Julius Rodenberg
Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg

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Sonntag vor dem Landsberger Tor

(Juni 1880)

Einer meiner liebsten Sonntagsspaziergänge ist vor dem Landsberger Tor. Ich weiß wohl, daß das nicht die fashionabelste Gegend ist; und ich würde wahrscheinlich in einige Verlegenheit geraten, wenn mir dort plötzlich ein Bekannter begegnete und mich fragen wollte: »Wie kommen Sie hierher? Was haben Sie hier zu tun?« Ich wüßte nicht, was ich ihm antworten sollte. Doch das ist es eben, was mich dorthin führt: die vollkommene Gewißheit, einem Bekannten auf jener Seite der Stadt nicht zu begegnen. Ich könnte nach Sizilien oder dem Nordkap reisen und würde dort Bekannte treffen; ich bin auf der Insel Skye, der äußersten der Hebriden, nicht vor Bekannten sicher. Aber wenn ich vor das Landsberger Tor gehe, dann bin ich ein Fremder unter Fremden.

Oder – nein doch! Diese Menschen, Leute mittleren Standes zumeist, etwas mehr nach oben, etwas mehr nach unten, aber immer ordentliche Leute, bürgerliche Existenzen von der guten und bescheidenen Art, sind mir nicht fremd. Sie kennen mich nicht; ich aber kenne sie. Es macht mir das größte Vergnügen, sie zu beobachten, mit einem harmlosen Blick; an einem Tische mit ihnen zu sitzen, ein Wort aus ihrem Gespräch aufzufangen, ohne doch indiskret zu sein. Was gehn mich ihre Familienfreuden oder Sorgen, ihre häuslichen Feste oder Kalamitäten an? Was kümmert's mich wohl, ob die dicke Bäckersfrau zu meiner Rechten morgen gutes oder schlechtes Wetter für ihre Wäsche haben, und ob der ehrenfeste Mann, der zu meiner Linken nachdenklich hinter dem Glase sitzt, den Prozeß, welchen er gegen einen halsstarrigen Nachbar führt, gewinnen oder verlieren wird? Und doch fühle ich mich auf eine gewisse zutrauliche Weise in ihre Geheimnisse eingeweiht und nehme den lebhaftesten Anteil daran. Es tut mir wohl, das Leben einmal von einer anderen Seite zu betrachten, als wir es im Westen der Stadt zu sehen gewohnt sind; unter solchen zu sein, welche sich niemals von den Angelegenheiten und Neuigkeiten der feinen Welt unterhalten, niemals einen von den Namen in den Mund nehmen, ohne welche wir uns kaum ein Gespräch denken können, und trotzdem ganz respektabel aussehen, ganz zufrieden sind und ihren Sonntag feiern, daß es eine Art hat.

Schon wenn ich in den Omnibus steige, der in die Richtung gegen Osten fährt, bin ich halb und halb unter meinen Leuten. Nicht am Wochentag: denn der mit seiner mannigfaltigen Geschäftigkeit wirft alles durcheinander, Nord, Süd, Ost und West. Aber am Sonntag ist es etwas anderes; da sieht man keine Frauen mit Taschen oder Körben, keine Männer mit Kasten oder Handwerksgerät. Wer am Sonntag fährt, der fährt zu seinem Vergnügen, entweder er will einen Besuch machen, oder er kehrt von einem Besuch zurück, wie der junge Schlossermeister aus der Krautstraße, der mit seiner Frau und seinen beiden Kindern den Fond des Wagens einnimmt. Diese Leute reisen immer in großer Familie, aber sie nehmen aus Sparsamkeit so wenig Platz als möglich ein: der Mann hat das kleine Mädchen und die Frau hat den kleinen Jungen auf dem Schoß; sie sind bei Freunden in einer der neuen Straßen in der Nähe des Botanischen Gartens gewesen, haben die Taschen voll Kuchen und fahren nun recht fröhlich dahin durch die schönen Straßen und über die breiten Plätze des Westens von Berlin, die ihnen wie ein Wunder vorkommen (sie sind nämlich gebürtig aus Neuruppin; ein richtiger Berliner, und wenn er auch am Verlorenen Weg wohnte, wo noch so gut wie gar keine Häuser stehen, würde sich nicht wundern). Ich bin mit meinen Neuruppinern aus der Krautstraße noch nicht bis an den Dönhoffplatz gekommen, so kenne ich ihre ganze Geschichte, einschließlich der Geschichte der beiden Kinder. Es nimmt mich übrigens für das tüchtige Ehepaar ein, daß weder er noch sie mir ein Hehl machen aus den weniger lobenswerten Eigenschaften ihrer Sprößlinge: das kleine Mädchen sei immer neidisch auf den kleinen Jungen – eine Bemerkung, die allerdings durch die Tatsache bestätigt wird, daß die beiden winzigen Geschöpfe wieder Krieg angefangen haben und aufeinander losschlagen wegen eines Brezels, den der kleine Junge gerade in den Mund stecken will. Die Mutter, die den Frieden liebt, beschwichtigt das kleine Mädchen, indem sie die Hälfte des Kuchens ihm gibt. Aber diese Gewalttat empört wiederum das Herz des kleinen Jungen. Erst ist er still, dann gibt er einen Schrei von sich, dann noch einen und noch einen, und so fort, als ob er heute nicht mehr aufhören wolle. »Auf diese Manier schreit er manchmal die halbe Nacht durch«, sagt die bekümmerte Mutter; und man sieht es ihrem schmalen, überwachten Gesichtchen wohl an, daß sie die Wahrheit sagt. Wieder ein Zug, der mir an dem Papa gefällt: Er nimmt in seinem Herzen Partei für den Jungen, will's ihm aber nicht zeigen, wegen der Mutter. »Er hat ja so recht«, sagt er, und dabei versetzt er ihm eins auf die Knöchel, daß der kleine Schreier (der diese Sorte von Liebkosungen wohl kennt) augenblicklich verstummt. Über dem Kopf seines Jungen aber sieht der Mann seine Frau mit einer triumphierenden Miene an, die zu sagen scheint: »Na, warte man! Wenn der erst groß ist! Der läßt sich auch nichts nehmen, was er einmal in der Hand hat!«

Am Mühlendamm steig ich aus; der Wagen fährt rechts, und ich gehe links. Dort drüben am Rande des weiten Beckens, welches hier die Spree bildet, liegt Neukölln, Neukölln am Wasser. Die Nachmittagssonne spiegelt sich in der schillernden Flut und beglänzt am Ufer die friedlichen Häuser – auch das darunter mit der breiten, schweren Fassade und dem massiven Torweg. Das Haus ist mir wohl bekannt, und in seinen dunklen gewundenen Gängen bin ich manchmal gewesen. Der alte Herr Grandidier hat dort gewohnt. Aber jetzt steht es einsam, andre Leute wohnen darin, und seine Fenster, die von der Sonne leuchten, winken mir nicht mehr. Die Herren vom Mühlendamm aber sind noch immer dieselben. Die haben zweimal Sonntag in jeder Woche, Sonnabend und Sonntag, und der Sonntag ist für sie der bessere Tag. Da dürfen sie noch obendrein rauchen. Sie sitzen vor den halbgeöffneten Türen ihrer Läden, aus alter Gewohnheit. Denn Geschäfte können sie nicht machen. Die schönen Uniformen mit den blanken Knöpfen, die goldbetreßten Livreen und die Schlafröcke mit dem roten Unterfutter ruhen in der Verborgenheit. Aber eine Gardine wenigstens ist herabgelassen mit der Inschrift in großen Buchstaben: »Hier werden Fräcke verliehen«. Unter den steinernen Bögen der Arkaden ist es hübsch kühl, da sitzen sie wie vornehme Herren, die sich's wohl einmal antun dürfen, mit dem Hut auf dem Kopfe und mit Pantoffeln an den Füßen und einer Miene von Weltverachtung, die ich nur an Sonntagnachmittagen an ihnen bemerkt habe.

