastige Schritt der Menschen, die feierliche Stimme, die vom Werden und Vergehen spricht; ich höre sie überall, hier, in der nimmer rastenden Stadt, wie ich sie einst draußen gehört habe auf der Heide, wo das große Schweigen nur unterbrochen und begleitet wird von dem Murmeln der Quelle, dem Rauschen des Windes und dem Abendliede der Lerche. Mich stört das Werk von Menschenhand nicht: nur um so nachdrücklicher predigt es mir die große Lehre; mich verletzt nicht Eitelkeit, und mich reizt nicht der Triumph eines Tages. Ich habe mein Los mit der Allgemeinheit geworfen und mir nur das Recht vorbehalten, zuweilen nachdenklich stehenzubleiben – mir ist in dieser gewaltigen Stadt mit ihren Hundert- und abermal Hunderttausenden so wohl wie in der Heimat. Was ich dort, vom Berge herab im Anschauen der Abendlandschaft erfahren, das wiederholt sich hier für mich noch täglich. Daß der einzelne nur im beseligenden Gefühle des Ganzen Erfüllung findet und daß es dort die gebundene Natur, hier die rege Fülle des menschlichen Lebens ist, macht dies Gefühl nur stärker, nicht anders. Es ist kein Traum mehr, es ist die Wirklichkeit ergreifender oder erhebender Schicksale, eine lange Kette von Wandlungen, Untergängen und Neubildungen, und indem ich ihnen weit hinaus in die Jahrhunderte folge von dem beschränkten Platz, an dem ich stehe, werd ich ein Teil der Geschichte selber, verkehre mit den Personen und den Dingen, die vor mir gewesen, und kehre bereichert zu denen zurück, die mit mir sind.

Unter solchen Betrachtungen hab ich heute meinen Weg nach dem Schloßplatz und Lustgarten zurückgelegt, der unter der Herbstabendbeleuchtung doppelt reizvoll erschien, alles wie von einem rosigen Schimmer umsponnen. Da stand auch sie noch, die altersgraue Schloßapotheke, aber von ihren Bewohnern schon verlassen und nichts von der gewohnten Tätigkeit mehr darin zu sehen. Verödet hob sie sich hinter dem weißen Bretterzaun, der sie – wie wenn er unsrem Blicke das melancholische Werk der Vernichtung entziehen wolle – rings umgibt. Die alten Bäume, welche den anheimelnden Bau, die fromme Stiftung Katharinas, so lange beschattet, rauschten noch, das Laub vom frühen Herbste schon etwas vergilbt; und hier an einem Bäumchen, einem Ebereschenbäumchen, glühten die roten Beeren. Mehrere Fenster waren aufgebrochen, andre verhängt, und über das ganze Gebäude zog sich jenes Grau von Baustaub, welches so traurig stimmt, wenn ein ehrwürdiger, liebgewordener Anblick darunter verschwinden soll. Hinter der Apotheke, nach dem Wasser zu, waren die Nebengebäude niedergelegt, so daß ich den Hauptbau in seiner ganzen Gestalt, mit Erkern und Giebeln und steinernem Zierat noch einmal sehen konnte – wer weiß, zum letzten Mal; und um Grün und Bauschutt und Trümmerhaufen spielte das Licht der Abendsonne. Noch einmal ging ich über die Sechserbrücke, die nun auch bald nicht mehr sein wird, und gedachte der schönen Mondscheinabende, in denen ich dieses Stück Gotik in Berlin gern gesehen, wenn das freundliche Licht aus den hohen Gewölben so magisch eigentümlich in die Schatten unter den Bäumen fiel und als ich vorwärts blickte, nach der Burgstraße hin, da war keine Kriegsakademie mehr, keine Kleine Burgstraße mehr, kein Durchgangsbogen mehr, keine Heiligegeistgasse mehr – nur noch Ruinen und Brettergerüste und Baukarren, die sich hin- und herbewegten, und Maurer, die mit Spitzaxt und Brecheisen arbeiteten.

 

Zwölf Wochen nachher, ein Tag spät im November 1885; kalter Nebel in der Luft, Reif in den Bäumen, die sich weißlich gegen das dunklere Gemäuer des Schlosses abheben. Gleich vorn an der Burgstraße, nach der Königstraße hin, eine Holztafel mit der Inschrift in großen Buchstaben: »Für Wagen gesperrt« – keine Cavalierbrücke mehr, keine Schloßapotheke mehr, nur noch ein Mauerrest, wo sie gestanden. Auch kein Joachimsthalsches Gymnasium mehr; wo ehemals die alten Straßen und Häuser waren, wandelt man streckenweit zwischen Bauzäunen, hinter denen die Grundmauern neuer Gebäude, den Anfangspunkt der Kaiser-Wilhelm-Straße bezeichnend, emporwachsen. An der Stelle des Joachimsthalschen Gymnasiums erhebt sich in stattlicher Höhe, fast schon vollendet, die neue Warenbörse – Handel und Wandel überall, die Warenbörse, wo Sulzer, die Fondsbörse, wo Ramler war; und dies Gäßchen, in welches Lessing ehemals von seinem Fenster aus hineingeblickt, jetzt zwischen beiden Börsen und mit dem Namen »St.-Wolfgangs-Straße« geschmückt, welchen ich heute zum erstenmal auf dem blauen Schild an der Ecke sehe. Verschwunden ist das ganze Straßenkarree, welches einst von der Kleinen Burg- bis zur Heiligegeistgasse reichte; jedoch auch das, was hier herum in der alten Gegend noch steht, erscheint so bedroht; auf Schritt und Tritt sieht man sich so von Häuserruinen und Brettergeländen umschränkt, daß man sich ordentlich freut, wenn man noch einem der gewohnten Anblicke begegnet – wer weiß, ob nicht auch ihm zum letztenmal? So das Haus Nr. 68 in der Spandauer Straße – das Haus der Mendelssohn. Da steht es noch, wie es gestanden hat vor hundert Jahren; der Baum freilich, unter welchem vor der Türe der gute Mann oftmals sinnend und sorgend in seinen letzten Jahren gesessen, ist nicht mehr da. Doch das Haus mit seinen vier Fenstern Front, seinen zwei bescheidenen Stockwerken und dem Dachkämmerchen darüber, der Schauplatz eines äußerlich stillen, aber an inneren Kämpfen reichen und trotzdem glücklichen Lebens, ist noch unverändert. Dieses Haus, heute gleichfalls am Rande des Abgrundes, der es wahrscheinlich verschlingen wird, nur noch zwei Häuser von dem Straßendurchbruch entfernt, sieht heute wohl mit seinen braunen, stark verwitterten Wänden ein wenig heruntergekommen aus gegen das, was es in meiner eigenen Erinnerung noch war; im Erdgeschoß ist ein Barbierladen, die Haustür steht offen, der Flur ist ausgetreten und die Gedenktafel über der Tür: »Hier lebte und wirkte Unsterbliches Moses Mendelssohn etc.« fast unleserlich geworden. Aber zu seiner Zeit muß es ein freundliches Haus gewesen sein, durchleuchtet von der Sonne des Familienglücks, der Nächstenliebe, der Gastlichkeit; ausgezeichnet durch den Besuch vieler erlauchter Geister und für immer geweiht durch die Gegenwart eines großen und edlen Menschen. Dieses Haus sah die jungen Humboldts zu den Füßen Mendelssohns. Sein vornehmster Schmuck aber war eine Büste Lessings; sie stand über dem Sofa in Mendelssohns Studierstube, deren beide Fenster, eine Treppe hoch, man heute noch erkennt. »Lessings Büste war das erste«, schreibt Elise Reimarus an Jacobi (1783), »was beim Hereintreten mir in die Augen fiel.« Unter ihr, drei Jahre später, saß Mendelssohn, als er den Tod nahen fühlte, und unter ihr ist er gestorben. Guter, frommer, bescheidener Mann! Er war von einer rührenden, einer unsagbaren Bescheidenheit; er, den Goethe »einen unserer würdigsten Männer« genannt hat, nennt sich gegen Michaelis einen Juden, »dessen zeitliche Umstände es erfordern, niemandem, außer sehr wenigen Freunden für etwas mehr als einen Buchhalter bekannt zu sein«. Er stotterte und war bucklig. »Eine leutselige leuchtende Seele im durchdringenden Auge und einer äsopischen Hülle«, so beschreibt ihn Lavater; ein Mensch, »der durch seine Gestalt und sein Gesicht das roheste Herz zum Mitleiden bewegen konnte«, so Professor Kraus in Königsberg. Man hatte Gelegenheit, Bild und Büste dieses seltenen Mannes in der historischen Abteilung der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung (1886) nebeneinander zu sehen und zu studieren. Das Bild war von Graff, dem Maler Lessings und aller andren damaligen Berühmtheiten, die Marmorbüste von Tassaert. Letztere, welche Mendelssohn in seinen späteren Jahren darstellt, zeigt einen höchst ausdrucksvollen Kopf, in welchem die Natur selber der formenden Hand des Bildhauers gleichsam vorgearbeitet hat, eine stark ausgebildete Stirn mit vorspringenden Stirnknochen und eine prononcierte, jedoch nicht unedel gebaute Nase, lebhafte Augen, die noch aus dem Stein zu sprechen scheinen, einen halb geöffneten Mund, welcher dem ernsten Gesicht einen Schimmer, nicht mehr, von Freundlichkeit und Lächeln gibt, tiefe Falten auf den Wangen, drei Furchen über der Nase, wie eingegraben in die Wölbung der hohen, klaren Stirn, und nichts, was an den Juden erinnert, als ein Spitzbärtchen unter dem vorstehenden Kinn. Das Ölgemälde gibt uns den jüngeren Mann, das volle Haar und Bärtchen sind tiefdunkel, die braunen Augen haben einen lichten Glanz, und das ganze Gesicht hat die Farbe der Reife; hier ist der Mund geschlossen, und die Lippen sind aufgeworfen. – »Der klarste und heiterste Kopf, den ich beinah auf einem menschlichen Rumpfe gesehen«, wie Herder es gesagt; und dennoch liegt etwas Wehmütiges in diesem Antlitz, was Herder nicht gesehen, und wenn er es gesehen, vielleicht nicht verstanden hat ...

Nicht weit von diesem Bilde Mendelssohns, in einem andren Saale der historischen Abteilung, hing das seines Enkels, das Porträt Felix Mendelssohn-Bartholdys. Sind die Züge des einen in denen des anderen wiederzuerkennen? Sie sind feiner, die Formen zierlicher, spiritueller, wenn ich so sagen darf, sowohl Mund und Nase; doch das Feuer des geistvoll sprühenden Auges und die breite, schön gewölbte Stirn sind die des Großvaters. Aber welch ein weiter Weg zwischen diesem Moses, der das gelobte Land nur von ferne sah, und jenem Felix, der es betreten! Welch ein Weg von dem kleinen Haus in der Spandauer zu dem palastartigen in der Leipziger Straße Nr. 3, in welchem Felix Mendelssohn-Bartholdy seine beneidenswerte Jugend verlebte. Noch immer, aber nur in Mondscheinmitternächten, wenn das elektrische Licht der Leipziger Straße verglimmt ist, klingt und singt es um dieses Haus und diesen Garten, unter dessen Bäumen Felix Mendelssohn-Bartholdy die Ouvertüre zum Sommernachtstraum komponiert hat und in welchem eine alte Eibe steht, der älteste Baum in Berlin – und dann kommen Puck und die Elfen, Oberon und Titania wohl noch einmal, um die lieben Stätten zu besuchen, und rings um die alte Eibe herum beginnt der Ringelreihn, und in jenen unendlich süßen, neckischen Zaubertönen schallt es weit hinaus in die Stille:

Bunte Schlangen, zweigezüngt!
Igel, Molche, fort von hier!

