Julius Rodenberg
Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg

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In den Zelten

(August 1882)

Immer wenn ich an einem dieser schönen Sommervormittage vom Fenster meines Arbeitsstübleins aus über dem dunklen Grün des Tiergartens, der wie ein Forst zu meinen Füßen liegt, weit weg im Nordosten und dem Blau des Morgenhimmels die Victoria der Siegessäule leuchten sehe: dann trete ich frohen Mutes an meinen Schreibtisch, reibe mir vergnügt die Hände und spreche zu mir selber: »Wir werden heut einen guten, warmen Tag haben, und heut abend ... aber ich sage nichts, ich sage nichts!«

Und wenn es nun endlich Abend geworden – denn ach! so ein heißer Sommertag ist lang in Berlin –, wenn die Rouleaus und Gardinen und Jalousien und wie die Dinge alle heißen, durch die man sich in dieser Stadt gegen die Glut des Mittags verwahrt, wenn sie, sag ich, in die Höhe gezogen, gerollt und gewickelt sind und durch das geöffnete Fenster zuerst wieder ein kühler Hauch von draußen heraufweht: dann mach ich mich so unfehlbar auf den Weg, als dort über dem schrägen Dach des Nachbarhauses die Sonne niedergeht. Dann nehm ich meinen Flurschlüssel und meinen Hausschlüssel, meine Zigarren, meinen Hut und meinen Stock und – wenn es sich für einen Mann in meinen Jahren schickte, wahrhaftig, ich würde, während ich die Treppen hinabsteige, singen – irgendein schönes Volks- und Wanderlied. So wohl ist mir jedesmal, wenn ich meine Bücher in den Schrank stellen und meine Schreiberei liegenlassen kann, wenn ich, vor der Tür meines Hauses stehend, mir die Frage vorlege: »Wohin nun, mein Freund? Ganz Berlin gehört dir; entscheide, triff deine Wahl!«

Gott sei Dank! – ich bin nicht der heilige Antonius, und niemand, weder der Teufel noch auch ein Engel, will mich in Versuchung führen. Ich bin ein Mann in gesetztem Alter, von bescheidenen Ansprüchen; von zufriedener Gemütsart und konservativer Gesinnung, soweit es sich nämlich um die Spaziergänge handelt; ein wenig träumerisch, hier und da stehenbleibend, wenn ein hübsches Paar vorübergeht oder ein Eichhörnchen über den Pfad schlüpft, ein wenig nachdenklich und manchmal sentimental; sonst aber ohne Harm, und meine Vergnügungen sind von der unschuldigen Art.

Ich schlage gleich den Fußweg mir gegenüber ein, er führt mich mitten in den Tiergarten hinein, und ich verschwinde hinter seinem Gebüsch wie hinter einer Kulisse. Diesen Weg geht niemand; hier bin ich allein. Die andern lieben die Sonne, die Helligkeit, die breite Straße, den Lärm der Promenade, den Luxus der Toiletten, Equipagen, Pferde, Reiter und Reiterinnen; ich liebe den Schatten, die Dämmerung, den schmalen Heckenweg, die Stille, die Einsamkeit, ich kenne jeglichen Baum in dieser Gegend, und ich meine, daß er auch mich kennen müsse, so vielmals in den vielen Jahren haben wir einander schon gesehen, Winter und Sommer, bei gutem Wetter und bei schlechtem. Ich war noch ein Student, da ging ich hier schon, und Freunde gingen mit mir, die jetzt – Gott weiß wo in der Welt sind. Hier, am Goldfischteich, wie manchmal haben wir gesessen und die liebreizende Göttin angeschaut, die der Liebe, mit dem wehmütigen Zug im Antlitz, der es noch holder macht; mit jenem schmerzlichen Lächeln um die »schöngereimten« Lippen, als wolle auch sie fragen: »Und nachher?« Sie steht noch immer da, die holde Schwester der Medicäerin, und lächelt noch immer wie vor zwanzig und dreißig Jahren – Eis und Schnee, Regen und Sonne, Frost und Blüten sind über ihrem zierlichen Haupte dahingezogen. Die Götter werden nicht alt, und um ihre Füße, wie damals, spielen die Kinder, und auf den Bänken, unter Rosen, sitzen Liebende, welche den Anbruch der Sommernacht erwarten, und vorüber, Arm in Arm, gehen ein paar Studenten, von denen einer vielleicht in wiederum dreißig Jahren hier ähnliche Betrachtungen anstellt.

Nun kreuz ich die Charlottenburger Chaussee, auf der damals in weiten Zwischenräumen ein Omnibus und ein Kremser sich zeigte und auf der heut das unaufhörliche Hin und Her und Geklingel zweier Pferdebahnen ist. Rechts durch das Brandenburger Tor, dessen Viergespann im sonnigen Äther funkelt, blick ich in die Stadt, auf den Pariser Platz und unter die Linden, wo der Dunst des Tages und das Licht der untergehenden Sonne jenen eigentümlichen Rosaschimmer weben, der noch lange an den Häusern zu haften scheint und die stolzen Fronten, bis tief hinein, wie die Gipfel eines Berges färbt. Gerade vor mir steht die Siegessäule – von allen Siegesdenkmalen Berlins, wenn nicht das künstlerisch untadelhafteste, so doch dasjenige, welches am meisten uns gehört – uns, den Lebenden, unsere Säule, »la colonne«, die Säule von Berlin, wie die des Vendômeplatzes die Säule von Paris. Jetzt, wo der Purpur des Abends über sie strömt, glüht die Schlachtenjungfrau dort oben vom Scheitel bis zur Zehe; der Helm lodert, die Standarte blitzt, das eiserne Kreuz strahlt, und ihr Lorbeerkranz blüht wie von hineingeflochtenen Feuerlilien, während die flammenden Flügel sich weit spannen, als bedürfe es nur des leisesten Anstoßes, und der Fuß hebt sich von der Kugel, und sie wird aufs neue fliegen – gegen Westen – gegen Osten ... wer weiß es? Und wer durch die Siegesallee geht, dem flimmert es vor den Augen von Gold und Farben, von Erz und Marmor, bis er – fast geblendet – beim Näherkommen über dem funkelnden Unterbau von poliertem Granit und in dem dreifachen Gürtel vergoldeter Kanonen die Trophäen dreier Feldzüge unterscheidet. Dreimal haben diese Kanonen gedonnert und in sechs Jahren der Welt im allgemeinen und diesem Königsplatz insbesondere ein anderes Aussehen gegeben – bunte Siegesmosaiken, wo früher nichts oder, ärger als das Nichts, wo Sand und Wüstenei war, metallene Reliefs, eine ganze Walhalla von Heldengestalten im preußischen Waffenrock. Leben von unserm Leben, Blut von unserm Blut. Und sammetne Rasenflächen ringsumher, so weich und grün, so sanft beschienen von der Abendsonne, Teppichbeete mit Blumen und Pflanzen in brennendem Rot und ernstem Braun und lichtem Blau, blühendes Gebüsch, zwei Springbrunnen – hier Raczinsky,Im Frühling 1884 ist das allen Berlinern so wohlbekannte kleine Palais niedergerissen worden, und auf dem weiten Terrain erheben sich jetzt schon (August 1885) die Grundmauern des Reichstagsgebäudes, zu welchem hier am 9. Juni 1882 in feierlicher Weise der Grundstein gelegt ward. dort Kroll, vor mir das aristokratische Quartier, das Generalstabsgebäude, wo Moltke wohnt, das Palais des Herzogs von Ratibor, die Bismarck-, die Moltkestraße, das Oktogon des Panoramas von Gravelotte und St.-Privat – und im Hintergrunde die stille, dämmernde Masse des Tiergartens.