Der Molkenmarkt liegt in tiefem Schatten, und Sonne ist nur an den grauen Mauern jenes Hauses, in welches – glaub ich – die Sonne niemals hereinscheint. Oder ist eine von den vergitterten Zellen, in diesen eng umbauten Höfen, in welche von oben her zuweilen eine Botschaft des Lichtes dringt? Die Haupteinfahrt ist geschlossen, als ob auch das Verbrechen noch einen Rest von Scheu vor dem Sonntage hätte; durch einen halbgeöffneten Seiteneingang sieht man den Posten im Hofe schildern, und lässig auf der Treppe steht einer von den »Blauen«, wie die Schutzleute in der Sprache derjenigen heißen, die in beständigem Krieg mit ihnen leben. Sonntagnachmittag in einem Gefängnis – Sonntagnachmittag auf dem Molkenmarkt ... laß uns weiter wandern, lieber Leser.

Hier ist die Spandauer Straße, und hier leuchtet uns nach wenigen Schritten schon das Rathaus in all seiner Herrlichkeit entgegen, der Stolz des Bürgertums von Berlin. Das Rot dieses mächtigen Vierecks, flimmernd von Sonne, zeichnet sich wundervoll gegen den blauen Himmel ab, und sein Turm, ganz in Licht gebadet und golden angehaucht in dieser Stunde, steht recht wie ein Wahrzeichen da, nach dem der Wandrer sich richten kann. Er grüßt ihn, wenn er sich dem Zentrum der Stadt nähert, ihrem Herzen und belebten Mittelpunkt; und sein rötlicher Schein bei Tag, seine erleuchtete Uhr bei Nacht sind ihm lang noch erkennbar, wenn er sich gegen Osten oder Norden entfernt.

Heut ist die Königstraße still. Die Läden sind geschlossen und die Häuser wie ausgestorben. Nur sonntäglichen Spaziergängern begegnen wir. Aber wie sehr dies Berlin eine wachsende Stadt ist, eine Stadt, die sich beständig verändert, verschönert, vergrößert, das sieht man auch am Sonntag, wenn die Arbeit ruht. Die Königskolonnaden und die Königsbrücke sind noch da, ein bewundertes Werk aus der Zeit Friedrichs des Großen; aber die Sandsteinfiguren und die jonische Säulenlaube, die so schön waren, als sie noch rein und weiß waren, sind inzwischen ganz verwittert, unter der Brücke ist kein Wasser mehr, und sie selber wird auch bald nicht mehr sein. Auf dem trockenen Bette des weiland Königsgrabens erheben sich die Strukturen eines anderen Werkes, der Stadtbahn, welche so recht im Geist der neueren Zeit rücksichtslos fortschreitet durch unsere Straßen, zerstört, was ihr im Wege ist, und bald mit ihrem steinernen Ring uns umschlossen haben wird; auch eine Stadtmauer, aber eine andere, als die einst hier gewesen, eine, auf der Leben und Bewegung ist, die den Verkehr beschleunigt, welchen jene gehemmt hat. Oh, über die gute, alte Zeit, wo jeder noch seine Bequemlichkeit und seine Ruhe hatte! Wo das, was man jetzt die allgemeine Wohlfahrt nennt, den einzelnen noch nicht verhinderte, an die seine zu denken! Wo noch nicht so viel Menschen auf der Welt waren und diejenigen, die darauf waren, noch nicht so viel Lärm machten! Wo noch Ruhe war in den Straßen und Gemütlichkeit in den Häusern! Wo noch kein Gerassel von Omnibussen war und kein Geklingel von Pferdebahnen, keine Kanalisationsarbeit, welche jahrelang bald hier, bald da die Stadt aufwühlt und in tiefe Gruben und unübersteigliche Sandberge verwandelt.

Wer damals, vor hundert und etlichen Jahren, seinen Sonntagnachmittagsspaziergang hierher gemacht hätte, der würde noch keinen Alexanderplatz gesehen haben, sondern die Contreskarpe war da, und der Stelzenkrug war da, und ehrsame Bürger waren da, welche mit einem dreieckigen Hut und einem langen Zopfe, die tugendfesten Ehehälften am Arme, zu den umliegenden Gärten lustwandelten. Bedächtig war ihr Schritt und sauer der Wein, der sie dort erwartete; billig das Leben, geräumig ihre Stadt und die Zeit so wohlfeil wie ein gutes Abendessen, welches – wenn es aus drei wohlgekochten Gerichten, mit Butter und Käse, bestand – nach unserm Gelde 1 Mark 20 Pfennige kostete. Das einzige, was zu der Zeit teuer war, waren die Briefe, indem zum Beispiel ein Brief »ins Deutsche Reich« (muß bis Duderstadt frankiert werden) vierzig und einer nach Elsaß und Lothringen sogar siebzig Pfennige kostete. Da sieht man, wie die Zeiten sich geändert haben. Außer Briefschreiben gibt es jetzt kein billiges Vergnügen mehr auf Erden; und dazu hält manch einer das noch nicht einmal für ein Vergnügen. Diese braven Philister und Pfahlbürger aber wußten, was sie taten: sie schrieben Briefe so wenig als möglich, aßen zu Abend soviel als möglich und dankten ihrem Schöpfer, daß er alles so herrlich eingerichtet habe. Vielleicht kam um diese Zeit aus einer Nebenstraße, »der Kaie längs dem Graben linker Hand«, ein Mann in der Mitte seiner Dreißig, in Kniehosen, mit einem göttlich frohen Gesicht, welches gleichsam noch glühte von dem Widerschein schöner Gedanken wie der Himmel über ihm von dem warmen Gold der Junisonne. Dieser Mann, wenn er Wein trinken wollte, ging nicht in die Gärten vor dem Tore der Stadt, sondern er begab sich in ihr Inneres. Denn er verstand sich auf einen guten Tropfen und liebte die gute Gesellschaft, und beides fand er bei Maurer in der Brüderstraße, wo die »Quartbouteille guten Pontac« zehn Silbergroschen und die Bouteille Champagner einen Taler kostete. Gute Zeit, glückliche Zeit, wo Lessing seine »Minna von Barnhelm« schrieb und die Flasche Champagner einen Taler kostete! Die »Kaie längs dem Graben«, heute »Am Königsgraben« genannt, bestand damals aus lauter neuen Häusern; die sind inzwischen alt geworden, wo der Graben war, ist die Stadtbahn, und die Berliner Dichter, wenn sie just auch keine Stücke mehr schreiben wie Lessing, werden sich doch wohl hüten, da zu wohnen, wo er gewohnt hat.

Hier aber beginnt meine Gegend. Wo Lessing vorübergeschritten, rasselt ein Kremser aus Friedrichsfelde träge heran und stellt sich an dem Springbrunnen auf. Hier in Sonne getaucht, dort in Schatten gelagert, liegt der Alexanderplatz, und vor mir öffnet sich die Landsberger Straße. Keine neue Straße, nach dem heutigen Begriffe; jedoch auch keine sehr alte. Denn was ist alt in Berlin, wirklich alt, außer ein paar Kirchen? Die Landsberger Straße führt mitten hinein in die Königstadt, und gleich links von ihr liegt ein Stück echten, alten Berlins, welches mit seinen Erinnerungen, wenn nicht mit seinen gegenwärtigen Gebäuden, weit in das Mittelalter zurückreicht: der Georgenkirchhof. Noch in der ersten Zeit des Großen Kurfürsten war hier nichts als diese Kirche, ein Kapellenbau aus dem 13. Jahrhundert, ein Pesthaus, nicht weit davon das Hochgericht, dazwischen einige Häuser, die Keimpunkte gleichsam und Ansätze künftiger Straßen, und ringsumher offenes Feld, Kornfeld und Heide, Gärten, Weinberge, Meierhöfe, ländliche Besitzungen in großer Zahl. Das Grün und der Wein und die Blumen, sowohl Flieder als Rosen, sind längst aus dieser Nachbarschaft verschwunden, in welcher jetzt eine fleißige Bevölkerung von Handwerkern wohnt; aber das Andenken an jene Tage des Wohlgeruchs und der Heckenwege lebt in den Namen des Grünen Wegs, der Wein-, der Blumen-, der Flieder- und der Rosenstraße fort. Damals war noch der heilige Georg der Schutzpatron dieser Gegend; nach ihm hieß das Hospital und die Kirche, welche Mitte des 17. Jahrhunderts völlig außerhalb der Stadt lagen: »Domus Sti. Georgii extra muros«. Auf einem Plane der Stadt aus dem letzten Regierungsjahre des Großen Kurfürsten (1688) bemerkt man jedoch schon einige Bauten; in der Tat, seit dem Frieden von St.-Germain bevölkerte sich der Grund und Boden um die Kirche des heiligen Georg, und die entstehende Vorstadt ward nach ihm genannt: die St.-Georgen-Vorstadt. Aber die Häuser stehen noch in weiten Zwischenräumen, hier eins und dort eins, umgeben von großen Gärten; eine Landstraße führt hindurch, auf dem Plane bezeichnet als »Straße nach Landsberg«, und den Hintergrund schließen Sandhügel ab, so wie der Kreuzberg heute noch ist, nur breiter, ausgedehnter, den ganzen Horizont begrenzend, und mit vielen Windmühlen besetzt.