Und ein zweiter Elfe fällt ein:

Schwarzer Käfer, uns umgebt
Nicht mit Summen! Macht Euch fort!
Spinnen, die ihr künstlich webt,
Webt an einem andern Ort.

Was hilft euch, arme Kinder der Luft, ihr Libellen der Nacht, die grausige, noch dazu sehr anzügliche Beschwörungsformel? Ihr werdet hier nie wieder eine Heimat finden in diesem Haus und Garten, vordem euer Eigentum, und ein Glück noch, daß der dicke Portier schläft, der sonst immer in der goldverbrämten Livree vor der Türe Wache hält. Der würde euch schön jagen mit eurem Gesang! Denn daß ihr's nur wißt, ihr Elfen, dieser euer alter Aufenthalt ist jetzt das Hohe Herrenhaus,Seit 1852, in welchem Jahre das ehemalige Sitzungsgebäude des Herrenhauses in der Oberwallstraße abbrannte. in welchem am 13. April 1886 durch Annahme der Koppschen Amendements der Kulturkampf geschlossen ward. Ihr schüttelt euch, ihr wendet euch ab. Glaubt aber nicht, ihr Elfen, daß es mir um den Kulturkampf leid sei; fürwahr ich bin froh, daß wieder Frieden auf Erden ist und den Menschen ein Wohlgefallen. Aber euer muß ich gedenken, sooft ich dieses Haus sehe; und euer hab ich auch gedacht an jenem 15. Juli des Jahres 1870, als hier, vor versammeltem Norddeutschen Reichstag, Bismarck mit leiser, aber fester Stimme die Kriegserklärung gegen Frankreich verlas. Und nun flieht, ihr Elfen, flieht, flieht! Für euch ist wirklich kein Platz mehr in Berlin.

 

Noch immer, wenn man durch die Nebengassen der Spandauer Straße, namentlich aber durch den Teil der Klosterstraße geht, welcher bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts das »Geckhol« hieß, wird man, wie sonst nirgends in Berlin, ein Überwiegen des jüdischen Elementes gewahr. Hier herum wohnten die Juden, als sie zuerst wieder ein Heim fanden in Berlin. Das Geckhol war nicht ganz das Paradies, aber es war auch nicht mehr das Ghetto. Von hier aus verbreiteten sie sich in die angrenzenden Straßen und gaben ihnen den Charakter, den sie bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. Gestalten begegnen noch da wie aus einer vergangenen Zeit, Greise mit gefurchtem Angesicht und tief herabhängendem, weißem, zweizipfligem Bart, mit kaftanartigem Gewand und schwarzem Käppchen unter dem abgetragenen Hut; aber auch gesetzte Männer in guten Tuchröcken und behaglichen Verhältnissen, feine Köpfe, denen man es ansieht, daß sie sich nicht nur auf den Talmud, sondern ebensowohl auf ihr Geschäft verstehen, und ein junger Nachwuchs, das Erbe der Alten mit einem gewissen neu hinzugekommenen Zuge verbindend, der, von allem, was ich kenne, der »Salomonischen Weisheit« auf dem berühmten Bilde von Knaus am meisten gleicht.

Das Geckhol war ehemals eine Sackgasse, dicht an der Stadtmauer und dem Kleinen Jüdenhof; der Name (Geck halt!) bezeichnete mit jener dem Mittelalter eignen plastischen Kraft des Ausdrucks, was anderwärts in unsrer Stadt »Bullenwinkel« hieß und sonst auch in norddeutschen Städten »Burstah« (Bauer steh! bleib stehen, denn da geht es nicht weiter) oder »Kehrwieder« genannt ward, wie einer von den malerischen Punkten in dem nun gleichfalls verschwundenen Gassengewirr von Hamburgs Hafen.

Man erkennt ihn noch in seiner Gestalt, diesen sich verengenden Streifen der Klosterstraße, welcher sich jetzt nach der Neuen Friedrichstraße öffnet; man erkennt ihn aber auch aus seiner Einwohnerschaft, die sich vornehmlich, wie die der ganzen Nachbarschaft, aus dem mittleren und orthodoxeren Teile der jüdischen Bevölkerung von Berlin zusammensetzt. Hier sind jüdische Garküchen und jüdische Cafés – ein »Koscher Grand-Restaurant« und ein »Koscher Frühstückslokal mit französischem Billard« – hier hängen zur Herbstzeit fette Gänse heraus und das ganze Jahr durch magere Hühner; hier lebt noch das Andenken des seligen Frank, eines Mannes, berühmt wegen seines guten Mittagstisches, seiner zivilen Preise und unerhörten Grobheit. Jeder richtige Berliner, welchen Glaubens er auch sei, kennt das geflügelte Wort: »Gorkensalat ist auch Kompott«, ohne vielleicht zu wissen, daß es vom seligen Frank aus der Heiligegeistgasse stammt. Überall an den Läden sieht man hebräische Inschriften; an einem »Rasier-, Frisier- und Haarschneidecabinet« in der Rosenstraße zum Beispiel unter dem deutschen Firmenschild in den besten hebräischen Lettern von rechts nach links die Worte: »Hier wird gezwikkt« (denn ein »ck« gibt es im hebräischen Alphabet nicht, und die frommen Juden lassen sich auch heute noch nicht mit dem Messer rasieren, sondern nur mit der Schere zwicken). Hier sind hebräische Buchläden, deren Schaufenster die Lithographien berühmter Rabbinen in Käppchen und Ornat füllen, und Geschäfte, in denen man alle zum jüdischen Gottesdienst gebräuchlichen Gegenstände erhält. Hier endlich, in der Heidereitergasse, steht die älteste Synagoge, die vom Jahre 1714, »die alte« genannt, im Gegensatz zu der »neuen« in der Oranienburger Straße, der Synagoge der Reformgemeinde, hoch über ihrem Portal in Lettern von Erz das Wort des Propheten, Ezech. XI, 16: »Ja, ich habe sie fernweg unter die Heiden lassen treiben«; und hier, der jüdischen Mädchenschule gegenüber, aus welcher um die Mittagszeit die kleinen Töchter Israels nicht minder laut und lustig heraus springen als ihre christlichen Altersgenossinnen aus irgendeiner andren Gemeindeschule von Berlin, liest man über der Tür eines ziemlich unscheinbaren Hauses die Inschrift: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht. Ev. Marc. X, 15.« – Und wer also, zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, dieses enge Gäßchen durchwandelt, der mag vielleicht jener Kirche des römischen Ghettos, der Santa Maria del Pianto, sich erinnern, die mit ihrem funkelnden Kreuz die hoch beim Palaste der Cenci, dem Marcellustheater und Bogen der Octavia gelegene Synagoge noch überragt und ihr in einem hebräischen Bibelvers – einem seltenen Schmuck an einer römischen Kirche! – die ganze Verstocktheit der Juden entgegenhält. Hier aber in Berlin ist es so nicht gemeint. Das kleine Haus in der Heidereitergasse, das Vereinshaus für Innere Mission, ist zugleich eine Kleinkinderbewahranstalt; friedlich und freundlich schaut der Prophet zum Evangelisten hinüber, die beide ja desselben Stammes sind, und ich glaube nicht, daß sie – wenigstens sie nicht – etwas dagegen hätten, wenn die Kinder von hüben und drüben miteinander spielen wollten.

Der Synagoge in der Heidereitergasse sieht man ihr Alter nicht an; nichts Spinnenwebartiges, Finsteres oder Staubiges ist in ihr. Neuerdings restauriert, glänzen ihre Wände von Weiß, der Sonnenschein dringt durch bunte Scheiben, und schön getäfelt ist die Decke. Doch der Gottesdienst bewegt sich in den alten strengen Formen; hinter kostbaren Vorhängen, wie Heine sie geschildert, birgt sich das Allerheiligste, darüber die Gesetzestafeln mit zwei vergoldeten Löwen als Schildhaltern und die siebenarmigen Leuchter davor, gleich den Leuchtern des Tempels von Jerusalem auf dem Triumphbogen des Titus über dem Forum von Rom; und Gesänge hört man hier, uralte, vor tausend Jahren gedichtet an den Ufern des Ebro, Melodien, meist in Moll, jener Tonart der Sehnsucht und Klage, nur selten durchblitzt von einem Aufschrei der Lust, aber immer kraus und phantastisch durchflochten von den Reminiszenzen der Länder, welche dies Wandervolk auf seinem Fluge gestreift.

Von nun ab jedoch geht die große Wandlung des 18. Jahrhunderts mit ihm vor, und mehr als irgendeine andere wird auch für die Juden Berlin die Stadt der Aufklärung. Sie haben hier spät eine Heimat gefunden, und lange noch bleiben sie Fremde, gänzlich außerhalb des eben mächtig erwachenden geistigen und politischen Lebens der Nation. Aber mit überraschendem Verständnis und der ihnen eigenen Gabe der Anpassung treten sie sogleich in diese Bewegung ein, als der Führer sich gefunden. Dieser Führer war Moses Mendelssohn, der Freund Lessings und der warme Bewunderer Friedrichs – er, der, glücklicher als der Dichter der »Minna von Barnhelm«, seinem großen König einmal Angesicht in Angesicht gegenübergestanden. Die Juden haben ein Gebet, welches sie verrichten beim Anblick eines gekrönten Hauptes, wie wenn gleichsam der Abglanz Gottes auf ihm ruhe. Von diesem Abglanz etwas fiel auch auf die Juden von Berlin, seitdem, an einem Samstagmorgen, Moses Mendelssohn die königlichen Gemächer von Sanssouci betreten. Ein neues, starkes Gefühl erwacht in ihnen, die bis hierher nur die Liebe zu ihrem Gott und zu ihrer Familie gekannt: die Liebe zum Vaterlande. Wir sehen sie geistig wachsen und sich entfalten unter dem ersten Sonnenschein, der ihnen zuteil wird, nachdem sie, ungezählte Geschlechter lang, in der Dunkelheit und Enge geweilt. Wir sehen einzelne von ihnen mehr in den Vordergrund der Öffentlichkeit hinaustreten, in das politische Leben eingreifend und mit einer Art offiziellen oder offiziösen Charakters bekleidet, wie jenen Veitel Ephraim, dessen Andenken und Name freilich nicht über jedem Zweifel erhaben sind. Seine Münzunternehmungen sind bekannt; bekannt auch, daß der ehrliche Moses Mendelssohn sich indigniert von dem Glaubensgenossen abwandte, der sich durch solche Spekulation bereichert. »Schlecht Geld ist es ohnedies«, schrieb (2. Oktober 1762) Lessing an Madame Nicolai, »herzlich schlecht, so schlecht, daß man sich ein Gewissen daraus machen muß, seine alten Schulden damit zu bezahlen.« Dennoch ist der Mann vielleicht nicht ganz so schlimm wie sein Ruf; was er tat, das tat er zumeist im Auftrag und immer mit Wissen und Willen des Königs, der den größeren Gewinn aus dieser ephraimitischen Münzverschlechterung zog; und was man dem König verzieh, dafür sollte man den Juden nicht verantwortlich machen. Es war die moderne Gestalt des Hofbankiers, der in einem früheren Jahrhundert Hofjude gewesen, wie der unglückliche Lippold, der in einem ähnlichen Vertrauensverhältnis zu Joachim II. gestanden und deswegen – verbrannt wurde. Diesem dagegen, Veitel Ephraim, ging es sehr wohl auf Erden und in Berlin. Er hatte neben seiner »Silberraffinerie«, gewaltigen Schmelzwerken, in denen an die tausend Menschen arbeiteten, einen prachtvollen Garten am Schiffbauerdamm, in welchem sechs Kolossalstatuen von Schlüter standen: Merkur, Juno, Bacchus, Flora, Leda, Venus, ursprünglich bestimmt, die Balustrade des königlichen Schlosses zu schmücken, und ein schönes Landhaus im Barockstil, welches von einer riesigen Platane beschattet ward. Alle diese Herrlichkeit ist lange dahin, seitdem die vormals ländliche Gegend des Schiffbauerdamms sich mit den Häusern der Friedrich-Wilhelm-Stadt bedeckt hat; wo der Garten Ephraims war, ist jetzt ein Stätteplatz, zwischen dessen aufgestapelten Ziegelsteinen, Kalk und Holz man vor einigen Jahren noch das wunderlich geformte Dach des Gartenhauses einsam und verloren hervorragen sehen konnte, wenn man mit einem Zuge der Stadtbahn daran vorüberfuhr.