Unter dem Torbogen von Kroll werden schon die frühen Lämpchen angezündet, welche mit ihrem matten Licht wie gelbe Punkte auf dem Goldgrund des Abendhimmels stehen. Sie werden heller, je mehr der Tag verblaßt; Kroll am Abend gehört den Fremden, und nur am Sommermorgen, in den frühen Stunden von sechs bis acht, gehört er uns, den Berlinern. Dann wird hier Brunnen getrunken – eine sehr ernste Affäre bei Krolls. Dann lustwandelt hier unter den Bäumen eine bedächtige Schar von Männern und Frauen, mit Bechern in den Händen oder mit Henkelgläsern, in welchen Karlsbader Sprudel dampft oder Marienbader Kreuzbrunnen perlt; da und dort auf dem Tische steht noch von gestern ein Bierseidel, an den Bäumen prangen große rote Zettel: »Theodor Wachtel in den Hugenotten« – dazwischen kleinere weiße: »Sherry-Cobbler« und »Erdbeer-Bowle«, und hinten an der Mauer sitzt ein langes Plakat. In den Beeten stehen die Blechtulpen und die Blechpelargonien und ein Storch von Blech, und über uns die weißen Glaskuppeln blinzeln, als ob sie sich den Schlaf noch nicht aus den Augen gewischt hätten, während wir unablässig und nüchtern auf und ab promenieren mit der gesetzten Miene von Kurgästen, die alle paar Minuten die Uhr herausziehen und an nichts denken als an den guten Kaffee, der sie erwartet, wenn sie ihr Werk getan. Aber es ist Abend, und andere gute Dinge stehen uns bevor. Kommt nur, folgt mir; wir gelangen, wenn auch auf Umwegen, schon ans Ziel. Ich bin nicht einer von denen, die sogleich, nachdem sie vor die Türe getreten, sich wieder setzen müssen und nach dem Kellner rufen. Ich liebe die Ordnung; alles zu seiner Zeit. Ich habe gesagt, daß ich konservativ sei; doch ich ehre die Verfassung und lasse mich nicht abbringen, weder nach rechts noch nach links, von meinem verfassungsmäßigen Spaziergang. Hier denn ist eine Allee von uralten Bäumen, Eichen und Linden, schon dunkel, da das scheidende Sonnenlicht das hundertjährige Laubdach kaum noch durchdringt. Dieses ist die Zeltenallee, vormals die Kurfürstenallee geheißen; und hier gingen die Großväter unserer Väter, wenn sie des Abends nach den Zelten wollten. Ehrbare Männer waren es, mit dreieckigen Hüten, mit Zopf und Perücke, mit langen Rohrstäben in den Händen und mit einem bedachtsamen Schritt, wie Männer, welche Zeit haben und ihre Würde kennen. Wenn sie miteinander redeten, so sprachen sie, wie gute Bürger, von ihrem Könige, Friedrich dem Großen, der damals schon ein alter Herr war und in Sanssouci residierte; waren sie Gelehrte, so sprachen sie von Voltaire und der Enzyklopädie, wären sie Kaufleute, so sprachen sie von der Königlichen Generaltobaksadministration, vom Zucker- und Kaffeezoll, von der Seehandlungscompagnie und dem letzten großen Wechselgeschäft der Herren David Splittgerbers selige Erben. Bedächtig schritten sie dahin, nach einem großen Platz an der Spree, welcher der Kurfürstenplatz oder der Zirkel genannt ward. Auf der Seite nach der Spree war den ganzen Sommer hindurch eine Anzahl Hütten und Zelte aufgeschlagen, woselbst allerhand Erfrischungen verkauft wurden. Der gegenüberstehende Zirkel – ich zitiere hier den wackern Friedrich Nicolai, Buchhändler auf der Stechbahn, der mit seinen Freunden Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn an dieser Stelle wohl manch einen Sommerabend auf und ab gegangen –, der gegenüberstehende Zirkel ist mit einer doppelten Allee von sehr hohen Ulmen und Eichen eingefaßt und der Hauptsammelplatz aller Spazierenden, welche teils unter den Alleen hin und her wandeln, teils auf den Bänken ausruhen. An schönen Sommernachmittagen, sonderlich des Sonntags und Feiertags, pflegten hier einige Tausende zu Fuße, zu Pferde und zu Wagen zusammenzukommen, wobei öfters, auf Befehl des Gouverneurs, die Musikkorps der in Berlin in Garnison liegenden Infanterie- und Artillerieregimenter an die anliegenden Büsche verteilt wurden, welches zusammen ein sehr reizendes Schauspiel machte. »La place des Tentes au parc«, wie Chodowiecki denselben (1772) dargestellt, galt für die »première promenade de Berlin«. Sie war es hauptsächlich während der späteren Zeit Friedrichs des Großen und blieb es bis ans Ende des Jahrhunderts. Selbst die Mitglieder der königlichen Familie – so referiert W. Mila, der sich (geboren 1764) des glänzenden Anblicks noch aus seiner Jugend erinnert – und Personen vom ersten Range mischten sich unter den bunten Haufen. In vergoldeten, schön verzierten Phaetons, in eleganten, von allen Seiten mit Glasscheiben versehenen Kutschen oder in sogenannten Wurstwagen, an deren Schlägen Pagen und Heiducken standen, fuhren die Prinzessinnen die Hauptallee entlang. Ein Mann von der Französischen Kolonie namens Mourier war der erste, der hier im Jahre 1760 ein Zelt aufschlug, in welchem er Kaffee und sonstige Getränke und Erfrischungen feilbot; zum Schilde hatte er eine goldene Gans mit der sinnreichen Inschrift: »Monnoi (mon oie) fait tout«. Aus den Kreisen der Französischen Kolonie, welche sich damals noch bei weitem nicht vollständig germanisiert hatte, ging etwas wie ein Atem des französischen »esprit« über Berlin, welcher sich bis in den kleinsten Dingen zeigte und vielleicht in seinen letzten Nachwirkungen nicht ohne Einfluß geblieben ist auf den Berliner »Witz«. Dem Beispiele dieses betriebsamen Mannes folgten zwei andere Schenkwirte, gleichfalls Franzosen, Dortu und Thomassin bauten ihre Zelte an den Ufern der Spree und hatten einen guten und vergnügten Sommer davon. Im Winter wurden diese beweglichen Dinger zusammengeschlagen und in die Stadt gebracht, um, sobald der neue Lenz kam und die Hecken und Wiesen hierherum wieder grün wurden, fröhlich aufzuerstehen – echte Nomadenzelte in dem Sandmeer von Berlin, und der Fleck, auf dem sie standen, mit Wasser und Wald und geputzten Menschenkindern, eine der lieblichsten Oasen. Denn man brauchte nicht hundert Schritte weit zu gehen, so war man knietief im Sande. Sand war der Exerzierplatz, heute der Königsplatz mit der Säule, Sand war des Königs Holzplatz, heute die Alsenstraße, Sand war auch Seegers Holzplatz, heute die Roon- und die Hindersinstraße. Gegenüber auf der rechten Spreeseite war noch mehr Sand, welchen seit den Tagen Friedrichs I. französische Gärtner und Landbauer im Schweiße ihres Angesichts urbar zu machen trachteten, ohne sonderlich weit damit zu gelangen, weshalb sie es, mit der ihrer Nation eigenen Finesse, die sich in Kümmernissen durch einen guten Witz schadlos hält, la terre maudite nannten oder la terre de Moab, das Moabiterland, heute Moabit, das Land Borsigs, der Fabriken und der Parks, das Land des Eisens und des Reichtums, ein sprechendes Exempel von dem, was man aus Sand machen kann, wenn man es nur recht anfängt und sich die Mühe nicht verdrießen läßt. Freilich hat es hundert Jahre gedauert, ehe der kärgliche und widerspenstige Boden nachgab; und nach den Franzosen mußten unter Friedrich dem Großen westfälische Leute graben und pflügen und Hecken pflanzen, hart arbeitende, schwer auftretende Bauern, an welche noch, mitten in dem ganz modernen Moabit, zwischen den stattlichen Gebäuden unseres Jahrhunderts, ein altes, kleines, aus Lehm gebautes Haus erinnert, mit einem altmodischen Schild, das in altmodischer Schrift die Worte trägt: »Pumpernickel-Bäckerei«! Wer damals aus der »terre maudite« kam, »über die Furt am Jordan (vulgo Spree), die nach Moabit führet«, und bei den Zelten ausstieg, der mochte glauben, im Gelobten Lande zu sein. »Milch gab sie, da er Wasser forderte, und Butter brachte sie dar in einer herrlichen Schale.« Des zum Gedächtnis, sagt mein Gewährsmann, ist den dort an der nämlichen Stelle noch befindlichen vier Kaffeehäusern die Benennung von Zelten geblieben, selbst als diese Zelte sich zuerst in Hütten und am Ende in große massive Gebäude verwandelten, »wovon Nr. 1 und 2 sogar große Säle haben, aus denen man an Sommertagen angenehme grüne Wiesen, jenseits der Spree, überschauet« – Wiesen, die Spuren und Zeugnisse des vereinten Fleißes von Franzosen und Westfalen, die nun auch längst wieder verschwunden sind, seitdem die Güterschuppen und Lagerhäuser des Lehrter Bahnhofes hier bis ans Ufer reichen, seitdem hier Holzplätze und Kohlenplätze sind, zwischen denen nur noch einsam da und dort eine Silberpappel emporragt. Statt des Geruches von Heu ist hier der Geruch von Pech und Teer und allerlei Schiffsgerät, und wo die Sensen gedengelt wurden, ist jetzt das Pfeifen und Stoßen und Stöhnen der Lokomotive – dem goldenen Zeitalter ist das eiserne gefolgt, in dem wir leben, das Zeitalter der Maschinen- und Massenarbeit; und doch, wer möchte leugnen, daß es seine Poesie hat, so gut wie jedes andere, nur daß uns das rechte Wort dafür oder der rechte Mann noch fehlt, der deutlich ausspräche, was wir nur undeutlich empfinden?

Adolf Menzel mit dem durchdringenden Blick unter den buschigen Brauen und der nervigen Faust hat es vollbracht; er hat in seinen »Modernen Cyclopen«, jetzt in unserer Nationalgalerie, eine solche Werkstatt gemalt, bei deren Feuerschein sich gleichsam die soziale Tiefe auftut und ihre dämonisch arbeitenden Kräfte sichtbar werden. Seinen Spuren ist Paul Meyerheim gefolgt in den Panneau auf Kupfer, welche die Marmorhalle des Borsigschen Parkes schmücken: die Geschichte der Lokomotive von dem Moment, wo das Eisen aus den Gruben des schlesischen Gebirges steigt, bis zu jenem, wo der fertige Koloß verladen wird auf einen transatlantischen Dampfer im Hafen von Hamburg. Menzel, wiewohl mit einer Fülle von Phantasie, ist doch nicht etwa phantastisch, wiewohl ein Meister der Farbe, doch kein Schönmaler, eher ein Häßlichmaler. Seine Menschen auf diesem Bilde sind wirklich aus dem Eisenwalzwerk und der Maschinenbauanstalt. Ein geheimer Schauer ergreift uns, wenn wir sie betrachten: In ihnen steht unsere Zukunft vor uns. Ein Gleiches ist der Dichtung bis jetzt nicht gelungen; sie ringt um den ungeheuren Inhalt des modernen Lebens, aber sie hat ihn noch nicht gepackt. Und doch, welcher Roman könnte großartiger sein oder belehrender und erhebender, wäre mehr wert, erzählt zu werden, als derjenige Borsigs, welcher als ein armer Zimmermannssohn in Breslau geboren ward und als ein einfacher Arbeiter nach Berlin kam, um ein Mann zu werden, nach welchem ganze Stadtteile sich benennen; ein Herrscher, aber ein solcher, der im Volke wurzelt, dessen Kraft aus dem Volke stammt und der sie ihm tausendfach wieder zurückgegeben hat.

