Julius Rodenberg
Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Norden Berlins

(Mai 1884)

Unter allen Weltgegenden unserer Stadt ist es diese, von welcher man in den übrigen am wenigsten weiß; woraus indessen noch nicht folgt, daß die Bewohner derselben recht haben, wenn sie den Norden als das »Stiefkind« Berlins darzustellen lieben. Ein Blick auf den Plan genügt, um zu zeigen, daß das Areal dieses Stadtteils umfangreicher ist als das irgendeines anderen in Berlin; und ein zweiter Blick an Ort und Stelle selbst wird uns zeigen, daß auch hier Magistrat und Stadtverordnete die guten Väter sind, welche keinen Unterschied machen in der Sorgfalt und Liebe für die jüngeren oder älteren Sprößlinge.

Wohl ist dieses ungeheure Terrain noch weit davon entfernt, mit Häusern bedeckt zu sein, und das meiste, was vorhanden, neuer Anbau, nicht älter als das Jahr 1861. Gewaltige Lücken gähnen noch dazwischen, offenes Feld, Heide; Straßen, kaum in den ersten Anfängen bezeichnet. Nach allen Richtungen gelangt man bald ins Freie, wo sich nur noch in beträchtlichen Abständen voneinander, hier oder dort, ein Haus erhebt, dessen Zusammenhang mit Berlin durch den allgemeinen Baucharakter oder das Straßenpflaster oder die Stränge der Pferdebahn angedeutet wird. Aber eines Tages wird der leere Raum ausgefüllt, Feld und Heide werden verschwunden sein unter einer kompakten Häuser- und Straßenmasse; denn auch im Norden drängt die Bautätigkeit unaufhörlich vorwärts, er ist der Sitz einiger unserer wichtigsten Industrien: die Gegend, wenn nicht ausschließlich, so doch vorwiegend der Arbeiterbevölkerung, wo sie am dichtesten beisammen ist und wo man sie am besten in der Nähe sehen kann, bei der Arbeit sowohl als in den Feierabendstunden – ein Stadtteil, sehr verschieden nicht nur von dem opulenteren Zentrum und Westen, sondern auch von dem besser bewohnten, gewerbereichen Osten und Süden – ein Stadtteil obendrein, in welchem man stärker als irgendwo sonst in Berlin den frischen Mörtel- und Kalkgeruch des Werdenden hat und selbst die gewohnten Erscheinungen unter einem Lichte sieht, welches ganz neue Seiten derselben und des Lebens in Berlin überhaupt hervorhebt.

Der Norden von Berlin wird nach der Stadtseite hin durch die Straßenzüge begrenzt, welche sich vom Oranienburger Tore bis zum Prenzlauer erstrecken. Oranienburger Tor, Hamburger Tor, Rosenthaler Tor, Schönhauser Tor; Prenzlauer Tor – dies alles ist Norden von Berlin. Die Namen der Tore sind geblieben, obwohl diese selbst gefallen. Aber es ist noch nicht lange her und man kann an den Bezeichnungen leicht ermessen, wie lange –, da war Berlin zu Ende, wo jetzt Elsässer und Lothringer Straße breit und prächtig wie Avenuen sich ausdehnen und damals schmale Pfade, mit allem Abfall der Nachbarschaft bedeckt, hinter einer trübseligen Stadtmauer die Kommunikation vermittelten. Sie hießen auch nicht Straßen, sondern »Kommunikationen« und gingen um die ganze Stadt herum; es gab eine Kommunikation am Potsdamer und am Anhalter Tor, wie hier eine Kommunikation am Rosenthaler und am Prenzlauer Tor, und ihr Aussehen war überall dasselbe. Seltsame Erinnerungen werden in demjenigen wach, welcher zu der Zeit, als Omnibusse nur selten und Pferdebahnen noch gar nicht waren in Berlin, in diese fernen Gegenden wanderte; als an der Stelle, wo stolz über ihrem Treppenbau die Nationalgalerie sich jetzt erhebt, eine verwitterte Rotunde stand mit der halb herabgebröckelten Inschrift: »Königliches Gesundheitsgeschirr«; als auf dem Hackeschen Markte Verkaufsbuden und Metzgerscharren und an der Peripherie der Stadt, hier im Norden, dicht hinter der Linienstraße, die Mauern und die Tore waren und jenseits derselben nur noch einzelne Straßenfragmente, Chausseen und Kirchhöfe. Dies alles mochte wohl noch aussehen, wie es vor hundert Jahren ausgesehen hatte – ein Rest des alten, zum Teil noch friderizianischen Berlins, dessen äußerste Straße, nach Norden hin, die Linienstraße war, die Grenzlinie, die Zirkumvallation der damaligen Spandauer- und Georgen- oder, wie sie seit Preußens erstem Könige (1705) hieß, der Königsvorstadt. –

Hier, zwischen Hamburger und Rosenthaler Tor, lag nur noch eine Art von Arbeiterkolonie, das sogenannte Neu-Vogtland für die bei den vielen königlichen Bauten beschäftigten Maurer und Zimmerleute aus Sachsen und dem Vogtland, welche während des Sommers in Berlin waren und mit dem Winter in ihre Heimat zurückzukehren pflegten. Der Name des Vogtlandes hat sich noch lange für diese Gegend erhalten und mag erst allmählich, mit der völligen Neugestaltung derselben, abgekommen sein; aber ältere Bewohner wissen noch wohl, was er zu bedeuten hatte. Das Vogtland war eine verrufene Stätte der Armut und des Elends, in welche niemand sich gern hinauswagte. Ein Pamphlet vom Ende des vorigen Jahrhunderts (»Schattenriß von Berlin, 1788«) beschreibt es als »eine Vorstadt vor dem Rosenthaler Tore, die den größeren Diebesbanden von jeher zum Schlupfwinkel gedient hat«; und eine Beschreibung Berlins vom Ende der zwanziger Jahre (»Berlin, wie es ist«, Leipzig 1827) nennt das Vogtland »den eigentlichen Sitz, gleichsam das Hauptquartier des Pöbels ... Geht man durch eine der drei Straßen dieser Vorstadt, so sehen aus jedem Fenster eine Menge zerlumpter, schmutziger Gestalten.« Der ehemaligen Bevölkerung von Bauhandwerkern war hier ein hungerndes Proletariat von Webern, Wollspinnern und Tagelöhnern gefolgt, welche, von der übrigen Welt gemieden, dies Quartier gleichsam für sich allein hatten. Man scheute sich fast, davon zu sprechen; aber tief war der Eindruck, als zu Beginn der vierziger Jahre Bettina von Arnim in »Dies Buch gehört dem König« ihre herzzerreißenden Schilderungen aus dem Vogtlande veröffentlichte. Sie war dort gewesen, die tapfere, kleine Frau mit dem menschenfreundlichen Herzen, hatte das Vertrauen der Leute sich erworben und die Geschichte ihres Jammers sich erzählen lassen; in den vergilbten Blättern, wenn man sie heute liest, ist noch immer der Geruch von ungesunden, dumpfen Stuben und von Lumpen. So hab auch ich Ende der fünfziger Jahre das Vogtland noch gesehen – kahl, trostlos, ein Bild, um einem im Traume den Atem zu benehmen – die großen traurigen Familienhäuser, in welchen viele Hunderte dieser Armen zusammengepfercht waren, und die nicht minder traurigen kleinen, einstöckigen Häuser, deren Fenster und Dach den Erdboden fast berührten und durch deren Türen man hinunterstieg wie in einen Keller. Einzelne derselben kann man noch heute dort finden, zwischen den modernen, hohen, palastähnlichen Gebäuden, welche den Platz des alten Vogtlandes bedecken, seitdem im Jahre 1872 die Stadtmauer abgebrochen und die Tore niedergerissen worden sind.

In dieser jüngsten Vorstadt von Berlin, welche wirklich in ihrer jetzigen Erscheinung nicht viel über zwanzig Jahre zählt, steht in einem sehr merkwürdigen Gegensatz die benachbarte Linienstraßengegend, über welcher, an einigen Stellen, noch der Hauch des Alten und Altertümlichen liegt. Das beherrschende Bauwerk derselben ist die Sophienkirche, seltsam, barock, im Geschmacke Friedrichs I., nach dessen dritter Gemahlin Sophie Luise sie genannt ist. Diese Kirche liegt noch inmitten eines unserer volkreichsten Quartiere, von ihrem Friedhof umgeben wie in einem Garten – alte, hohe Bäume sind rings um sie her und wohlerhaltene Gräber mit Blumen und Efeu, mit Gittern und wunderlich altmodischen Denkmälern, über welchen der Turm, gleichfalls im prunkhaften Zopfstil des vorigen Jahrhunderts, emporragt. Hier ruhen – oder hier ruhten – Ramler und die Karschin; denn nur noch ihre Gedenktafeln an der Sakristeiwand sind erhalten. Hier ist Zelter begraben, Goethes Zelter. Es ist ein Stück achtzehntes Jahrhundert, eingehegt und eingefriedigt mit seinen alten Grabhügeln und dichtem Grün zwischen einigen der Hauptverkehrsadern des heutigen Berlins und dem stattlichen Gebäude des Handwerkervereins in der Sophienstraße schräg gegenüber. Wer diesen weltentlegenen, der Gegenwart wie entrückten Winkel von Berlin in der rechten Stimmung sehen will, der sollte hierherkommen, wenn »des Tages Stimmen schweigen« oder zu verhallen beginnen. Ich sah ihn in der Abenddämmerung, als der Mond eben über die Kirchhofswipfel heraufkam und die Gräber und Grabsteine silbern zu beleuchten anfing, während von den Straßen her das entfernte Geräusch des heimwärts ebbenden Lebens scholl und auf dem einsamen, vom ersten Mondenstrahl berührten Pfad eine junge Diakonissin in weißem Kopftuch und schwarzem Gewande zu der von Lichtern hellen Sakristei ging. Es war, mitten in diesem großen, tumultuösen Berlin, wie ein leiser, sanfter Nachhall von Matthissons und Grays Kirchhofselegien – »far from the maddening crowd«.

Die Linienstraße dagegen möcht ich meinen Lesern lieber an einem freundlichen Frühlingsnachmittage zeigen, wenn, etwa nach einem gelinden Regen, sich ein leichter Wind aufgemacht hat, der den dicht aneinandergereihten Häusern Kühlung und in die Höfe dahinter gute Luft bringt. Denn dies ist eine sehr belebte Straße, die Grenze zwischen dem zentralen Berlin und dem Norden, recht ansehnlich in ihrem oberen Teile bis zum Koppenplatz, mit hübschen Wohngebäuden, Fabriken, Magazinen und hier und dort einem beladenen Frachtwagen vor den Türen. Vom Koppenplatz ab nimmt sie den Charakter des Kleinhandels und des Kleingewerbes an: mit all den starken Gerüchen und lauten Stimmen, die damit verbunden sind; aber auch mit manch einem übriggebliebenen Zuge des Kleinlebens, für welchen man im großstädtischen Straßengewühl weder den Raum noch den Humor mehr hat. Der Leiermann zum Beispiel, der Proskribierte, den sonst allerwärts das Plakat abweist: »Hier darf nicht musiziert und gebettelt werden« – in diesen Volksquartieren ist er immer noch eine beliebte Figur. Man kennt ihn, den Invaliden, an seinen Krücken, mit der Frau hinter sich, die seinen Leierkasten trägt; und man freut sich, wenn er kommt. Denn nach den Mühseligkeiten, der Last und Hitze des Tages ist er der Verkünder und Bote der nahenden Feierstunde. Wenn er gegen Abend erscheint, bringt er gleichsam die Ahnung dessen mit, was weitab von diesen Hinterhäusern und Höfen zu liegen scheint; und während sich da und dort ein Fenster öffnet und eine kleine Münze herabfällt, hat sich auch flugs schon um ihn herum eine Runde von Kindern gebildet, die nach den Rhythmen zu tanzen anfängt. Die Kinder sind die Tyrannen dieser Gegenden. Sie sind überall, und sie sind einem überall im Wege, schreiend, laufend, tanzend und springend. Es sind ihrer so viele! Aber sie haben auch so guten Mutterwitz! Da steht ein kleines, naseweises Ding mit langen, gelben Zöpfen mitten auf dem Trottoir, und ihre Gespielinnen, Hand in Hand, im Kreise um sie her.

»Was spielt ihr denn da, Kinder?«

»Ringel-Ringel-Rosenkranz!«

Ich kann mich nicht enthalten, dem hübschen, muntern Mädchen über das gelbe Haar zu streichen.