Nun aber kommt der Tag, wo der Sohn des Großen Kurfürsten sich feierlich zu Königsberg die Königskrone auf das Haupt setzt, der 18. Januar 1701, und der andere Tag, der 6. Mai desselben Jahres, wo König Friedrich Wilhelm I. seinen Einzug hält durch das Georgentor, die Georgenstraße, die Georgenvorstadt. Vor dem jungen königlichen Glanze muß der heilige Georg weichen: das Georgentor wird seit jenem Tage das Königstor, die Georgenstraße die Königstraße und die Georgenvorstadt die Königstadt. Aber noch immer nennt sich nach ihm diese Parochie die Georgengemeinde, und sein Bild, ein güldner Reiter auf einem güldnen Rosse, sitzt hoch über der St.-Georgen-Apotheke in der Landsberger Straße. Den Namen dieser Straße, welche von allen anderen Straßen der ehemaligen Georgenvorstadt das Andenken ihres alten Heiligen so gut in Ehren hält, finden wir zuerst auf einem Plane aus dem Jahre 1710. Die gegenwärtig so beträchtlich lange Straße war damals noch recht kurz: Sie reichte nicht weiter als ungefähr bis zur heutigen Kleinen Frankfurter Straße. Jedoch für die Bewohner, die sich hier allmählich angesiedelt, war die St. Georgenkirche schon zu klein geworden: Wir müssen sie uns etwa denken wie die Gertraudenkirche auf dem Spittelmarkt, die Spittelkirche, die wir ja alle so wohl kennen, die verurteilt ist, vor der großen Berliner Pferdebahn zu sterben und die wir alle vermissen werden, wenn sie einmal nicht mehr da sein wird, obgleich sie nur ein winziges häßliches Ding ist.Sie ist seitdem verschwunden. Schöne Kirchen haben diese Köllner und Berliner der vorhohenzollernschen Zeit überhaupt nicht gebaut, große auch nicht. Wie konnten sie wissen, diese Fischer und Bauern, daß Berlin noch einmal etwas vorstellen werde! Glücklicherweise war viel Platz da; der war billig zu jener Zeit und ist es lange geblieben. Als ihnen die Kirchen zu klein wurden, rückten sie vor die Kirchen: Auf dem Spittelmarkt, der damals der Gertraudenkirchhof war, da, wo jetzt die Normaluhr steht und die Schöneberger Omnibusse halten, ward jeden Sonntag mittags zwölf Uhr unter freiem Himmel gepredigt, auf dem Heiligengeist-Kirchhof standen drei Linden, unter denen man den Gottesdienst zelebrierte, und auf dem Georgenkirchhof waren eine Kanzel, Kirchenstühle und ein Chor errichtet. Erst unter Friedrich dem Großen war die Kirche gebaut, die wir heute sehen und deren Front die Jahreszahl trägt: »1779«.

Inzwischen war aber auch die Landsberger Straße nebst den umgebenden Straßen beträchtlich gewachsen; es waren just keine schönen Häuser, die man allhier erbaute, als alles umher noch plattes Land war; sie haben etwas vom märkischen Bauernhause, das mit dem behäbigen der gesegneteren deutschen Landstriche sich nicht messen kann, und nicht wenige von ihnen, in ihrem gegenwärtigen verwitterten Zustand und Verfall, sind noch schlimmer – Reste der Vergangenheit, denen man noch vielfach in Berlin begegnet, deren Fortexistenz man aber um so weniger begreift, als der Grund und Boden, den sie einnehmen, inzwischen so beträchtlich mehr wert geworden sein muß als die Gebäude selbst. Nichts kann unwohnlicher und weniger einladend sein als die langgestreckten Lehmhäuser dieser Art, die den Wanderer, bis in den Tiergarten hinein, daran erinnern, daß Berlin nicht immer die Stadt der Paläste gewesen, als die es uns heute erscheint. Niedrig, finster, mit nur einem Stock oder vielmehr Erdgeschoß, mit vergitterten Fenstern, mit halb zugemauerten Fenstern, manchmal mit gar keinen Fenstern, sondern viereckigen Löchern, wie in einem Stall, stehen sie da, mit einer Miene von Trotz und Unabhängigkeit, zwischen den neueren Häusern, welche sie zu verdrängen keine Macht haben. Ob heute noch Leute darin wohnen? Ich glaube ja; und mehr als das: an einem derselben in dieser Gegend zum Beispiel habe ich ein Schild mit der Inschrift gesehen: »Salon für kleine und große Gesellschaften«. An einem andern, hinter dem übrigens sich ein weiter Hof befand, las ich: »Elegante Brautwagen, Chaisen zu Festlichkeiten«. Das muß ein fideles Volk sein in diesen miserablen Spelunken, die man hier in den Haupt- und Nebenstraßen noch überall erblickt.

Deutlicher, weniger fragmentarisch als in den meisten anderen Straßen Berlins meine ich in den einzelnen noch unterscheidbaren Stücken dieser Landsberger Straße, wie sie sich im Verlaufe von fast anderthalbhundert Jahren aneinandergefügt haben, den Fortschritt der Bauweise zu erkennen, von jenem Hause der äußersten Armseligkeit angefangen, aus welchem ehemals ganze Straßen bestanden, das sich aber jetzt nur noch in einzelnen Exemplaren erhalten hat. Von den Zwangsbauten Friedrich Wilhelms I., der, wie man weiß, »den Häuserbau gar sehr poussieret«, ist hier freilich nichts zu bemerken, weder im nüchtern bürgerlichen noch im Prunkstil; denn dieser König dehnte seine Spaziergänge, deren jeder seine getreuen Untertanen ein Haus kostete, nicht so weit aus, sondern beschränkte sich auf die Friedrichstadt. Dagegen erblickt man hier manch ein hübsches Muster des dezenten Wohnhauses aus der späteren friderizianischen Zeit, das sich heute noch zwischen seinen Nachbarn ganz freundlich ausnimmt und, ein- oder zweistöckig, mit seinem bescheidenen Zierat von Blumen und Figuren in Stuck an den Wänden lange das typische geblieben zu sein scheint, bis das doppelt so umfangreiche der Regierungen Friedrich Wilhelms III. und IV. mit seinen drei Stockwerken erscheint und dort endlich, wo die Landsberger Straße sich breit und prächtig gegen die Friedenstraße öffnet, die mächtigen Gebäudekomplexe aufragen, welche charakteristisch für Berlins jüngste Entwicklung sind. –