Er war ein Mann von Genius und, wie jeder Schöpfer, von tiefem Gemüt; er konnte sich an dem Aufblühen einer Blume, dem Fortkommen eines Bäumchens in seinem Garten freuen, und bei seinen Arbeitern hieß er »Vater Borsig«. In der älteren Generation derselben ist sein Andenken noch unverwischt, obwohl er nun bald dreißig Jahre tot ist. Meister sind da bei den Schmieden und den Formern, die jung unter ihm waren und die heute noch von ihm sprechen wie von einem Lebenden. Andere, die bei der Arbeit Invaliden geworden, haben Ruheposten erhalten, und alle hängen an dem Hause mit einer Art von Familiensinn. Unter solchen Einflüssen wächst das jüngere Geschlecht der Arbeiter heran, und hier wenigstens scheint kein Boden zu sein für den sozialen Unfrieden, wo der Geist Borsigs gleichsam noch persönlich fortwirkt, und sein Beispiel zeigt, was jeder auf dem Wege redlicher Arbeit zu erreichen vermag.

Einst, als ganz junger Mensch, war er auf Veranlassung Beuths aus dem königlichen Gewerbe-Institut fortgewiesen worden, weil er keinen Sinn für Chemie habe. Dafür stellte Borsig siebenzehn Jahre später (1842) auf der ersten Berliner Industrie-Ausstellung eine Lokomotive aus, der er den Namen »Beuth« gegeben; und neben den Medaillons von Humboldt und Schinkel, von Rauch und Stüler, welche die dem Borsigschen Park zugekehrte Front des Verwaltungsgebäudes schmücken, ist auch dasjenige des unvergeßlichen Förderers des preußischen Gewerbefleißes und der Berliner Industrie. So dankte Borsig dem, der nicht eben rühmlich an ihm gehandelt, aber dadurch providentiell für ihn geworden war. Ein Maschinenbauer sollte er sein, und ein Maschinenbauer war er zehn Jahre lang (1826 bis 1836) in der Eggelsschen Eisengießerei, dem einen von den drei Privatetablissements dieser Art im damaligen Berlin. In harter Arbeit erwarb er sich ein kleines Vermögen, ich glaube fünftausend Taler in zehn Jahren, kaufte sich ein Grundstück vor dem Oranienburger Tor, wo heute die Chausseestraße ist, und errichtete daselbst ein eigenes Hüttengebäude. Hier baute Borsig seine erste Lokomotive; die erste, die jemals auf deutschem Boden gebaut worden ist. Am 24. Juni 1841 wurde sie fertig. Die ganze Nacht war gearbeitet worden, und die ganze Nacht durch hatte Borsig – wie dessen Biograph, Hermann Vogt, erzählt – unter seinen Arbeitern gestanden, voller Aufregung, voller Zweifel, ungewiß, ob sein Werk gelungen. Endlich dämmerte der Morgen, ein Sonntagmorgen, und die Maschine wurde geheizt. Es war vier Uhr früh. Langsam erwärmte sich der Kessel, das Wasser begann zu sieden, der Dampf stieg auf, die Zylinder arbeiteten, die Kolbenstangen reckten, die Achsen bewegten, die Kurbel drehte sich, die Räder rollten – und »sie geht!« rief Borsig seinen Ingenieuren zu. Mit diesen zwei Worten war seine Zukunft entschieden, in ihnen lag Ruhm und Reichtum, lag seine Lebensaufgabe: nämlich, den deutschen Lokomotivbau von der Arbeit und selbst dem Material des Auslandes frei zu machen. Denn bis dahin wurden die fertigen Lokomotiven und lange noch ward das Schmiedeeisen aus England bezogen.

Nur noch fünfzehn Jahre waren Borsig vergönnt, aber sie reichten hin. Wo sein erstes Hüttengebäude stand und seine erste Lokomotive ging, erhebt sich auf dem ehemals freien Feld jetzt, in einer neuen Stadtgegend, die sich weit gegen Norden erstreckt, und inmitten einer Arbeiterbevölkerung, die nach vielen Tausenden zählt, aus einem Walde von Schornsteinen jener ungeheure Komplex von Werkstätten und Hallen, in denen seitdem an die viertausend Lokomotiven gebaut worden sind, aus dem Eisen und dem Stahl, die in den eigenen Werkstätten von Moabit geschmiedet und gegossen, mit dem Erz und der Kohle, die aus den eigenen Gruben in Schlesien gewonnen werden.

Borsig starb im besten Mannesalter nach kaum vollendetem fünfzigsten Lebensjahr, und er ruht auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof, gerade gegenüber seiner Maschinenbauwerkstatt in der Chausseestraße. Sein Sohn, der Erbe seiner fürstlichen Besitzungen, ward nicht einmal so alt wie der Vater; er starb vor fünf Jahren, als eben das schöne Palais an der Ecke der Voß- und Wilhelmstraße fertig geworden, welches heute noch leer steht. Still auch ist es in dem Park von Moabit, und in dem Landhause wohnen zwei Witwen. Aber ein hübscher Knabe, der Sohn des letzten Besitzers, tummelt sich auf dem Rasen, und er läuft mir mutwillig voran zu den Sehenswürdigkeiten des Gartens, welcher mit großer Liberalität jedem Besucher offensteht.

Oftmals auf meinem Abendgang komm ich hierher zu dem nunmehr wohl etwas vereinsamten Sitz eines Fürsten der Industrie; zu den weiten Rasenflächen mit den schönen Baumgruppen, durch welche der Abendhimmel schimmert. Am Tore steht der Portier mit der goldgeränderten Mütze. Dann erscheint das stilvolle, geräumige, jedoch nichts weniger als auffallende Herrenhaus, die Hinterfront ganz in Grün versteckt. Dann das Palmenhaus mit den wunderbaren Farrenbäumen aus dem südlichen Amerika, den edel geformten Palmen aus Indien und Ceylon; eine Treppe, deren Stufen von Granit, führt zu Felswänden hinan, mit kriechendem Moos bekleidet, und zwischen den Tropenpflanzen Figuren von weißem Marmor, gelblich leuchtend von dem Strahl der Abendsonne, der sich weiterhin in dem feuchten Grün verliert. Kandelaber hängen von oben herab – wie feenhaft muß es hier sein an Ballabenden, wenn Musik aus dem Innern schallt und der bunte Glanz des Festes mit der stillen Schönheit der Pflanzenwelt sich vereint! Dann das Orchideenhaus, vor welchem die Marmorbüsten der beiden Borsig, Vater und Sohn, unter niederhängendem Gezweig stehen. Dann die Marmorhalle mit den Bildern von Paul Meyerheim – überall Pracht und Marmor und Farben, aber nichts Prahlerisches, was den Blick oder die Empfindung verletzen könnte. Dann das Haus der Victoria Regia und nebenan das Wasser mit der blühenden Victoria Nymphäa, blaßrot, dunkelrot, blau, märchenhaft auf den breiten grünen Blättern schwimmend, während zahllose Goldfische sich umhertummeln. Und mir wird, als erlebt ich selber ein Märchen – aber ein ganz modernes –, indem unaufhörlich in diese Herrlichkeit und Stille von Grün und Blumen das Schnaufen und Stampfen der Maschinen hereindröhnt, die Stimmen der Arbeit, von Guß- und Puddelöfen, von Walz- und Hammerwerken, welche, Park und Haus umgebend, bis an das Ufer der Spree reichen. Hier stößt der Eisenhammer an den Park, sein gewaltiger Schornstein steht da wie der Turm einer Burg, und Park und Fabrik gehen ineinander über. Hier befindet sich auch das Verwaltungsgebäude, von welchem ich oben schon gesprochen; und hier, wo sich jeden Mittag Hunderte von Arbeitern in einem hohen Saal, an reinlichen Tischen zu einer guten, billigen Mahlzeit niedersetzen, kann man sehen, wie Borsig für seine Leute gesorgt hat. Aber dazu muß man einen Umweg durch den Hof machen; denn der Saal steht nicht zur Schau wie die Palmen und Orchideen. Hier steigt man auch zu einer Terrasse mit dem Blick auf die Spree, die Schiffe, die Lessingbrücke, die Stadtbahn, den Tiergarten; und hier, den dumpfen Lärm, den das gleichmäßige Ausstoßen des Dampfes verursacht, zur einen und zur andern Seite die Ruhe, den frischen Geruch des Grüns und den Glanz des Abendhimmels – hier sitze ich gern und lausche und suche nach dem Wort, das ich nicht finden kann ...

Vergoldet nicht dieselbe Sonne, die Sonne Homers, die Rauchwolken, welche schwarz und dicht aus dem Riesenschlote des Eisenwerks emporsteigen und, in malerische Bildungen aufgelöst, in wunderbare Farben getaucht, sich fern am abendlichen Himmel verlieren? Sind es nicht herkulische Gestalten, die mit den Eisenstangen und den Lederschürzen vor dem Schmiedefeuer und dem Amboß stehen, wenn die Esse sprüht, wenn die Flamme knistert, wenn der schmelzende Stahl herausfließt wie Wasserbäche, wenn Blöcke weißglühenden Erzes von mächtigen Hebeln, wie von Geisterhänden bewegt, dem Willen dieser Menschen gehorchen, sich heben, durch die Luft fahren, sich senken und der Dampfhammer mit einer Wucht von fünftausend Pfund diese feuersprühende Masse platt drückt wie – man verzeihe mir den Vergleich, aber ich finde keinen andern – einen Schweizer Käse? Ist es nicht eine Phantastik, wie im Reiche der Erdgeister, wenn ein goldner Funkenregen umherprasselt, in welchen die niedergehende Sonne von außen nur ganz blaß, in langen Strahlen hineinscheint? Oder sind es nicht liebliche Landschaften, hier ein Stück Wiese mit der bläulichen Straßenferne, dort ein Stück Wasser mit rötlich angeglühten Segeln, welche man durch die Bögen der Stadtbahn erblickt, wie in einen Rahmen gesetzt; und ist sie selber nicht ein Werk, welches an Kühnheit der Konzeption und Großartigkeit der Ausführung sich wohl messen darf mit jedem altrömischen Viadukt, dessen Trümmer wir heute noch ehrfurchtsvoll anstaunen? Ja, mag im Laufe der Zeiten – in Hunderten, nein in Tausenden von Jahren – jener Neuseeländer Macaulay's, nachdem er in der ungeheuren Einsamkeit seinen Stand genommen hat auf einem zerbrochenen Bogen von London-Bridge, um zu zeichnen die Ruinen von St. Paul's – mag er nicht auch hierherkommen nach Berlin, um auf den Steinresten dessen, was einst die Stadtbahn gewesen, elegische Betrachtungen anzustellen über die Größe, den Verfall und die Vergänglichkeit aller Dinge?

