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Der Leichenkutscher

Das Schicksal hat oft seine ganz eigene Ironie. So war Romain Gay Totengräber. Er mit seinem fidelen Namen, der ihm eine Anwartschaft auf Ausgelassenheit und Wohlleben gab, war Beamter bei der Verwaltung der Pompes funèbres! Allerdings war sein Amt noch nicht das peinlichste: er war Leichenkutscher, und das ist immer noch besser, als Leichenträger zu sein und ohne Unterlaß Särge, als wären es Koffer, auf dem Bahnhof der Ewigkeit aus- und einzuladen.

Wie Gay zu diesem sonderbaren Berufe gekommen war? Als Waise war er in einem Waisenhaus erzogen worden und mit fünfzehn Jahren nach einem Pachthofe in der Bannmeile gekommen, die ihre Milch alltäglich nach Paris schickte. Nach einem Jahr konnte er kutschieren und fuhr nun mit dem Milchwagen selbst nach den Molkereien und zu den Kunden des Pachthofes. Aber das genügte seinem Ehrgeiz nicht. Er hatte sich Höheres erträumt. Er ging also zum Direktor des Waisenhauses, in dem er erzogen war, und bat um seine Protektion; und da dieser mächtige Verbindungen besaß, schlug er ihm eine Stelle bei der Verwaltung der Pompes funèbres vor. So viel hatte Gay sich doch nicht erhofft. Er hatte auf eine Kutscherstelle bei reichen Leuten gerechnet, und allerhöchstens verstieg sich sein Ehrgeiz zu einem Droschkenkutscherposten bei der Urbaine oder einer anderen Fuhrwerksgesellschaft. Denn fahren konnte er, und man muß sich seinen Beruf immer nach seinen Anlagen suchen. Aber Leichenkutscher bei den Pompes funèbres zu werden, einer so ernsten Behörde zu unterstehen und gewissermaßen Verwaltungs- und Staatsbeamter zu sein – das überstieg auch seine kühnsten Träume. Dazu würde er noch eine Uniform tragen, die wie der Direktor versichert hatte, aus der französischen Revolution stammte und von einem berühmten Maler entworfen war ... Es war wohl gar David, wenn er nicht irrte, oder ein anderer ebenso klangvoller Name, den ihm der Direktor genannt hatte ...

Gay frohlockte und schwelgte in seinem Hochmut. Zu Anfang konnte er sich gar nicht darüber beruhigen, daß er eine solche Lebensstelle gewonnen hatte, er, der arme Waisenknabe, der arme Milchkutscher ohne Zukunftshoffnung. Er wohnte jetzt in Paris. Er bezog einen Gehalt, keinen Lohn etwa, nein, Gehalt. Und er war schön in seiner Uniform, besonders wenn es sich um ein Begräbnis erster Klasse handelte. Er stand auf einem drapierten, schwindelhohen Bock, wie auf einem Throne und hielt die Zügel der Regierung in seiner Hand. In den Spiegelscheiben der Ladenfenster erblickte er sich mit dem Zweimaster auf dem Haupte und erkannte sich kaum wieder.

»Sehe ich nicht aus wie Napoleon der Erste?« sagte er bei sich.

Und er bewunderte sich in seinem langschößigen, stumpfschwarzen Tuchrock mit den silbernen Tressen und reichen Aufschlägen. Er leuchtete, zog die Sonne an und strahlte sie wieder aus. Und dabei die hohen Erobererstiefel! Die Menge bildete vor ihm Spalier. Er merkte es wohl, aller Augen waren auf seine Person gerichtet. Er war es, der den imponierenden Eindruck hervorrief, der dem Wagen seine stolze Majestät verlieh. Und die Peitsche mit dem silbernen Stiel ruhte in seiner Hand wie ein Szepter.

Kam der Zug, den er eröffnete, unter einem Triumphbogen durch, zum Beispiel dem Arc de l'Etoile oder der Porte Saint-Denis, so schwoll sein Stolz ins Ungemessene. Alles machte vor ihm Platz und folgte ihm mit den Augen, wahrend er stolz auf seinem hohen Bock stand und mit dem Scheitel fast die hohen Wölbungen berührte. Dabei Stille ringsum und der siegreiche Duft der Sträuße und Totenkränze. Er fühlte sich selbst den Siegern gleich, für welche diese steinernen Triumphbogen errichtet worden waren, und er wähnte ganz wie sie, eine fette Beute hinter sich her zu schleifen.