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Landsberger Straße schon bis zur Gollnowstraße vorgerückt. Darüber hinaus waren Gärten und Weinberge. Was die Gärten betrifft, so sind sie langsam erst in neuerer Zeit unter dem vordringenden Häuserbau verschwunden. Hier herum, in dieser damals ganz ländlichen Gegend, hatten vor hundert Jahren viele Berliner ihre Sommerwohnungen. Nicht weit von hier, nach dem Frankfurter Tore hin, in dem, was zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Lehmgasse war und heute die Blumenstraße heißt, hatte Lessings Freund, Friedrich Nicolai, sein Landhaus, welches der Enkel des trefflichen Alten in seinen »Jugenderinnerungen« so reizend und pietätvoll beschreibt. Die Blumenstraße erhielt ihren gegenwärtigen Namen nach den vielen Gärtnereien, die zu beiden Seiten hinter sehr primitiven Gartenzäunen in kleinen, bescheidenen Häusern angelegt waren; und noch in den zwanziger Jahren war es hier so still und einsam, daß man nach Sonnenuntergang kaum einen Menschen zwischen den dunkelen Hecken mehr antraf. Das holperige Steinpflaster und das Öllampenlicht reichten nur bis an den Grünen Weg – »der sternenklare Himmel glänzte über den stillen Gartenbäumen, und der Geruch der Bouchéschen Hyazinthenbeete wallte durch die kaum bewegte Luft«. Die Familie Bouché – heute noch eine illustre Gärtnerfamilie der französischen Kolonie – war hier allein durch vier bis fünf Mitglieder vertreten. Der Grüne Weg – jetzt eine sehr lange, vom Kleingewerbe bevölkerte, verkehrsreiche Geschäfts- und Fabrikstraße – ganze Strecken weit liest man Schild an Schild: »Wollenwaren, Châles und Tücher« – war damals, vor sechzig Jahren, wirklich noch ein schmaler, von Bretterzäunen eingefaßter »Weg«, in dem kein Haus, aber auch nichts »Grünes« war, denn sogar das Unkraut wuchs daselbst spärlich. Wo jetzt die Häusermassen des Stralauer Viertels und der Luisenstadt einander an der Spree begegnen, waren damals auf dem rechten Ufer die Gärten, die wir Älteren teilweise noch gesehen und ebenso gut gekannt haben, wie den Sand und die dünnen Getreidefluren des Köpnicker Feldes auf dem linken. Aber an die Weinberge zu glauben fällt mir schwer. Ich habe niemals recht daran geglaubt, daß in diesen Weinbergen, von welchen in den alten Büchern fortwährend die Rede, wirklich Wein gewachsen ist. Doch muß dem wohl so gewesen sein, da der alte Friedrich Nicolai – der, was er sonst auch pekziert, doch nicht gelogen hat – in seiner Beschreibung Berlins erzählt, daß in dem ehemals Feldmarschall-von-Derfflingerschen Weinberg, der in der Landsberger Straße lag, Anno 1740 die Weinstöcke erfroren seien. Was mich wundert, ist, daß sie nicht schon früher erfroren sind. Sollte man sich nicht unter den Himmel Italiens, in die lachenden Ebenen des Po oder in die gesegneten Gefilde der Brianza versetzt meinen, wenn man fortwährend von diesen crève-coeurs, den Berliner Weinbergen unterhalten wird und ein paar Seiten weiter im Nicolai sogar noch liest, daß vor dem Landsberger Tor rechter Hand eine Maulbeerplantage gewesen? Jetzt sind daselbst nur die Stallungen der Berliner Omnibusgesellschaft, und das scheint mir auch das rechte Ding für den rechten Platz zu sein. Hat Berlin sich wirklich so verschlechtert, oder fehlt es uns nur an dem Glauben, der bekanntlich Berge versetzt und es darum auch wohl mit Weinbergen und Maulbeerplantagen aufnehmen kann? Glückliche Vorväter! Sie bauten ihren Wein, sie spannen ihre Seide, und sie krochen hernach vergnügt in ihre kleinen Parterrewohnungen, die halb unter der Erde waren.

Ein Hauch des Altertümlichen schwebt um diesen Georgenkirchplatz, besonders an einem Sonntagnachmittag, wenn hier kein Durchgang und Verkehr ist, wenn die Kinder auf dem Rasen spielen und die alten Leute, welche nicht mehr von Haus gehen, auf den Bänken sitzen oder ein Genesender aus einem Fenster des Hospitals zu St. Georg dankbar in die Abendsonne schaut, deren immer mehr nach oben entschwebender Strahl jetzt an den beiden gegenüberliegenden Häusern die Worte funkeln läßt: »Kornmessersches Waisenhaus«, »Rückersche Stiftung«. Mit dem Frieden der Kirche in der Mitte und der Ruhe des Sonntags und der Fröhlichkeit der Kinder und dem Geruch des frischen Grüns ringsum mischt sich ein Gefühl wie von der Nähe guter, hilfreicher Menschen, das in der Luft zu liegen scheint und so wohl zu dieser Stätte paßt, die den Kranken, den Armen und den Waisen von jeher gewidmet war. Wo aber, in ganz Berlin, würde man nicht immer und immer wieder von diesem Gefühl ergriffen? Wenn man nur aufmerken will, wird man fast in jeder Straße den Spuren der Wohltätigkeit und des Erbarmens begegnen. Manchmal, wie in der Großen Frankfurter Straße, sieht man in einer einzigen langen Reihe, Haus bei Haus, diese Anstalten für alte und kranke Mitmenschen – und ich erinnere mich wohl der Zeit, wo sie ganz in Grün und Schatten standen, als das, was jetzt die »Große Frankfurter Straße« heißt, die »Frankfurter Linden« waren – wie die Straße heute noch vom Volke, das in solchen Dingen hartnäckig ist, und auf den Schildbrettern der dorthin fahrenden Omnibusse genannt wird, obwohl dort lange keine Linden mehr stehen. Sie wurden 1872 gefällt. Aber ich habe sie noch gesehen, diese hundertjährigen Bäume, Pappeln und Linden, welche der Gegend etwas so Friedliches gaben; und sie fehlten mir sehr, als ich nach Jahren wiederkam. Jedoch die Häuser, die sie vormals mit ihrem ehrwürdigen Laubdach schirmten, sind auch heute noch da – hoch, luftig, geräumig; meist Stiftungen verstorbener Bürger und vielfach solcher, die sich emporgearbeitet, Selfmademen, die für ihre ehemaligen Handwerks- und Standesgenossen in dieser fürstlichen Weise gesorgt haben. Die Grundeigenschaft des Berliner Herzens ist Güte: nicht jene schwächliche, die sich irgend etwas gefallen oder nehmen ließe, nein – da fällt mir mein kleiner Berliner aus dem Omnibus wieder ein –, sondern jene tatkräftige, die zu handeln bereit ist: ein offnes Herz und eine offne Hand. Kein Verschwender, ein vorsichtiger Rechner ist der Berliner, ein Quengler und Mäkler um jeden Pfennig, sei es in der Stadtverordnetenversammlung, sei es mit seinem Droschkenkutscher. Ein sparsamer Mann; aber manch ein enormes Vermögen oder Teil eines Vermögens, das er auf solche Weise rechtschaffen erworben, geht als milde Stiftung in das Eigentum der Stadt über, wenn er seine Tage beschließt. In einer solchen Stadt ist gut leben; denn man ist sich am Ende doch bewußt, selbst in dieser ganz modernen Zeit und mit all ihren Auswüchsen, unter braven Menschen zu sein – und der Mensch ist die Hauptsache, nicht die Zeit. Das ist es, was mich auf diesen meinen Wanderungen durch die Stadt so sehr anmutet: überall Menschen zu finden, mit denen sich ein trauliches Wort tauschen und im Vorübergehen reden läßt, ohne daß man voneinander zu wissen braucht – mit den gesellschaftlich vielleicht unter uns Stehenden auf eine Weile zu verkehren, am Alltag sie bei ihrer Arbeit zu sehen und am Sonntag bei ihren harmlosen Vergnügungen, mich an einen Tisch mit ihnen zu setzen und selbst aus den Werken und Hinterlassenschaften der Verstorbenen eine Stimme zu hören, die mich nicht unbewegt lassen kann.

Ein andrer Zug, der meine Spaziergänge mir angenehm macht, ist, aus eigener Anschauung wahrzunehmen, wie trefflich in dieser Stadt für die heranwachsende Jugend gesorgt ist, beides, für ihren Unterricht und ihre Gesundheit. Es bedürfte ja freilich dieser Bestätigung nicht, wo die Resultate so klar vor Augen liegen und unser Schulwesen uns fast noch berühmter in der Welt gemacht hat als unser Heerwesen. Aber doch ist es etwas, das, was uns Außenstehenden meist nur ein Begriff ist, einmal leibhaftig vor Augen zu haben; und wo man hier und anderwärts in den Geschäfts- und Fabrikgegenden unsrer Stadt, zuweilen in einer recht dürftigen Umgebung, ein auffallend schönes Gebäude sieht, zumeist aus heimischem Material, Backstein und Sandstein, mit palastartiger Front, mit hohen und breiten Fenstern, mit vielem Grün entweder ringsum oder durch die Portale leuchtend von dem Hofe her, da kann man sicher sein, daß es eine Gemeindeschule ist, wie der prachtvolle Backsteinbau in der Elisabethstraße oder das imposante Häuserkarree in der Strausberger Straße, in welcher sich obendrein noch eine städtische Volksbibliothek befindet. Ja, ja – die gute, alte Zeit hatte manches, was uns dermalen abhanden gekommen; solche Schulhäuser aber hatte sie nicht. Und dann an jedem schönen Sommermorgen diese Scharen glückseliger Kinder zu sehen, bald der einen, bald der andern Schule, heute Mädchen in ihren bunten Kleidchen, morgen Knaben in ihren Turnjacken und mit Botanisierbüchsen über der Schulter, wie sie fröhlich aus den entfernteren Gegenden der Stadt durch den Tiergarten nach dem Grunewald und den Havelseen ziehen – wie sie truppweise marschieren, zwei und zwei, und ihre vierstimmigen Lieder singen, mit einem bescheidenen Mann an ihrer Spitze, der den Takt schlägt und in der Dankbarkeit und Freude seines Herzens über den herrlichen, freien Tag eine Zigarre dazu raucht ... Achtung, meine Herren! Es ist der preußische Schulmeister, der hier still und fast unbemerkt an Ihnen vorübergegangen!