Völlig erhalten dagegen und noch immer eine Sehenswürdigkeit im alten Berlin ist das Palais, welches Ephraim sich an der Poststraßen- und Mühlendamm-Ecke durch den Oberbaudirektor Diterichs (1762) aufführen ließ. Lange hieß es »das Ephraimsche Haus« und wird heute noch von alten Berlinern so genannt. Ein Rokokobau von mächtigem Umfang, die Front in schöngebildetem Halbbogen die Ecke nach beiden Seiten abrundend, der mit feinem Gitterwerk aus Schmiedeeisen und zierlichen Gruppen aus Sandstein reich geschmückte Balkon von acht Säulen, mächtigen Monolithen, getragen, welche, ein Geschenk Friedrichs, von dem während des siebenjährigen Krieges zerstörten Gräflich Brühlschen Schlosse zu Pforten herrühren sollen. In dem geräumigen, hochgewölbten Flur erblickt man eine stattlich breite Treppe mit einem gleichfalls höchst kunstvoll gearbeiteten Eisengitter. Er war ein Mann von Geschmack, dieser Ephraim, und der zu leben wußte. Seine Gemäldesammlung, in welcher sich ein Salvator Rosa, ein Caravaggio, ein Domenichino, zwei Poussins befanden, machte dem Kunstsinn Ephraims Ehre. Jetzt bildet sein ehemaliges Palais eine Abteilung des Polizeipräsidiums, mit dem Büro für das Paß- und Fremdenwesen, für Gesindeangelegenheiten, für verlorene und gefundene Gegenstände; jetzt steht der Berliner Schutzmann im Hausflur, und vor der Türe spielt sich manch eine ergreifende Szene Berliner Lebens ab – eine Dame ganz in Schwarz, heftig schluchzend und das Taschentuch gegen die Augen gepreßt, sitzt in einer Droschke. Was mag sie verloren, wonach hier gefragt haben und welcher Bescheid ihr geworden sein? Anders vor hundert Jahren, als an diesem Säulenportal die Equipagen vornehmer Herrschaften hielten, einmal auch die Friedrichs des Großen – ein Besuch, der den beglückten Ephraim teuer zu stehen kam. Denn der König, erstaunt über die Pracht dieses Hauses, legte dem Eigentümer desselben sofort eine starke Kontribution zugunsten – ich habe vergessen, welchen militärischen Instituts in Potsdam auf; es war einer von den kleinen »praktischen Scherzen«, in welchen der Alte Fritz auch so groß war. – Die Hinterseite des Gebäudes ist der Spree zugekehrt, und durch einen Torbogen desselben gelangt man in einen der originellsten Winkel und an einen der hübschesten Ansichtspunkte von Berlin. Hier sind die Dammühlen, neue, massive Werke jetzt, zwischen denen aber hier und dort eine verwitterte Wand des alten Mühlendamms noch hervorlugt. Wie manchmal an einem Sommertage, Mittag oder Abend, bin ich hierhergekommen, um in einer von den Einbuchten der Brücke zu stehen beim Klappern der Mühlen und Rauschen der Wasser, welches einen gar eigentümlich ländlichen Eindruck macht, hier, mitten in der Altstadt von Berlin, der Geruch von Mehl vermischt mit dem Geruch von frisch gemähtem Gras, von Heu, Korn und sonstigen Zerealien; denn hier, neben den Mühlen, sind mehrere große Produktenhandlungen, vor deren Einfahrten man hochbeladene Wagen sehen kann, wie vor den Scheunen der Landleute. Kehrt man sich aber um, so hat man ein überraschendes Bild: im Vordergrund das Wasser der Spree, welches hier ungewöhnlich erregt mit Schaum und Wellen unter der Brücke hervorstrudelt, um dann in breitem Strome ruhig nach der Kurfürstenbrücke weiterzufließen, Böte, Fischbehälter, Kästen, Netzhaken und Körbe leise schaukelnd auf der schillernden Flut; links ein paar Fabriken und das giebelverzierte Gemäuer des alten Marstalls; rechts, überragt von den beiden Türmen der Nikolaikirche, die Häuser der Poststraße, manche von ihnen sehr alt, mit Tonnengewölben und steinernen Kreuzbögen an der Decke, dicht aneinandergedrängt, mit wildem Wein bewachsen, von Baumwipfeln umlaubt, mit Gärten bis an das Wasser; und weit hinten im violetten Licht die graue Masse des Schlosses mit weiß verhängten Fenstern und auf der Langen Brücke, wie losgelöst vom Postament, mit seinen dunklen, kräftigen Umrissen in den goldnen Abendhimmel gezeichnet, das Reiterbild des Großen Kurfürsten, zu dessen Füßen sich, von der untergehenden Sonne bestrahlt, Wagen und Menschen unaufhörlich hin und her bewegen. So daß, alles zusammengenommen, Veitel Ephraim sich eine gute Stelle für sein Haus ausgesucht, wenn er – wie ich vermute – nicht nur ein Auge für die Schönheiten der Kunst und Natur, sondern auch Sinn für die Schönheiten unserer Stadt gehabt hat. Sein Neffe und eine Zeitlang Kontorist in seinem Geschäfte war jener Ephraim Kuh aus Breslau, welchen Berthold Auerbach zum Helden seines Romans »Dichter und Kaufmann« gemacht hat; und unter dem Namen Ebers und Eberty haben seine Nachkommen hohe, sowohl literarische als städtische Ehren gewonnen.

Welch ein ungeheurer Umschwung in weniger als einem Menschenalter! Als Mendelssohn, ein Knabe von vierzehn Jahren, in Berlin einwanderte, ward ein Mitglied der israelitischen Gemeinde (man sagt, ein Vorfahr des Herrn von Bleichröder) aus derselben ausgestoßen, weil ein deutsches Buch in seinen Taschen gefunden worden; und dreißig Jahre später stand in Mendelssohns Kontor Klopstocks »Messias« neben dem Neuen Testament in Luthers Übersetzung.

Schon die zweite Generation jener Berliner Juden des 18. Jahrhunderts beginnt die freien Höhen hinanzuklimmen, auf denen das, was der Mensch glaubt oder nicht glaubt, keine Scheidewand mehr ist; das Vorurteil auf der einen und der anderen Seite scheint in den niederen Schichten zurückzubleiben. Die feineren und bevorzugteren Naturen unter ihnen wissen sich bald eine Stellung in der Berliner Welt zu verschaffen, und ein nicht unwesentlicher Einfluß auf die Entwicklung derselben in den siebenziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geht von jüdischen Häusern aus. Zu den besten und geachtetsten unter denselben gehörte das von Daniel Itzig, der lange Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Berlin war und seit 1765 ein schönes, vom Baron Verzenobre (1734) nach dem Modell des Hotel de Soubise in Paris erbautes Palais an der Burgstraßenecke besaß, auch dieses mit den kostbarsten Gemälden geschmückt. Sein Sohn Isaak Daniel, nachmals Ober-Hofbauquartier- und Chausseebau-Inspektor, war unter den Zuhörern der »Morgenstunden« bei Mendelssohn, und von seinen zahlreichen, durch Schönheit und Talent namentlich für die Musik ausgezeichneten Töchtern heiratete eine den vortrefflichen, philosophisch gebildeten David Friedländer, und zwei andere wurden die Baroninnen Eskeles und Arnstein in Wien. Es fehlte damals in Berlin durchaus an einem gesellschaftlichen Mittelpunkte; nicht einmal der Hof bildete im heutigen Sinne des Wortes einen solchen. Der erste, welcher, wenn auch unter höchst bescheidenen Verhältnissen, »ein Haus« machte, war Moses Mendelssohn: philosophische Symposien, bei welchen den Gästen die Rosinen und Mandeln zugezählt wurden. Wer die Memoiren der Henriette Herz kennt, der weiß, wie frugal es überhaupt in all diesen geselligen Zusammenkünften herging. Aber eine neue Erscheinung verlieh denselben ihren vornehmlichen Reiz: Es waren die schönen und geistreichen Jüdinnen von jenem eigenartigen, ganz spezifisch berlinischen Typus, der seitdem und mit ihnen ausgestorben zu sein scheint. Sie waren von einer umfassenden Bildung und aufrichtigen Teilnahme für die höchsten geistigen Interessen, fähig, ihnen zu folgen, und ernst, die würdigen Genossinnen bedeutender Männer – so die Tochter Mendelssohns, Dorothea, die Gemahlin Friedrich Schlegels und die Mutter Philipp Veits; so Rahel, die Gemahlin Varnhagens von Ense, so vor allem Henriette selber, die Gemahlin des trefflichen Hofrats Marcus Herz, eines der angesehensten Ärzte jener Zeit, der es sich aber zum höheren Ruhme schätzte, der Schüler Kants zu sein. Diese Frauen schufen in der damaligen Öde, welche dem Tode Friedrichs voranging und nachfolgte, jene Kreise, welche so wichtig geworden sind nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Literatur und das öffentliche Leben; Vereinigungen, in welchen die kühn aufstrebenden Männer und Jünglinge um die Wende des vorigen Jahrhunderts die Anregung suchten und fanden, die ihnen sonst überall in Berlin versagt geblieben wäre. Der junge Alexander von Humboldt datierte seine in hebräischen Lettern an Henriette Herz aus Tegel geschriebenen Briefe: »Schloß Langeweile«; und in einem Schreiben an dieselbe, in welchem er ihr einen jüdischen Freund empfiehlt, nennt Jean Paul Berlin »die hohe Schule seiner Glaubensgenossen«. Diese Kreise hegten und verbreiteten zuerst das, was man den Goethe-Kultus genannt hat; aus ihnen ging das Morgenrot der Romantik auf, und ihre späten Nachklänge konnten Börnes und Heines Anfänge noch erreichen. Die Macht dieser Frauen bestand in dem Zauber ihrer Persönlichkeit, stark genug, um alle Unterschiede des Ranges zu verwischen. Die jüngeren Elemente der höheren und höchsten Stände fühlten sich unwiderstehlich von ihnen angezogen. Mischehen, außer den bereits genannten, waren nicht selten in jenen Tagen. Marianne Meyer, Tochter eines jüdischen Kaufmanns, ward in morganatischer Ehe die Gemahlin des damaligen österreichischen Gesandten, des Fürsten Reuß, nach dessen Tode der Kaiser sie zur Frau von Eybenberg machte; und ihre Schwester heiratete einen Herrn von Grotthuis. Welch eine Schar illustrer Namen, wenn wir nur an den Salon der Frau Henriette Herz denken, dieser schönsten, gütigsten und sympathischsten all jener Geistreichen, die, wie Scherer von ihr gesagt hat, »Klarheit und Reinheit um sich verbreitet« und vor deren Porträt in der historischen Abteilung unserer Jubiläumsausstellung wir gerne haltgemacht haben, versunken in die Betrachtung ihrer großen dunklen Augen, ihrer weichen Lockenfülle und ihres unsagbar lieblichen Gesichtes. Und um sie gruppiert oder einer nach dem andern an ihr vorübergehend die Schlegel, Karl Philipp Moritz, Mirabeau, Gentz, Frau von Genlis, die Humboldt, Jean Paul, Prinz Louis Ferdinand, Frau von Staël und zuletzt noch Schiller und Goethe. So weit, so groß war der geistige Horizont dieser seltenen Frau, welche von sich sagen konnte, »sie habe den glänzenden Stern Goethes auf- und untergehen sehen«. Und da war noch einer, der fast jeden Abend den weiten Weg von der damals noch so gut wie unbebauten Chausseestraße (zu der Zeit: Oranienburger Chaussee) nach der Neuen Friedrichstraße zurücklegte, mit einem brennenden Laternchen eingehakt in ein Knopfloch seines Rockes; denn damals gab es auf der Strecke noch keine Straßenbeleuchtung in Berlin. Der Mann war Prediger an der Charité und sein Name – Schleiermacher.