Sein Beruf trug ihm auch häufige Trankopfer gratis ein. Namentlich bei Armenbegräbnissen. An solchen Tagen war die Ernte an Stolz gering, auch die Freude am Leichenpomp. Aber man lud ihn dafür auf einige Liter Wein ein, die er in den Vorstädten unter einer Sommerlaube ausschlürfen konnte... Denn da liegen die Friedhöfe der Armen. Die freunden sich schnell an und haben das Bedürfnis, Wein in ihre Tränen zu schütten. Während der Beerdigung stieg Gay von seinem leeren Leichenwagen ab und ging zur nächsten Weinkneipe, um einen Pfiff zu trinken. Die Familie des Verstorbenen pflegte bald nachzukommen. Man schwatzte und trank zusammen und blieb über die Zeit. War das Wetter nicht zu schlecht, so saß man im Garten. – O Willette, deine Totengräber, die im herbstlichen Walde miteinander anstoßen: – Auch Gay stieß an, mit dem Witwer oder der Witwe und den trauernden Hinterbliebenen. Er goß einen Liter Rotwein und Weißwein nach dem andern hinunter, dann kamen die Schnäpse, Absynth, und Bitter, denn man hielt ihn ja liebenswürdigst frei. Waren die Leidtragenden gegangen, so lud er selbst seine Kollegen ein. Er konnte sich gar nicht mehr trennen, und wenig fehlte, so hätte er die Pferde ausgeschirrt und ihnen im Hofe Hafer zu fressen gegeben oder sie mit ihren schwarzen Straußfedern in den nächsten Stall gebracht. Er begann zu schwatzen und Witze zu reißen, kurz, er war von überströmender Lustigkeit.

»Ich heiße Gay!« schrie er, indem er sich auf die Brust schlug. »Und ich bin es auch, ich bin es von Geburt! Ich bin meines Namens würdig!«

Seine Kollegen begannen ihn an den Heimweg zu erinnern, aber er sperrte sich.

»Was habt ihr denn? Warum macht ihr solche Leichenbittergesichter?«

Am Abend entschloß er sich endlich, wieder in die Stadt zu fahren und seinen Wagen unterzustellen. »Ein schöner Tag!« sagte er bei sich. Und er dachte zurück an den feierlichen Zug, die vollen Gläser und die Gespräche mit dieser anständigen Familie, insbesondere der Witwe, die noch so gut aussah ... Vielleicht würde er sie noch einmal sehen. Von allem übrigen, von Sarg und Tränen, Tod und Trauer, hatte er nichts behalten, nichts gesehen. Ja, er begriff jetzt, warum seine Kollegen so ernst und sorgenvoll waren. Die Leichenträger greifen den Tod mit Händen, tragen sie doch den Sarg. Und dann ist es nicht schwer, an sich selbst und die Vergänglichkeit des Lebens zu denken, aber er, Gay, war lustig. Von seinem hohen Bock herab sah er von alledem nichts. Das alles vollzog sich hinter ihm.

Außerdem hatte der Leichenkutscher noch nie einen Toten gesehen. Kein Totenantlitz stand ihm unvergeßlich vor Augen, er hatte diesen Graus nie kennen gelernt. Von klein auf Waise, entsann er sich des Todes seiner Eltern nicht. Im Waisenhaus, wo er Ein unüberwindlicher Ekel gegen seinen Beruf ergriff ihn. Jetzt konnte er sich den Tod vorstellen, jetzt sah er ihn. Alles war ihm zuwider, selbst die halbwelken Sträuße und Trauerkränze mit ihrem faden Totenblumenduft, diesen Geruch der Verwesung vorweg zu nehmen schienen. Wenn er jetzt noch, auf seinem Bock stehend, unter dem Triumphbogen de l'Etoile oder der Porte Saint-Denis durchkam, was ihn sonst mit solchem Stolz erfüllt hatte, fühlte er, wie es ihm von den hohen Wölbungen eiskalt anwehte und ein feuchter Flor sich von den schwindelhohen Steinen herabsenkte, als schritte er durch das niedrige Tor seines Grabes... Die seltsamsten Befürchtungen betörten ihn. Er sah eines seiner Pferde durchgehen. Er sah das Gefährt in schwindelnder Fahrt; der Leichenwagen schwankte hin und her und schlug schließlich um, der Sarg polterte heraus, barst auf und zeigte ihm zum zweiten Male den gräßlichen Anblick des Todes. Eine schauerlich Vision, ja eine unerträgliche Qual! Gay quittierte den Dienst – er, der ursprünglich so stolz und frohgemut gewesen war, als er den Kutscherposten bei der Verwaltung der Pompes funèbres erhielt, der so jovial und ein so lustiger Geselle gewesen war, als er noch in Unkenntnis lebte.

Man muß den Dingen nie auf den Grund gehen wollen...


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