Solch ein Anblick macht mich froh für den ganzen Tag, und der Gedanke daran begleitet mich bis hierher, wo wohl mancher von den kleinen Sängern seine Heimat haben mag. Sonntagsruhe herrscht in den schattigen schmalen Straßen, die sich vom Georgenkirchhof aus abzweigen. Sie scheinen von ihren Bewohnern verlassen. Nur hier und dort aus dem Keller herauf ist ein Mütterchen gestiegen, das mir mißtrauisch nachsieht, indem ich vorübergehe. Wie gerne würd ich ihr einen guten Abend wünschen! Aber das geht nicht hier in der großen Stadt. Sie würde vielleicht meinen, daß sie es mit einem zu tun hätte, der es auf ihre Habseligkeiten abgesehen. Aus einem Fenster schaut ein sonntäglich geputztes Mädchen, aus einem andern ein hemdärmeliger Mann. Vor dem Fleischerladen sitzt die behäbige Frau Metzgerin mit einer weißen Schürze, neben ihr der wohlgenährte Herr Gemahl und ein Nachbar. Hier tönt aus einem Hause Klavierspiel, dort aus einem Hofe die Drehorgel. Sonst ist es sehr still hier, wo man am Wochentag kaum vorwärts kommt auf dem schmalen Trottoir. Alles scheint ins Freie geflogen.

Nun auf einmal erscheint im Hintergrund eine dichte Masse Grüns; es ist der »Hain«, wie sie in dieser Gegend den Friedrichshain nennen. Immer deutlicher tritt er hervor, man kann die Baumkronen schon unterscheiden, wie sie sich eine neben und über der andern wölben. Aber ich halte darauf, wie ein rechter Berliner »Cockney«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, meinem Ziele nicht auf Nebenwegen zu nahen. Wenn der Berliner vor das Landsberger Tor gehen will, so geht er durch die Landsberger Straße; das ist schon sein halbes Vergnügen. Und sie kann sich auch wohl sehen lassen, diese Straße mit ihren großen und ihren kleinen Häusern, wie sie grade durcheinandergewürfelt sind. Das Grün ist verschwunden, aber dafür haben wir diese malerischen Perspektiven, die ich liebe und selbst in diesen langen, als nüchtern verschrienen Berliner Straßen finde, wenn Licht und Schatten wechseln, wenn Seitenstraßen sich öffnen, in denen das anmutige Spiel sich fortsetzt; wenn hier unter dem Torbogen eines alten Wirtshauses ein Frachtwagen gesehen wird, mit weißem Leinen bespannt, und dort ein lattenumzäunter Hof erscheint, wie eine Meierei mit Ackerwagen und Ackergerät, mit Stallungen und Kühen, ein märkisches Idyll, wie Schmidt von Werneuchen es nicht besser hätte singen können und noch dazu vielleicht an der identischen Stelle, wo der vorhinnigen Exzellenz, des Generalfeldmarschall Derfflingers, verfrorener Weinberg lag!

Allein ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß man in dieser Gegend der Stadt für bürgerliche Meriten weit mehr Anerkennung und Dankbarkeit besaß als für die militärischen. Von dem alten Haudegen, der am Landsberger Tor von seinen gewonnenen Schlachten ausruhte, erzählt hier keine Straße mehr. Dagegen verewigt der Büschingplatz und die Büschingstraße den Namen des hochverdienten Mannes, der siebenundzwanzig Jahre lang Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster war und durch seine klassische »Erdbeschreibung« den Grund zu der neueren wissenschaftlichen Behandlung der Geographie gelegt hat. Hier in der damals ländlichen Gegend besaß er ein Gartenhaus, und in seinem eigenen Garten ward er bestattet. Erst im Jahre 1873 bei dem Durchbruch der Landwehrstraße durch die Gollnowstraße wurden der Garten, das Gartenhaus und das Grab beseitigt und die Gebeine Büschings und der Seinigen nach dem Kirchhof der Georgengemeinde vor dem Landsberger Tor getragen, wo sie seitdem an bevorzugter Stelle ruhen. Die Litzmannsgasse heißt nach einem angesehenen berlinischen Bürgermeister dieses Namens, die Waßmannsstraße nach einem Zimmermann, der einen Gartenfleck seines Grundstücks, und die Gollnowstraße nach einem Stadtverordneten, der seine Scheune dem gemeinen Besten opferte. Wenn man dankbar zu jener Zeit war, so war man auch bescheiden: Für eine Scheune hatte man die Unsterblichkeit! Unsere Stadtverordneten haben es nicht mehr so billig.