»Bitte, bitte«, ruft sie, »nich' anfassen.«

»Et färbt ab«, ruft eine andere mutwillig, und alle lachen. Dann schließen sie die Kette wieder, und jauchzend um die mit den gelben Zöpfen herumspringend, singen sie:

Ringel-Ringel-Rosenkranz,
Setz ein Töppken Wasser an,
Morgen wolln wir waschen.
Jroße Wäsche, kleene Wäsche;
Wenn der Hahn wird krejen,
Schlagen wir'n uf'n Brejen –

Mit diesen kleinen wehrhaften Berlinerinnen ist nicht zu spaßen, wie man sieht.

Der Koppenplatz, nach einem verdienten Bürger Berlins vom Anfange des vorigen Jahrhunderts genannt und ungefähr auf der Mitte der Linienstraße gelegen, hat eine lange, nicht eben heitere Geschichte. Wie an so vielen anderen Plätzen Berlins wandeln wir auch hier auf Gräbern – und auf was für Gräbern! An der Mauer eines der letzten Häuser des Koppenplatzes, da, wo dieser in die Große Hamburger Straße mündet, erhebt sich, über zwei Stufen, ein bescheidener Säulenbau, dessen Hinterwand auf einer schwarzen Marmortafel in schon verwitterten Goldlettern die Inschrift trägt: »Herr Christian Koppe, Ratsverwandter und Stadthauptmann zu Berlin, widmete diesen Platz und dessen Umgebung im Jahre 1705 als Ruhestätte den Armen und Waisen, in deren Mitte er selbst mit den Seinigen ruhen wollte und ruht. Sein Andenken ehrt dankbar die Stadt Berlin. 1855.« Dieses Denkmal, mitten in dem Gewühl von Menschen und dem betäubenden Gerassel von Karren und Wagen, welches statt der früheren Einsamkeit und Öde jetzt hier herrscht, bezeichnet die Stelle, wo einhundertfünfzig Jahre lang das Armenhaus und Hospital gestanden hatte, nach welchem, bis Ende der dreißiger Jahre, die heutige Auguststraße »Hospitalstraße« hieß. Ringsumher lag der Armenkirchhof, der, nachdem bereits zuvor auf dem von der Armendirektion angewiesenen Baugrund die heutige Kleine Hamburger und Kleine Auguststraße entstanden waren, um die gleiche Zeit, in den fünfziger Jahren, in den Koppenplatz verwandelt und durch Abbruch des Hospitals in direkte Verbindung mit der Auguststraße gebracht ward.

Auf dem Fidicins Buch über Berlin beigegebenen Plane vom Jahre 1842 ist der Koppenplatz noch als »Armen-Kirchhof« mit Kreuzen bezeichnet, und auch das verrufene »Türmchen« war noch da, jenes Armenhaus und Hospital, dessen Hausvater der Totengräber war und dessen Leichen zur Sektion an die Anatomie abgeliefert werden mußten. Dieser dunkel-mysteriöse Platz spielt in Gutzkows Buch »Aus der Knabenzeit« eine Rolle. Als der Knabe schon zur Schule ging, verführte ihn eines Tages ein Kamerad, zum Rosenthaler Tor hinauszuwandern. »Die Gegend war entlegen genug. Das Vogtland hatte den übelsten Ruf. Auf dem Wege dorthin lag ein niedriges altes Haus mit einem Türmchen ... das in geheimnisvoller Wechselbeziehung zu dem westlichen Quadratflügel der AkademieIn diesem Flügel der Akademie, nach der Charlottenstraße, befand sich damals die Anatomie, dicht daneben war und ist heute noch der Königliche Marstall; und hier, in diesem Teile des Gebäudes, an der Ecke der Universitätsstraße, gegenwärtig mit einer von der Stadt gewidmeten Gedenktafel bezeichnet, ward Gutzkow geboren, dessen Vater erster Bereiter des Prinzen Wilhelm, des jetzigen Kaisers, war. stand. Zwischen dem Türmchen und der Akademie ging in stillem Abenddunkel ein polternder, dumpfhallender Karren. Da bringen sie schon wieder einen! sagte der Vater, wenn unterm Fenster um die neunte Stunde das Rollen des schauerlichen Wagens erklang. Dann war es ein Selbstmörder oder ein Hospitalit, der zur Anatomie vom Türmchen geliefert wurde oder von der Anatomie schon geöffnet, zerschnitten und stückweise wieder zurück zum Türmchen gefahren wurde, um dort sein Grab zu finden.« Es waren traurige Gräber, »hie und da mit dünnem, verbranntem Rasen bedeckt, doch alle namenlos, ohne Kreuze, ohne den Schatten eines Baumes, den Schmuck einer Blume«.

Heute bietet der Platz einen anderen, fröhlicheren Anblick. Die Gräber und das Türmchen sind verschwunden; dafür sind Blumenbeete und Promenadenwege da und Bänke, auf welchen die Arbeiter ausruhen, wenn sie auf ihrem Heimwege hier vorüberkommen, und Kinder und kleine und große Häuser ringsum und der spitze Turm und das Kreuz der Sophienkirche, welche über den Häusern hereinschaut, und viel freundliches Grün von Gebüsch und Bäumen, welches weit in die Linienstraße, hinauf und herunter, gesehen wird. Und welch ein farbenreiches Bild neuesten Berliner Lebens, wenn man auf den Platz vor dem Rosenthaler Tore hinaustritt – desjenigen Lebens, welches überall in dieser großen Stadt pulsiert, nirgends aber, zu gewissen Stunden des Tages, stärker, intensiver als hier. In Frühlingsabendsonne getaucht, liegt dieser weite Platz, in welchen fünf Straßen münden. Rechts und links öffnen sich die Lothringer und die Elsässer Straße, zwischen oder hinter deren hohen, schönen Gebäuden kaum noch ein Überbleibsel der alten Kommunikation, Schuppen, Schornstein oder nackte Brandmauer, sichtbar ist, in der Mitte boulevardartig mit Bäumen bepflanzt, die hier, in der Breite des Bodens und freien Zirkulation der Luft, vortrefflich gedeihen. Und welches Durcheinander von Pferdebahnwagen, Omnibussen und Menschen! Denn dies ist die Stunde, wo die Fabriken schließen und die Arbeiter heimkehren; und wenn man um diese Zeit in die Linienstraße hinein, etwa bis zur Gollnowstraße gehen wollte, so würde man es, bei der Enge dieser Straßen und ihrem schmalen Trottoir, oft schwer genug finden, überhaupt vorwärts zu kommen. Denn die ganze Schar der Arbeiter wälzt sich hier in dichter Masse dem Wandernden entgegen. Sie kommen vom Nordosten der Stadt und ziehen alle gegen Norden. Hier aber spaltet sich der Strom, und ein Arm desselben, in immer noch starkem Volumen, geht zum Schönhauser Tor, der andere zum Rosenthaler. Tausende ziehen an uns vorüber, zumeist Männer, jeder mit seinem Blechkesselchen in der Hand, viele von ihnen bleich, hager, leidend; doch auch Frauen darunter, solche, die hier meistens in der Textilindustrie und Konfektionsbranche beschäftigt sind, Blumenmacherinnen, manche frischere, hübsche Erscheinung unter ihnen, Putzmacherinnen, Schneiderinnen, einige von ihnen ganz modisch gekleidet und alle sauber. An den Straßenecken stehen an diesen Frühlingsabenden Kinder, welche ihnen Flieder verkaufen, den Busch für fünf Pfennige; und hinter ihnen her fahren kleine, niedrige Wagen mit einer Frau darin, die einen braunen, breiten Strohhut trägt wie die Marktfrauen, und einem Mann voran, in hohen Tönen beständig etwas rufend, was für den Uneingeweihten erst allmählich verständlich wird: »Bücklinge kauft! Bücklinge kauft, kauft, kauft!« Dieser Wagen bringt den kleinen Leuten die Leckerbissen zu ihrem Abendbrot: Radieschen, Rettiche, Grünzeug, Heringe, Flundern und vor allem Bücklinge, die große Frühlingsdelikatesse dieser Gegenden. Die Haupt- und Geschäftsstraße, der Basar des Nordens, ist die Brunnenstraße, namentlich in ihrem unteren und ältesten Teil, etwa bis zur Veteranenstraße. Hier ist Laden an Laden, und am Abend, wenn die Lichter funkeln, blitzt und schimmert es hinter den Fenstern, vor denen auf beiden Seiten eine kauf- und schaulustige, wenig verwöhnte Menge hin und her wogt. Hier sind auch die großen sogenannten »Waren-Abzahlungs-Geschäfte«, welche durch ganze Stockwerke reichen und in denen man – auf Borg! – alles haben kann, von einem Hemdenknopf angefangen bis zu kompletten Ausstattungen und Hauseinrichtungen. Ob das System für den Arbeiter das richtige, ja nur überhaupt ein empfehlenswertes sei, vermag ich nicht zu sagen; es wird viel von der Anwendung im einzelnen Fall abhängen. Mein Vorhaben, ein solches Etablissement kennenzulernen, »Berlins größtes, feinstes und reellstes«, wie es sich auf seinen massenhaft zur Verteilung kommenden gelben Zetteln nannte, ward durch ebenden Mann vereitelt, der sie verteilte. »Ach, Sie jehen ja da nich hin«, sagte er, indem er mich von oben bis unten mit einem Blicke voll Verachtung und Mißtrauen musterte. Doch sei schon hier bemerkt, daß mir von Seiten unserer Arbeiter, so häufig ich auch auf diesen Wanderungen mit ihnen zusammengetroffen bin, niemals unfreundlich oder nur unhöflich begegnet worden. Wenn man sie um Auskunft fragt, so bleiben sie stehen auf den Straßen oder erheben sich von ihren Sitzen. Rußig und müde, wie sie sind, rücken sie zusammen und machen Platz auf den Bänken – was die feineren Herren im Tiergarten und in den Pferdebahnwagen nicht regelmäßig tun, nicht einmal vor Damen. – Man kann sich getrost unter diese Leute setzen und ein Gespräch mit ihnen anknüpfen, sie werden immer ruhig und vernünftig antworten. Nur muß man freilich vermeiden, ihnen aufzufallen, und sich nicht die Miene geben, sie beobachten zu wollen. »Wech da mit de Ojen«, rief mir ein bestaubter Bursche von einem Arbeitswagen herunter, als ich mir die Lorgnette aufsetzte, um ihn anzusehen; doch er war bald wieder versöhnt, als ich das Ärgernis entfernte und setzte gutmütig hinzu: »Na, wenn's weiter nischt is!« Und ein andermal, oben am Humboldthain, als dieselbe Lorgnette an einem Baume hängenblieb, ohne daß ich's wahrgenommen, kamen zwei junge Arbeiter raschen Schrittes auf dem einsamen Wege hinter mir her, bückten sich zur Erde, suchten, reichten mir, noch bevor ich Zeit gefunden, ein Wort zu sagen, das abgebrochene Stück und entfernten sich hierauf, zufrieden mit meinem Danke.

[. . . . .]

Einsamer war es hier vor so viel Jahren, als man auf »Wollanks Weinberg« noch zwischen Gärten und Hecken wanderte; mannigfach waren die Attraktionen dieses weitentlegenen Bezirks und unter ihnen nicht die geringste für uns das Vorstädtische Theater der Mutter Gräbert. Wer weiß jetzt noch von dieser einst so populären Figur und wer noch von ihrem Theater, welches unter dem Namen »Germania-Theater« eine Weile gegen den Wind und das Wetter weiterkämpfte, bis es heut, an diesem Frühlingsnachmittag, als ein vollständiges Wrack vor mir liegt – eine Ruine, von der morgen nichts mehr zu sehen sein wird. Und ich hab es doch in seiner Glorie gekannt, in jenen besseren Tagen, wo noch nicht mehr als vier oder fünf Theaterzettel an den Anschlagssäulen erschienen und der schönste von allen der der Mutter Gräbert auf dunkelrotem Papier. Gespielt ward in ihrem Theater wöchentlich nur viermal, und es mußte schon hoch kommen, wenn es ein Stück bei ihr über zwei oder drei Vorstellungen hinausbringen wollte. Denn die Bewohner von »Wollanks Weinberg« verlangten beständig Novitäten; sie gingen jede Woche viermal ins Theater, und viermal jede Woche wollten sie ein neues Stück sehen. Dieses anspruchsvolle Publikum war kein geringes: Es waren die reichgewordenen Schenkwirte, Bierbrauer, Schlächtermeister und Professionisten überhaupt, die sich hier auf dieser gesunden und luftigen Höhe zur Ruhe gesetzt hatten, mit behäbigen Frauen und gebildeten Töchtern, die mit Passion ihre »Mühlbach« lasen. Diese Leute – deren Nachkommen jetzt Gott weiß in welcher »feinen Gegend« des Westens von Berlin wohnen, Equipagen halten, Diners geben und das Opernhaus besuchen – betrachteten das Vorstädtische Theater als ihr Theater, und Mutter Gräbert war die Frau, die ihr Jahrhundert verstand – die echte Theaterprinzipalin; man wird ihresgleichen nicht wiedersehen! Es hatte einmal auch einen Vater Gräbert gegeben, und er hatte sogar das Theater gegründet; aber selbst für uns, die jüngere Generation, war er schon eine mythische Person geworden, und um seinen Namen, wie um den des Gründers von Rom, hatten sich ganze Sagenkreise gebildet.