Die Zeiten sind vergangen und die Häuser verschwunden. Verschwunden ist das Haus der Herz; verschwunden auch, infolge des Durchbruchs der Kaiser-Wilhelm- und der Erweiterung der Neuen Friedrichstraße, das Haus der Beer, in welchem Michel Beer und Meyerbeer geboren worden sind und in ihrer Jugend gewohnt haben. Verschwunden ist das Haus der Veit und der Ries, der beiden vornehmsten jener ersten Wiener Einwanderer unter dem Großen Kurfürsten. Einsam nur noch, zwischen all diesen Ruinen, steht das Haus der Mendelssohn, aus welchem so viel Licht hervorgegangen ist und in welchem, lange bevor Mendelssohn es besaß und mehrere Jahre bevor sie sich kennenlernten, Lessing gewohnt hat. Es war damals, was es heute wieder ist, ein Mietshaus, in welchem die Vögel aus- und einflogen; hier, während seines ersten Berliner Aufenthalts (1748-1751), lebte Lessing zusammen mit seinem Vetter Mylius, dem Freigeist, und hier auch haben wir es zu suchen, sein stilles Zimmer: »Das nie der Neid besucht und spät der Sonne Schimmer« ...

Wunderbare Fügung, daß hier in demselben Hause, wo der jugendliche Lessing, zum erstenmal angeregt durch die bis dahin ihm fremde Umgebung, sein Lustspiel »Die Juden« verfaßte, der Mann leben und sterben sollte, dessen Bild ihm vorschwebte bei seinem edelsten und reifsten Werke – »Nathan der Weise«.

Fortan kann man sie sich nicht mehr getrennt vorstellen diese beiden, ihn, den großen Dichter und Kämpfer, und den andern, den sanften, zurückhaltenden, von der Natur selber stiefmütterlich behandelten Juden. Man dachte bald nach seinem Tod ernstlich daran, ihm ein Denkmal zu errichten, welches – man wird staunen, wenn man es heute hört – auf dem Opernhausplatz stehen sollte. Welch eine Figur würde der arme Weltweise dort auf dem unterdes zum Mittelpunkte des eleganten und modischen Berlins gewordenen und der militärischen Glorie Preußens gewidmeten Platze spielen, zu unser aller Betrübnis! Ein Komitee bildete sich, und eine Gedächtnisfeier wurde veranstaltet, für welche Ramler eine Kantate dichtete. Der Plan kam dennoch nicht zur Ausführung, und wir können, ganz abgesehen von dem Platze, sagen: glücklicherweise. Wenn Denkmäler einen Sinn haben, wenn sie, mit einiger Aussicht von der Nachwelt anerkannt zu werden, der Ausdruck der öffentlichen Meinung und nicht nur das Zeichen persönlicher Begünstigung sein sollen, so war Mendelssohn kein Mann dafür. Nicht einmal sein Name, was allerdings weniger begreiflich ist, hat an dem Friedrichsdenkmal eine Stelle gefunden. Aber in dem Standbilde, welches nicht weit von dem Standbilde Goethes im Tiergarten Lessing erhalten soll, wird auch das Andenken Mendelssohns mit geehrt werden. Ich weiß nicht, da bis jetzt Entwürfe nicht vorliegen, ob an eine direkte Beziehung auf Mendelssohn in irgendeiner Weise gedacht ist.Das, was mir hier vorgeschwebt, ist unterdessen an dreien der Konkurrenzentwürfe zum Ausdruck gekommen: an dem von Otto Lessing (Büsten von Kleist, Nicolai und Mendelssohn in Nischen am Sockel), Börmel (Kant und Mendelssohn in ganzer Figur sitzend, links und rechts unter dem Sockel), Eberlein (Mendelssohn und Nicolai, Reliefporträts); und es ist demnach gegründete Hoffnung vorhanden, daß der mit der Ausführung des Denkmals betraute Künstler, Otto Lessing, der Urgroßneffe Gotthold Ephraims, den oben ausgesprochenen Gedanken verwirklichen werde. (Notiz vom 29. Januar 1887, dem Tag, an welchem das Komitee für Errichtung eines Lessing-Denkmals in Berlin seine Entscheidung getroffen.) Es würde dies nach meiner Ansicht sehr schön, sehr passend und ein Akt später Gerechtigkeit sein; obwohl es dessen nicht einmal bedürfte, damit auf diesem Boden von Berlin der Anblick Lessings auch den vergegenwärtige, der niemals ein Denkmal haben wird, außer dem im Herzen seiner Glaubensgenossen. Für sie jedoch hat auch der Name Lessings eine tiefere, viel mehr noch als bloß literarische Bedeutung. Die Juden, und namentlich die der strengeren Observanz, blicken von allen deutschen Schriftstellern auf ihn mit einem Gefühle der Dankbarkeit, welches sich nur zu wohl erklärt. In den Studierstuben ihrer Rabbinen und Schriftgelehrten sieht man neben dem Bilde Mendelssohns das Bild Lessings; und wenn ein frommer Jude das Theater besucht, so wird es gewiß eines von Lessings Dramen sein, das er sich auswählt. So ist es heute, so war es schon vor hundert und mehr Jahren, wo ein gewisser stud. theol. Joh. Gottfr. Kirsch aus Leipzig (d. d. 19. November 1767) an Lessing schreibt, daß er in die erste Vorstellung der »Minna von Barnhelm« geraten, ohne zu wissen, was aufgeführt werde. »Gleich bei meiner Ankunft im Parterre aber«, schreibt er, »finde ich eine Bank voll Juden. Ha! dachte ich, ohnfehlbar wird heut ein Stück von Herrn Lessing gemacht.«

Die Kunde daher, daß Lessing ein Denkmal in Berlin gesetzt werden solle, ging wie ein Lauffeuer durch die gesamte jüdische Welt und bewegte sie bis tief in den Orient hinein. Reichlich strömten gerade von dieser Seite die Beiträge herbei; sie kamen aus Rußland und der Türkei, sie kamen sogar aus Asien. Sie alle kannten Lessing und schätzten ihn hoch als den Freund Moses Mendelssohns und den Dichter des »Nathan«.

An Mendelssohn selber aber erinnert in Berlin kein sichtbares Zeichen mehr als sein Haus und sein Grab.

Unter dem grauen Novemberhimmel stehe ich vor einem beträchtlichen Gebäude der Großen Hamburger Straße, dessen Glocke ich nicht ohne ein gewisses Zagen berühre. Das Haus ist die Jüdische Alter-Versorgungsanstalt, das daneben die Jüdische Knabenschule, und beide zusammen begrenzen den ältesten, nunmehr schon lange geschlossenen Jüdischen Friedhof, welcher ein weites, offenes Terrain zwischen den benachbarten Quartieren der Großen Hamburger und Rosenthaler Straße bildet und gegen Norden an den gleichfalls längst geschlossenen alten Sophienkirchhof stößt – dort sind von literarischen Zeitgenossen Ramler und die Karschin, hier ist Moses Mendelssohn bestattet worden.

Zögernd nur, wie ich sie gezogen, meldet die Glocke mich im Innern an; undeutlich durch das Wagengerassel, das in diesen Straßen nicht aufzuhören scheint, vernehme ich nahende Schritte, die Tür wird mir von einer freundlichen Dame geöffnet, und noch bevor ich den Friedhof betrete, mache ich die Bekanntschaft ihres Oheims, des Herrn Friedhofsinspektors Landshuth. Der Herr Inspektor ist ein Mann von neunundsechzig Jahren und das Bild eines anspruchslosen jüdischen Gelehrten. Die Fenster seines Studierzimmers gehen nach dem Friedhof; die eine Wand ist ganz mit Büchern und Schriften bedeckt, an der anderen hängen zahlreiche größere und kleinere Porträts jüdischer Berühmtheiten, den Ehrenplatz in der Mitte nebeneinander haben Lessing und Mendelssohn. Namentlich mit dem letzteren hat der Herr Inspektor sich viel beschäftigt; er ist noch einer von denen, die fest an den Mendelssohnschen Ideen hängen, und er zeigte mir einen Kasten, der voll von teilweise noch ungedrucktem Material zur Geschichte Mendelssohns ist. Hier, mitten in Berlin, in einer seiner bevölkertsten Gegenden, lebt dieser Mann, wie weit von ihm geschieden, ein Leben der Vergangenheit. Er lebt mit seinen Toten, und seine Toten leben mit ihm; er lebt mit ihnen wie in einer großen Familie, ist vertraut mit jedem Grabstein, hat viele von den ältesten überhaupt erst wieder aufgerichtet, deren Inschriften entziffert, manche ganz neu wiederhergestellt und hält sie alle in musterhafter Ordnung. Er kennt genau die Geschichte jedes einzelnen dieser unzähligen Toten, von denen nichts mehr ist als ein eingesunkener Hügel und ein Name, die vielfachen Familienverzweigungen bis auf den heutigen Tag, ihre ehemaligen Wohnstätten und deren Veränderungen im Laufe der Zeit. Auf diesem Friedhofe ruhen die Väter der jetzigen jüdischen Gemeinde von Berlin, sie, die vor zweihundert Jahren aus Wien kamen; die Vorfahren aller gegenwärtigen Größen jüdischen Ursprungs und unter ihnen nicht wenige, deren Nachkommen, ihrem jüdischen Ursprung entfremdet, hohe Stellungen im Staat und in der Beamtenwelt einnehmen. Aber für den Herrn Inspektor gehören sie noch immer zur Familie, und mit derselben Liebe und Pflege hegt er ihr Gedächtnis.