Jenseits des Büschingplatzes nimmt die Landsberger Straße einen überwiegend modernen Charakter an, es ist ihr neuestes und letztes Stück. Am Ende derselben stand noch bis vor etwa zehn Jahren das Landsberger Tor, und eine Mauer schloß sich daran, welche nicht aussah, als ob sie irgendeinem Feinde Trotz bieten könne. Das war denn auch freilich ihre Bestimmung nicht: Sie war keine Fortifikationsmauer wie jene aus den Zeiten der Kurfürsten und ersten Könige, sondern diente den eminent friedlichen Zwecken der Schlacht- und Mahlsteuer. Doch engte sie die Stadt ein und gab ihr ein unschönes Aussehen: Schlecht gepflasterte und auch sonst nicht zum besten gehaltene Wege, Kommunikationen genannt, vermittelten, dicht unter der Mauer, den Verkehr der Fußgänger von Tor zu Tor. Diese Mauern und Tore sind längst gefallen, und wenn man jetzt auf den Landsberger Platz kommt, so hat man einen wirklich großstädtischen Anblick vor sich: Zu beiden Seiten ausgedehnt liegt eine prachtvolle neue Straße: die Friedenstraße – links, wo die Kommunikation am Königstor war, ihr vornehmerer Teil, mit wahrhaft herrschaftlichen Häusern an einer schönen Promenade; rechts, wo die Kommunikation am Landsberger Tor war, eine Straße, wie einer von den Pariser äußern Boulevards, in der Mitte mit Bäumen bepflanzt und so breit wie in Berlin etwa nur noch die Straße Unter den Linden. Gegenüber, wo die Sandhügel waren, rauscht und weht und lädt in seine grüne Dämmerung der Friedrichshain, zieht sich in sanfter Steigung die Landsberger Allee den Berg hinan, und welch ein Bild bunten, sonntäglichen Lebens in der Mitte! Da fahren die Pferdebahnen, da kreuzen sich die Wagen und die Omnibusse; da drängen sich die Menschenhaufen auf dem weiten, offenen Platz. Und dann wieder kann das Auge ruhen auf dem sommerlichen Grün des »Hains«, um welches von außen sich schwebende Festons von Rankengewächsen schlingen. Es ist die Zeit des Jasmins und des Holunders, und beide vereint senden ihren weißen Blütenschimmer und ihre vermischten Wohlgerüche, den süßen und den herben, mir entgegen. Von Blumenbeeten umgeben erhebt sich das Kriegerdenkmal, auf seinen Tafeln von Erz schimmern im Lichte der sinkenden Sonne die Namen der Braven aus diesem Distrikt, die in Frankreich gefallen, und mittendrin bin ich jetzt in dem Sonntag der feiernden Menge. Doch diese Leute sind auch am Sonntag noch bepackt und beladen. Eine Frau schleppt ein Kind, das ihr auf dem Arme eingeschlafen ist, der Mann geht hinterher mit einem Blumentopf. Der Mann in dieser Gegend wählt sich, wenn er es irgend möglich machen kann, das bessere, das heißt: das leichtere Teil. Der »Hain« wimmelt von Kindern, die sich beim Spiele vergnügen: Kinder aus dem Volk, Mädchen im Kattunkleidchen, Knaben in linnenen Jacken. Die Mütter haben meist ernste, schmächtige Gesichter, auf denen die Spuren der Arbeit und des Nachtwachens zu lesen sind. Sie hören früh auf, jung zu sein. Alte Frauen sitzen mit dem Strickstrumpf auf den Bänken oder im Gras unter den Bäumen. Das sind Erscheinungen, die man nicht im Tiergarten sieht. Der Friedrichshain hat nicht das Privileg der Jahrhunderte wie der Tiergarten. Dieser war ein alter, königlicher Forst und mißt heute noch eine bis zwei Stunden im Umfang. Von unsren aristokratischen Quartieren begrenzt oder umgeben, gewährt er in seinem Schoße zu gewissen Stunden des Tages den Anblick der Eleganz, zu andren den der vornehmen Ruhe. Von ganz verschiedener Art ist der Friedrichshain: eine Schöpfung der Stadt, zur Säkularfeier der Thronbesteigung Friedrichs des Großen, dient er nicht dem Luxus, sondern allein dem Wohlergehen und der Gesundheit eines großen Teiles unserer Bevölkerung. Er trägt den Geruch des Grüns, den Sauerstoff der Waldluft in enge, dichtbewohnte Straßen. Auch unterschätze man nicht die moralische Bedeutung, welche die Nachbarschaft eines solchen Stückes Natur für den Großstädter hat: Der »Hain« ist eine Wohltat für diese Gegend und ihr Stolz. Denn obgleich von geringerer Ausdehnung als der Park im Westen, entbehrt er doch keineswegs der landschaftlichen Reize. Seine Bäume stehen in der Fülle der Kraft, und sein hügeliges Terrain bildet eine wechselnde Szenerie, wie man sie nicht bald zum zweitenmal in Berlin hat. Gutgepflanzter Rasen gleitet sanft an den Abhängen nieder und bedeckt mit seinem hellgrünen Sammet weite Flächen; beständig öffnen sich neue Durchblicke, man wandert bergauf, bergab durch duftendes Gesträuch und kommt zuweilen an Stellen, so lauschig und einsam, daß man meint, das Reh müsse heraustreten an den Rand der Lichtung. Dann wieder in einer Staubwolke, welche die Sonne vergoldet, bewegen sich Hunderte kleiner Gestalten: Kinder sind es, die hier in der Mitte des Hains, um das Bronzebild unseres Königs, des großen Friedrich, den Ringelreihen tanzen, Festungen aus Sand bauen, sich haschen und entlaufen. Ehepaare und Liebespaare (denn auch diesen ist der »Hain« geheiligt) füllen die Bänke des Rondells; nicht weit davon ist ein hübsches Zelt errichtet, in welchem Milch zu haben ist, frisch von der Quelle, und auf einer Anhöhe, mit den Laubmassen und Wiesen zu seinen Füßen, steht in freier und luftiger Lage das städtische Krankenhaus, dessen rotes Mauerwerk weithin sichtbar ist durch das Grün, dessen stiller, weißer Hof auch die Kinder zur Ruhe mahnt, wenn sich eines von seinem Spielplatz hierher verirrt.

Noch ein stiller Ort ist hier und nicht leicht zu finden durch das umgebende Gebüsch, aber immer noch besucht in den Sommerabendstunden, wenn das langsam scheidende Licht die Herzen milder stimmt und die Seelen versöhnlicher. Es ist der Begräbnisplatz der in den Märztagen des Jahres 1848 gefallenen Kämpfer aus dem Volke. Wie trauerte Berlin, als dieser Zug von 183 Särgen, von der neuen Kirche her, durch seine Straßen ging, er voran, der furchtlose Geistliche, Dr. Sydow, den ich in seinen letzten Lebensjahren noch so gut gekannt und so manchmal gesehen habe, wenn er, auch in seinem hohen Alter noch eine imposante, ehrfurchtgebietende Erscheinung, mir gegenüber, auf dem Balkon seiner Wohnung am Matthäikirchplatz, ein schwarzes Käppchen auf dem Silberhaar, friedlich zwischen seinen Blumen saß und – am Tag des Herrn – andächtig dem Orgelklang und Choral lauschte, die aus der benachbarten Kirche so lieblich durch den Sonntagmorgen tönten. Damals, an jenem Märzmittage, war seine Stimme laut und gewaltig, als er diese Toten wie »Samenkörner der Zukunft« in die Erde senkte; doch die Stimme ist verhallt, und still auch ist es hier geworden. Den Soldaten, welche die Opfer dieser unseligen Kämpfe wurden, ist ein Nationaldenkmal errichtet worden im Park der Invaliden; diese hier haben kein anderes Denkmal als halbeingesunkene Gräber und da und dort einen verwelkten Kranz. Und es ist gut so; denn was wäre zu sagen von der eisernen Notwendigkeit, welche den einen Ruhm und den andern nichts gewährt als Vergessenheit? »'s gibt Gräber, wo die Klage schweigt.« Ein immerwährendes Dunkel herrscht hier unter den dicht verschlungenen Zweigen, die selbst den Strahlen der Abendsonne den Zugang wehren und nur einen vereinzelten Tropfen des roten Lichts auf Kreuz oder Leichenstein versprengen. Denn ohne Unterschied der Konfession ruhen die Toten hier, meist Männer aus den niederen und mittleren Ständen, Arbeiter jeder Art, Maschinenarbeiter, Kattundrucker, Buchdrucker, Buchhalter – nicht wenige darunter, die den Anfang der Zwanzig kaum überschritten. Von vielen, die hier bestattet worden, waren die Namen nicht mehr zu ermitteln – es sind die Gräber der »unbekannten Männer«. Ebenso sind viele von den Inschriften unleserlich geworden, aber wo man sie noch entziffern kann, ist die Geschichte, die sie erzählen, rührend und kurz. »Hier ruhet mein lieber Mann« – »dem gefallenen Bruder« – »unserm guten Sohn, gestorben den 18. März 1848 für Freiheit und Recht an einem Schuß durch die Brust.« Auch ein Mädchen liegt hier unter den Männern: »Unsere innigst geliebte Tochter und Schwester«. Wer war sie? Führte Haß sie auf die Barrikade oder Liebe, oder hat blinder Zufall die Kugel gelenkt, die sie getötet? Und wer löst mir folgendes Rätsel: »N. N., wurde am 18. März 1848 in der Wohnung seines Stiefbruders von einem Manne durch einen Schuß tödlich verwundet und starb am 20. März 1848.« Eine Buche, die in der Mitte der Gräber steht, streckt ihre Äste fast über den ganzen kleinen Raum. Ebereschen lassen ihre Zweige herabhängen, und Fliedergebüsch schließt sich an beiden Seiten zum Dach. Ein hölzernes Türchen verwahrt den Eingang, und auf den Planken neben demselben hat sich ein Pärchen niedergelassen, das von allen Plätzen des Friedrichshains sich diesen ausgewählt hat, um ungestört zu lesen. Das Buch, welches sie in der Hand halten, scheint mir so wenig jenes von Lanzelot und Ginevra zu sein, als die beiden, die es lesen, Ähnlichkeit haben mit Francesca und Paolo. Dennoch ahne ich, was geschehen wird, sobald die letzten Spaziergänger sich von den Gräbern entfernt haben. »An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«