Seine Laufbahn begann in den Weißbierstuben Berlins, wo er komische Lieder sang und possenhafte Gedichte vortrug. Nach einiger Zeit hatte er sich so viel zusammengesungen, daß er ein Liebhabertheater vor dem Rosenthaler Tor erst mietweise, dann käuflich erwerben konnte; das Glück begünstigte ihn, das Geschäft blühte, und demnächst errichtete er das größere Theater auf dem Platze, wo das der Liebhaber gestanden. – Ein patriarchalisch-ökonomisches Verhältnis herrschte; Mutter Gräbert sorgte für die Küche des Etablissements und Vater Gräbert für das Weißbier und die Bühne. Er machte das Repertoire, leitete die Proben, engagierte die Mitglieder. Er war ein eifriger Widersacher der Tantieme; seine Ausgabe für ein neues Stück betrug in der Regel einen – Silbergroschen. Denn die meisten seiner Novitäten bezog er aus der Leihbibliothek in der Großen Hamburger Straße. Sollte aber einmal in außergewöhnlichen Fällen ein Originalstück aufgeführt werden, so löhnte Vater Gräbert den Dichter mit zehn Talern Courant ab, wenn eine Mordtat darin vorkam, und mit fünf Talern, wenn dies nicht der Fall war. Auch das Honorar, welches er seinen Künstlern bewilligte, hielt sich durchaus im Preiscourant der alten Haupt- und Staatsaktionen: Einige bekamen nichts, andere acht Taler monatlich; die höchste Gage, die er zahlte, betrug fünfundzwanzig Taler. Durch solch weise Maßregeln entfaltete sich das Kunstinstitut vor dem Rosenthaler Tor zu einem ungeahnten Flor, und manch hübsches Talent, das diesen Ursprung später verleugnete, stieg aus seinem Podium empor. Am besten aber stand sich Vater Gräbert selbst; er kaufte das Grundstück neben seinem Musentempel, machte einen schönen Garten daraus, baute ein Sommertheater hinein und bewirtete in jedem Jahre zu des Königs Geburtstag fünfzig Invaliden, die er am Ende des Gastmahls noch mit einem Taler beschenkte. Als nun aber Vater Gräbert nach so rühmlichem Leben sein Stündlein nahen fühlte, da ging er nicht etwa in sich wie wir anderen Sünder insgemein, sondern er fing an – Austern zu essen. Da konnte man ihn an jedem Morgen in der langen Vorderstube seines Etablissements sitzen sehen, Rollen austeilend, den Speisezettel entwerfend, seufzend über die Nichtigkeit des Daseins und – sechs Dutzend Austern vor sich. Es liegen keine genauen Berichte darüber vor, wie lange und wieviel Austern er gegessen; aber das Mittel mußte probat oder, als er es zu gebrauchen anfing, sein Ende noch nicht so nahe gewesen sein. Denn in der Wehmut seines Herzens baute er aus den Austernschalen Tempel und Altäre zum Schmucke seines Gartens auf; und wenn auch die undankbare Nachwelt so grausam war, die frommen Denkmale dieses Erzvaters zu zerstören, so hatte sich doch wenigstens eine von diesen Muschelgrotten, groß genug für eine büßende Magdalene oder zwei, mit einem Kreuz auf dem Dach und einem Kreuz an der Tür, erhalten, und ich selbst habe sie oft genug bewundert, wenn ich mit den übrigen Besuchern des Theaters zwischen einem Akt und dem anderen hinauskam in den Garten. Wie dem nun auch sei – endlich mußte Vater Gräbert den Schauplatz so vieler Freuden, Gastmahle und Triumphe verlassen; und einem Modus in seinem Testamente gemäß, wurde er in einer Mitternacht unter Sang und Klang bei Fackelschein begraben.

Das Erbteil dieses ausgezeichneten Mannes fiel seiner Frau zu. Sie hatte sich bis dahin nicht bemerklich gemacht, still und sittsam vielmehr zwischen den Schmortöpfen des Untergeschosses gewaltet. Wie denn aber der Krieg sich seine Feldherren selbst erzieht und die Not es ist, welche groß und erfinderisch macht: so stieg nun auf einmal das Aschenbrödel von Wollanks Weinberg aus der Tiefe herauf – den Kochlöffel und die Weißbierflasche in der einen, den Zügel des Thespiskarrens in der andern Hand, und der Ruhm von Mutter Gräbert fing an, denjenigen des Vaters Gräbert zu verdunkeln. Eine rüstige Matrone mit aufgeschürzten Ärmeln und hochrotem Gesicht, so habe ich sie noch gekannt und gesehen, gleich vornan in der ersten Stube hinter dem Schanktisch, in der ernsten Ausübung ihrer dreifachen Pflicht begriffen – in die Küche hinunter kommandierend, die Kellner kontrollierend und nur dann und wann einmal verschwindend, um auf der Bühne Ordnung zu machen.

Lang, lang ist's her! – Neben dem ausgebrannten Nationaltheater, auf dessen altem Grund hinter Bretterverschlägen schon Neubauten emporwachsen – aber Mietskasernen, keine Musentempel mehr, denn die Musen, so scheint es, fliehen diese Gegend, welche sie doch einst so sehr geliebt! –, neben diesem Wirrwarr von Steinen und Gerüsten steht noch das ehrwürdige Haus der Mutter Gräbert; aber in welchem Zustand? An den beiden Pfosten der geschlossenen Eingangstür kleben die halbabgerissenen, halb vom Regen verwaschenen blauen, grünen und roten Zettel des »Germania-Theaters«, und darüber erhebt sich ein ominöses Brett, an welchem die Worte stehen: »Hier sind Baustellen und Gebäude auf Abbruch zu verkaufen.« Und ein roter Strahl der Frühlingsabendsonne färbt die Kastanien im Garten, welche jetzt noch einmal blühen, wie sie geblüht haben in unserer fröhlichen Jugend – aber zwischen Kalkgruben, aufgewühlten Erdmassen, frischem Mauerwerk und einem fast ganz schon zerstörten Gebäude im Hintergrund, über dessen einzig noch stehender Wand ich beim schwindenden Tageslicht die Goldinschrift erkenne: »Laetitia 1845.«Jetzt erhebt sich an dieser Stelle schon eine große Fabrik (1885). – und das ist das Ende von Mutter Gräbert.

Von der Zionskirche her aber läuten die Glocken; sie läuten das Pfingstfest ein, und überall in den Straßen ist ein rühriges Treiben und der liebliche Duft von Maien. Ich glaube nicht, daß man auf dem Lande sich so lebhaft mit dem Feste freut, »das da feiern Wald und Heide«, oder vielmehr diese Freude so lebhaft ausdrückt wie in der Stadt und vornehmlich der unsren, als ob der zurückgehaltene Natursinn der Stadtkinder nur eine Gelegenheit suche, um überzuquellen. Man weiß, wie dann nicht nur Haus und Hof mit frischen Maien bekränzt werden, sondern auch Flaschenbierwagen und Milchwagen, Arbeitswagen und Droschken, die kleinen Läden und die Keller; und hier, auf Wollanks Weinberg und wo sonst in Berlin gebaut wird, rauschen und wehen die grünen Büsche bis hinauf in die höchsten Spitzen der Baugerüste, ja sogar in den Steinhaufen, mit denen die Straßen gepflastert werden, stecken diese Zeichen des nahenden Pfingstfestes. Indessen kommen uns viele Frauen entgegen, alle beladen mit Maien, mit Kalmusstauden, mit schweren Körben und mancherlei Paketen, sie steigen vom Arkona-Platz herab, wo heute Markt ist und sie zum Fest eingekauft haben. Die großen Märkte in diesen Gegenden sind die Sonnabendmärkte, und sie werden am Nachmittag und Abend abgehalten, damit der Arbeiter auf seinem Heimwege sie benutzen kann. Ich entsinne mich noch aus früheren Jahren des Samstagabendmarktes auf dem Pappelplatz, einem kleinen Dreieck von Platz vor der Berg- und Ackerstraße, bunt von Lichtern und gedrängt voll von Menschen und Buden. Aber mit der wachsenden Ausdehnung und der zunehmenden Bevölkerung dieses Stadtteils ward der Pappelplatz allmählich zu klein befunden und der Markt von der alten Stelle nach dem neuentstandenen Arkona-Platz verlegt, einem geräumigen, luftigen Square, viel schöner und größer als jener – er mag im Umfang ungefähr dem Gendarmenmarkt gleichen –, mit hohen, neuen Häusern im Geviert und einer stattlichen Gemeindeschule, die sogar einen Turm hat als monumentalen Abschluß. Trotzdem scheinen die Marktfrauen mit der Veränderung nicht sehr zufrieden. Eine von ihnen, eine Gemüsefrau, bei der ich mich erkundigte, wie das Geschäft hier oben gehe, klagte, daß es auf dem Pappelplatz besser gewesen. Da seien die Arbeiter gekommen und hätten gekauft, mit dem Wochenlohn in der Tasche; hier herauf aber, »auf den Berg«, möchten sie nicht steigen. Dennoch bietet der Markt auf dem freien, schönen Platz, zumal an diesem Pfingstsonnabend, ein sehr anziehendes Schauspiel mit der bunten Menge, die sich zwischen den Buden und Zelten auf und ab drängt, mit all den guten Sachen, die darin aufgehäuft sind, mit dem Geruch von frischem Kuchen – Napfkuchen in allen Formaten und Weißbrot vom Gesundbrunnen bergehoch übereinandergetürmt –, mit dem Abendlicht und dem Geläute der Glocken, welches unablässig von der Zionskirche herüberklingt. Wagen, hoch mit Maien beladen, stehen in den einmündenden Straßen, und Kalmusbüschel sind auf allen Tischen und in allen Händen – denn ohne diese Pflanze, welche lange schon an unsren Sümpfen und Gewässern wild wuchert, kann der kleine Mann in Berlin sich Pfingsten nicht wohl denken. Er stellt die Blätter in einem Wasserglas ans Fester seines Zimmers, das sie mit ihrem schwachen Aroma erfüllen, und aus der Wurzel macht sein Junge sich Flöten, deren schnarrender Ton um diese Zeit als die eigentliche Pfingstmusik an allen Ecken und Enden von Berlin gehört wird.

Unabsehbare lange Straßen ziehen sich von hier hinaus ins Freie.

Die Straßen waren vor vierzig, fünfzig Jahren noch wirkliche Landstraßen, auf denen der gesamte Personen- und Güterverkehr der damaligen Zeit sich bewegte; Chausseen, auf welchen Frachtwagen und Postkutschen fuhren, durch das Hamburger Tor nach den mecklenburgischen Landen und Hamburg, durch das Rosenthaler und Schönhauser Tor nach Pommern und Stettin, durch das Prenzlauer Tor nach Stralsund, durch das Landsberger Tor nach Ostpreußen und so weiter. Dergleichen Chausseen oder Alleen gab es damals in allen Richtungen von Berlin.