Er gibt mir das Geleit bis an den Eingang des Friedhofs; denn der Boden ist feucht und die Luft zu rauh für den würdigen Greis.»Sie müssen wiederkommen«, sagte mir beim Abschied der biedre Alte, »wenn die Gräber grün sind und die Fliederbäume blühen«, und ich versprach es ihm. Aber ich kann das einmal Versäumte nun nicht mehr nachholen: Am Mittwoch, 23. März 1887, ist auch er zu seinen Vätern versammelt worden. Und nun bin ich allein unter diesen Toten. Der älteste Grabstein ist von 1672, der zweite von 1675, und bis zum Jahre 1827, wo der neue, nunmehr auch geschlossene Friedhof vor dem Schönhauser Tor angelegt wurde, war dieser die einzige Begräbnisstätte der Gemeinde. Gegen zwölftausend Tote ruhen auf ihm. Die Juden haben einen schönen Ausdruck für einen Friedhof; sie nennen ihn den »guten Ort« – und er war es wohl jahrhundertelang für sie der Ort, aus welchem sie nicht mehr vertrieben werden konnten. Ein jüdischer Friedhof, wenn er nicht etwa jene Art schauerlicher Romantik wie der Prager hat, bietet dem fremden Besucher wenig Anziehendes. Es ist nur die düstre Seite des Todes, die er zeigt; er verhüllt nichts durch freundlichen, zu den Sinnen sprechenden und sie beruhigenden Schmuck. Aber was die Pietät für die Gestorbenen betrifft, so möchte ich wohl in Berlin vergeblich einen andern Friedhof suchen, wo man ihr Andenken über zwei Jahrhunderte hinaus in gleicher Weise liebevoll erhalten hat. Mehr als dreitausend von den alten Grabsteinen sind ermittelt, renoviert und zum Teil wieder aufgerichtet worden. Die tiefe Melancholie des Herbsttages ruht auf dieser stillen Stätte voll aufrecht stehender Steine, mit kahlen Bäumen dazwischen und welkem Laub, aufgehäuft über den eingesunkenen Gräbern. Ringsum ist der Friedhof von einer Mauer und von Häusern eingeschlossen, durch den Nebel herein schaut der hohe Turm der Sophienkirche, und dumpf, mit den Geräuschen aus den umgebenden Gebäuden, mischt sich der Lärm der Stadt. Vorn an der Mauer, wo früher der Eingang gewesen, sind die Gräber der Rabbinen und dann, in einer großen Gruppe zusammen, die der ersten Einwandrer aus Wien. Viele von diesen Grabsteinen sind sehr zierlich ausgehauen, mit Säulenknäufen und Blumengewinden – dem spärlichen Zierat, welchen das jüdische Ritual den Toten gestattet. Hier und dort sieht man die segnend zusammengefügten Hände der Priester, die Gießkanne der Leviten. Auch der Löwe findet sich, um anzudeuten, daß der Name des hier Bestatteten Jehudah gewesen – denn Jehudah heißt Löwe. Zahlreich sind die Gedenktafeln, welche von Urenkeln bis zur achten Generation ihren Vorfahren gewidmet worden; und ganz am Ende gelangt man auf ein weites Stück, von Rasen bedeckt, wo nur noch einzelne, schon halb in die Erde gesunkene Steine stehen; dann wieder eine dichtere Reihe von Gräbern, versteckt unter Baum- und Buschwerk, zuletzt nur noch eines hier und dort – und nun auf einmal wieder die Stadt, aus der Ferne die Klingel der Pferdebahn und über meinem Haupte dahinfliegend eine Schar Raben ...

Ein Grab aber hebt von allen Gräbern sich leuchtend ab – es ist von einem Gitter umschlossen, mit Efeu bewachsen, und auf dem Grabstein steht oben in hebräischer Schrift, unten in goldenen deutschen Lettern:

Moses Mendelssohn,
geb. zu Dessau den 6. September 1729,
gest. zu Berlin den 4. Januar 1786.

Er ruht nicht weit von Rabbi Fraenkel, seinem ersten, geliebten Lehrer, dem er aus der Heimat hierher nach Berlin gefolgt ist, nicht weit von Bernhard, der sein großmütiger Brotherr gewesen, und nicht weit von jenem merkwürdigen Abraham Rechenmeister, welchen Lessing als Derwisch im »Nathan« verewigt hat.

 

Noch einer hat in dem erinnerungsreichen Hause Spandauer Straße Nr. 68 gewohnt, nach Lessing und vor Mendelssohn, ein mittlerer Mann in dieser Beziehung wie in so mancher andern: Friedrich Nicolai. Wir wissen, daß er mit Lessing im Februar 1755 und durch Lessing, nicht lange danach, mit Mendelssohn bekannt wurde: »Die innigste Freundschaft verband mich bald mit beiden, und sie hat bis zum Tode dieser großen Männer fortgedauert.« Wer solcher Freundschaft für wert gehalten worden, muß ihrer wohl auch wert gewesen sein. Ich habe niemals leiden können, wenn man ihn geringschätzig behandelt hat, wie das zu seinen Lebzeiten und nachher der Fall gewesen ist. In meinen Augen hat Nicolai das große Verdienst, ein Berliner zu sein. Alle anderen, Lessing und Mendelssohn, Sulzer und Ramler, waren Fremde, die mehr oder weniger zu Berlinern geworden sind. Er aber war der richtige, der geborene Berliner, und mit ihm trat diese Spezies zum erstenmal in die deutsche Literatur ein. Ich will nicht sagen, daß es dieser Spezies auf dem literarischen Gebiete besser erging als auf dem der gemeinen Wirklichkeit zumal: Man mochte den Berliner nicht, und ein wenig hat er es wohl verschuldet durch seine Manier, über alles sein Urteil zu sprechen, auch über das, was er nicht versteht, und nichts für gut zu befinden, was nicht irgendwie die Marke von Berlin trägt. Im Grunde genommen ist dies eine Tugend; denn wer anders, wenn nicht der Berliner, hätte diese Sandscholle lieben und loben sollen? Wer anders aber auch hätte das aus ihr gemacht, was sie nun wirklich, von aller Welt anerkannt, geworden ist? Das ist es eben, daß die Fehler des Berliners obenauf liegen; um seine guten Eigenschaften kennenzulernen, muß man sich schon die Mühe geben, etwas tiefer zu gehen. Der Berliner, das hat er gezeigt, ist kein Mann, um die sogenannten moralischen Eroberungen zu machen; er muß mit der Faust dreinschlagen, und dann erst, wenn er hat, was er will und was ihm zukommt, wird er liebenswürdig. Er war ein großer Räsoneur, dieser Nicolai, der mit Gott und der Welt anband, er ließ sich nicht imponieren und nicht einschüchtern. Aber der Freund, den er sich erkoren, und die Sache, der er sich gewidmet, die konnten auf ihn rechnen. Er war ein Mann von gewaltiger Arbeitskraft, ein braver, rechtschaffener Charakter und ein trefflicher Bürger. Heute noch, auch wenn er sonst weiter nichts getan und geleistet hätte, würde das Andenken dieses guten Mannes unter uns fortleben wie das so manchen andern Berliners, durch eine milde Stiftung, die sogenannte Nicolaische Stiftung, mit einem Fonds von 9 000 Mark, aus welchem unter gewissen Bedingungen an würdige und verarmte Bürger von Berlin Darlehen gegeben werden. Man tut ihm unrecht, wenn man, sowie sein Name genannt wird, gleich oder nur an die komische Figur in der Walpurgisnacht des »Faust«, an die Xenien und Invektiven, an die göttliche Grobheit Goethes, die er durch seine »Freuden des jungen Werthers« reichlich verdient hat, oder an das boshafte Wort Schillers denkt, das er nicht verdient hat: daß er nämlich zur Aufklärung der Deutschen »mit Lessing und Moses« mitgewirkt, indem er ihnen »die Lichter geschneuzt«.

Es ist ein eigen Ding um den Enthusiasmus der Berliner. Wenn in seinen späteren Jahren Friedrich der Große durch die Straßen seiner Hauptstadt ritt, dann blieben die Leute nicht stehn, um ihm Bücklinge zu machen. Aber die Straßenjungen liefen hinter und vor seinem Grauschimmel her, standen kopf oder schlugen Purzelbäume, und Mützen und Hüte flogen in die Luft unter dem Rufe: »De olle Fritz, de olle Fritz!« Und der Alte Fritz wird gedacht haben: »So sind meine Berliner« und zufrieden gewesen sein.

Nicht als ob Nicolai der Blick für das Große gefehlt habe. Lessing verstand er, Goethe verstand er nicht. Er hatte kein Verständnis für das reine Schönheitsideal, für das Kunstwerk als solches, welches sich selbst Zweck ist. Es mußte noch irgendeinen Zweck außerdem haben, die Leute aufklären, Vorurteile bekämpfen und so weiter. Darum war Lessing sein Mann. Wie dieser besaß auch Nicolai keinen Sinn für die Natur. »Mehr als hundert Male bin ich mit ihm«, erzählt Goeckingk, »in seinem schönen Garten in der Blumenstraße spazierengegangen, ohne daß er auf die Gewächse und Blumen nur einen Blick warf. Für sich allein hat er vielleicht niemals einen Gang darin gemacht. Er zog es vor, in seinem Zimmer zu lesen und zu schreiben.«

Wenn er schrieb, so schrieb er immer mit einer Tendenz. Er predigte gute Moral und eine vernünftige Gottesfurcht in dem Roman »Sebaldus Nothanker«; er wollte auf rationelle Weise belehren in seiner »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz«. Seine Bücher wurden ihrer Zeit gern gelesen und haben vielen Nutzen gestiftet in jenen Tagen der überhandnehmenden Sentimentalität und Frömmelei. Seine »Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam« ist heute noch unentbehrlich für jeden, der sich ein Bild unserer Stadt vor hundert Jahren machen will – ein trockenes, nüchternes Buch, aber eins, das ich in seinen zwei Lederbänden mit der verblaßten Goldpressung nicht missen möchte.

Die Schriftstellerei Nicolais ist nicht die Hauptsache, weder für ihn, noch' darf sie's für uns sein, wenn wir ihn richtig beurteilen wollen. »Sooft ich auch über mein literarisches Leben nachgedacht habe«, sagt er, »fand ich doch immer, daß mich Ambition, Sucht zu glänzen, oder gar die Einbildung, bei der Nachwelt Ruhm zu haben, nie im geringsten trieb.« Nichts lag ihm ferner als Eitelkeit. Man muß wohl Respekt vor diesem schlichten, einfach bürgerlichen Manne bekommen, welcher, der häufige Tischgenoß der damaligen Staatsminister Hertzberg, Zedlitz, Schrötter etc., jede Auszeichnung, die man ihm anbot, standhaft ablehnte, der selbst von dem Doktortitel, den ihm die philosophische Fakultät zu Helmstedt verliehen, niemals Gebrauch gemacht hat und, wiewohl Mitglied der Akademie der Wissenschaften, dennoch nichts anderes war und sein wollte als der Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai.