Nun den Hügel hinab, und wir sind wieder in der vollen Bewegung des Sonntags vor dem Tore, in der Landsberger Allee. Dies ist eine jener Berliner Vorstadtstraßen, die sich unbemerkt ins freie Feld verlaufen. Eine bejahrte Windmühle mit einem Müllerhäuschen steht neben einem ungeheueren Eckhaus neuester Konstruktion, welches zwanzig Fenster Front und fünf Stockwerke hat, gegenüber ist Baugrund, über welchem sich ein unbegrenzter Horizont wölbt. Die Schornsteine des böhmischen Brauhauses, zierlich wie die Türmchen der Alhambra, ragen in die Luft neben den gewaltigen Schloten der Patzenhoferschen Brauerei. Gärten sind rechts und links, in welchen Tausende Platz finden können und heut, an dem warmen Sommersonntagabend, wohl auch Platz gefunden haben. Wandernde Massen bedecken das Trottoir. Vier, fünf Weißbierlokale liegen hier in einer Reihe nebeneinander, jedes mit dem altehrwürdigen Motto: »Hier können Familien Kaffee kochen.« Die Zeit des Kaffees ist indessen vorüber und die des Abendbrotes gekommen. An langen Tischen unter den Kastanien haben sich ganze Haushaltungen niedergelassen und sprechen dem Imbiß zu, welchen die sorgliche Mutter aus Körben und Papieren herauswickelt. Denn in diesen Lokalen bringt man sich sein Essen mit. Außerdem kann man im Garten und vor demselben alles mögliche zur Vervollständigung des Mahles haben: in dem Bretterhäuschen am Eingang »warme Würstchen« frisch aus dem brodelnden Kessel, in der Bude gegenüber Kuchen und Gebäck, von der Alten auf der Straße Radieschen. »Et sind de letzten vor dies Jahr«, sagt sie, »aber et ist ooch wat Juts.« Die »Weiße« geht von Hand zu Hand; selbst die Kinder, die sich im Hintergarten tummeln, kommen zuweilen gelaufen und nehmen einen Schluck, wobei sie das große Glas ganz kunstgerecht zu führen wissen. Neben dem Hausherrn steht noch ein Kümmel extra, neben der Hausfrau liegt nicht selten ein Milchfläschchen für den mitgebrachten Säugling, und fast auf jedem Tische sieht man einen Blumentopf. Im Hintergarten ist die Schaukel, die Würfelbude, die Kegelbahn, die Rutschbahn, die Kaffeeküche mit Waschkörben voll Tassen und Kannen, und ein Verschlag, hinter welchem Hühner gackern, Tauben fliegen und ein Hund an der Kette liegt. »Der Hund beißt«, ist mit großen Buchstaben an die Bretterwand geschrieben. Zufrieden und müßig sitzen diese Leute beisammen. Die Frauen stricken, die Männer spielen Karten. Kein übermäßiger Lärm und Tumult ist hier wie vor den Toren im Norden und Süden Berlins; und am Montag, wo doch sonst überall »blau« gemacht wird, sind diese Lokale fast leer. Die Bevölkerung des Nordostens ist eine gesetzte. Man sieht es diesen Familien wohl an, daß sie, wenn nicht Überfluß, doch auch keinen Mangel haben, daß das Handwerk sie nährt. Ihre Vergnügungen sind von einer ruhigeren und solideren Beschaffenheit als diejenigen der meisten andern Vorstädte, und die Landsberger Allee hat nichts von dem jahrmarktsartigen Aussehen der Hasenheide und wenig von den künstlerischen Verlockungen des »Praters« vor dem Schönhauser Tor. Indessen ganz darf dergleichen nicht fehlen, wo man sich am Sonntag vor dem Tore belustigt. Kinder, Dienstmädchen und Lehrjungen wollen doch auch ihren Teil haben, und wenn man einen Hof durchschreitet, vor welchem ein Steinmetz Grabdenkmäler und kniende Engel aufgestellt hat, so kommt man auf einen offenen Platz, der am Alltag still, am Sonntag aber äußerst belebt ist. Da dreht sich das Karussell, das über und über mit Glasflittern behängt ist, und »Pluto, der Höllensohn« erscheint mit nackten Armen, in einem karmesinfarbnen Trikot und eine feuerrote Hahnenfeder an der Mütze. »Sie werden sagen«, ruft er aus, »wie es möglich ist, daß ein menschliches Wesen, geschaffen aus Fleisch und Blut, geschmolzenes Blei trinken und ein glühendes Eisen mit seiner Zunge kühlen kann.« Es muß aber doch wohl möglich sein; denn nicht wenige Neugierige, die lange gezögert, diesem letzten Appell aber nicht widerstehen konnten, folgen ihm, als er unter der Gardine seines Zeltes verschwindet, um das Wunder zu verrichten. Ein anderes Publikum hat sich um einen Tisch versammelt, hinter welchem ein Mann steht in einem hellkarierten Sommeranzug, mit einem gestrickten roten Fez auf dem Kopf und einer blauen Troddel daran. Der Mann hat eine Elektrisiermaschine und daneben einen Kasten, der mit einem Tuch verhüllt, mit Photographien schöner Jünglinge und Jungfrauen geschmückt ist und die Inschrift trägt: »Ein Blick in die Zukunft.« Dieser scheint für die Dienstmädchen, welche das Geheimnisvolle lieben, die größere Anziehungskraft zu haben. Der Mann spricht in einem salbungsvollen Tone, wie Propheten tun; aber immer dazwischen, namentlich wenn die Lehrjungen ihn ärgern, fällt er in seinen Berliner Jargon zurück; denn sowohl er als Pluto, der Höllensohn, sind mit Spreewasser getauft. Den Geist, welcher in dem verhängten Kasten administriert, nennt er den »kleinen Mann von Amsterdam«; und er redet ihm zu: »Komm herauf, kleiner Mann, komm herauf.« Dann wendet er sich an sein weibliches Auditorium: »Hier können Sie sehen, ob Sie Glück haben in der Liebe, in der Ehe oder in der Lotterie. Vielleicht haben Sie Anverwandte ... wart ick will dir, verfluchter Junge, willste woll nich drängeln – marsch raus mit dir, oder ick steche dir eene, det de fliegen sollst wie 'n Luftballon – – Vielleicht haben Sie Anverwandte in Amerika, über Land oder Meer, oder es stirbt Ihnen eine alte Tante und hinterläßt Ihnen ein paar hundert Taler Geld. Oder vielleicht kommt ein alter oder neuer Liebhaber; ich brauche nur zu sagen: kleiner Mann von Amsterdam, und Sie erhalten einen Brief, signalisiert, photographiert und adressiert.« – Hierauf wendet er sich zu der Elektrisiermaschine. »Wer von den Herrschaften will sich einmal elektrisieren lassen. Das stärkt die Nerven, ist gut für den Rheumatismus, für Leib-, Kopf- und Zahnweh und kostet nicht mehr als zehn Pfennige die Person.« Ein junger Mann tritt vor, legt seinen Obolus auf den Teller und wird elektrisiert. Aber obwohl der Künstler mit dem roten Fez die Kurbel dreht, bis ihm die Stirne feucht wird, behauptet der junge Mann, er fühle noch immer nichts. Ich habe das Ende dieses interessanten Experimentes nicht abgewartet; denn unaufhörlich wogen die Menschen hin und her und tragen mich unaufhaltsam in ihrem Strome mit fort.