In dem rascher vorwärtsgeschrittenen Westen, wo die Potsdamer Straße noch 1831 »Chaussee nach Potsdam«, und im Süden, wo die Belle-Alliance-Straße noch 1842 »Weg nach Tempelhof« hieß, sind die Bezeichnungen verschwunden, während sie sich hier auf dem etwas länger zurückgebliebenen Strich erhalten haben, von der Chausseestraße im Norden bis zur Prenzlauer Chaussee und Landsberger Allee im Nordosten. Und nicht nur der Name, sondern auch, je weiter man kommt, ein gewisses ländliches Ansehen, welches sich zuletzt zu einer Art ländlicher Einsamkeit steigert. Denn wiewohl jetzt Häuser stehen und fortwährend gebaut werden, wo vor nicht langer Zeit Gärten und Felder waren, so haben diese Straßen doch meist ihre natürliche Breite beibehalten, welche in der Schönhauser Allee so beträchtlich ist, daß man an manchen Stellen kaum noch von der einen Seite nach der anderen hinübersehen kann und auf diese Weise gar nicht mehr das Gefühl hat, in einer Straße zu sein. Dichte Gruppen alter, schöner Kastanien stehen noch in der Kastanienallee, welche von der Zionskirche hierherführt, und sie geben, zumal in der Blütezeit, mit ihrem Grün und Silber der endlos langen Straße einen freundlichen, traut anheimelnden Charakter. Seitenstraßen zweigen sich von diesem Plateau langsam bergab zur Schönhauser Allee, der großen Kommunikationsader des Ostens mit dem Norden, wie es die Brunnenstraße die des Zentrums und die Chausseestraße die des Westens ist. Kreuzt man die Schönhauser Allee, welche mit der beständigen Bewegung von Menschen und Wagen einen äußerst lebendigen Eindruck macht, so befindet man sich in einer stillen, noch wenig bebauten, mit vielen offenen, nur von Bretterzäunen umschlossenen Straße, der Pappelallee, das Ende derselben bezeichnet das Ende der Stadt überhaupt. Auf dem Wege dorthin sieht man eine Mauer mit einem Schilde darüber, welches besagt, daß dies der Kirchhof der freireligiösen Gemeinde. Klein, wie diese Gemeinde sein mag,Wenn ich den Verwaltungsbericht 1877-81 (I, 97) richtig verstanden habe, so zählte sie 1880: 1173 Mitglieder gegen 710 im Jahre 1875. ist auch ihr Kirchhof der kleinste, den ich in Berlin gesehen habe. Die Mitglieder derselben gehören zumeist dem Stande der kleinen Gewerbetreibenden und Arbeiter an; und bescheiden wie der Saal, in dem sie sich zur gemeinsamen Andacht versammeln, ist auch der Kirchhof, auf dem sie begraben werden. Aber er ist äußerst saubergehalten, liegt schon fast ganz im Freien, und auch auf seine Gräber scheint diese Sonne des Pfingstvorabends freundlich, friedlich hernieder. Auf der Straße vor demselben ist es ganz einsam und still, bis auf die Kinder, die mit nackten Füßen auf dem holprigen Steinpflaster herumspielen. Doch auch hier noch, an der äußersten Grenze Berlins, hat man die ganz bestimmte Empfindung der Sicherheit, welche die Zusammengehörigkeit mit einem großen Ganzen gibt. Zwar einen Schutzmann habe ich hier – und auf meinem ganzen Wege – nicht gesehen, und mich verlangte auch nicht nach ihm. Aber dafür sah ich – erstens – einen Sprengwagen mit dem Bären, dem Wappenbilde der Stadt Berlin, welcher hier, in dieser entlegenen, armen Straße, so gut für Reinlichkeit sorgt wie in irgendeiner der vornehmsten des Tiergartenviertels; und zweitens sah ich, als fast das letzte Haus, eine Gemeindeschule – eines jener stattlichen Gebäude, die sich überall in diesen Volksquartieren wie die festen Burgen guter Gesittung erheben und den für eine Weile von allen Banden der gewohnten Umgebung abgelösten Wandrer mit einem wundersam frohen Vorgefühl der Zukunft erfüllen.

Immer schon, indem man diese Straße hinangeht, hat man vor sich einen weißlich dämmernden Streifen mit dem Blau des Himmels darüber; und hier endlich ist kein Berlin mehr – kein Haus mehr, so weit der Blick reicht, nur eine Windmühle und sandiger Hügel. Hier sind wir im Freien. Vor uns liegt die Heinersdorfer Gemarkung. Der Geruch des Kornfeldes ist in der Luft, und die Spitzen der Halme, vom Abendwinde geschaukelt, schimmern rötlich in der untergehenden Sonne. Weit hinüber dehnt sich der Abendhimmel, weit und blau, nur an den Rändern dunstig von der Atmosphäre der Stadt, in welcher ein und eine Viertelmillion Menschen atmen und arbeiten, von deren ungeheurer, stundenweiter Ausdehnung man aber hier oben nichts sehen kann. Man sieht nur das Nächste, das nächste Haus, die nächste Straße, die Windmühle, den Sandhügel – und eine Lerche schwirrt über den Feldern und singt, wie ich sie habe singen hören, einst, auf den Hügeln meiner Heimat, am Vorabend des Pfingstfestes ...

 

Kehrt man nun von hier in die Schönhauser Allee zurück, so mag sie einem wohl mit ihren Gärten und Villen und Häusern und Pferdebahnen und Omnibussen wie eine Stätte alter Kultur erscheinen. Hier ist alles bepflanzt und bebaut – nur der Platz an der »einsamen Pappel«, ganz oben, ist noch, wie er war, solange Menschen sich erinnern können. Hier, auf dem freien Felde, ging es einst stürmisch her in den Volksversammlungen des Jahres 1848, welche die »einsame Pappel« berühmt gemacht haben. Aber jetzt ist es auch dort still. Auf dem spärlichen Graswuchs lagert hier und dort ein Arbeiter, der seine Zeitung liest oder sein Abendbrot verzehrt oder sich zum Schlaf ausgestreckt hat; ein paar Kinder tummeln sich an den sandigen Abhängen, ein paar Spaziergänger kommen über den kaum erkennbaren Pfad, und in der Mitte, schon im Schatten, steht sie selber, die Pappel – der einzige Baum weit und breit – und am Rande des Feldes glühend rot der Ball der untergehenden Sonne.

Wenn man nun weiter zum Schönhauser Tor abwärts geht, so gerät man in ein dichtes Volksgewühl. Von rechts und von links funkeln die Lichter und schallt Musik aus den Gärten der großen Brauereien, welche von dem behäbigen Mittelstand der benachbarten Gegend besucht werden. Die eigentlich populären Vergnügungslokale, wo man unglaublich viel für wenig Geld zu sehen und zu hören bekommt und welche gleichfalls hier an der Einmündung der Kastanienallee in die Schönhauser Allee liegen, sind heute noch dunkel. Aber in hellstem Glanze werden sie morgen strahlen; denn mit dem ersten Pfingsttag und einem Frühkonzert eröffnen sie ihre »Saison«. Dann werden Puhlmanns Garten, die Neue Walhalla und der Berliner Prater mit Tausenden gefüllt sein. Im Hintergrunde steht ein kleines Theater, auf welchem unter freiem Himmel abwechselnd sentimentale Sängerinnen und Tanzkünstler sich produzieren, Komödien und Zauberpossen aufgeführt werden, von denen jedoch nicht der dritte Teil der bis an den äußersten Rand gedrängt stehenden oder sitzenden Zuschauer ein Wort verstehen oder einen Ton erhaschen mag, wie gespannt sie auch lauschen. Gleichzeitig ist vorn in einem Saal am Eingang »Ball«; wird geschossen, gewürfelt, »gewogen«, die »Kraftprobe« gemacht und Billard gespielt; werden an einem Tische »belegte Stullen« und Würste verkauft, an zwei Büffets Bier, »die Weiße« und der »Gilka« geschenkt und Garten und Tische mit abgerissenem Papier bedeckt, da die meisten dieser Gäste sich ihre Mahlzeiten selber mitbringen. Und sie müssen sich für diese Gelegenheiten ganz gehörig verproviantieren; denn solch ein Vergnügen dauert lang. Es kommt noch der Luftballon, eine »Zaubersoiree«, die Illumination und das Feuerwerk, verbunden mit einem Militärkonzert, welches in früheren Jahren die Schlacht bei Leipzig darzustellen pflegte, jetzt aber, mit vielfachem Kanonendonner, gewöhnlich die von Sedan aufführt. Schon bedecken die roten, grünen, gelben und blauen Zettel mit einem Programm, welches an die fünfzig Nummern zählt, die Pforten dieser Musentempel extra muros; und mit Befriedigung entnehme ich einem jeden von ihnen, daß allhier, unter so viel Zerstreuungen, doch noch immer »Familien Kaffee kochen können«. Aber in die Form und Fassung dieses altehrwürdigen Ausdrucks ist ein gewisses Schwanken gekommen. »Hier können Familien Kaffee kochen« – so hieß es früher, und das war deutlich, das konnte man verstehen; diese fünf Worte hatten etwas Monumentales: Sie waren wie ein Paragraph der Verfassung, involvierten alle Möglichkeiten und schlossen jede Willkür aus. Was soll ich nun davon denken, daß es gleich auf dem ersten dieser Zettel heißt: »Hier können Familien an Wochentagen Kaffee kochen«. Nur an Wochentagen? – Das nimmt der Sache den halben Wert; und es beruhigt mich keineswegs, daß die beiden folgenden Zettel wieder einzulenken scheinen, indem sie sagen: »An allen Tagen können Familien Kaffee kochen«, und »Familien können zu jeder Tageszeit Kaffee kochen«, oder der vierte gar: »Den geehrten Damen ist die Kaffeeküche geöffnet«. Ah, ces Dames! – Diese »geehrten Damen« und noch mehr die höflichen Wirte machen mir bange; und ich muß gestehen, daß es mir, ein paar Tage später, als die Familien und der Kaffee bereits in vollem Gange waren, eine ordentliche Erleichterung gewährte, Zeuge zu sein, wie der höfliche Wirt Nr. 4 einen harmlosen Jüngling, der nichts Böses getan, außer daß er einen Blumentopf in den Armen hielt und sich, um besser nach der Bühne hin sehen zu können, ein wenig auf die Fußspitzen hob, nach alter guter Väter Sitte an dem Kragen nahm und aus dem Lokale warf. Dieser Zug von Gemütlichkeit rührte mein Herz und rettete meinen Glauben an die Zukunft; denn ein grober Wirt und die kaffeekochenden Familien, die gehören nun einmal zusammen im Berliner Volksleben und werden nur miteinander daraus verschwinden.

 

Wir befinden uns in einem Übergangsstadium, Straßen, Häuser und Menschen; und von dem Alten wird bald wenig genug mehr zu sehen sein, besonders in diesen Gegenden. Hier zum Beispiel, an der Ecke der Acker- und Elisabethkirchstraße, welch letztere damals, vor etwa zwanzig Jahren, noch gar nicht existierte, war ein kleiner Zigarrenladen, in welchem ich eine der merkwürdigsten Bekanntschaften meines Lebens machte. Der Eigentümer des Ladens, Herr Queva mit Namen, fabrizierte und verkaufte nämlich nicht nur Zigarren, sondern auch Gedichte, und beides, Zigarren und Gedichte, hing an einem Bindfaden aufgereiht vor seinem Schaufenster. »Eigenes Fabrikat« stand mit großen Buchstaben in weißer Farbe daran geschrieben. Herr Queva verfertigte seine Gedichte nicht gerade auf Bestellung; aber er besaß ein feines Ohr für die jeweilige Stimmung und richtete sich darnach ein, behandelte die Ausschreitungen der Mode, die Putzsucht der Köchinnen, die Krinolinen, die Figuren auf der Schloßbrücke, kurz, die Fragen der Zeit, mischte sich wohl auch in Politik, namentlich die äußere, da mit der inneren damals nicht viel zu machen war. Er war ein Herr in mittleren Jahren, von untersetzter Statur, ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht, und ich erinnere mich, daß er immer gestickte Pantoffeln trug. So stand er hinter seinem Ladentisch, wenn ich an den Mittwochnachmittagen hierherkam, um ein Viertelstündchen mit ihm zu plaudern und von seinen inzwischen erschienenen neuen Gedichten zu kaufen. Denn diese schienen mir besser als seine Zigarren, weswegen ich mich ihm auch immer nur als ein Liebhaber der Poesie, niemals aber als ein Raucher von Profession zu erkennen gab. Einige seiner Verse sind mir noch im Gedächtnis, wie zum Beispiel die gelegentlich unserer Mobilmachung von 1859 entstandenen, in welchen er den Kaiser der Franzosen folgendermaßen harangiert:

Det Du uff Preußen 'nen Gieper hast, det jlooben wir Dir schon;
Wir wollen Dir aber nich als Gast, Du oller Kronensohn.