Eines Buchhändlers Sohn, war auch er zum Buchhandel bestimmt. Die Handlung stammte vom Großvater mütterlicherseits, Gottfried Zimmermann, Bürgermeister zu Wittenberg, der 1703 eine Filiale seines Geschäfts in Berlin etabliert hatte und dieselbe seinem bisherigen Gehilfen Christoph Gottlieb Nicolai abtrat, als dieser 1713 sein Schwiegersohn geworden war. Letzterer siedelte nunmehr nach Berlin über, und hier, im Herzen unserer Stadt, in der Poststraße Nr. 4, dem alten Kurfürstenhause, ward Friedrich Nicolai, das jüngste seiner Kinder, 1733 geboren. Mit ungenügenden Schulkenntnissen, denn er hatte das Joachimsthalsche Gymnasium zu Berlin und hierauf das Hallesche Waisenhaus nur bis zu seinem vierzehnten Jahre besucht, kam der Knabe nach Frankfurt an der Oder in die Lehre, kehrte 1751 ins Elternhaus zurück und ward 1752, nach dem Tode des Vaters, Teilhaber des Geschäfts. Während seiner Lehrzeit in Frankfurt an der Oder hatte er mit energischer Besiegung unzähliger Schwierigkeiten an seiner Fortbildung gearbeitet. »Ich sparte ziemlich lange das Frühstück (täglich 3 Pfennig) und einige andere kleine Ausgaben, um mir Öl zu einer Lampe zu kaufen, damit ich im Winter in meiner, obwohl kalten Kammer die Morgen und Abende zum Studieren anwenden könnte.« Auf diese Weise las er mit Hilfe von Wörterbüchern und in der Ursprache den Homer, Herodot, Plutarch, Sallust und verschrieb sich aus England ein Exemplar von Miltons Werken im Original. Seine erste Schrift, 1753, war eine »Untersuchung, ob Milton sein verlorenes Paradies aus lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe« – für den Zwanzigjährigen ein hübscher Anfang, der wenigstens soviel zeigt, daß es ihm an Dreistigkeit nicht fehlte. Seine literarische Neigung wird stärker, er schreibt 1755 »Briefe über den jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland«, wird mit Lessing und Mendelssohn bekannt, begründet die »Bibliothek der schönen Wissenschaften« (mit »ungefähr« 1 Taler 16 Groschen Honorarium für den gedruckten Bogen) und benutzt die Auseinandersetzung der Nicolaischen Erben, um sich vom Geschäft zurückzuziehen und ganz der Literatur zu widmen. Jetzt, von 1757 bis 1759, sechs Jahre nach Lessing und ebenso viele vor Mendelssohn, lebt er in dem klassischen Hause Spandauer Straße Nr. 68 zwar »sehr frugal und von einem mäßigen Einkommen« (denn mit 1 Taler 16 Groschen »Honorarium« kann man freilich keine großen Sprünge machen), aber dennoch von seinen Freunden der »Esquire« genannt, »der von seinen Geldern lebt«. Wie muß es ihnen erst ergangen sein, namentlich Lessing, der niemals ein geregeltes Einkommen und immer Schulden hatte! Mittlerweile stirbt Friedrich Nicolais ältester Bruder, und nun übernimmt er selber die Handlung wieder, um sie bis an sein Lebensende, zweiundfünfzig Jahre lang, nicht mehr aus den Händen zu geben.

Er hat sie zu einer stattlichen Höhe gebracht und ist ein reicher Mann dabei geworden. Der Buchhandel war zu Nicolais Zeit numerisch nicht sehr stark in Berlin vertreten: Es gab fünfzehn Buchhandlungen (zwölf deutsche, drei französische) mit einem Personal von sechzehn Handlungsdienern und fünf Lehrlingen oder »Jungen«, zusammen sechsunddreißig Mann. Das war der ganze Buchhandel von Berlin. Aber es waren tüchtige Männer darunter: A. Haude und J. C. Spener an der Schloßfreiheit, Inhaber der »Königlichen und der Akademie der Wissenschaften privilegierten Buchhandlung«, die ihr Privileg bis 1614 zurückdatierten; Voß, der Begründer der nach ihm benannten Buchhandlung, unter dem Rathaus an der Königstraße, mit einem Privileg (durch den alten Rüdiger) von 1693; ferner der bekannte Unger und August Mylius, der rechtmäßige Verleger von Goethes »Stella« und »Claudine von Villa Bella«, der an Merck schrieb, er würde »für einen proportionierlichen Preis« den Dr. Faust noch lieber verlegt haben – was wir ihm wohl glauben mögen. Ein weniger rühmliches Mitglied der Zunft war Christian Friedrich Himburg, der sich nicht damit begnügte, Goethes einzelne Dichtungen frisch, wie sie herauskamen, nachzudrucken, sondern sie sogleich sammelte und als »Goethens Schriften« verkaufte. Die beiden obengenannten Schauspiele waren daher fast gleichzeitig (1776) im Myliusschen Original und Himburgschen Nachdruck zu haben, wobei letzterer noch soviel besseren Absatz fand als ersteres, daß das Original liegenblieb und der Nachdruck in drei Jahren drei Auflagen erlebte. Himburg erbot sich dafür, dem Verfasser, wenn er es verlangte, »etwas Berliner Porzellan zu senden«. Goethe antwortete nicht, rächte sich aber im stillen durch einige Verse, welche dem Namen Himburgs eine nicht gerade beneidenswerte Unsterblichkeit sichern.

Unter den alten und soliden Firmen, welche teils (wie die Vossische, die Haude- und Spenersche, die Ungersche, letztere wenigstens als Druckerei) heute noch fortbestehen, teils (wie die Myliussche) erst jüngst eingegangen sind, nahm »Friedrich Nicolai, Buchhändler auf der Stechbahn« eine hervorragende Stellung ein. Er war ohne Zweifel kraft eigner Initiative der einflußreichste Buchhändler Berlins; und er war es vornehmlich durch seine verlegerische Tätigkeit. »Wenn die Buchhändler zu Berlin«, schreibt ein nicht gerade wohlwollender, aber scharfblickender Beobachter der damaligen Zustände, »ganz allein von ihrem Debit in dieser sonst großen Residenzstadt leben sollten, so würden sie sehr bald zu Grunde gehen. Ihre Hauptsorge ist also, sich gute Verlagsartikel anzuschaffen.« Und dafür war Nicolai der Mann. Der 1. Januar 1759 ist der Tag, an welchem er das Geschäft selbständig übernimmt; und am 4. Januar erscheint das erste Stück der »Briefe, die neueste Literatur betreffend« in den ersten sechs Teilen, bis November 1760 fast ganz das Werk Lessings. Über seinen Laden stellt Nicolai den Homerkopf; und unter demselben Zeichen – einem Homerkopf auf dem Titelblatt – beginnen auch die »Literaturbriefe« ihre sieghafte Laufbahn. Als Gleim in seinem »Tempel der Freundschaft« das Bild Nicolais aufhing, schrieb er darunter: »Wegen seines Kampfs mit bösen Geistern.« Und diesen Kampf hat er tapfer fortgesetzt, auch als Lessing zuerst nach Schlesien ins Hauptquartier und alsdann nach Hamburg ans Theater ging. Die »Literaturbriefe« hörten 1765 auf zu erscheinen; aber sofort, noch in demselben Jahr, ist die »Allgemeine Deutsche Bibliothek« zur Stelle, die, wenn sie nichts mehr von Lessingschem Geist und Feuer in sich hatte, dennoch eine Macht war und mit ihren 268 Bänden und 800 Mitarbeitern auf eine vierzigjährige, gemeinnützige Wirksamkeit zurückblicken konnte, als sie in unserem eigenen Jahrhundert, 1805, geschlossen ward.

Nicolai war eine nüchterne Natur auch darin, daß er sich keinen Illusionen hingab, weder über den Wert seiner Verlagsartikel noch über das Publikum, das sie kaufen sollte. »Ich sehe die Notwendigkeit«, schrieb er an Lessing, »wenn ich die Unternehmungen meiner Handlung im Ganzen überlege, streng als Kaufmann zu denken; aber es wäre für meinen Verstand und mein Herz ein großes Unglück, wenn ich immer so denken wollte.« Weshalb er sich denn auch hin und wieder den Luxus erlaubte, Schriften zu drucken, die keinen besonderen Absatz verhießen, wie zum Beispiel seines Freundes Lessing »Briefe antiquarischen Inhalts« und »Über die Ahnenbilder der Römer«. Es ist spaßhaft zu sehen, wie dieser Schlaukopf, welcher doch wahrlich seinen Lessing liebte, sich dreht und windet, sobald es sich um dergleichen schwerverkäufliche Ware handelt, und mag sie den Stempel der Klassizität auch gleich mit auf die Welt bringen. »Ein Läufer (wie es die Buchhändler nennen) können die Antiquarischen Briefe niemals werden«, schreibt er einmal; und ein andermal: »Was Ihr Werk von den Ahnenbildern betrifft, so würde ich, wenn es Ihnen an einem Verleger fehlen könnte, sogleich den Verlag übernehmen; denn dieses wäre die geringste Probe meiner Freundschaft. Da es Ihnen aber vermutlich an einem Verleger gar nicht fehlen kann, so wäre es mir lieber, wenn Sie es einem anderen gäben.« Zu seinem und seines Verlages Ruhme blieb es aber dabei: die beiden Schriften erschienen bei Nicolai, welcher sich gleichsam vor sich selbst mit der Betrachtung tröstet: »Inzwischen [...] ich, der ich das besondere Glück habe, daß in meinem Verlage viel schlechte Bücher, die gut abgehen, befindlich sind, ich denke dann, sie werden ja wohl noch ein Tracktätchen von zwölf Lessingischen Bogen übertragen können.« Er ist taktvoll genug, von den guten Büchern, die schlecht abgehen, nicht zu sprechen; aber also war es damals und also – leider! ist es heute noch. »Ahnenbilder sind eben nicht die Götzen, von denen man Reichtum erbitten muß!« Er hatte, was das betrifft, solidere Quellen der Einnahme in jenen zahllosen Bänden und Bändchen, die heute, wo sie nicht längst Makulatur geworden, die hinteren Reihen unserer öffentlichen Bibliotheken zieren, zu ihrer Zeit aber den Vorzug hatten, gekauft zu werden und ihn, in allen Ehren, zu einem vermögenden Manne zu machen.

Sechs Jahre waren seit Lessings und ein Jahr seit Mendelssohns Tode vergangen, als Nicolai, damals ein Vierundfünfziger (1787), das Haus in der Brüderstraße Nr. 13 erwarb, welches heute noch auf einem Stein über der Tür in Bronzebuchstaben die alte Inschrift hat:

Nicolai,
Buchhandlung.

Auch dieses Haus steht auf den Fundamenten jenes ehemaligen Konventes der Dominikaner, welches in dieser ganzen Gegend seine Spuren zurückgelassen hat; es war von dem Minister von Kniphausen (1730) erbaut und zum Zwecke großer Gastereien und Festlichkeiten eingerichtet worden. Nach diesem besaß es der ebenso hochherzige als unglückliche Kaufmann Gotzkowsky, der – man darf es sagen – an seinem Patriotismus, und zwar unter dem Großen Friedrich, in schwerer Zeit zugrunde gegangen ist. Seine Vaterstadt, nicht sich vermochte er zu retten. Der Nachfolger Gotzkowskys war Nicolai. Was würden die Freunde gesagt haben, wenn sie den »Esquire« der Spandauer Straße noch hätten in der Brüderstraße sehen können!