Kaum einer von ihnen, der nicht einen Blumentopf in der Hand hält. Die Liebe dieser Leute zu den Blumen ist so groß, daß Blumenstöcke in jedem Weißbiergarten ausgewürfelt werden oder um ein billiges zu kaufen sind. Es sind natürlich nur die geringern Sorten, die man hier sieht, meist Fuchsien, Nelken und Goldlack; aber alles ist voll davon und überraschend die Menge von Blumenläden und Blumenkellern, die fast Haus bei Haus in dieser Gegend das Trottoir stellenweis in ein Blumenparterre verwandeln. Und noch eins wird demjenigen auffallen, der zuerst an einem Sonntage hierherkommt; wer unter den ihm Begegnenden keinen Blumentopf trägt, der wird sicher, alt oder jung, Mann oder Weib, Mädchen oder Knabe, eine Gießkanne in der Hand haben. Es ist ein schöner Gräberkult, der hier vor dem Tor an den Sommersonntagen gefeiert wird. Hier draußen sind die großen Kirchhöfe der Georgen-, der Parochial- und der Petrigemeinde, und sie alle, namentlich aber der erstere, sind bis Sonnenuntergang mit Hunderten von Menschen gefüllt, welche den Rasen und die Blumen der Gräber begießen und zum stillen Besuch derer kommen, die darin schlafen. Von einer ernsten Schönheit ist der Petrikirchhof; eine dunkle Lindenallee beschattet ihn, und unter dem Grün verschwinden fast die Denkmäler. Der Parochialkirchhof dagegen schimmert wie ein Garten, wie ein Rosengarten in dieser mittsommerlichen Zeit, und hohe Bäume, majestätische Pappeln, rauschen darüber im Abendwind. Der Kirchhof der Georgengemeinde ist der größte, und da er vorzugsweise der dieser Gegend ist, auch der besuchteste. Gleich vorn, dicht neben dem Eingang, an besonders geehrter Stelle, von einem Gitter umfaßt, erhebt sich das Grab, in welchem Büsching mit den Seinen ruht, und die Grabsteine, welche man von der Gollnowstraße hierher gebracht, sind an der Mauer befestigt worden. Sie sind mit einem Porträt Büschings und Figuren in halberhabener Arbeit bedeckt, die man nicht gerade für Kunstwerke halten kann. Die von Büschings Amtsnachfolger Gedike verfaßte Grabschrift: »Hier im Schoß der Erde schlummert ihr Beschreiber« habe ich nicht mehr finden können. Es soll noch eine alte Anverwandte der Familie leben und zuweilen hierherkommen, um nach den Gräbern zu sehen. Sonst schlummern keine Berühmtheiten hier, da diese vielmehr von je, wie man weiß, im Westen Berlins gelebt haben, gestorben und begraben sind. Aber mancher tüchtige Mann, manche brave Frau ruht hier nichtsdestoweniger; Männer und Frauen, deren Ruhm darin besteht, ein gutes und nützliches Leben geführt zu haben, und die darum in den Herzen der Ihrigen, wenn nicht in den Blättern der Geschichte, fortleben. Viele von den besten Namen des alten und eigentlichen Berlins, seines Handels- und Gewerbestandes, liest man auf diesen Grabsteinen; und man sieht es diesen Gräbern wohl an, daß die Liebe, die sie geschmückt hat und täglich neu pflegt, durch keinen Zwang der äußeren Verhältnisse beschränkt wird. Auch Denkmale, die durch ihre geschmacklose Überladenheit auffallen, sind nicht hier. Aber der kostbarste Blumenflor prangt, so weit man blicken kann. Pinien und Zypressen wachsen neben den Gräbern, und Palmen und Orangenbäume stehen in mächtigen Kübeln daneben. Jede Grabstätte gleicht einem kleinen grünenden, blühenden Garten, welcher durch ein zierliches Kettchen abgeschlossen wird; manche Frau sitzt hier gern in Gedanken, wo jetzt die Bank steht und einst, zur Seite des voraufgegangenen Gatten, auch sie ruhen wird. Kaum ein Grab, an welchem nicht liebende Hände geschäftig; mit dem Schwarz der tiefen Trauer mischen sich in den Baumgängen die lichteren Sommerkleider, die Gießkannen wandern hinauf und herunter, während die Sonne sich strahlend zum Niedergang neigt über dem Friedrichshain. Und soll ich an dieser kahlen, schwarzen Bretterwand vorübergehen, welche sich zwischen dem Georgenkirchhof und den beiden andern eine Strecke weit die Friedenstraße hinabzieht? »Städtischer Begräbnisplatz« steht über dem niedrigen Pförtchen, welches wohl nur angelehnt ist, aber doch selten geöffnet wird. Denn es ist der Armenkirchhof – und wer kommt zu den Armen, wer besucht sie – mögen sie nun leben oder tot sein? Keine Blumen, keine Gießkannen – nur vereinzelt ein paar Menschen, die sich in dem öden Raum zu verlieren scheinen. Die hier ruhen, die meisten von ihnen, mögen wohl weder Freunde noch Verwandte haben; sie lebten einsam und sie starben einsam in dieser großen Stadt, und die Stadt ließ sie hier begraben. Was konnte man mehr für sie tun, als ihnen diese paar Fuß Erde geben – ihnen, die bei Lebzeiten nicht einmal soviel hatten? Und doch ist es ein trauriger Anblick, sie so daliegen zu sehen, ohne Hügel, ohne Rasen, Grab flach neben Grab, jegliches mit einem schwarzen Pfahl zu Häupten und einer Nummer daran. Wer nennt auch die Namen der Armen und was kann es nützen? Sie kommen, sie gehen, ihre Spur ist verloren. Welch ein elend Ding das Leben ist, wenn die Tröstungen der Natur, der Liebe, der Schönheit ihren täuschenden Schein nicht darüber ausbreiten, das sieht man auf solch einem Armenkirchhof. Sogar die Bäume, die da und dort herumstehn, sind vom Blitze gespalten und haben kein Grün mehr. Wüst ist diese Stätte, nackt auch im Sommer. Das schöne Wort Victor Hugos: »L'été c'est la saison des pauvres« ist nicht wahr für die Toten. Unkraut wuchert umher und Gestrüpp, Riedgras mit Brennesseln untermischt; Steine liegen zusammen mit Wurzeln abgestorbener Bäume, die Wege sind aufgewühlt, und im Sande muß man waten, wenn man zu den Gräbern will. Manchmal sieht man eine Reihe von sechs oder sieben, die noch nicht einmal ordentlich wieder zugeschüttet sind. Nur selten ist ein Kreuz von Eisen, dessen Inschrift aber längst unleserlich geworden. Die paar Blumen und welken Kränze kann man zählen. Häufiger ist ein seidenes Band mit Worten bedruckt wie diese: »Trauer ist unser Los.« An einem der Gräber sah ich ein schwarzes Brettchen, auf welches eine nicht sehr geübte Hand mit weißer Ölfarbe geschrieben hatte: »Hier ruhn die geliebte Mutter und Schwester.« Auch hier kein Name, wie wenn der Sohn, der Bruder mitten in seinem Schmerz gefühlt habe, daß es sich für den Armen nicht zieme, seinen Namen auf das Grab zu setzen. Eine schauerliche Trostlosigkeit weht über diesem Gottesacker, und es ist doch auch »Saat von Gott gesät, am Tage der Garben zu reifen«. Aber wo bleibt die Hoffnung, wenn das Vertrauen fehlt, wo selbst der Glaube, wenn die Seele stumpf, das Gemüt öde geworden; und wer vermöchte solchen beunruhigenden Fragen auszuweichen, auf welche diese Tausende von namenlosen Gräbern ihm wahrlich keine Antwort geben!Der hier geschilderte Armenkirchhof ist im Jahre 1881 geschlossen worden.

Jetzt ist die Sonne hinunter, und nur noch das Abendrot flammt an den Himmelssäumen; ein langes, warmes Abendrot, welches die Häusermassen von Berlin mit einem sanften, schwindenden Rot färbt. Dies ist die Stunde, wo Hunderte von Gasflammen auf einmal mit ihrem weißlichen Licht zu kämpfen beginnen gegen die Dämmerung des Sommerabends, welche nur langsam scheidet und im Verblassen noch die Schildinschriften in den Straßen matt erglänzen macht. Dies ist auch die Stunde, wo ich meinen Sonntagspaziergang in dem schönen Garten des Böhmischen Brauhauses zu beschließen pflege. Da bin ich unter Handwerksmeistern, Hauseigentümern, Kaufherren, Fabrikanten, lauter guten Genossen und dezenten Leuten, welche, wenn sie die Woche hindurch ihr Werk gefördert, sich am Sonntag auch etwas gönnen mögen und welche, wiewohl sie von dem letzten Grund der Dinge wahrscheinlich nicht mehr wissen als ich, dennoch recht vergnügt und wohl bei Leibe sind – Männer außerdem, die gar nicht wenig vorstellen in ihrem Bezirke und der Stadt. Sie zu sehen ist ein Trost für mich. Sie haben schmucke Frauen und hübsche Töchter, sie lassen sich ihr Beefsteak schmecken und trinken ihr Seidel dazu, sie rauchen ihre Zigarre, zahlen, wenn's elf geschlagen, und gehen nach Hause, wie die Väter vor ihnen getan und die Kinder – will's Gott – nach ihnen tun werden. Durch die Bäume des Gartens schimmert der blaue Himmel, über das offene Feld herauf kommt der Mond; und da mag man nun sagen, was man will: So lang es noch frohe Menschen gibt, ist gut sein auf der Welt. Wir können an ihrem Laufe nichts ändern, und das Bild eines mäßigen bürgerlichen Glücks ist mir das liebste von allen Bildern aus dem Berliner Leben.


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