Und dennoch hat der Volkspoet der Ackerstraße, wie mir aus einer seiner späteren Effusionen hervorgeht, es erlebt, den also von ihm Besungenen als Gast auf der Wilhelmshöhe zu begrüßen. Ja, es ist wie ein Traum, wenn man auf dieses Vierteljahrhundert zurückblickt! Wohl steht noch das Haus an der Ecke, und ich erkenne den Laden, das Fenster und in den alten, halbverwischten Buchstaben das »eigene Fabrikat« – aber ach! – der Dichter und die Gedichte sind verschwunden, und nur die Zigarren sind geblieben und hohe Gebäudemassen ringsumher.Nach der ersten Veröffentlichung obiger Skizze (»Deutsche Rundschau«, April 1885) schrieb mir ein freundlicher Leser der genannten Zeitschrift: »Queva, von dem man nach Ihrer Schilderung annehmen sollte, daß er nicht mehr unter den Lebenden weile, verkauft zwar keine Zigarren mehr, dichtet aber nach wie vor« (»unter Assistenz seiner Tochter«, wie ein zweiter Korrespondent hinzufügt). »Die neuesten in Berlin gesungenen Leierkastenlieder haben ihn zum Verfasser.« Von dieser erfreulichen Tatsache, die mir übrigens nicht ganz unbekannt war, sei hier mit gebührendem Danke Notiz genommen. Die Acker- und die Gartenstraße, die damals hier, am Pappelplatz, ein Ende hatten, sind ins Grenzenlose hinausgewachsen, bis hinauf nach dem Humboldthain, mit neuen Straßensystemen zwischen sich, die jetzt zwei ganze Stadtteile, den »Wedding« und das »Spandauer Revier außerhalb« bilden. Prachtvoll erhebt sich in ihrer Mitte der Stettiner Bahnhof, und an ihrem Rande brausen unaufhörlich die Züge der Ringbahn, deren eiserne Stränge die Stadt umgürten. Arbeiter mit ihren Kindern auf den Armen stehen vor den Türen, und aus den Fenstern schauen Mann und Frau gar einträchtiglich auf die Bewegung in den Straßen und den Abendhimmel, der sich weit und golden gegen Westen spannt. Freilich, mehr Poesie war in der Welt, als Mutter Gräbert noch lebte und Herr Queva noch sang, da, wo jetzt Fabriken sind, hin- und hergehende Lokomotiven, hohe Häuser, Rauch und Lärm. Aber etwas ist die Prosa doch auch wert; und mitten unter diesen Fabriken und gleichsam umbrandet von der großen Arbeiterströmung steht ein schöner, äußerst solider Ziegelbau, durch einen stillen Hof vor den allzu lauten Stimmen der Straße geschützt und von Grün und Gartenanlagen gar freundlich umgeben. Es ist das Humboldt-Gymnasium, welches seit nunmehr zehn Jahren besteht – eine Stätte der Wissenschaft und eine Huldigung für sie, hier auf dem Boden der mechanischen Arbeit im äußersten Norden von Berlin. Es war eine verdienstliche Tat unserer Stadtverwaltung, dies Haus gerade in dieser Gegend zu begründen; und ich erinnere mich noch des ersten Direktors, des feinen, liebenswürdigen, leider allzu früh verstorbenen Schottmüller, mit welchem Vertrauen und Mut er an seine Kulturarbeit ging, als das Gymnasium nur erst in den untersten Klassen eröffnet werden konnte. Wenn er jetzt noch lebte, würde er sehen, wie die Anstalt floriert und es sowohl an Schülerzahl wie an glücklichen Resultaten mit den andern Gymnasien der Hauptstadt aufnimmt.

In der Bergstraße war es auch, wo ich durch eine Fülle frischen Grüns überrascht ward, dessen ich mich aus den früheren Jahren nicht entsann; und auf einmal, durch eine Pforte hereintretend, befand ich mich in einer außerordentlich belebten, gartenartigen Anlage. Dies ist der alte Sophienkirchhof, der in den dreißiger Jahren noch benutzt ward. Der ursprünglich älteste war der, den ich meinen Lesern bereits gezeigt habe, in der Sophienstraße, welche gegen Ende des vorigen Jahrhunderts noch Kirchhofsgasse hieß. Hierauf ward der Kirchhof in die damals noch unbebaute Gegend vor das Hamburger Tor verlegt, zwischen die gegenwärtige Berg- und Gartenstraße, und vor etwa fünfzig Jahren geschlossen, nachdem man den neuen Sophienkirchhof noch weiter hinaufgerückt, über den heutigen Pappelplatz hinaus. Was mich immer und immer wieder auf diese Berliner Kirchhöfe zieht, das sind die Bilder und Erinnerungen der alten Tage. Wieviel irdische Größe, wieviel Ruhm und wieviel Unglück ruhen hier beisammen! Jeder Kirchhof dieser großen Stadt ist voll von Schatten, die wieder lebendig werden, wenn man ihre Namen nennt. Hier ist das Grab von Charlotte Stieglitz, und auf dem Kreuze desselben sind die Worte: »Wir werden uns wiedersehen, freier, gelöster!« – die letzten, mit denen sie, das junge, blühende Weib, ihr Leben opferte, wähnend, daß ein großer Schmerz allein ihren zurückbleibenden Gemahl zu großen dichterischen Taten wecken könne – den Unglücklichen, der nun neben ihr ruht, ohne die große dichterische Tat, die sie von ihm geträumt! ... Hier, auf dem neuen Sophienkirchhof, ist auch das Grab Lortzings, und wer auf dem mehr als bescheidenen Denkstein diesen Namen liest, dem mag das Herz wohl übergehen in dankbarer Erinnerung an die vielen lieblichen, erquickenden Melodien, deren Schöpfer er war, und in Wehmut über das Schicksal dieses wahrhaft spontanen Talents, welches im kleinen Genre so groß war! Er hat es nicht erleben sollen, der nach unstetem Wandern kaum achtundvierzigjährig und im Elend starb, seine Werke mit dem königlichen Glanz unseres Opernhauses aufgeführt zu sehen, wo sie mitten zwischen den Banalitäten des Tages und der gespreizten Unnatur den unbefangenen Hörer anmuten wie die Wald- und Quellenfrische der echten Natur, so voll von reiner Heiterkeit und so frei von jeder Spur des mühsam Gemachten – so ganz, wie von selbst geworden!

Deutsch war sein Lied, und deutsch sein Leid,
Sein Leben Kampf mit Not und Neid.
Das Leid flieht diesen Friedensort,
Der Kampf ist aus, das Lied tönt fort.

Mittlerweile hat der Magistrat dem ehemaligen alten Sophienkirchhof seine jetzige freundliche Gestalt gegeben, und derjenige, dem die Nachbarschaft dankbar dafür sein muß, war ein früherer Berliner Bürger, der im August 1877 zu Dessau verstorbene Rentier Heyse, der die Stadt Berlin zur Erbin seines großen, über eine Viertelmillion Mark betragenden Vermögens einsetzte. Er überließ dem Ermessen des Magistrats die Verwendung der Zinsen »zur Förderung alles dessen, was für die bedürftigen, aber fleißigen, talentvollen Bewohner der Stadt nützlich ist«. Er wünschte auch, daß ein Teil des Einkommens »zur Verschönerung der Stadt, zur Bepflanzung mit Bäumen« verwandt werde. Dann fuhr er fort: »Insbesondere empfehle ich die Überschüsse als Beitrag, wenn es sich ereignen sollte, daß geschlossene Begräbnisplätze zu Erholungsplätzen für alt und jung eingerichtet werden sollten ... Es wäre eine Wohltat für die Bewohner und ein Schmuck für die Stadt, wenn die in und um die Stadt noch bestehenden schattigen Begräbnisplätze den Nachkommen für spätere Zeiten zu Erholungsplätzen erhalten würden ... Die Liebe zu meiner Vaterstadt führt mich zu dieser Betrachtung.«

Im Sinne des guten Mannes wurde demgemäß der alte Sophienkirchhof in eine Stätte der Erholung für diesen Stadtteil verwandelt, der an solchen Plätzen bisher besonders arm gewesen war. In dem Berliner Wohnungsanzeiger wird er noch immer als »Kirchhof« aufgeführt, aber die Leute dieser Gegend nennen ihn »Spielplatz«. Er nimmt noch den ganzen Raum zwischen Berg- und Gartenstraße ein, nach welcher sich ein zweiter Ausgang öffnet, und hat seinen eigenen, vom Magistrat bestellten Aufseher, der des Abends die beiden Pforten verschließt. Von den Gräbern ist keine Spur mehr, aber noch stehen und rauschen die hohen, alten Bäume, und auf den Bänken, die sich hier reichlich vorfinden, oder auf Schemeln, hölzernen Stühlen und Rohrsesselchen, die sie sich selber mitgebracht haben, sitzen hier in der Abendkühle die Bewohner der angrenzenden Straßen, alte und junge Ehepaare traulich beisammen, und die Kinder jagen sich auf dem Rasen, während durch das Grün der Gebüsche die großen Feuer der anstoßenden Hoppeschen Maschinenfabrik leuchten. Für den Wanderer, der hierherkommt, ist es ein erfreuender Anblick, zu sehen, wie für das heranwachsende Geschlecht überall in dieser Stadt gesorgt ist; und nachdem er vielleicht vor einer Stunde dem Spiele der Jugend im Tiergarten zugeschaut, nun auch hier in diesem dichtbevölkerten Quartier, unter Fabriken und Schornsteinen, Scharen fröhlicher Kinder zu begegnen, weniger elegant und nach der Mode gekleidet als jene, Proletarierkinder, aber doch auch mit ihrem bescheidenen Anteil an frischer Luft und belebendem Grün und ebenso glücklich in ihrer harmlosen Lust, wenn es gleich Gräber sind, auf denen sie spielen.

Endlich bietet sich mir auch in der Ackerstraße noch ein Anblick, welcher allein genügen würde, den ungeheuern Abstand von einst und jetzt darzutun oder gewissermaßen in einem Bilde zu zeigen: Ich meine die Meyerschen Familienhäuser, welche den Platz einnehmen, wo früher die Baracken des Vogtlandes gestanden haben. Auch damals gab es hier schon »Familienhäuser«. Aber wie es darin ausgesehen, das ist in dem Buche Bettinas von Arnim beschrieben: »Am leichtesten übersieht man einen Teil der Armengesellschaft in den sogenannten Familienhäusern. Sie sind in viele kleine Stuben abgeteilt, von welchen jede einer Familie zum Erwerb, zum Schlafen und Küche dient. In 400 Gemächern wohnen 2500 Menschen ... Der Vater webet zu Bett und Hemden und Hosen und Jacke das Zeug und wirkt Strümpfe, doch hat er selber kein Hemd. Barfuß geht er und in Lumpen gehüllt. Die Kinder gehen nackt, sie wärmen sich eines am andern auf dem Lager von Stroh und zittern vor Frost ... Kreuzweis wird durch die Stube ein Seil gespannt, in jeder Ecke haust eine Familie; wo die Seile sich kreuzen, steht ein Bett für den noch Ärmeren, den sie gemeinschaftlich pflegen ...« Wenn man mit solchen Zuständen die gegenwärtigen Familienhäuser vergleicht, dann begreift man, welche Fortschritte wir seitdem gemacht haben. Kolossal in ihrem Umfange, geben sie dem Verhältnis sichtbaren Ausdruck, in welchem mit sparsamster Ausnutzung des vorhandenen Raumes zugleich für das häusliche Wohlbefinden und die sanitäre Zukömmlichkeit großer, dicht zusammen wohnender Menschenmengen gesorgt werden kann. Dem Erbauer oder Begründer mag das Beispiel der Peabody-Buildings in London vorgeschwebt haben, soweit System und Einrichtung in Frage kommen. Denn von Wohltätigkeit ist hier keine Rede; diese Familienhäuser sind Mietshäuser mit etwa fünfhundert Einwohnern. Sie gleichen einer kleinen Stadt, wimmelnd von Menschen und mit jeder Art von Hantierung. Die Front des Hauptgebäudes mit zwei mächtigen Portalen flankiert die Ackerstraße; dahinter öffnen sich fünf Höfe, jeder mit zwei vierstöckigen Quergebäuden, durch welche ein gewölbter Durchgang führt, mit zwei Seiteneingängen für die Häuser selbst. In den Höfen herrscht das Leben einer Straße; Kinder spielen fröhlich umher, Werkstätten von jeglicher Beschaffenheit sind in vollem Betrieb, und Frauen, welche Grünkram und Obst feilhalten, sitzen an den Ecken. Den Hintergrund des letzten Hofes bildet eine Badeanstalt mit einer großen Uhr, welche die Zeit in diesem Gebäudekomplex regelt, und vorn, am Straßenportal, hängt eine fast die ganze Wand bedeckende Tafel mit den Namen der Einwohner, daneben allerlei sonstige Benachrichtigungen über die nächste Postexpedition, die nächste Polizeistation und so weiter und das Hausreglement. Ich muß sagen, daß dies alles einen guten Eindruck machte, wie ich bei Zwielicht die Höfe durchschritt, in welchen so viele Hunderte dicht zusammen leben und dennoch einander nicht im Wege sind. Die Luft in den angemessen geräumigen Höfen war nicht schlecht, und als ich sie verließ, fingen eben die Gaslaternen an, ihr reichliches Licht in denselben zu verbreiten.