Kommt, ihr kleinen zierlichen Figuren, wie ihr vor mir steht auf dem Bilde von Chodowiecki, dem verfeinerten Hogarth Berlins – ihr Püppchen, so zart und gebrechlich wie aus der Meißener Porzellanfabrik – Frauen in langen, schleppenden Gewändern, mit hoher Frisur und Puder darin, Männer in gestickten Röcken, mit Band und Haarbeutel, mit dem Hut unter dem Arme und dem Degen an der Seite, höfliche Männer, die sich unaufhörlich verneigen und galante Reden im Munde führen und den Damen die Cour machen. Rings ein Kichern und gedämpftes Lachen und anmutiges Geplauder unter den Bäumen des Tiergartens, welche diesen Salon im Freien mit ihrem Laubdach beschirmen. Eine Gruppe sitzt um einen Tisch: Ein sehr korpulenter alter Herr mit rundem Bauch und jovialem Gesicht erzählt seinen schönen Zuhörerinnen offenbar eine lustige Geschichte; ein sehr dünner junger Herr, der vielleicht eben »Die neue Héloïse« gelesen hat und in zwei Jahren gewiß »Werthers Leiden« lesen wird, lehnt melancholisch an dem Stamm einer Linde. Zwei junge Damen, Hand in Hand, stehen ihm gegenüber; zwei andere junge Damen, gleichfalls Hand in Hand, enteilen über den Rasen. In den Zelten aber ist ein lustiges Treiben. Da kommen und gehen die Menschen und die Wagen, und M. Mourier, unter dem Zeichen der goldenen Gans, und M. Thomassin und M. Dortu machen ihnen die Honneurs. Fern über die Spree zieht träumerisch ein Schifflein, und eine Diana mit ihrem Hunde von weißem Stein schimmert durch das verschleiernde Grün.

Etliche Jahre nachdem Chodowiecki sein Blatt gestochen, kam ein Fremder hierher, ein Anonymus, allem Anschein nach aus sächsischen Landen, ein Mann von Empfindung und beweglichem Temperament, der von dem Berliner Leben damaliger Zeit außerordentlich entzückt war und es in seinen »Bemerkungen eines Reisenden« (Altenburg, 1779) ein wenig in der Manier Sternes beschrieben hat. In Gesellschaft eines Predigers besucht er die Zelte – »die Zelter«, wie er sie nennt – »oder besser die Hütten, denn nur selten steht ein aufgeschlagenes Zelt da, und der Saal, welcher errichtet ist, hat die Form eines Zeltes und ist von Holz«. Hier nimmt der Reisende Platz mit seinem geistlichen Freund. »Wundern Sie sich nicht«, ruft er aus, »daß Prediger die Hütten besuchen. Man ist in Berlin nicht mehr so weit in der Weltkenntnis zurück, daß man es einem Geistlichen verargen sollte«, et cetera. Die beiden beginnen damit, ihre langen Pfeifen anzustecken; denn damals, in der glücklichen Zeit, rauchte man noch »lang«, und nicht nur zu Haus. Wenn man ausging, trug man in der einen Hand den Stock oder den Regenschirm, in der andern die lange Pfeife – so war der Berliner vor hundert Jahren. »Die Aussicht von hinten zu ist majestätisch und prächtig«, sagt unser Reisender, der aber, als Weltmann und echtes Kind seines Jahrhunderts, mehr dem Spruche Popes huldigt: »The proper study of mankind is man« und demgemäß sich sogleich der Betrachtung des Anblicks vor den Zelten zuwendet. »Unter Tangelhütten sitzen an vielen Tischen allerlei Berliner aus allen Ständen. Schon die Mannigfaltigkeit der Röcke ist aufmunternd. Unter den Hütten, wo ich mich befand, pflegt sich der edlere Teil der Einwohner Berlins zu versammeln, weiter hin ist schon ein Abfall, und ganz am Ende sitzt Krethi und Plethi.« Es scheint, daß Messieurs Mourier, Thomassin und Dortu mittlerweile Konkurrenz bekommen und daß die bevorzugten Zelte damals die des Herrn Grüneberg waren. »Ich schildere Ihnen bloß die Grünebergschen Hütten«, fährt der Reisende fort. »Mitten unter den Tischen steht eine große Säule, an welcher einige Lampen hängen« – zur Bequemlichkeit für die Gäste, die sich daran ihre Tabakspfeifen anzünden. »Die Tische sind fast allemal besetzt. Beiläufig muß ich erwähnen, daß es Berliner gibt, die alle Tage, bis in den spätesten Herbst, den Tiergarten und die Grünebergschen Hütten besuchen. Die Gesellschaft ist buntscheckig genug. Eine Partie trinkt Kaffee, die andere Tee, eine dritte Bier und eine vierte, die vielleicht die Schwindsucht hat oder gern stark werden will, Wasser und Milch. Hier sitzt eine Familie, die den festlichen Geburtstag ihres vierjährigen Kindes begeht. Alt und jung, von eingeschrumpften Großtanten bis zum Jungen, dem zu Ehren diese Feier angestellt ist, herunter. Solchen Szenen mag ich gern beiwohnen. Der gutmütigen Mutter sah man die Freude, die das Herz in die Höhe schwellte, an, und der vor Wonne über den klugen Jungen entzückte Vater wallete mit seiner Pfeife voll wohlriechenden Knasters unter seinen Freunden herum.« Aber kaum drei Schritte von diesem Bild ehrbaren Glückes entfernt sitzt »eine Partie äußerst empfindsamer junger Herren«, duftend von Eau de Levante, Eau de la Sultane, Eau sans pareil, und wie diese »galanten Wasser« alle heißen mögen; Petitmaîtres, deren Anzug »dem neuesten Geschmack von Paris« entspricht, mit kurzem Chemisett, die oberen sechs Knöpfe aufgeknöpft, »damit das feine, zierlich ausgenähete Jabot und die offene weiße Brust sogleich in die Augen fallen möchten. Denn«, bemerkt unser Gewährsmann in Parenthese, »man trägt die Oberhemden vorn offen, um dem schönen Geschlecht seine Ergebenheit zu bezeugen.« Ihr Gespräch, mit französischen Brocken, einem mon dieu! einem ma foi! einem je m'en demande pardon bestreut, »gleich dem Zucker auf einer Mandel- oder Wienertorte«, betraf größtenteils die »Aktricen«, – »O Madame Nouseul!« sagte der eine ächzend ... Ein leichter Hauch von Frivolität liegt über dieser Epoche der Empfindsamkeit, für welche die »Sentimental Journey« nicht weniger typisch ist als »Werthers Leiden«, nur daß freilich nicht Mr. Yoricks Humor, sondern erst der Pistolenschuß Jerusalems dem Ding ein Ende machte.

Der »Zirkel« – heute der große Sandplatz vor den Zelten – ward in jenen Zeiten von der Mode begünstigt und aufgesucht von allem, was elegant war in Berlin. Hier spielte der bunte Jahrmarkt des Lebens. Hier fand man die Schönheiten der Stadt, die Toiletten, den Reichtum, den Geist, den Witz und die Torheit derselben. Hier war ein Abglanz des Hofes. Neun Alleen zweigten von dem Zirkel ab, zu Ehren der neun Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Selbiges Reich ist gestorben, aber die neun Alleen sind noch da; und mögen sie lange noch mit ihren Eichen und Buchen und Kastanien und Ahornbäumen freudig wehen und rauschen zu Ehren des anderen Reiches, des neuen Reiches, dessen goldene Viktoria vom Königsplatz herübergrüßt zum alten Kurfürstenplatz.

Nicht weit davon ist der Großfürstenplatz, neuerdings aus seiner langen Verwahrlosung wieder hergestellt, mit saftig grünem Rasen, Blattpflanzen, Springbrunnen und hübschen Sandsteinfiguren, welche die vier Flüsse Rhein, Weser, Elbe und Oder mit den Attributen der Schiffahrt und des Fischfangs, des Acker- und des Weinbaus darstellen – lauter Beschäftigungen, deren Bild zu sehen dem bürgerlichen Herzen wohltut. Im übrigen war dieser Platz zu einer eigenen Art von Berühmtheit gelangt durch einen Vorfall, über welchen die Bücher jener Zeit weitläufig berichten. Er ward nach einem russischen Großfürsten genannt, welchem der Prinz Heinrich, Bruder Friedrichs des Großen, allhier ein glänzendes Fest gab. Es scheint, daß die Berliner des 18. Jahrhunderts nicht weniger neugierig und schaulustig waren als ihre Nachkommen, die Berliner des 19. Jahrhunderts; und wie nun mehrere Tausende von ihnen versammelt waren, »mitunter im elegantesten Kostüm«, da brach plötzlich ein heftiger Gewitterregen auf sie herunter, und das weitere kann man sich denken. Dieses wichtige Ereignis notiert die Berliner Chronika zur Verherrlichung des Großfürstenplatzes; es ist das einzige, was sie von ihm zu sagen hat. Er führt noch immer seinen alten Namen; aber nur wenige wissen von dem Großfürsten und seinem Feste, von dem verwaschenen Puder, den ausgelöschten Schönheitsmalen, den goldbetreßten Röcken und seidenen Strümpfen derer, die es zu sehen kamen, und dem unauslöschlichen Gelächter derer, die sich zu Hause gehalten hatten und trocken geblieben waren. Weisheit und Narrheit – wieviel bleibt davon? – »Es ist alles eins über hundert Jahr«, sagt das Volkslied.