Denn die Brüderstraße, heute noch mit ihrem engen Zugang, ihrer unregelmäßigen Form und dem Turme der Petrikirche im Hintergrund eine der traulichsten im alten Berlin, war damals eine der vornehmsten unserer Stadt überhaupt. Die ganze Gegend bis an den Mühlendamm zeigte diesen Charakter, und sogar dieser selbst – wer sollte es für möglich halten! – war damals ein fashionabler Platz. Wo jetzt alte Kleider zum Verkauf und zweifelhafte Fräcke zum Verleihen unter den Steinbögen aushängen, welche, vom aufgehäuften Schmutz fast unkenntlich gemacht, die Porträtköpfe des Großen Kurfürsten und Friedrichs I. zeigen,Wer in diesen Tagen nach dem Mühlendamm ginge, der würde freilich unter dem grauen Winterhimmel nur noch Trümmer sehn, die eine Seite, mit dem Blick auf das Wasser, schon ganz freigelegt, auf der andern das beginnende Werk der Zerstörung, und aus dem Bauschutt der niedersinkenden Bögen und Arkaden hier und dort einen letzten einsam aufragenden Pfeiler mit der alten, wohlbekannten Inschrift: »Hier werden die höchsten Preise für getragene Kleidungsstücke gezahlt«, oder: »Erstes Verleihinstitut für Leibröcke und Kellnerjacken.« Anmerkung vom 9. Febr. 1887. waren noch in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts glänzende Läden und kostbare Magazine, welche für die ersten und elegantesten in Berlin galten, unter ihnen die renommierte Seidenwarenhandlung von »König und Herzog«; feine Damen drängten sich hier wie jetzt bei Gerson und Heese, die Schaufenster waren belagert von Neugierigen, und unter ihnen stand oftmals ein Knabe von zehn oder elf Jahren – der Enkel Nicolais, Gustav Parthey, der nachmals ein berühmter Archäologe geworden ist und in seinen reizvollen »Jugenderinnerungen« uns manchen ansprechenden Zug aus seines Großvaters Zeit und Haus bewahrt hat.Jugenderinnerungen von Gustav Parthey. Handschrift für Freunde. Zwei Teile. »Bene qui latuit bene vixit.« Ohne Jahreszahl, doch trägt das Vorwort das Datum: »März 1871«. – Ein Jahr später, 1872, starb der hochverdiente Mann, der gleich seinem Großvater Buchhändler und Mitglied der Akademie gewesen war, zu Rom und liegt dort auf dem protestantischen Kirchhof an der Pyramide des Cestius begraben.

Einige von den großen Wechselgeschäften haben ihre Stätte behauptet; vor allem das Schicklersche, von jenem Splittgerber abstammend, der bei Friedrich dem Großen in so hohen Gnaden stand, daß dieser ihm sein Porträt verehrte, dasselbe, welches in der historischen Abteilung der Jubiläums-Kunstausstellung zu sehen war: »Geschenk Sr. Majestät des Königs Friedrich II. von Preußen an den Kaufmann David Splittgerber in Berlin (Eigentum der Firma Gebrüder Schickler in Berlin)«. Wie doch solch ein lebendiges Werk der Vergangenheit alles ringsum lebendig macht und Heut und Einst in einen Zusammenhang bringt, als ob nichts dazwischenläge nicht die vielen Jahre und die vielen Gräber. Noch immer ist das Kontor in dem schönen Hause, von Gerlach im Jahre 1734 erbaut, Gertraudenstraße Nr. 16 hinter der Petrikirche, wo Nicolai es gesehen und beschrieben hat – so still und ruhig an der lärmenden Straße, daß man es für einen Palast und nicht für ein Bankhaus halten würde, wenn man nicht durch die hohen Fenster des Parterre die grünen Lampen und die Schreibtische sähe. Doch auch das kaum minder alte Geschäft von Anhalt und Wagener ist noch in demselben Hause, Brüderstraße Nr. 5, bis vor fünfundzwanzig Jahren berühmt durch die Gemäldesammlung, welche seitdem, dank der edlen Liberalität ihres letzten Besitzers, des Konsuls Wagener, den Grundstock unserer Nationalgalerie bildet.

Mehr aber noch als gegenwärtig war zu Nicolais Zeit die Brüderstraße die Straße des Luxus, der Moden und der Fremden. Hier, an der Ecke nach der Stechbahn hin, Nr. 19, war das Haus der Devrient, das Geburtshaus Ludwig Devrients, damals ein Galanteriewarenladen, in welchem es so verschiedene Gegenstände gab, wie zum Beispiel eine Anzeige in der »Vossischen Zeitung« vom 3. Dezember 1768 besagt: »Bei Kaufmann Devrient, unter der Stechbahn, an der Ecke der Brüderstraße, sind fertige Pelzenveloppen, wie auch ökonomische Lampen um einen billigen Preis zu haben.« Hier aber auch waren die beiden ersten Gasthöfe des damaligen Berlins, der »König von England« und dicht daneben die »Stadt Paris«, in welcher Graf Mirabeau kurz vor dem Tode Friedrichs des Großen wohnte. Lessing schon hat sie gekannt und eines derselben vor Augen gehabt, als er die Handlung seiner »Minna von Barnhelm« in das Wirtshaus »Zum König von Spanien« verlegte. Ein junger Lübecker Weinhändler, der im Winter des Jahres 1776 eine Reise nach Berlin unternahm und in der »Stadt Paris« abstieg, hat in seinem Tagebuch darüber folgendes verzeichnet: »Das Hôtel, die Stadt Paris, das vornehmste und größte, was damals Berlin hatte, war ein palaisartiges Gebäude, nach dem Hofe mit zwei Flügeln und einem Quergebäude für Wagen und Pferde ... Es war schon sechs Uhr am Abend, als wir anlangten, und keines dieser weiten, sechzehn Fuß hohen Zimmer fanden wir geheizt ... Mit einem Male vernehme ich auf der Gasse vor unserem Logis eine Janitscharenmusik. Gleich darauf kommt ein Hautboist ins Zimmer und fordert dieser Musik wegen eine Belohnung: sie hätten es sich zur Pflicht gemacht, wenn vornehme Herrschaften in Berlin einträfen, daß sie diesen sogleich zum Vergnügen ein Ständchen brächten.« Jetzt freilich werden die Fremden in Berlin nicht mehr mit Musik empfangen, aber die »Kontributionen«, über welche der junge Lübecker sich beklagt, mögen darum nicht geringer geworden sein. »Sollte dieses also fortgehen, dachte ich, so wird deine Kasse bald geleert sein.« – Hier endlich, in der Brüderstraße, war der Maurersche Weinkeller Lessingschen Andenkens, und diesem gerade gegenüber stand das Haus Friedrich Nicolais.

Nicolai hatte das großmächtige Ministerhotel zu einem bequemen Bürgerhaus umbauen lassen, und zwar durch Zelter – auch dieser in seiner Art ein Berliner Typus, kein Berliner Kind wie Nicolai, jedoch nicht weit davon aus Petzow bei Potsdam – ein Maurermeister seines Zeichens, der sein Handwerk mit unverdrossenem Fleiß ausübte, daneben aber mit einem so großen Talente für die Musik begabt, daß er schon damals ein beliebter Liederkomponist war und im Jahre 1800; nach seines Lehrers Fasch Tode, Direktor der Singakademie wurde. Wer hätte nicht seine Freude an dieser derben, breitschultrigen Gestalt, diesem märkischen Orpheus, dem Goethe mit dem brüderlichen »Du« sein ganzes Herz gab und der dem Buchhändler Nicolai sein Haus baute? Aus einem einzigen Speisesaale wurden vierzehn verschiedene Piecen gemacht; dennoch blieben drei Säle übrig; für die Bibliothek, für die Musikaufführungen und für die Geselligkeit. Nicolai machte freilich nicht in dem Sinn »ein Haus« wie Mendelssohn; dafür aber gab es statt der zugezählten Mandeln und Rosinen opulente Mittags- und Abendschmäuse und einen Kreis vergnügter Gäste rings um die Tafel, unter denen die Literatur regelmäßig durch Ramler, Goeckingk, die Karschin, Engel vertreten war und neben dem künftigen Direktor der Singakademie, Zelter, der Direktor der Akademie der Künste, Chodowiecki, der treffliche Maler mit dem vollen, jovialen Gesicht und den verschmitzt lächelnden Augen, selten fehlte. Denn wenn Nicolai hart arbeitete, so wollte er auch etwas davon haben; und wie sämtliche Bücher seiner Bibliothek eine von Chodowiecki gezeichnete und gestochene Vignette trugen: ein kleiner Genius hält ein großes Buch, in dem ein anderer Genius buchstabiert: »Friderici Nicolai et amicorum«, so mußten die Freunde sich alle Woche wenigstens einmal in seinem gastlichen Hause versammeln, um mit ihm gut zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Er war eine höchst gesellige Natur und bis zuletzt Mitglied jenes Montagsklubs, der im Jahre 1749 gegründet ward und, soweit meine Nachrichten reichen, im Jahre 1870 noch existierte. Ursprünglich nur aus acht Personen bestehend, hatte dieser Klub sich allmählich zu einer Gesellschaft erweitert, welche die vorzüglichsten Gelehrten, Musiker, Künstler und Beamten Berlins umschloß, unter diesen auch Wöllner, bevor er Staatsminister und fromm geworden, ein Mitarbeiter der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«, der er nachmals in den Jahren des Religions- und Zensurediktes das Leben so sauer machte, daß sie, bis zur Aufhebung dieser Edikte bei der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III., sich zur Emigration nach Hamburg entschließen mußte. Sulzer und Ramler hatten dem Klub seit seinem Beginn angehört; Lessing war 1752, Nicolai 1756 hinzugetreten. Er hat sie alle überlebt, die Genossen seiner Jugend; mit einer neuen Generation beging er das fünfzigjährige Stiftungsfest des Klubs, und nachdem im Jahre 1804 der Begründer desselben, der biedere Schweizer Schultheß als Pfarrer in Mönchaltorf bei Zürich verstorben war, ward Nicolai sein Senior. Bis in sein höchstes Alter besuchte er den Klub, dessen Lokal damals in der Mohrenstraße war; und in dem »Ehe- und Hauskalender«, welchen die Freundinnen und Freunde des Nicolaischen Paares zur Feier der silbernen Hochzeit überreichten, fand sich unter »Montag« ein für allemal die Bemerkung: »Der Montag ist das ganze Jahr des Herrn Nicolai großer Klub.«

Der Lebensabend dieses braven Mannes war nicht so freundlich, wie man es ihm wohl gegönnt hätte. Das Bild vor jenem Kalender zeigt ihn noch behaglich in seinem Lehnstuhl, eine Zeitung in der Hand, einen Globus neben sich, inmitten der Seinen. Aber wer lange lebt, muß sich darein ergeben, viel zu verlieren. Es starb die vortreffliche Gattin, »mich erdrückt die Last des herben Kummers«, schrieb er damals an Ramler; aber es starben ihm auch, eines nach dem andern, alle seine Kinder, Töchter und Söhne, in ihrem besten Alter; und obwohl nun der Schwiegersohn Parthey mit den Enkeln zu dem Alleinstehenden zog, so war es doch nicht mehr das alte Haus, das alte, durch Geselligkeit und Musik verschönte Leben. Stille geworden war es in diesen Sälen, durch welche nur noch die Schatten von ehedem wandelten; nicht einmal das heranwachsende Geschlecht durfte sie mit seinem Jubel erfüllen. Denn das Unglück des Vaterlandes erstickte bald die Stimme kindlicher Lust, wie es den Blick des Greises verdüsterte, der den fremden Eroberer, umgeben von seinen Marschällen, dort drüben im Schlosse der Könige von Preußen Hof halten sah. Die Tage der tiefsten Erniedrigung, nicht die der Erhebung und Befreiung sollte er erleben, dieser Alte, der den Großen Friedrich noch als Kronprinzen in seines Vaters Laden gesehen hatte. Trotzdem blieb er ungebeugt und, wiewohl von körperlichen Gebrechen heimgesucht, rastlos tätig. Er war nicht angenehm, der alte Nicolai, wie sein Enkel Parthey ihn schildert, eher mürrisch und schweigsam; aber dennoch einer der populärsten Bürger Berlins und selbst den jüngeren, einer ganz anderen Richtung angehörigen Literaten als der Jugendfreund Lessings verehrungswürdig. Er hatte sich, zur Schonung seiner Augen, ganz mit Grün umgeben. Die Stube war grün tapeziert, Sofa und Stühle grün überzogen, er trug einen grünen Schlafrock, hatte des Abends einen grünen Lichtschirm, und sogar die Wand eines Nachbarhauses, die bisher weiß gewesen, mußte grün angestrichen werden. So saß der hohe Siebenziger lange noch an seinem Schreibtisch in seinem Studierzimmer im ersten Stock, hinten heraus gegen Süden, mit dem Blick in den kleinen Garten; mit den 268 Bänden der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« vor sich, mit den Bildnissen aller berühmten Zeitgenossen, von Rabener bis auf Alexander von Humboldt an den Wänden, mit zwei Bücherschränken zu beiden Seiten und einem kleinen tafelförmigen Klavier, auf welchem er manchmal Choräle spielte; und so ungefähr habe ich alles noch gesehen, und selbst das alte Klavier gab mir, ich vermag es nicht zu schildern, welchen schwachen, klagenden Laut der Vergangenheit, als ich an einem schönen Sommertage von der gegenwärtigen Bewohnerin dieser Räume, Frau Veronica Parthey, der Urenkelin Nicolais, freundlich darin empfangen ward.