 

»Von hier, vom unheimlichen Vogtland, der damaligen Höhle des Pauperismus«, erzählt Gutzkow in seinem Buch »Aus der Knabenzeit«, »zogen sich einsame, endlos scheinende Sandflächen bis nach Tegel hin ... Da lag der Gesundbrunnen und eine Saharawüste, die man den Wedding nennt und auf dessen tief im Sande angelegten Laufgräben, Schanzen, kleinen Belagerungsforts die Artillerie zu exerzieren pflegte.«

Sehen wir uns heute diese Gegend an. – Was ihr die Signatur gibt, das sind die großen Fabriken; sie voran, die Borsigsche und nebenan die Eggelssche, die Schule unsrer großen Maschinenbauer aus den dreißiger Jahren des Jahrhunderts, aus welcher auch Borsig hervorging. Es sind dies nebst der inzwischen eingegangenen Freundschen die ältesten unserer Fabriken; diejenigen, in welchen die jetzt so hochentwickelte Maschinenbau- und Eisenindustrie von Berlin ihren Anfang nahm. Ein Wald von Schornsteinen dehnt sich dahinter aus und wird immer dichter, je mehr dem Norden zu. Denn die Richtung der Zeit geht in diese noch wenig bebauten Lagen, wo Grund und Boden billiger und die Kohlen und das Eisen, durch die dorthin führenden Bahnen, näher sind. Aber immer noch ist die Borsigsche Maschinenbau-Anstalt, da, wo ehemals das Oranienburger Tor war, gleich am Eingang der Chausseestraße, mit ihrem Turm, ihren Arkaden und den Emblemen und Figuren der Arbeit über ihrem Portal, das Wahrzeichen dieser Gegend – weithin sichtbar, wenn man die Friedrichstraße heraufkommt.Die Eggelssche Anstalt ist unterdessen schon verschwunden; aber auch die Borsigsche hat dem Druck der ungünstigen Konjunkturen nicht länger zu widerstehen vermocht. Als ich zum letzten Male, in der Mittagsstunde, vor dem Eingangstore stand, strömten nicht mehr die Scharen der Arbeiter heraus wie sonst, nur noch einzeln kam ein Mann oder eine Frau; stille geworden war es an dieser Stätte vormals so gewaltiger menschlicher Tätigkeit, und nicht lange mehr, so werden auch hier die Feuer erloschen, wird das ganze Terrain mit Häusern und Hinterhäusern dicht bedeckt und der Name der Borsigstraße alles sein, was an eine für die Entwicklung der Industrie in Berlin so wichtige Epoche erinnert. (Anmerkung vom 4. Februar 1887).

Es ist ein wunderlieblicher Sonntagsmorgen im Juni – der erste Juni, der erste Pfingsttag.

Heute hat die Chausseestraße ein sonntägliches Aussehen, und nur hier und dort über einem Schornstein kräuselt noch ein leichtes Wölkchen in die wolkenlose, blaue Luft. In den tiefen Höfen, wo die Berge von Steinkohlen lagern, ist alles still, und in den Vorgärten, wo selbst hier, zwischen Rauch und Ruß und Zink- und Eisenguß, der Frühling emporgekommen ist, flimmert das junge Laub in der Sonne, vermischt mit Flieder, dieser holden, genügsamen Blüte, die den Boden von Berlin liebt und um diese Zeit des Jahres ihren Duft durch alle Straßen sendet.

Auch der Pferdebahnwagen, in dem ich fahre, hat heut ein anderes Aussehen und ein anderes Publikum als gewöhnlich. Nicht nur festtäglich sind die Leute gekleidet, es liegt auch in ihrem Benehmen etwas Ruhiges und Feierliches, was gegen den Wochentagslärm und Geschäftshabitus, der hier sonst gemeiniglich herrscht, sehr wohltuend absticht. Bejahrte Männer oder Frauen, von ihren Töchtern liebevoll unterstützt, kommen in den Wagen; viele haben Blumen in der Hand, mehrere noch das schöngebundene, wohlerhaltene Gesangbuch.

Am Ende der Fahrt, aus der Häusermasse, ragt plötzlich der Turm einer neuen Kirche empor, der Dankeskirche auf dem Weddingplatz.

Hier war einst ein weites, von der Panke bewässertes, mit Weidengebüsch umgebenes Heideland, von den Umwohnern das Weidicht, Wedding und in den alten Urkunden »up dem Wedig« genannt. Noch im 13. Jahrhundert stand hier ein Dorf, von welchem aber nichts geblieben als ein Hof oder eine Meierei, ein sogenanntes Vorwerk, welches an der heutigen Reinickendorfer Straße lag und lang im Besitz der Krone war. Unter dem Großen Kurfürsten ward es von seiner Gemahlin, der wirtschaftlichen Dorothea, als Schäferei benützt, unter Friedrich dem Großen aber in Erbpacht gegeben, während zugleich der Anbau des umliegenden, in Parzellen aufgeteilten Heidelandes begann. Indessen ging es langsam damit vorwärts. Ältere Berliner mögen sich der endlosen Chaussee wohl noch erinnern, auf der sie wenigstens einmal im Sommer nach Tegel hinausfuhren. Es war kein großes Vergnügen auf der staubigen Landstraße, immer in der Sonne, bis das schattige Grün des Dörfleins und Parkes erreicht war. Aber der Berliner war es damals nicht besser gewöhnt. Die Chaussee führte mitten durch den Wedding und gab uns, die sonst niemals hierhergekommen wären, Gelegenheit, diese Gegend in ihrem fast noch ursprünglichen Zustande zu sehen. Als zu Beginn des Jahrhunderts diese »Kunststraße« angelegt ward, da waren auf der ganzen Strecke von der Panke ab vier Wohnhäuser und außerdem nur Windmühlen, welche damals wie jetzt, immer weiter hinausgedrängt, das Ende von Berlin bezeichneten. Nach diesen Mühlen ward die Straße später genannt, Müllerstraße, heute wohlgepflastert, mit zwei Pferdebahnen und mit Häusern auf beiden Seiten, wenn auch noch in zuweilen ziemlich weiten Abständen. Im Jahre 1801 aber, als die Stadt den größeren Teil des Wedding erwarb, während der sogenannte »kleine Wedding« noch in Privatbesitz blieb, zählte das ganze Gebiet nicht mehr als 150 Bewohner; und es bestand aus Sandwüsten, Sümpfen, Luchen und Fennen, hin und wieder von einem Stück spärlicher Fichtenwaldung unterbrochen. Um es urbar zu machen, verpachtete der Magistrat die Ländereien in größeren und kleineren Parzellen an sogenannte »Kolonisten«, die ihre Arbeit vortrefflich taten. Auch der Wedding, wie so mancher andere Stadtteil des gegenwärtigen Berlins, der heut in voller Herrlichkeit prangt, war, wie dieses ganze Berlin, einst aus solch unscheinbaren Anfängen hervorgegangen; nur daß dieser jüngste von unseren Stadtteilen die Kennzeichen seiner Entstehung noch am deutlichsten zeigt und gleichsam vor unseren Augen den Prozeß in allen seinen wesentlichen Zügen noch einmal wiederholte, durch welche dieser unwirtliche Boden in eine der glänzendsten Städte der Welt verwandelt ward. Als die Stadt Berlin im Jahre 1817 von dem letzten Erbpächter Vorwerk und Ländereien unter gleichzeitiger Ablösung der Erbpacht erwarb, waren nicht mehr als siebenundzwanzig Kolonistenstellen vorhanden. Aber schon im Jahre 1820 hatte sich die Zahl derselben auf mehrere Hundert erhöht, 1823 zählte der Wedding 160 Wohnhäuser und 1146 Einwohner, vier Jahre später 226 Wohnhäuser, 16 Fabriken und Mühlen, 2217 Einwohner, und im Jahre 1842 beschreibt Fidicin den Wedding als »eine ziemlich weitläufige Kolonie, welche sich von der Chausseestraße bis zum Gesundbrunnen hinzieht und in mehr als 350 Grundstücken mit 3700 Einwohnern besteht«. So weit ab von Berlin war der Wedding damals, daß noch zu Fidicins Zeiten der seit Bebauung der Bergstraße hierher versetzte Galgen stand, das Hochgericht, an welchen noch immer die Namen der Hoch- und der Gerichtsstraße erinnern. Aber wenn auch über ein weites Terrain verstreut und sehr entfernt noch von einer eigentlichen Konzentration, hatte doch inzwischen schon der Keim eines Gemeindelebens sich zu entwickeln begonnen. Das erste, was der Magistrat von Berlin für die neue Schöpfung tat, war der Bau eines Schulhauses, welches der nachmaligen Schulstraße den Namen gab, anfänglich nur ein Klassenzimmer und eine Lehrerwohnung enthielt und am 15. Oktober 1821 mit fünf Knaben und sechs Mädchen eröffnet ward. Vierzehn Jahre später, 1835, kam die Kirche – die schöne kleine Nazarethkirche, welche König Friedrich Wilhelm III. nach Schinkelschem Entwurfe bauen ließ. Nun steigerte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Bevölkerungsziffer der Kolonie, neue Straßen entstanden, die vorhandenen dehnten sich aus, und endlich, im Jahre 1861, ward der Wedding in den Stadtbezirk von Berlin inkorporiert. Nicht lange, so genügte die kleine Kirche nicht mehr, und eine zweite größere, die Dankeskirche, wuchs empor, mit einer neuen Gemeinde, zu welcher die Parochie der Nazareth-Kirche 4100 Seelen abzweigte.Viele von den hier angeführten Daten verdanke ich der inhaltreichen kleinen Schrift »Geschichte der Nazareth-Gemeinde auf dem Wedding zu Berlin«, welche zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens der gegenwärtige Pfarrer derselben, Herr L. Diestelkamp, veröffentlicht hat.

Dies ist in allgemeinen Umrissen die Geschichte des Wedding, der, zur Zeit seiner Inkorporation 10 716 Einwohner zählend, heute noch immer unser am schwächsten bebautes und am dünnsten bevölkertes Terrain ist, aber doch, in Anbetracht der kurzen Zeit seit seiner Umwandlung aus Acker- und Heideland in Wohngebäude sowie seiner nichts weniger als begünstigten Lage, die größten Fortschritte von allen Stadtteilen aufweist.

Wenn der Wedding, wie der ganze Norden Berlins überhaupt, vorwiegend von den weniger bemittelten Klassen, Arbeitern und kleinen Leuten bewohnt wird, so folgt doch nicht daraus, daß dies ausschließlich der Fall sei. Freilich stand der Wedding lange im Ruf, eine Ablagerung des Berliner Gesindels zu sein, und nicht ohne Grund, da wegen der billigen Mieten und der größeren Entfernung von der Berliner Contrôle viel zweifelhaftes Element sich gerade hierher zog in das noch nicht völlig geordnete Gemeindewesen. Aber diese Zustände haben sich längst reguliert, und wir dürfen dem um das innere, geistige Leben seiner Parochie sowie namentlich durch Errichtung einer Arbeiterkolonie innerhalb derselben sehr verdienten Pfarrer wohl glauben, wenn er (in der zitierten Schrift Seite 21) sagt: »Wer aber einmal in hiesiger Gegend ansässig geworden, merkt bald, daß es sich recht gut hier wohnt, daß die hiesige Bevölkerung eine überaus friedliche und angenehme und das Vorurteil mancher Bewohner feinerer Viertel, als ob man hier nicht sicher wohnen könne, ganz unbegründet ist.« Gleichwie in den übrigen Teilen des Nordens haben auch hier viele Fabrikherren sich in der Nähe ihrer Fabriken zierliche Villen in schönen Gärten gebaut; und in nicht wenigen dieser hübschen Häuser, welche die gute Luft des fast noch offenen Landes haben, wohnen Beamte, Lehrer und kleinere Rentiers.