Gerne geh ich diesen Weg am Ufer der Spree, welcher in alten Zeiten der Poetensteig hieß. Poetisch mutet er mich noch heut an, wenn ich bedenke, welche würdigen und gravitätischen Männer ihn vor mir gegangen sein mögen. Wer weiß, ob nicht Ramler hier manche seiner Oden skandiert hat, wie zum Beispiel jene »An die Stadt Berlin«:

Sei mir gegrüßt, Augusta, meine Krone!
Die Städte Deutschlands bücken sich!
Es hören meinen Stolz Belt, Donau, Wolga, Rhone
Und weichen hinter mich!

Oder wenn er, Friedrichs gedenkend, ausruft:

Eilt, ihn in Erz den Enkeln aufzustellen!
Eilt, einen Tempel ihm zu weihn
Am Rande meines Stroms! Ich brenne, seine Schwellen
Mit Blumen zu bestreun.

Jetzt freilich bietet sich mir ein anderes Bild. Es ist die Stunde, wo die Fabriken Feierabend machen und die Fabrikarbeiter heimkehren, jeder mit seinem Blechkesselchen in der Hand. Nur noch vereinzelt dröhnt der Schlag der Hämmer herüber vom jenseitigen Ufer, wo der Nachtdienst beginnt; denn in diesen Fabriken der Eisen- und Maschinenbauindustrie, wo die großen Feuer immer in Brand gehalten werden müssen, sind die Arbeiter in zwei Schichten geteilt, eine Tages- und eine Nachtschicht, die einander ablösen; und mit dem Rauch, wie er aus dem Schornstein steigt, mischt sich, bei eintretender Dunkelheit sichtbar, die rötliche Flamme. Noch bewegen sich zwischen den schwerbefrachteten Fahrzeugen, welche von je zwei Schiffern mit mächtigen Stangen mühsam von der Stelle geschoben werden, die leichten Kähne. Denn das Wasserfahren steckt dem Berliner im Blute; die jungen Männer und die Mädchen, sie verstehen beide das Ruder kräftig zu handhaben, das Steuer geschickt zu lenken – sie sind die echten Nachkommen der Fischer, welche sich zuerst in den Sümpfen von Kölln angesiedelt haben. Kein größeres Vergnügen für diese Menschen, als am Sonntag das Boot loszubinden und hinauszufahren und zu singen: »Das Schiff streicht durch die Wellen«, oder »Auf, Matrosen, die Anker gelichtet«. Von einem hohen Mastbaum am Ufer weht die dreifarbige Flagge der deutschen Marine, und am Landungsplatz steht ein Mann, den Bart geschoren nach Art der Seefahrer, mit einem blauen Rock und dem Zeichen des Ankers auf den metallenen Knöpfen. Er ist der Kapitän und vermietet die Kähne. Ringsumher liegt Schiffsgerät, stehen Fischkästen, hängen Netze und Körbe. Kähne, die ausgebessert werden sollen, sind ans Land gezogen; während die mobile Flotille festgemacht im Hafen ruht – Boot neben Boot, eins neben dem andern, grün angestrichen und sauber geputzt. Weiter zurück die großen Wasseromnibusse mit den grotesken Schiffsfiguren am Schnabel, mit roten und gelben Türkenköpfen – mit einem Dach versehen, wie die beste venezianische Gondel. Sie fahren von den Zelten nach Moabit und von Moabit nach den Zelten, zehn Pfennige die Person. Ein gar lustiges, kleines Hafenbild, immer bunt und belebt. Frauen sind da, welche Salzbrezeln feilbieten. Der Wurstkessel dampft. »Schöne Warme! Schöne Kirschen!« Ein kleines Mädchen, ein »Dreikäsehoch«, wie man zu sagen pflegt, kommt mit Zündhölzchen. »Ick habe ja noch keen Handjeld verdient – jeben Sie mir doch Handjeld, ja, lieber Herr?« ruft sie schmeichelnd. Indessen haben sich auch die Zelte bevölkert, eines nach dem andern hat sich mit Menschen gefüllt, und da, wo die feinen Herren und die feinen Damen des vorigen Jahrhunderts so zierlich miteinander konversiert haben, fahren die Droschken im Rondell auf.

Jenseits desselben pflegt es um diese Zeit stille zu werden. Eine der anmutigsten Spreelandschaften liegt vor mir: mit dem dichten Massiv des Tiergartens auf dem linken, dem Kirchturm und den Schornsteinen und Baumgruppen von Moabit auf dem rechten Ufer und dem breiten, stillen Fluß dazwischen, hell vom Glanze des Westens. Langsam herüber zieht der Rauch unter dem Abendhimmel, vom Abendrot durchleuchtet und mit den Wolken, dem grünen Ufer und den gelblichen Bögen der Stadtbahn sich spiegelnd in der schillernden Flut. Bei der Eisenbahnbrücke hält ein Fischerboot. Zwei Männer stehen darin aufrecht in hohen Wasserstiefeln, Körbe auswerfend und wieder heraufziehend, so daß das schwarze Gewässer daran heruntertropft: sie fangen Aale und bewegen den Kahn an einer eisernen Kette quer durch den Fluß. Weiter hinauf, unter einer alten Weide, steht eine Wäscherin. Die Weiden an der Spree sind die herrlichsten, die man sehen kann; einige breit und mächtig, andere hexenhaft verbogen, geben sie mit ihrem feingefiederten, graugrünen Laub und vielverästelten Gezweig der Landschaft zugleich etwas Phantastisches und Schwermütiges, zumal in der Abenddämmerung. Die Ligusterhecke, den Rasen und das niederhängende Gebüsch nährt die Feuchtigkeit des Wassers, und indem man dem Laufe der Spree folgt, verliert sich mehr und mehr der Charakter der Stadt. Zuletzt gelangt man an eine Stelle, wo sie ganz aufzuhören scheint, und man erblickt das offene Land; aber freilich schon im Kampfe mit der Stadt, die langsam, langsam, aber auch wie das Verhängnis unaufhaltsam aus der Ferne heranschreitet. Schon liegen hohe Backsteinhaufen aufgetürmt, schon ist der weiche Boden von Räderspuren durchfurcht, schon steigen, wie Skelette, Baugerüste dort aus der Erde, während hier noch am Ufer zwei Kinder Futter für ihre Ziege schneiden und ein Mann mit einer Leiter über die Brücke kommt, um die Petroleumlämpchen anzuzünden.

Mit heiserm Klange vom Bellevueschlosse schlägt es acht. Wenn man seine gelbe Steinmasse, verwittert und vereinsamt und doch noch zeugend von einer gewissen altmodischen Hoheit, seine doppelte Reihe weiß verhängter Fenster in diesem Zwielicht, von Baumwipfeln umragt und in der Umgebung seines Parkes erblickt, so macht das Schloß fast einen geisterhaften Eindruck. Große Schicksale hat es niemals gehabt; aber die Geschichte eines Gebäudes, wenn man sie getreulich erzählt, ist interessant wie die Geschichte eines Menschenlebens, auch wenn ihm und manchmal weil ihm das Außerordentliche fehlt. Ein Mann hat hier gewohnt, ein Jugendgenosse und Freund Friedrichs des Großen, welcher es reichlich erfahren, was Fürstengunst bedeutet; ein tüchtiger, aber bescheidener Mann, der viel für andere, wenig für sich getan und dessen Name daher so gut wie vergessen ist. Warum hat man noch niemals daran gedacht, dem Andenken Knobelsdorffs ein Monument im Tiergarten zu widmen, der bis dahin nur ein Jagdrevier war und durch ihn erst ein Park geworden ist? Es ist nicht sein einziges Verdienst, aber doch dasjenige, welches uns Berliner am nächsten angeht. Er war 1697 geboren, nahm Kriegsdienste und stieg bis zum Hauptmann; 1730 nahm er seinen Abschied, um sich ganz auf die Malerei und Baukunst zu legen, sagt Nicolai von ihm in seinen »Nachrichten von Künstlern unter König Friedrich II.«. Dieser ernannte ihn zum Oberaufseher aller königlichen Gebäude. »Er erbaute das Opernhaus, den neuen Flügel des Schlosses zu Charlottenburg, das Schloß zu Zerbst. Er zierte das Schloß zu Potsdam aufs neue aus und baute die marmorne Treppe im Hauptgebäude. Den Lustgarten zu Potsdam richtete er ein, so wie er ist. Er gab das Schloß Sanssouci an ... Den Tiergarten vor Berlin hat er unnachahmlich schön angeordnet ... Er starb 1753.« – »Ein sehr verständiger, kenntnisreicher Mann«, sagt von ihm Carlyle, in dessen »Geschichte Friedrichs II.« wir diesem Knobelsdorff öfter begegnen, zuerst in Bayreuth, bei der Markgräfin Wilhelmine, der Lieblingsschwester des Königs, dann in Rheinsberg, dessen Ausbau er gleichfalls unternommen; »ein Mann von ernstem Aussehen, ernst, jedoch wohlwollend und voll ehrlichen Scharfsinnes, das echte Bild gesunden Verstandes« – lange der Vertraute Friedrichs, und nicht nur in Kunstsachen. »Der König hat ihm die Mittel verschafft, um in Italien zum Künstler zu reifen«, sagt Ernst Curtius in seiner (1878) zur Feier des Jahrestages Friedrichs II. in der Berliner Akademie gehaltenen Rede, »und gab ihm dann eine Stellung, welche mit derjenigen verglichen werden kann, die Phidias unter Perikles hatte; denn es war Knobelsdorffs Aufgabe, die umfassenden und immer neuen Gedanken des Staatsoberhaupts für die Ausstattung der Residenzen mit Schlössern, Theatern, Staatsgebäuden, Denkmälern und Gartenanlagen technisch zu verarbeiten und ihre Ausführung an oberster Stelle zu leiten.« Aber mit diesen überwältigend Großen ist auf die Dauer kein Verhältnis möglich; in ihrer einsamen Höhe verlieren sie die Schätzung der Persönlichkeiten, ihr Wille duldet keinen anderen, ihre Größe drückt alle nieder, und wer das Gefühl seiner Freiheit und Würde nicht völlig hinzugeben vermag, verfällt in Ungnade. Superioren Naturen dieser Art genügt es nicht, auf dem ihnen zugewiesenen Gebiete die Ersten, ja die Einzigen zu sein: Sie wollen alles wissen, auf allen Gebieten, und wehe dem, der Widerspruch erhebt! Das ist die bedenkliche Seite des von Carlyle verkündeten Heroenkultus. »Knobelsdorff«, so drückt Curtius es aus, »blieb das Martyrium nicht erspart, welches den Baumeistern genialer Fürsten bei dem hellsten Glanz von Ehren und Macht einem dunkeln Schatten gleich zu folgen pflegt. Friedrich war auch auf diesem Felde voller Selbstherrscher ... Auch in der Geschmacksrichtung traten Gegensätze ein. Knobelsdorffs Ideal war eine Einfachheit des Stils, der Ernst einer hohen Kunst, die dem König zu kalt und zu kahl erschien. Von dem deutschen Edelmann, der mit Freimut seine Kunst vertrat, wandte sich der königliche Bauherr andren Architekten zu, welche auf jeden Einfall geschmeidiger, eingingen.« Es kam zum Bruch zwischen ihm und Knobelsdorff, welcher fortan in der Zurückgezogenheit lebte, sich hauptsächlich mit der Malerei beschäftigend.