Nicolais gibt es nicht mehr in Berlin; aber eine junge Generation der Partheys, aufwachsend an der zeitgeheiligten Stätte, verheißt diesem echten Berliner Bürgergeschlecht noch eine lange Dauer. Auch der Buchhandel floriert noch in diesem Hause, der Nicolaische Verlag und das Nicolaische Sortiment. In den letzten Jahren Friedrich Nicolais war Johannes Ritter, der ältere Bruder des berühmten Geographen Karl Ritter, Disponent des Geschäftes und blieb es lange noch, als es nach Nicolais Tod in die Hände seines Schwiegersohnes, des Hofrats Parthey, übergegangen war. Von diesem erhielt es 1825 sein Sohn Gustav, der 1858 das Sortiment und 1866 den Verlag veräußerte. Seitdem sind beide getrennt, aber noch immer in dem Hause der Brüderstraße Nr. 13, und zwar in den identischen Räumen: das Sortiment (Borstell & Reimarus) mit seinem großartigen Lesezirkel von 500 000 Bänden gleich vorn linker Hand, der Verlag (R. Stricker) mit seinen vortrefflichen Werken, namentlich pädagogischer Richtung, hinten im Hof.

Zweistöckig, mit stattlicher Front, in seiner Verbindung von Geschäftshaus und Wohnhaus macht es auf den Eintretenden noch ganz den Eindruck der guten alten Zeit, wo man Platz hatte, sich mit einiger Bequemlichkeit zu bewegen. Eine breite Holztreppe mit geschnitztem Geländer führt von dem Flur in die oberen Etagen. Der Hof ist geräumig, mit den Galerien um den ersten und zweiten Stock, welche Zelter gebaut hat. In der Mitte des Hofes ist ein kleines Beet mit einem Bäumchen darin; und um die Fenster des Kontors rankt Weinlaub. Hier ist es kühl und angenehm, auch an den heißen Sommertagen, als ob ein Hauch des vorigen Jahrhunderts uns anwehe; man fühlt sich weit entfernt von dem heutigen Berlin. Aus dem Fenster sieht man in den Garten, in welchem Linden stehen und ein alter Nußbaum, welchen Nicolai noch gepflanzt. An der Wand über dem Sofa hängt sein Porträt, ein Pastellbild, welches ihn mit wohlwollendem Gesicht, hoher, zurücktretender Stirn und weißem Haare zeigt, in der Tracht vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts: blauem Frack mit übergeschlagener weißer Weste. Verlagsartikel des alten Herrn, viele davon jetzt Unikate, kamen zum Vorschein aus entlegenen Gewölben, und alles vereinigte sich, mir ihn, seine Zeit und Zeitgenossen nahezubringen, wie in einem schönen Sommertagstraum.

In dieser Stimmung besuchte ich seine ehemalige Wohnung im ersten Stock; ich ging die Holztreppe hinan, in deren Stufen leichte Eindrücke anzudeuten scheinen, daß hier eine Generation nach der andern auf- und abgestiegen. Ein eigner Reiz und Zauber webt um solch alte Wohnungen. Es weht ein sanfter Blumengeruch in ihnen, wie von Waldmeisterkränzen, die lange ihren Duft noch behalten, auch wenn sie schon verwelkt sind. Die weißlackierten Türen, der Tritt vor dem Fenster, die altmodischen Möbel, die mancherlei kleinen Andenken, Porzellan und Bücher und Bilder und das Halbdunkel, das in allen diesen hohen Räumen herrscht, sie geben zusammen uns das Bild und Gefühl der Wirklichkeit, aber einer weit entrückten. Frau Veronica Parthey war meine gütige, geduldige Führerin. Im Vorzimmer hängen Familienporträts, zwei von Nicolai, ferner das seiner Gemahlin, seiner Freundin Elisa von der Recke, die so gut wie zur Familie gehörte, beide von Graff gemalt. Sie haben etwas, was an die Frauenporträts von Sir Joshua Reynolds erinnert. Die beiden Porträts, welche Nicolai, das eine als Dreißig-, das andere als Fünfzigjährigen darstellen, haben ganz die charakteristische Bildung des Kopfes, die sich in dem Bilde des Greises unten im Kontor wiederholt: die zurücktretende Stirn und das vorspringende Kinn; man kann die Tatkraft, ja Hartnäckigkeit aus dem Gesichte dieses Mannes lesen, das im übrigen voll von Güte ist. Auch eine Kopie der Schadowschen, wenn ich nicht irre, für die Königliche Bibliothek angefertigten Büste befindet sich in diesem Zimmer. Zu jedem Bild an der Wand, jedem Buch auf dem Tische (darunter auch jener »Fünfundzwanzigjährige Ehe- und Hauskalender«) gab Frau Parthey mir den wünschenswerten Kommentar. Sie geleitete mich durch einen langen Gang, wo einst die Bibliothek Nicolais aufgestellt war und eine alte Uhr noch mit demselben Ticktack und Silberklang, den einst vor hundert Jahren Nicolai und die Seinen gehört haben, die verrinnenden Stunden zählt. Aus dem Gang gelangt man in das Arbeitszimmer Nicolais, das noch ganz erhalten ist, wie er es verlassen hat, mit den Bänden und Büchern, den Mappen und Folianten, dem Schreibtisch, dem Spinett und einem Kasten, in welchem das Brautgewand seiner Gattin aufbewahrt wird. Bis hier herauf reichen die Baumwipfel des Gartens, und es ist ein gar liebliches Rauschen in dieser Einsamkeit, wenn der Sommerwind sie bewegt. Auf einer kleinen Treppe steigt oder klettert man zu den oberen Räumen, in welchen ich noch die ganze Bibliothek Nicolais beisammen sah, die seit kurzem (Februar 1886) von der Hamburger Stadtbibliothek erworben worden ist und nun dort, in den hohen luftigen Sälen des Johanneums, einen würdigen Platz gefunden hat. Das Hamburg des vorigen Jahrhunderts hat sich um Lessing so verdient gemacht, daß ich, vor allen andern Städten, dieser unsern Nicolai gönne, wenn wir ihn denn einmal nicht behalten konnten. Mir aber wird es eine liebe Erinnerung sein, diese zahllosen Reihen von Büchern, alle in gelbes Papier gebunden, mit den Titeln auf dem Rücken von Nicolais eigner Hand und mit dem »Friderici Nicolai et amicorum« auf der Innenseite des Deckels, noch in den Dachkämmerchen von Nicolais Haus in der Brüderstraße Nr. 13 gesehen zu haben.

Nicht sehr weit davon entfernt, etwas mehr gegen Süden, ist die Alte Jakobstraße; bis Ende des siebenzehnten Jahrhunderts noch eine Landstraße, die von dem Rixdorfer Damm nach den Chausseen von Tempelhof und Schöneberg führte, spät erst bebaut, ist sie wesentlich eine Straße des achtzehnten Jahrhunderts, und zwar vom Ende desselben. Erst 1780 erhielt sie ihren heutigen Namen. Unter den Neubauten, die jetzt auch hier überall emporschießen und den Charakter dieser Straße bald genug verwischt haben werden, findet sich doch noch manch altes, niedriges Haus mit den Zieraten eines längst veränderten Geschmacks; und fast an ihrem östlichen Ende liegt die Luisenstadtkirche, gebaut im Jahre 1794. Es ist ein einfaches, schmuckloses Gotteshaus, klein und bescheiden, weiß getüncht, mit einem Glockenturm an der Vorderseite, der das schräge Dach nicht viel überragt. An das rings umgitterte Kirchlein stößt der alte Kirchhof, welcher aber seit dreißig und mehr Jahren als solcher nicht mehr benutzt wird. Er ist jetzt ein Spielplatz für die Kinder und eine Art von Familienpark für alle Angehörigen dieser Parochie, mit alten schattigen Bäumen und Rasenplätzen, mit Ruhebänken und sauber gehaltenen Kieswegen, widerhallend, wenn man gegen Abend kommt, von fröhlichem Getümmel, in welches zuweilen von der Kirche her die Orgel schallt. Am Pförtchen, durch welches man hereintritt, steht ein Gemeindediener, welcher auch Fremde gern hereinläßt, wenn sie es wünschen. Jedes Gemeindemitglied aber hat, wie seinen eigenen Schlüssel, auch seinen eigenen Tisch, Bank oder Stühle auf diesem ehemaligen Gottesacker; und ein jedes dieser Möbel ist in Abwesenheit des Besitzers entweder an den dahinter stehenden Baum festgebunden oder zierlich angekettet und mit einem Schloß versehen. Auch kleine verschlossene Kommoden finden sich in diesen sommerlichen Familiensitzen; und manche sind mit einem Staket eingefaßt oder von einer Laube überdacht. Nur noch selten sieht man hier oder dort eine vereinzelte efeubedeckte Grabstätte oder eine Graburne oder ein rostig gewordenes schwarzes Kreuz, dessen Inschrift schwer zu entziffern ist. Hier nun kann man an schönen Sommerabenden die Familienväter, ehrbare Handwerksmeister der Nachbarschaft, mit den Ihrigen sitzen sehen unter den Ahorn- und Kastanienbäumen an sauber gedeckten Tischen, auf welchen der mitgebrachte Mundvorrat appetitlich ausgebreitet wird und ein Fläschlein Bier oder zweie nicht fehlen; und hier verzehren sie, fröhlich und guter Dinge, unter Gottes freiem Himmel ihr Abendbrot auf einem Stück Grund und Boden, in welchem ihre Vorfahren ruhen und über welchem hin ihre Kinder sich jagen, mit den Vögeln in den Zweigen um die Wette jauchzend, bis um halb neun das Glöckchen des Gemeindedieners das Zeichen zum Aufbruch gibt.

Auf diesem Kirchhof war einst das Grab Friedrich Nicolais. Es ist nun ebensowenig mehr zu finden wie eins der andern. Aber an der Kirche, vorn, wenn man von der Straße kommt, unter den hohen Fenstern, rechts von der Tür, ist ein schwarzes Eisentäfelchen mit vergoldeter Umrahmung in die Mauer eingelassen, und darauf liest man die Inschrift:

Friedrich Nicolai,
geb. 18. März 1733,
gest. 8. Jan. 1811.


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