Als ich zuletzt auf dem Weddingplatz war, im Jahre 1879, da war alles noch Sand ringsum, ein freudloser Anblick. Jetzt präsentiert er sich schon ganz anders, er hat die geschlossene quadratische Form, ist fast so groß wie der Dönhoffplatz, und in der Mitte auf einer Erderhöhung steht die Dankeskirche. Man weiß, daß diese Kirche zur dankbaren Erinnerung an die zweimalige providentielle Errettung unseres Kaisers von den Attentaten des Jahres 1878 aus freiwilligen Beiträgen erbaut und am 3. Januar 1884 eingeweiht worden ist. Bei einer Dankeskirche, welche dem Andenken des ersten deutschen Kaisers im wiedererstandenen Deutschen Reich gewidmet sein soll, erschien es dem Erbauer, August Orth, angemessen, in den Formen an die Traditionen unserer deutschen Kaiserzeit anzuknüpfen: Er wählte demgemäß den romanischen Stil unter Mitbenützung der Konstruktionen der späteren Gewölbebauten. Aus gelben Verblendsteinen und Terrakotten aufgeführt, macht das von allen Seiten freistehende Gotteshaus mit seinen hohen, hellen Fenstern, seiner Kuppel und seinem schlank aufstrebenden Turm einen lichtvollen, erhebenden Eindruck; doppelt so, weil es hier steht, der Mittelpunkt eines neuen Gemeindelebens und zugleich das erste monumentale Bauwerk von einem jetzt schon großen historischen Charakter in dieser Gegend, die vor wenigen Jahren noch Einöde war, einzig bewohnt von kleinen Pächtern, Ackersleuten und Schäfern, welche keine Geschichte hatten und nichts als leicht verwischbare Spuren gelassen haben.

Freilich steht die Kirche noch kahl auf ihrem steinigen Hügel, und der Platz selbst ist baumlos. Aber auch hier wird die Stadt gewiß für den Schmuck des Grüns sorgen, welches viel dazu beitragen dürfte, diese bis jetzt ziemlich monotone Fläche freundlich zu beleben und der Kirche den rechten Hintergrund zu geben. Es ist hier eben alles noch in einem merkwürdigen Mittelzustand begriffen, halb Dorf, halb Stadt, und wenn man weiter hinauskommt, halb Feldweg, halb Straße. Niedrige Häuser aus den Kolonistentagen, manche mehr Hütten als Häuser, mit Fenstern, die die Erde berühren, und einem steilen Dach darüber, wechseln mit großen kasernenartigen Gebäuden, die den Stempel der ersten städtischen Bebauung tragen; dann wieder lange, kahle, halbverfallene Gartenmauern mit irgendeinem verwitterten Haus dahinter, das in seiner völligen Einsamkeit wie verwunschen aussieht, und auf einmal Baugerüste mit Konstruktionen darin emporwachsend, von der allermodernsten Form. Aber das Werdende, Ringende freut das Auge; man hat auch hier das Gefühl, mitten in einer mächtigen Entwicklung zu sein, und dazu tönt in vollen Strömen Orgel und Choral aus der Dankeskirche, während die Sonne hoch steht über dem Platz, auf welchen kein anderer Schatten fällt als nur der verkürzte des Turmes.

Von hier führt die Müllerstraße weiter bis hinaus nach dem Dorf und Schlößchen der Humboldt, nach Tegel, die alte Tegeler Chaussee, schnurgerade, unabsehbar, sie selber die Fortsetzung der Chausseestraße und beide zusammen fast doppelt so lang als die bis jetzt längste Straße von Berlin, die große Friedrichstraße vom Belle-Alliance-Platz bis zum Oranienburger Tor. Wenn einst die Müllerstraße fertig bebaut ist, wird man in einer Linie, die nur an zwei Stellen, dem Belle-Alliance-Platz und dem Oranienburger Tor, in einem stumpfen Winkel leicht von der Geraden abweicht, den ganzen Weg vom Kreuzberg bis Tegel, das heißt vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkte Berlins, drei Stunden lang unter nichts als Häusern wandern.

Einstweilen jedoch ist die Müllerstraße nur erst streckenweise bebaut, links sind Fabriken, rechts sind Gärten; dann kommt wieder eine Reihe Häuser, zwischen denen sich gleichfalls noch großenteils unbebaute Straßen abzweigen, dann wieder offnes Land, so daß man meint, hier sei die Stadt am Ende, bis sie nach einiger Zeit abermals beginnt. Viel Grün ist hier und alles gut gehalten. An der Ecke der Gerichtsstraße, die, vom Humboldthain herabkommend, hier in die Müllerstraße mündet, ist eine schöne, umfangreiche Anlage, Ruheplatz genannt, mit Rasenplätzen, Bosquets und schattigen Bäumen, unter welchen die Kinder spielen und alte Männer in sonntäglichem Behagen mit der langen Pfeife sitzen. Etwas weiter, ebenfalls auf einem Platze mit Rasen, Beeten und Büschen, an denen der Flieder in voller Blüte steht, die Nazarethkirche; der Schlußchoral tönt in den stillen Mittag hinaus, und die Kinder halten ein in ihren Spielen. Nun öffnen sich die Türen des bescheidenen Gotteshauses, das nicht einmal einen Turm hat, und die Andächtigen kommen heraus, meist Frauen und Mädchen, aber auch manch ein ernster, an Mühsal gewöhnter Mann, den kleinen Sohn an der Hand führend – manch einer, den die Mütze, die er trägt, als zum Arbeiterstande gehörend kennzeichnet; alle sehr einfach, jedoch dem Festtag angemessen gekleidet, die Frauen in wenig auffälligen Farben.

Von hier ab hören die Häuser fast ganz auf, und man hat zu beiden Seiten die Landschaft: zur Linken das Grün und den dunklen Waldstreifen der Jungfernheide, zur Rechten die Sandhügel der Reinickendorfer Gemarkung. Hier sind nur noch Kirchhöfe; der nächste der Begräbnisplatz der Charité. Die Königliche Charité, wie man weiß, ist die große Heilanstalt Berlins, welche schon von Friedrich Wilhelm I. angelegt, doch erst seit Friedrich dem Großen und später zu der gegenwärtigen Ausdehnung erweitert worden. In ihr werden durchschnittlich 1450 unbemittelte Kranke gepflegt, die meisten davon städtische Kranke. Der Begräbnisplatz dieser Anstalt sowie der Universitätsklinik ist der Charitékirchhof; hier werden alle diejenigen Verstorbenen bestattet, welche noch Angehörige haben. Eine bestimmte Zahl der übrigen Leichen muß zu Unterrichtszwecken zur Anatomie geliefert werden. Jedoch setzt die betreffende Verordnung (welche schon aus dem Jahre 1718 stammt) ausdrücklich fest, daß dies nur mit den Leichen solcher Personen geschehen dürfe, welche jeden Familienanhalts hierselbst entbehren: »notorisch ganz verkommener Personen, um die sich niemand kümmert«. Doppelt Unglückliche! Fremd, arm, verkommen und ohne Familie! Zwar schwebt jener unheimliche Schrecken, welchen uns Gutzkow in seinen Erinnerungen »Aus der Knabenzeit« schildert, nicht mehr um den bei nächtlicher Weile dahinrasselnden Wagen. Aber wie sehr hat die Ziffer derer, die mit demselben befördert werden, sich mit der zunehmenden Einwohnerzahl Berlins vermehrt! Für den Charitékirchhof fehlen mir die genaueren Angaben. Aber auf den beiden anderen großen Armenkirchhöfen Berlins, dem in der Gerichts- und dem in der Friedenstraße, war das Verhältnis in den sechzehn Jahren von 1861 bis 1876 bereits 18827 zu 4101; und in den fünf Jahren von 1877 bis 1881 sogar 10427 zu 1366. So rapide mit der Größe wächst auch die Armut und das Elend. Diese sogenannten »Anatomieleichen«, die Särge mit Körperteilen aus der Anatomie, finden an einer abgesonderten Stelle des Armenkirchhofs ihren Platz, und sie sind es, welche den Armenkirchhöfen etwas so unsäglich Trauriges geben. Einen solchen Armenkirchhof, den in der Friedenstraße – vor dem Landsberger Tor – habe ich früher bereits einmal geschildert. Aber viel hat sich seitdem auch hier zum Bessern geändert: Im Jahre 1879 wurde der eine, im Jahre 1881 der andere der beiden städtischen Armenkirchhöfe geschlossen und ein großer Gemeindefriedhof im Osten der Stadt, bei Friedrichsfelde, eröffnet, nicht nur für die Armen allein, sondern als Begräbnisplatz für jeden, der hier zu ruhen wünscht, und zwar für Mitglieder aller Konfessionen. Noch ist es ein weiter, mühseliger Weg, der aus Berlin hierherführt. Die Stadt verliert sich hinter dem Wanderer, der durch die Frankfurter Allee kommt, die Häuser treten in immer größeren Abständen auseinander, bis sie fast unmerklich in die Vororte Lichtenberg und Friedrichsberg übergehen – halb städtisch, halb dörflich gebaut, und nun das flache Land ringsum, dürftige Felder zu beiden Seiten, leicht ansteigend, mit einer Straße, durch die man tief im Sande watet, und einer doppelten Reihe uralter Linden mit knorrigen Stämmen und spärlichem Laube. Nun kreuzt die Bahn den Weg, und nun erst zweigt sich eine steingepflasterte Straße ab, die zu der mäßigen Höhe leitet. Hier stehen wir vor einem efeuumrankten Gittertor, über welchem ein einfaches Kreuz sich erhebt und darunter die Inschrift: »Gemeindefriedhof für Berlin«. Tritt man durch eine der angelehnten Türen, so ist man aus der Sandwüste, die Berlin umgibt, wie in einen Garten versetzt, mit Bosquets und Ruhebänken und weiten Wiesenflächen. Vor einer Stunde noch mitten in dem dichten Gewühl von Berlin, umgibt uns hier Einsamkeit und vollkommene Stille, Blumenduft und Geruch des frischen Grüns. Auch hier ist den Armen nicht mehr gegeben als ihre Nummer, ihre zweieinhalb Fuß Erde und je zwischen zwei Horizontalreihen ein Gang von zwei Fuß Breite; doch eine sorglich gepflegte Rasendecke breitet sich über jedes Karree von Gräbern hin, das man wohl einen »Totenacker« nennen darf, und die melancholische, echt märkische, leicht hügelige Landschaft mit dem unermeßlichen Gewölbe des Himmels darüber bildet den für das Gemüt beruhigenden Abschluß. Es ist ein schöner Sieg der Humanität, daß der Arme fortan nicht auch im Tode noch gekennzeichnet sein soll; und manchem von uns, der mitten im Kampfe steht – manchem, der seinen Gott im Herzen trägt und in jedem Menschen seinen Bruder sieht, wird es wohltun zu denken, daß es wenigstens eine sichtbare Stätte gibt, an welcher jene großen Probleme der sozialen und religiösen Unterschiede, die das Leben nicht zu lösen vermag, zum Austrag gebracht worden sind; und daß auch er, wenn er will, seinen Ruheplatz sich da wählen kann, wo der Arme neben dem Reichen und der Bekenner der einen Kirche neben dem Bekenner der anderen schläft. Allerdings ist das Verhältnis zur Zeit noch ein höchst ungleiches: auf 2782 Armenleichen kamen in den drei Jahren von 1881 bis 1883 erst 18 bezahlte Gräber.Bei meinem letzten Besuch (August 1885) ruhten hier schon 11000 Arme, während die Gräber mit Kränzen und Denkmälern sich noch zählen ließen. Doch auch ein begüterter Bürger der Stadt hatte sich eben ein Erbbegräbnis hier oben erworben. Aber ein Anfang ist doch gemacht; und es verringert den Wert und die Bedeutung desselben keineswegs, daß er vorläufig den Armen allein zugute kommt. Unserer Stadt, die durch großartige Stiftungen, Krankenhäuser und Asyle so viel für die lebenden Armen getan, war es wohl würdig, dies für die toten Armen zu tun, denen eine frühere Zeit – »die gute, alte Zeit«, wie man zu sagen pflegte – nichts zu gewähren imstande war als »einen Sarg und ein Grab« und sonst Einöde ringsumher. Der Berliner Gemeindefriedhof darf unter den jüngeren Schöpfungen Berlins eine der wohltätigsten genannt werden und wird eine der folgenreichsten sein; angelegt nach dem Muster des allgemeinen Hamburger Friedhofs, welcher auch für die gesamte Bürgerschaft ohne Unterschied der Stände und des religiösen Bekenntnisses bestimmt ist, gewährt er schon jetzt einen wohltuenden Anblick und wird, unter Leitung eines Gartendirektors, in nicht ferner Zukunft ebenso wie jener einem öffentlichen Park ähnlich sehen.