Noch steht der Flügel des Bellevueschlosses, den er gebaut und in welchem er gewohnt hat. Es ist derjenige, der sich dem Wasser zukehrt. Nach der Neuschöpfung des Tiergartens hatte Knobelsdorff sich diesen Platz am Wiesenufer der Spree, welcher bis dahin einem Müller gehört, zur Erbauung eines Landhauses gewählt. Neben demselben legte er einen Wirtschaftshof an, der lange noch als »Knobelsdorffs Meierei« bekannt war. Hierher, aus seinem Stadthaus in der Kronenstraße, das er sich selbst gebaut (an der Stelle, wo heute Nr. 29 steht), kam er immer, sobald es Sommer ward; hier, mit dem Blick gegen Norden und auf die Spree, standen seine Staffeleien, und hier, in der ganz von Grün umgebenen, mit künstlerischem Geschmack ausgestatteten Villa, verlebte er seine letzten Jahre, dankbar, ohne Bitterkeit dessen gedenkend, der ihn verstoßen. »Ich fühle die letzten Augenblicke meines Lebens herannahen«, schrieb er an ihn, wenige Tage vor seinem Tode, »und nütze eine Pause meiner Schmerzen, um den Gefühlen der Dankbarkeit Worte zu geben, von denen ich für all das Gute und alle die Wohltaten durchdrungen bin, mit welchen Ew. Majestät mich während meines Lebens überhäuft haben.« Aber auch der große König blieb edleren Regungen nicht verschlossen einem Toten gegenüber, der ihm während einer langen und bedeutenden Tätigkeit im Leben so nahegestanden. »Wir beklagen die Verstimmung, welche ein so schönes und seltenes Vertrauen löste zu einer Zeit, da Knobelsdorff in der vollen Kraft seines Schaffens stand«, – so schließt in seiner milden Weise der Historiker Griechenlands seine Bemerkungen über das Verhältnis des Königs zu dem Künstler, welcher »an den Denkmälern Roms mit feinem Sinne das Griechische herausgefühlt, ehe noch die attischen Denkmäler durch Stuart wiederentdeckt waren.« Wenige seiner Zeitgenossen mögen ihn ganz gewürdigt haben; und es muß daher, »wenn von dem die Rede ist, was König Friedrich für die bildenden Künste getan hat, ihm immer als ein besonderes Verdienst nachgerühmt werden, daß er diesen Mann erkannt, ihn ausgebildet und ihm Gelegenheit gegeben hat, Werke zu schaffen, welche als die edelsten Baudenkmäler seiner Zeit noch heute ein Stolz unserer Stadt sind ... Dem Herzen des Königs aber macht es Ehre, daß er in der Totenspende zu sühnen suchte, was er in dem Verhalten zu seinem Jugendfreunde etwa versehen hat.« An einem 24. Januar, 128 Jahre früher, ward in diesen Räumen und an derselben Stelle, wo Curtius das Lob Friedrichs sprach, der »éloge« auf Knobelsdorff verlesen, und der Verfasser war Friedrich. »Er war geboren zum Maler«, hieß es darin, »und zu einem großen Architekten, und es offenbarte sich in ihm das Wesen des Genius, welcher die mit ihm Begabten durch die Macht einer unwiderstehlichen Neigung antreibt, ihm zu folgen und ihnen zeigt, wozu sie geschaffen sind.« Bestattet liegt er im Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt, und am Friedrichsdenkmal Unter den Linden, auf eine der Erztafeln, welche die Namen der großen Männer der friderizianischen Zeit tragen, hat man, im Gefühle der Gerechtigkeit und gewiß im Sinne des Königs, auch den Namen des Freiherrn Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff geschrieben.

Nach Knobelsdorffs Tode gingen Landhaus und Meierei in andern Besitz über; zuerst hatte sie ein Gastwirt, dann ein Kommerzienrat Schneider, dann ein Hofrat Bertram. Zur Zeit, wo Nicolai schrieb (1779), hieß sie die Bertramsche Meierei, und im Jahre 1785 kaufte sie Prinz Ferdinand, der jüngste Bruder des Königs. Er hatte bis dahin in Friedrichsfelde residiert, dessen Schloß, Park und Pertinenzien, gegenwärtig im Besitz der Familie von Treskow, der Prinz im Jahre 1762 von der Herzogin von Anhalt-Bernburg erworben. Prinz Ferdinand »richtete seine Hofhaltung in Friedrichsfelde nach dem Muster seines Bruders Heinrich in Rheinsberg ein«, heißt es in der »Geschichte des Dorfes Friedrichsfelde« von Brecht; er legte Grotten, Tempel, Statuen, auch eine Fasanerie an und bildete sich aus den Invaliden seines in Ruppin garnisonierenden Regiments eine Leibwache. Armer Prinz, mit drei solchen Brüdern: dem großen Friedrich, dem Prinzen August Wilhelm, Vater Friedrich Wilhelms II., und dem berühmten Prinzen Heinrich! »Sein ganzes Leben liegt im Schatten seiner Brüder«, sagt sehr hübsch von ihm George Hesekiel in seiner Beschreibung von »Preußens Königlichen Schlössern«. Dieser Prinz baute Bellevue, dessen ältesten Teil das ehemals von Knobelsdorffsche Landhaus bildet und dessen Park er vergrößerte, indem er den das Schloß umgebenden Teil des Tiergartens hinzunahm, so wie wir alles heute noch sehen. Der Bruder Friedrichs lebte noch (seit 1802 in Rheinsberg), als dessen Staat und Heer schon zusammengebrochen war; er überlebte seinen genialen Sohn, den Prinzen Louis Ferdinand, der bei Saalfeld fiel, und starb, ein Dreiundachtzigjähriger, ein Vergessener und Verschollener, im Jahre 1813. Sein Nachfolger in Bellevue ward sein Sohn, Prinz August, nach der Schlacht bei Jena der Kriegsgefangene Napoleons, aber nachmals in den Feldzügen von 13 und 14 einer von den Rächern seines Geschlechtes und seines Vaterlandes, ein echt hohenzollernscher Held. Eine Siegestrophäe, die große, schwarze Kanone auf steinernem Postament im Schloßhof, und ein neueres Denkmal im Schloßgarten erinnern noch an ihn. Es ist dies eine Pyramide mit Adlern und Fahnen und dem Ausblick auf den großen Stern, wo die Pferdebahnwagen von Charlottenburg und dem Zoologischen Garten einander begegnen; aber denjenigen, der hier in der Abenddämmerung steht, vermag das Trappeln und Klingeln da draußen kaum aus seinen Träumen zu wecken, als ob die Schatten der Vergangenheit, die sich mit den Schatten der Nacht vermischen, die Wirklichkeit wären und die Welt, die vorüberstürmt, die roten und grünen Lichter, die man hin- und herfliegen sieht, das Unwirkliche. Man kommt sich wie verzaubert vor in diesem alten Garten; und indem man sich tiefer in denselben verliert, wird immer stärker das Rauschen des Nachtwindes in den Linden und Ebereschen, immer schwächer das Rollen der Wagen. Heimlich flüstert es in den Blättern und Zweigen, weite Wiesenflächen, aus denen die lauliche Brise den starken Geruch von Kräutern herüberträgt, dehnen sich vor uns aus; Palmengewächse klirren in der leisen Bewegung der Luft, und Schilfpflanzen neigen und biegen sich graziös und heben sich wieder empor in der eintretenden Stille. Man glaubt tausend Meilen weit von Berlin zu sein. Man hört das Murmeln eines Baches und geht über ein Brückchen. Man steht vor einem runden Pavillon mit Kuppeldach und Säulen. Er ist verschlossen. Alles totenstill. Der Kronleuchter hängt vom Plafond herab. In der Mitte steht ein Marmortisch. Die Sofas sind mit weißem Linnen überzogen, die Wände mit Fresken bemalt. Wann ist hier das letzte Fest gefeiert worden, und wo sind die Gäste, die hier versammelt waren? Mir ist, als schwebe sanfte Musik durch diesen dämmrigen Raum, ein Nachklang jener, welche Prinz Louis Ferdinand geliebt. Mir ist, als klinge silbernes Lachen an mein Ohr, wie jenes, durch welches Madame Récamier einst den Sieger von Kulm bezaubert. Wie viele Stimmen werden wach vor diesem Pavillon in der lieblichen Augustnacht! Einige erzählen mir von dem letzten Bourbon, der nach der Julirevolution hier in dem Schlosse Rast machte auf seiner Flucht von Schottland nach Böhmen; andere vom Prinzen Waldemar, dem kühnen Indienfahrer, der, von Tatendurst getrieben, die Weiden und die Spree und die beschauliche Ruhe von Bellevue mit den Palmen und dem Ganges und dem Abenteuer und der Schlacht im fernen Osten vertauschte, der unter dem Rotkreuzbanner der britischen Löwen und Leoparden gegen aufrührerische Scheiks kämpfte und frühe starb. Und endlich – ein Wintertag war's, der 27. Februar 1881, ein kalter, klarer nordischer Wintertag, da zog aus diesem nämlichen alten Schloß eine junge Prinzessin; und durch Triumphbögen auf dem kleinen Stern und durch Menschenwogen auf der Charlottenburger Chaussee, die nackten Bäume bis oben hinauf mit kleinen Jungen bevölkert, die in den Zweigen hingen und »hurra!« schrien, durch spalierbildende Gewerke, die berittene Schlächterzunft – wie das ihr Recht – voran, bewegte sich ein reichvergoldeter Galawagen, der Dienst getan haben mochte schon unter Friedrich Wilhelm I., und Reiter umher und Fahnen, ein unabsehbarer Zug unter dem mattblauen Winterhimmel mit nur etwas Sonne – und plötzlich, indem die einzelnen Trupps mit ihrer Musik vorübergingen, eine bekannte Weise ... eine Melodie, wie aus ferner Kinderzeit, aber versöhnend an diesem Tag und an dieser Stelle – ein ganzes Drama der Weltgeschichte im Sinne der ewigen Gerechtigkeit abschließend –

Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
Deutscher Sitte hohe Wacht,
Wahre treu, was schwer errungen,
Bis ein schönrer Morgen tagt.
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
Wanke nicht, mein Vaterland!

Und wie der Zug nun vorüber, stürzen Tausende in die freigewordenen Alleen – mit Schemeln, auf denen sie stundenlang geduldig gesessen, mit Fußsäcken, welche sie gegen die Kälte geschützt, mit allen Arten von Fuhrwerken kommen sie hinterher – Karren der Marktleute, die heut als Equipagen benutzt werden, Schnaps- und Fouragekarren, von zwei Männern gezogen, ein Ehepaar mit einem Waschkorb zwischen sich, in welchem ein Kind liegt – die Gamins steigen von den Bäumen herab, und der Jubel beginnt; denn der Berliner, wenn er gleich ein Frondeur ist und fortschrittlich wählt, hält doch treu zu seinem Königshaus, dessen Festtage auch die seinen sind. Fern aber, unter der stolzen Säulenhalle des Brandenburger Tores verklingt das alte Lied von 1848:

Gott ist stark auch in den Schwachen,
Wenn sie gläubig ihm vertraun;
Zage nimmer, und dein Nachen
Wird trotz Sturm den Hafen schaun.
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
Harre aus, mein Vaterland ...

Gott segne deinen Eintritt in die preußische Königsstadt, du Tochter Schleswig-Holsteins – einst, im Laufe der Jahre, Deutschlands Kaiserin!

So flüstert und rauscht es unablässig in den Zweigen, während ich noch immer vor dem Pavillon im Schloßgarten von Bellevue stehe. Kaum ein Mensch ist in der Nähe – nur hier und da noch, in den langen Baumgängen, ein Einsamer, gleich mir. Aus dem Dämmerlicht, mir gegenüber, hebt sich eine zackige Giebelfront mit Spitzbogenfenstern, bis zur halben Höhe mit den herrlichsten Fuchsien in Scharlach und Lila bedeckt; auf einer Steinplatte stehen die Worte: »Inventé et dessiné par Gilly fils«. Es ist Friedrich, Sohn des alten Oberbaurats David Gilly, der Geniale, Frühgestorbene (1800, im Alter von 29 Jahren). In der Kunstgeschichte wird er immer genannt werden als Lehrer Schinkels und Bahnbrecher der klassischen Richtung, welche sich nachmals unter seinem Schüler so glänzend entfaltete; jedoch ich wüßte nicht, daß von ihm selbst in Berlin noch etwas zu sehen wäre, außer dem wunderschönen, von der alten Münze nach der neuen übertragenen Sandsteinfries, welcher obendrein noch ziemlich allgemein in den Handbüchern (auch von Baedeker) Schadow zugeschrieben wird. Dieser hat den Fries allerdings ausgeführt; aber »erfunden und gezeichnet« hat ihn Gilly, ganz wie diesen Bau des Bellevuegartens; und seltsam berührt es, seinem Namen hier auf Knobelsdorffschem Gebiet zu begegnen – dem Namen des halb Vergeßnen auf dem Gebiet des lang Verkannten. – Der strohgedeckte Bau, gegenwärtig von dem Obergärtner und seiner Familie bewohnt, war ehedem eine Meierei – die Meierei der Prinzessin Louise, Schwester des Prinzen August; »Métairie de Louise« liest man noch in altmodischer Schrift auf einer Tafel über der offenen, von wildem Wein umrankten Halle, in welcher die Prinzessin zu lustwandeln liebte. Grundriß und Pläne bewahrt die Gartendirektion, und alles wird sorgfältig im alten Stand erhalten. Über dieser Idylle mitten in einem fürstlichen Park, der weiten Wiese, dem steingepflasterten Hof mit Brunnen und Holzstaket, dem Gebäude selber, einstöckig, ländlich, mit Strohdach und – einer gotischen Fassade, weht noch immer der echte Hauch des 18. Jahrhunderts und der etwas gekünstelten Naturschwärmerei Jean Jacques Rousseaus. Ringsum ausgebreitet liegt die blaugrüne Tiergartentiefe. Vom großen Stern – einer Anlage Knobelsdorffs – zweigen zwei besonders mächtige Alleen ab, die eine zur Erinnerung an den verschwundenen Hofjäger, die Hofjägerallee; die andere die Fasanerie-Allee, zur Erinnerung an die verschwundene sogenannte »Fasanerie bei Charlottenburg«, welche auf Befehl Friedrich Wilhelms IV. 1842 nach Charlottenhof bei Potsdam verlegt ward, während auf dem freigewordenen Terrain seit dem angegebenen Jahre sich der Zoologische Garten zu entwickeln begann.

Wie es hier aussah, als unser Jahrhundert noch in den Zwanzigen war, schildert gar anmutig Karl Gutzkow in seinem liebenswürdigen Buche »Aus der Knabenzeit«. Der Tiergarten war damals noch wildverworren, sumpfiggrün. »Hinter dem früheren Venusbassin, späteren prosaischeren Karpfen-, dann Goldfischteich, linker Hand vom Wege wucherte es von Schafgarben, Winden, Farrenkräutern, Schierling und Wolfsmilch. Es war die volle Vegetation des Sumpfes. Eidechsen huschten unter den hohen Gräsern dahin. Rechts hatte man den Blick nach dem Schloß Bellevue, das sogar Delille besungen hat, und der viel bewunderten bronzenen Kanone, welche Prinz August (ein berühmter Held auch in der Prusse galante) eigenhändig von den Franzosen erobert haben soll. Nun kam das freundliche ›Rondeel‹, das mit einigen finger- und nasenlosen Steinfiguren geziert war und vom Volke: ›die Puppen‹ (hochdeutsch: ›die Pupfen‹) genannt wurde, sonst aber schon zu Knobelsdorffs Zeiten poetischer der ›große Stern‹ hieß. Rings geschnittene Hecken. Die Grenze Bellevues bezeichnete ein erhöhter chinesischer Pavillon, im Volke ›Regenschirm‹ genannt.« Dieser Platz aber wurde von dem damaligen Berlin als so weit entlegen angesehen, daß »bis in die Puppen« ein Ausdruck für etwas sehr Entferntes, sogar Extravagantes wurde und als solcher – siehe Büchmann »Geflügelte Worte« – sich erhalten hat, nachdem die »Puppen« selber längst zu ihren Vätern und Müttern versammelt worden sind.