Auch der Charitékirchhof ist nicht ganz so trostlos mehr, wie man sich ehemals einen Armenkirchhof dachte. Zwar gleich vornan ist wieder jener von langem Gras und Gestrüpp überwucherte Platz der Unbekannten, Namenlosen und Vergessenen, deren öde Sandhaufen nicht sobald aufgeschüttet sind, als sie auch schon wieder zusammenfallen. Aber weiterhin und längs der Mauern sind andere Gräber, die gerade darum das Herz so besonders rühren, weil sie zugleich Zeugen der Armut und der Liebe sind. Manch ein altes Mütterchen hab ich hier an einem frischen Hügel knien und ihn mit Efeupflänzchen bestecken sehen. Frauen und Kinder sind auch hier geschäftig, und nicht gänzlich fehlt es in dieser warmen Mittagsstunde dem Kirchhof an Besuchern. Viele der Gräber haben ihren kleinen Gedenkstein, dem man es wohl ansehen kann, daß er mit schweren Opfern beschafft worden ist; oder jene noch wohlfeilere Porzellantafel in Form eines aufgeschlagenen Buches, auf dessen beiden Blättern hier der Name des Entschlafenen und dort ein Bibelspruch, eine trostreiche Strophe geschrieben ist – kurzer Trost, den der Regen bald ausgelöscht haben wird! Wieder andere haben als einziges Zeichen einen schmalen, schwarzen Stab, auf welchem in weißer Schrift eine Nummer und ein Name stehen. Aber selbst diese Gräber sind in Grün gehüllt; die Blumen, die darüber leuchten, geben Kunde davon, daß der Toten, die darin ruhen, von den Überlebenden gedacht wird, und bereiten darauf vor, daß es traurigere Gräber gibt als selbst die der Armen.

Der anstoßende Kirchhof der Philippi-Gemeinde ist einer der vornehmeren der Stadt, vortrefflich gepflegt und mit stattlichen Denkmälern jeder Art geschmückt. Schon einmal, an einem trüben Novembermorgen vor bald acht Jahren, war ich auf diesem Kirchhof in einer damals noch gänzlich menschenleeren Gegend. Freies Feld war um uns, dampfend von der Feuchtigkeit des winterlichen Tages, ein schwerer Himmel und nacktes Gezweig, von welchem der Nebel herabtroff. Eine lange Reihe von Trauerkutschen hielt vor dem Eingange des Kirchhofs, und in dem zahlreichen Gefolge der Leidtragenden fehlte kaum einer von den Koryphäen der Literatur und des Theaters: den wir der Erde zurückgaben, der, auf dessen Sarg mit schmerzlichem Fahrewohl die Scholle gelben Sandes niederrollte, war der Dichter des »Narziß«. Um die Mitte der fünfziger Jahre war er von einem Abend zum andern Morgen plötzlich ein berühmter Mann geworden – Ruhm des Theaterdichters, wie gleichst du dem Rausche, der auch nicht länger währt als vom Abend zum Morgen und mitunter einen bitteren Nachgeschmack hinterläßt. In den langen Jahren nachher hatte Brachvogel nichts mehr zu schaffen vermocht, was jenem ersten Erfolge gleichkam, und wiewohl noch im besten Alter, ging er doch von uns, ein halb schon Vergessener.

Das Grab, das ich heute suche unter der goldenen Helle des Pfingstmittags, ist das eines Mannes, dessen Namen bedeutungsvoll mit meiner frühesten Jugend zusammenhing. Er war, am Anfange des Jahrhunderts, in demselben Städtchen geboren worden wie ich. Er war der Schulkamerad meines Vaters gewesen. Er war früh fortgewandert aus der Heimat, war in Kassel und Italien gewesen und hatte sich zuletzt in Berlin niedergelassen. Dies alles beschäftigte die Phantasie des Knaben wundersam, dem Kassel, die Hauptstadt Hessens, wie etwas Fernes, fast Unerreichbares vorschwebte, dem Italien von den Nebeln und Schatten der römischen Königsgeschichte erfüllt schien und der vor Berlin – Furcht hatte. Denn Berlin war damals nicht wie heute der Attraktionspunkt für die strebsame deutsche Jugend; es stieß mehr ab, als es anzog, und es gehörte Mut dazu, das Vorurteil zu überwinden. Eines Tages fand ich den Namen dieses Mannes in Brockhaus' Konversationslexikon: »Zahn, Wilhelm, Architekt und Ornamentenmaler, geb. 21. August zu Rodenberg in Hessen« und so weiter. Es war wie eine Offenbarung für mich, den Namen dieses Mannes und dieses Städtchens gedruckt zu sehen – als ob der Strahl von etwas bisher Ungeahntem, Fremdem und Unbekanntem über meinen Weg fiele ...

Zwanzig Jahre später sah ich ihn zuerst in Berlin, einen freundlichen, schmunzelnden alten Herrn, das obere Knopfloch seines Rockes mit dem Bändchen des Roten Adlerordens geziert, eine von den typischen Figuren des alten Berlins. Denn er war in der langen Zeit vollständig zum Berliner geworden und erfreute sich hier einer geachteten Stellung. Seine Nachbildungen der Pompejanischen Wandmalereien hatten ihm frühe schon die Aufmerksamkeit Goethes gewonnen, welcher über die zehn ersten Hefte seiner »Ornamente und Gemälde aus Pompeji, Herculanum und Stabiä« einen sehr eingehenden und warm anerkennenden Aufsatz in den »Wiener Jahrbüchern« (1830) schrieb. Mit diesem Hauptwerk war der Professor bis an sein Ende beschäftigt, und Italien und Goethe blieben die großen Erinnerungen seines Lebens. Er sprach von Goethe wie von einem, der noch gegenwärtig ist, und ging niemals in Gesellschaften, ohne zweierlei bei sich zu tragen: eine große Rolle seiner Pompejanischen Wandbilder und eine Lithographie des letzten an ihn gerichteten Briefes von Goethe. Die Gesellschaften damals waren noch weniger turbulent, gedrängt und hastig, als sie heute sind: Man nahm sich die Zeit, Bilder anzusehen, Briefe zu lesen und ein gemütliches Gespräch zu führen. Dabei war mein Landsmann keineswegs unempfindlich gegen die bescheidenen Freuden der Tafel und besonders dankbar für jeden guten Risotto, für jede Schüssel Makkaroni und jede Flasche Chianti – Dinge übrigens, die man damals auch noch nicht so leicht Unter den Linden haben konnte wie gegenwärtig. So lebte der Alternde harmlos und zufrieden, und so sah ich ihn zuletzt am 21. August 1871, seinem siebenzigsten Geburtstag: Heiter grüßend und lächelnd fuhr er mir in der Viktoriastraße vorüber, und am 22. war er tot. Daß er gestorben, erfuhr ich – wie das in Berlin ja so manchmal geschieht – erst aus der Zeitung, nachdem er schon begraben war. Von den vielen, die dem schlichten, wohlwollenden Künstler im Leben nahegestanden, hatten sich zu seinem Begräbnis sehr wenige nur eingefunden – ich glaube, nicht mehr als acht oder neun Personen. »Der Himmel weinte seine Tränen«, hieß es in dem Zeitungsbericht über seine Bestattung, »als der einfache Sarg in die Gruft gesenkt wurde. Aber als der Prediger in klarer und verständlicher Rede die Verdienste des Mannes hervorhob, der nun so still und schmucklos bestattet wurde, da brach die Sonne aus dem düstern Gewölk wieder hervor und bestrahlte den Sarg in lichtem Glanze.«

Ich malte mir aus, welchen Eindruck es auf mich machen würde, das, was ich einst im Konversationslexikon gelesen, nunmehr auf seinem Grabstein wiederzusehen. Aber es war jetzt, nach mehr als dreizehn Jahren, nicht leicht, auf dem großen, inzwischen so beträchtlich angewachsenen Kirchhofe das Grab zu finden. Der Totengräber, welcher unter der grünen Veranda seines Häuschens am Eingange des Kirchhofes stand, hatte nie von einem solchen Manne gehört, obwohl ich ihm sagte, daß dieser zu seiner Zeit ein Professor und ansehnlicher Mann in Berlin gewesen, auch viele Orden gehabt und beim hochseligen König in besonderer Gunst gestanden habe. Wie sich herausstellte, hatte das Begräbnis noch unter dem Amtsvorgänger stattgehabt, und ich dachte darüber nach, was es mit dem Ruhm zu bedeuten habe, der nicht einmal von einem Totengräber bis zum andern reicht, alas, poor Yorick! ... Er holte hierauf sein Totenbuch heraus, sozusagen das Adreßbuch des Kirchhofs. Denn hier hat jedes Grab seine Nummer, wie jedes Haus in einer Straße. Wir blätterten dreizehn Jahre zurück – und oh, wie ward mir seltsam zumute, als ich so mit dem Finger über ganze Jahrgänge von Toten dahinfuhr und an die traurige Frage des Hamlet dachte: »How long will a man lie i' the earth ere he rot?« – und an die noch traurigere Antwort des Totengräbers, der bei Shakespeare ein »Clown« ist. Endlich, hier stand es – »Wilhelm Zahn, Professor« –, und nun sagte der Totengräber: »Kommen Sie«, und führte mich den langen Sandweg hinab, unter einer dichten Allee, durch welche man ins Freie hinaussieht, auf die gelblich sandigen Ausläufer der Wurzel- oder Rehberge. Dann bogen wir seitwärts ab, in die Reihen der schmal zusammengedrängten Gräber, an einem Brunnen vorbei, tief hinein zu einer entlegenen Stelle, wo die Denkmäler aufhörten und selbst die bescheidensten Kreuze nur noch selten waren. »Hier herum muß es sein«, sagte der Totengräber. Dann zog er aus einem der Gräber ein Stäbchen, um sich nach der darauf befindlichen übrigens kaum noch erkennbaren Ziffer zu orientieren – ich glaube, es war 120 –, zählte an den folgenden Gräbern weiter und sagte zuletzt: »Dies ist es« – auf einen kleinen zusammengeschrumpften Hügel deutend, der traurig dalag zwischen seinen anderen stillen Nachbarn – ohne jeglichen Schmuck, ohne Stein, ohne Namen – nichts, nichts, nichts als eine Nummer – nur ein mitleidiges Fliederbüschchen stand auf dem grasüberwucherten Hügel und ließ seine blassen Blüten traurig niederhängen ... Und dies war die Ruhestätte meines Landsmannes; das Grab desjenigen, der mir den ersten Begriff des Ruhmes gegeben und später, wenn ich ihn in Goethes Schriften und Gesprächen mit Eckermann erwähnt fand, mich noch mit einer leisen Bewunderung erfüllte – der einzige von den mir persönlich Bekannten, auf welchem das große Auge Goethes teilnehmend geruht ...

Hier, wo die neuen Häuser von Berlin erst gleichsam von ferne heranrücken, sind einige von den alten, gemütlichen Weißbiergärten geblieben, wie man auf unserer Seite der Stadt sie nur noch selten antrifft. Leute verkehren hier von anständigem Äußeren und gesetztem Alter, Handwerker in wohlgebürsteten Röcken und mit hohen Zylinderhüten, die sie nur am Sonntage tragen – einige mit ihren Frauen, in ruhiger Unterhaltung an den runden Tischen unter den blühenden Ahornbäumen. Ach, wie tut es wohl; wenn man wieder einmal den großen und unlösbaren Fragen hoffnungslos gegenübergestanden, diese Leute miteinander sprechen zu hören von ihren kleinen häuslichen Geschäften, von ihren kleinen Freuden und kleinen Leiden, wie jetzt alles in die Höhe gegangen, die Preise teurer, die Ware geringer geworden – alle der Reihe nach wissen Wunderdinge zu erzählen, wie sonst Lebensmittel und Wohnungsmiete so gut wie gar nichts gekostet hätten und die Kleidungsstücke so dauerhaft waren, daß gar kein »Vergang« an ihnen gewesen. Ob denn heutigen Tages wohl in ganz Berlin noch ein solcher Hut zu haben wäre wie der da, der seine zwanzig Jahre gehalten? Worauf der ehrsame Meister den beregten Gegenstand zur großen Befriedigung aller Anwesenden vorzeigt und die Runde machen läßt. »Ja«, sagt die Frau Meisterin, »den hat er sich gekauft, als wir getraut wurden«, und der Meister, indem er den Hut mit dem Ärmel glattstreicht: »Den will ich auch wohl noch tragen, wenn unser Marthchen Hochzeit macht.« Und nun eine lange Geschichte von Marthchen – wie brav sie sich in der Schule gehalten, wie zufrieden die Herrschaft mit ihr sei, bei der sie jetzt dient, und wie gut die Aussichten ihres Unteroffiziers, in kurzem ein Schutzmann zu werden und so weiter. – Alles umständlich erwogen und oftmals wiederholt. Es ist ja Pfingsten heut, und in stillem, sonntäglichem Behagen sitzt es sich hier gut, so weit da draußen ...


 << zurück weiter >>