Ein fashionabler Platz war damals der »Hofjäger«, welchen die Älteren der gegenwärtigen Generation noch gekannt und mit seinen weiten Wald- und Wiesengründen unter ihrem Blick gleichsam haben hinschwinden sehen, bis Häuser und Straßen daraus geworden – das Schicksal, welches Moritzhof und Albrechtshof und noch so manche »Kaffeestation« des älteren Berlins mit ihm geteilt haben. Hier, auf der Landseite des Tiergartens, und in den Zelten, auf der Wasserseite desselben, war man sicher, zu der Zeit, wo Gutzkow noch als Knabe in den Feldern schwärmte und E. T. A. Hoffmann seine »Serapions-Brüder« schrieb, in den Nachmittagsstunden stets eine auserlesene Gesellschaft zu finden. Namentlich die Zelte scheint der Verfasser der wundersamen »Phantasiestücke in Callots Manier« geliebt zu haben. Zwei seiner Novellen läßt er hier beginnen, aus deren einer – »Fragment aus dem Leben dreier Freunde« – hervorgeht, daß man damals noch »hinten heraus auf dem Platz am Wasser« sitzen konnte, wo jetzt nur altes Gerümpel liegt und Hühner in unzähligen Scharen spazierengehen; während die andre – »Ritter Gluck« – mit einer anschaulichen Schilderung des Anblicks eröffnet, wie er sich dem Beschauer in jenen Jahren bot. »Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigarros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden, über die Schuhe der Madame Bethmann et cetera ... Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden ... da setze ich mich hin. Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich ... Nur das verwünschte Trio eines höchst niederträchtigen Walzers reißt mich aus der Traumwelt ...«

Die Zigarre hatte in dem Berlin der zwanziger Jahre die Pfeife verdrängt, welche hier in den Zelten einstmals so tapfer gedampft. Aber man sagte nicht: »die Zigarre«, sondern: »der Zigarro«. Man ist versucht, wenn man das Wort heute liest, an Stroh zu denken, was ja denn auch zu dem Mohrrübenkaffee trefflich passen würde. Doch der Maler Eduard Lassen sagt in einer anderen von Hoffmanns Novellen – »Die Brautnacht« – daß »er für die Güte und Brennbarkeit der Zigarren einstehe, ungeachtet er sie nicht direkt von Hamburg bekommen, sondern aus einem Laden in der Friedrichsstraße erkauft habe«. Ein »Glimmstengel oder Tabaksröhrlein, wie die Puristen den Zigarro benannt haben wollen«, vermittelt »an einem schönen Sommerabende« die Bekanntschaft zwischen dem jungen Maler und dem Kommissionsrat Herrn Melchior Voßwinkel; und da besagter Kommissionsrat eine Tochter besitzt, welche die »Jugend, Anmut, der Liebreiz selbst« ist, so kann man sich das Weitere denken.

Das Orchester, welches dem auch in musikalischen Dingen so feinfühligen Dichter nicht wenig Schmerzen bereitet hat – mag er sich noch so weit weg setzen, immer hört er »die kreischende Oberstimme der Violine und Flöte und des Fagotts schnarrenden Grundbaß ... sie gehen auf und ab, fest aneinanderhaltend in Oktaven, die das Ohr zerschneiden« –, dieses Orchester befand sich im »Zirkel«, dem ehemaligen »Kurfürstenplatz«, wo man fünfzig Jahre früher die Perücken und den Puder, die Reifröcke und die zierlichen Hackenschuhe gesehen hatte und wo fünfzig Jahre später der Berliner Droschkenkutscher seinen Stand nahm. Die Musik verstummte erst und die Estrade ward abgebrochen infolge der Ereignisse des Jahres 1848, als jene sich in eine Rednerbühne verwandelt hatte. Wer hätte nicht von den berühmten Volksversammlungen in den Zelten gehört oder gelesen, den ersten, welche jemals in Berlin abgehalten worden sind? Ein Augenzeuge – Robert Springer, in »Berlins Straßen etc. im Jahre 1848« – schildert sie folgendermaßen: »Die verdeckten Orchestersitze in der Mitte wurden zur Tribüne benutzt, der freie runde Platz war mit Tausenden von Zuhörern angefüllt und von Marketenderbuden umgrenzt, in den Zelträumen saßen diejenigen, welche die Volksredner lieber von fern und Bier und Kaffee in der Nähe prüften, vom Brandenburger Tor her rollten zahlreiche Droschken, auf der nahen Spree rollten die lustigen Gondeln nach Moabit, dessen Auen man jenseits erblickte, die Fenster des Schlosses Bellevue blinkten im Sonnenschein durch die schattigen Alleen des Tiergartens, von ferne gewahrte man die grüne Schloßkuppel und die Kirchturmspitze von Charlottenburg.«

Das waren die Frühlingstage der Freiheit. Aber es wurde bald wieder dunkel und blieb dunkel eine lange Zeit, und weit von hier, an dem entgegengesetzten Ende der immer ungeheurer sich ausdehnenden Stadt, auf dem Hügel im Friedrichshain, unter den Trauerweiden, haben wir die Gräber gesehen, welche den Karneval der Zelte beschlossen.

Hier aber auch, an den Wassern der Spree, blühte bis zuletzt die blaue Blume der Romantik; hier, in einer unterdes anders gewordenen Welt, hauchte sie sterbend ihren letzten Duft aus. Hier, in einem Hause »hinter den Zelten«, das nunmehr längst verschwunden ist, haben Achim von Arnim und Bettina gelebt. Hier, den Traum ihrer Jugend noch einmal träumend, dichtete die seltsame, geniale Frau »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«; hier in dem großen Saale stand das von ihr erdachte, mit Hilfe Wichmanns und Steinhäusers im Modell ausgeführte Denkmal Goethes mit dem Genius an seinen Knien, der in die Saiten seiner Leier greift, und hier (1859), neben dem Monumente, stand auch ihr Sarg, ehe er nach Wiepersdorf, der Besitzung der Arnims, geführt wurde. »Die Ihrigen waren alle vorausgegangen, um ihn dort in Empfang zu nehmen«, erzählt Hermann Grimm in der rührend schönen Lebensskizze, welche der neuen Ausgabe des »Briefwechsels mit einem Kinde« vorangeht. »Ich war ganz allein im großen Saale. Es lag da ein Haufen Lorbeerkränze und lange Laubgewinde, die ich um den Sarg nagelte.«

Und nun ist es wirklich Nacht geworden, eine weiche, warme, duftige Sommernacht. Sterne stehen am Himmel, Lichter irren am Ufer, Feuer ist auf dem Wasser: ein Floß treibt noch langsam vorüber, mit einer kleinen Hütte für den Flößer, und dieser kocht sich über einem Scheit brennenden Holzes sein Nachtessen. Schwäne, die ihr Nest suchen, schwimmen voran und umher; über Moabit steht schon das Blau der Sommernacht, und auf der Stadtbahn, in schöner Kurve, gleitet ein erleuchteter Zug dahin. Im Hintergrunde liegt die Stadt, wie mit Lichterkränzen behängt, und durch die Bucht, welche die Spree hier bildet, fährt ein müder Dampfer nach dem Ankerplatz unter dem Lehrter Bahnhof. Schwarz und schweigend zur Rechten des Wanderers steht der Tiergarten.

Aber in den Zelten leuchtet und summt es von Hunderten froher Zecher, unbekümmert darum, wer vor ihnen hier gewesen. Wie man diese Wirtschaften mit ihren großen Gärten noch immer »Zelte« nennt, so bezeichnet man sie auch noch immer nach ihrer Nummer und sagt: Zelt Nr. I, Nr. II, Nr. III., Nr. IV. Aber sie waren nicht immer so gefüllt, wie wir sie heute sehen. Ihre Schicksale wechselten, die Mode wandte sich von ihnen ab, und das Jahr 1848 bezeichnet ihren vollständigen Niedergang. Lange waren und blieben sie verödet; sie sahen verfallen aus und wurden, wenn überhaupt, nur noch von den unteren Volksklassen besucht. Ihr Wiederaufschwung beginnt mit Anfang der siebziger Jahre, wo diese ganze Gegend sich umgestaltet hat und die früher auf der entgegengesetzten Seite des Tiergartens gelegenen Etablissements eines nach dem andern geschlossen worden und verschwunden sind, um neuen Straßen Platz zu machen. Seitdem sind die Zelte wieder in ihr altes Recht eingetreten. Das privilegierte derselben war und ist heute noch das Zelt Nr. II; es ist das historische Zelt. Es erhebt sich an der Stelle, wo zuerst Mouriers goldne Gans geprangt, alsdann die Grünebergschen Hütten gestanden haben und zuletzt E. T. A. Hoffmann ein täglicher Gast Webers war. Der einstöckige, breite Bau mit seinem schönen Oberlichtsaal, den tiefen Fenstern und der säulengetragenen Arkade macht, unter den alten Tiergartenbäumen, einen angenehmen Eindruck und erinnert an die Schule Schinkels. Hier pflege ich den Beschluß meiner Sommerabend-Wanderung zu machen; ich bin dann gewiß, eine gute Gesellschaft zu finden – einige Freunde von der Literatur, einige vom Theater, welche wohl wissen, daß sie hier auf klassischem Boden sitzen, aber freilich »mit allem Komfort der Neuzeit«. Denn Berlin hat Fortschritte gemacht seit den Tagen E. T. A. Hoffmanns. Wo dieser Mohrrübenkaffee schlürfte, da gibt es jetzt echten Mokka – wenigstens sagt so der Wirt des Zeltes Nr. II und – »Heinrich, ich sehe Tugend in seinen Blicken«, sagt Falstaff. Wie gut ich mir den dicken Mann hier denken könnte, vor einer Kanne Nürnberger Bieres, umschwärmt von den kleinen, niedlich uniformierten – Pagen – »Tiger« in der Sprache Londons, die übrigens niemandem etwas zuleide tun und auch die dünnen Männer freundlich bedienen. In einem Punkt oder in zweien gehorcht man aber auch hier dem althergebrachten, für ganz Berlin gültigen Gesetz: kommt man nämlich am Donnerstag, so hat man »Frikassee vom Huhn«, und kommt man am Freitag, so gibt's ein großes Fischessen mit all den heimatlichen Delikatessen: Aal grün und Aal mariniert, Hechte mit Klößen und Schlei in Dill, Zander mit Butter und Quappen in Bier – denn das Berliner Völkchen weiß zu leben, hängt an der Tradition seiner fischefangenden Väter und denkt vielleicht an solchen Abenden manchmal an das, was die Zeit, gute Fürsten und ein tüchtiges Volk aus diesem Sumpf und Sandhaufen gemacht haben. Dieses ist auch mein Gedanke, während ich mein letztes Glas in Zufriedenheit leere, und er begleitet mich, wenn ich wieder heimwärts wandre durch die Stille der Sommernacht und das Rauschen des Tiergartens.


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